Sinn im Knoten
Lacans Anwendung der borromäischen Ringe auf die Psychoanalyse1
Was meint „Sinn“ in Lacans borromäischem Knoten?
Der geplättete borromäische Dreierknoten
Die Abbildung oben zeigt Lacans „Plättung“ eines borromäischen Knotens aus drei gefärbten Ringen, d.h. eine Projektion des dreidimensionalen Knotens in die zweidimensionale Ebene, Mathematiker sagen: ein Diagramm des Knotens. Die Ringe mit den Bezeichnungen R, S und I stehen für das Reale, das Symbolische und das Imaginäre. Sie sind borromäisch miteinander verschlungen – wenn man irgendeinen öffnet, fallen die anderen beiden auseinander.
Die Projektion des dreidimensionalen Knotens in den zweidimensionalen Raum führt dazu, dass Überschneidungsbereiche angezeigt werden, ähnlich wie in einem Mengen-Diagramm. Lacan bezeichnet diese Felder als Sinn (sens), JΦ (phallisches Genießen), JȺ (Genießen des ausgestrichenen Anderen) und a (Objekt a, Mehrlust).
Die Bezeichnungen Sinn, JΦ und JȺ beziehen sich nicht auf die gesamte linsenförmige Region, sondern auf die Linse abzüglich des mit einem a gekennzeichneten Bereichs.2
In Seminar 17 hat Lacan das Feld des Genießens bzw. der Lust einmal als das Lacansche Feld bezeichnet.3 Die Zuordnung der vier Begriffe zu den Überschneidungsfeldern findet man zuerst in Seminar 22 von 1974/75, RSI. Alle vier Überschneidungsbereiche beziehen sich auf das Genießen, auf die Lust; man wird also sagen dürfen, dass der geplättete Knoten mit den Überschneidungsbereichen das Lacansche Feld darstellt.
Im dreidimensionalen Knoten gibt es keine Überschneidungsbereiche. Was ist ihre Entsprechung? In der zweidimensionalen Darstellung lässt sich jeder Überschneidungsbereich durch drei Punkte charakterisieren, auf ähnliche Weise wie ein Dreieck durch seine drei Eckpunkte: durch drei „Doppelpunkte“, wie die Mathematiker sagen, also durch drei Punkte, an denen die Ringe sich überschneiden, und zwar so, das einer oben liegt und einer untern. Im Bild rechts sind die Doppelpunkte des Überschneidungbereichs JȺ gelb markiert. Doppelpunkte können auch im dreidimensionalen Knoten erzeugt werden, man muss nur dafür sorgen, dass zwei Ringe sich berühren. Einem Überschneidungsbereich entspricht dann im dreidimensionalen Knoten eine Konstellation von drei bestimmten Doppelpunkten. Im nächsten Schritt wird der dreidimensionale Knoten so verzurrt, dass die drei Doppelpunkte eines Bereichs sich berühren. Der Berührungspunkt von drei bestimmten Doppelpunkten ist die Entsprechung zu einem Überschneidungsbereich im geplätteten Knoten.4
Sinn
Sinn
Der Sinn, mit dem die Psychoanalyse es zu tun hat, ist nicht der Sinn, der sich bei mir spontan einstellt, wenn mir beispielsweise jemand sagt „Schönes Wetter heute“. Unter bestimmten Umständen frage ich mich allerdings: „Warum sagt er mir das? Was will er damit?“ Damit bin ich näher beim Sinnbegriff der Psychoanalyse. Der Sinn ist hier das Ergebnis einer Entzifferung.
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe meiner ausgewählten Schriften (1973) schreibt Lacan:
„In genaueren Begriffen gesagt liefert die Erfahrung der Analyse dem Analysanten […] den Sinn seiner Symptome.„5
Der Sinn im Feld der Psychoanalyse ist der Sinn der Symptome.
Lacan verwendet den Sinnbegriff wie Freud. Die 17. Vorlesung von dessen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse trägt den Titel Der Sinn der Symptome; Lacan verweist hierauf bei der Erläuterung seines eigenen Sinnbegriffs.6
In einem Vortrag von 1975 erläutert er den Sinnbegriff so:
„Wie eine Fehlhandlung deuten? Man würde völlig im Dunkeln tappen, wenn das Subjekt hierzu nicht ein oder zwei kleine Sachen gesagt hätte, die es ermöglichen, zu ihm zu sagen: ‚Aber als Sie Ihren Schlüssel aus der Tasche gezogen haben, um bei mir, dem Analytiker, einzutreten, dann hat das schließlich durchaus einen Sinn‘, und je nachdem, wie weit er vorangekommen ist, wird man ihm den Sinn auf unterschiedliche Weise erklären, etwa damit, dass er glaubt, zu Hause zu sein, oder dass er begehrt, zu Hause zu sein oder sogar noch weiter, dass die Tatsache, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, etwas beweist, was mit dem Symbolismus des Schlosses und des Schlüssels zusammenhängt.“7
Der Begriff des Sinns ist auf die Deutung und die Assoziation zu beziehen. Beim Sinn geht es um die Deutung beispielsweise einer Fehlhandlung. Voraussetzung für die Sinndeutung durch den Analytiker ist die „freie Assoziation“ des Analysanten (dass er ein oder zwei kleine Sachen gesagt hat) und damit die Übertragung.
Zu beachten ist, dass Lacan an der zuletzt zitierten Stelle zu einem breiten Publikum spricht und deshalb vereinfacht. Die korrekte Deutung vollzieht sich, ihm zufolge, nicht durch Mitteilung eines vollen Sinns, sondern durch Andeutung. Die Deutung hat die Form von Zitaten und Rätseln, heißt es in Seminar 17, Die Kehrseite der Psychoanalyse (1969/70)8, anders gesagt, der Analytiker wiederholt Äußerungen des Patienten (er zitiert ihn) und macht orakelhafte Bemerkungen. Im Vorwort zur deutschen Ausgabe der Schriften (1973) wird das so formuliert:
„Die Spitze an Sinn, man spürt es, ist das Rätsel.“9
In Seminar 23, Das Sinthom (1975/76), erfährt man:
„Denn letztlich haben wir als Waffe gegen das Symptom nur dies: die Äquivokation.“10
In den Bemerkungen über die Hysterie aus dem Jahre 1977 heißt es:
Sinn im Diagramm
Die Zuordnung des Begriffs „Sinn“ zum Überschneidungsbereich des Symbolischen und des Imaginären findet man zuerst in Seminar 22, RSI, in der Sitzung vom 10. Dezember 1974.
Das Diagramm soll zeigen:
– Der Sinn entsteht durch die Verbindung des Symbolischen und des Imaginären.
– Im Sinn werden das Symbolische und das Imaginäre nicht direkt miteinander verbunden (die beiden Ringe liegen übereinander, sie sind nicht miteinander verkettet).
– Der Sinn beruht darauf, dass die Ringe des Imaginären und des Symbolischen durch den Ring des Realen miteinander verbunden sind, wobei die Verbindung die Struktur eines borromäischen Knotens hat.
– Das Reale (der blaue Ring) ist dem Sinn äußerlich.
– Zugleich bezieht sich der Sinn auf das Reale. Der Sinn antwortet auf das Reale, sagt Lacan.12
– Das Feld des Sinns steht in Beziehung zum Objekt a. Hier gilt dasselbe wie für die Beziehung zum Realen: das Objekt a ist dem Sinn äußerlich, das Objekt a ist das vom Sinn ausgeschlossen, ein durch die Sinnbildung erzeugter Rest. Damit verweist der Sinn aber zugleich auf das Objekt a.
Ab Seminar 22 wird der Sinn mit der Benennung verbunden und auf den Namen-des-Vaters bezogen.
„Das Eigentümliche des Sinns besteht darin, daß man in ihm etwas benennt, was die Dimension dessen auftauchen läßt, was man die Dinge (les choses) heißt, die ihr Fundament nur vom Realen beziehen.“13
Lacan bezieht sich hierfür auf den biblischen Mythos von der Benennung der Tiere durch Adam.14
Symbolisches
Den symbolischen Aspekt des Sinns erklärt Lacan durch die Metapher und die Benennung.
Die Metapher besteht darin, dass der Sinn durch die Substitution von Signifikanten erzeugt wird.15
Ab Seminar 22 von 1974/75, RSI, erklärt Lacan, dass der Sinn durch die Benennung hervorgerufen wird:
„Das Eigentümliche des Sinns besteht darin, daß man in ihm etwas benennt, was die Dimension dessen auftauchen läßt, was man die Dinge (les choses) heißt, die ihr Fundament nur vom Realen beziehen.“16
Nicht: die Dinge werden benannt, sondern: etwas wird benannt, und dadurch tauchen die Dinge auf, werden abgegrenzte Dinge definiert.17
Imaginäres
In Seminar 21 erfährt man über das Verhältnis zwischen dem Sinn und dem Imaginären:
„Das Imaginäre ist das, was die Entzifferung zu einem Halt bringt, das ist der Sinn. Wie ich Ihnen bereits gesagt habe, man muss ja irgendwo aufhören und sogar so früh wie möglich. Das ist Imaginäre, das ist immer eine Intuition dessen, was zu symbolisieren ist; wie ich gerade gesagt habe, etwas zum Kauen, zum Denken, wie man sagt. Und, um es klar zu sagen, ein undeutliches Genießen.“18
In Seminar 22 erläutert Lacan den imaginären Aspekt des Sinns durch eine geraffte Argumentation in drei Schritten19:
– Der Sinn entsteht durch die Konsistenz des Symbolischen.
– Die Orientierung an der Konsistenz stützt sich auf das Bild des Kreises bzw. auf die „gute Gestalt“ im Sinne der Gestaltpsychologie, also auf die Tendenz, allem Wahrgenommenen eine einfache, regelmäßige, symmetrische, geschlossene Form zu verleihen.
– Die Psychoanalyse hat gezeigt, dass die Orientierung am Kreis, die Herstellung der guten Gestalt, auf der imaginären Beziehung zum Körper beruht, also auf der Bildung des Ichs durch den Bezug auf die Projektion des eigenen Körpers.
Ich nehme an, dass Folgendes gemeint ist:
Sinnverstehen ist Verstehen der Einheit, des Zusammenhangs. „Das ergibt keinen Sinn“ meint: „Das passt nicht zusammen“, „Das widerspricht sich“ – das ist inkonsistent.
Die imaginäre Einheitsvorstellung, die für die Psychoanalyse von besonderer Bedeutung ist, ist die von der Komplementarität der Geschlechter, also die Annahme, dass sie zusammen ein Ganzes bilden und dass ihre Körper im Geschlechtsakt miteinander verschmelzen: „und sie werden ein Fleisch sein“ (1. Mose 2, 24). Besonders anschaulich wird die Komplementaritätsvorstellung durch das Yin-Yang-Symbol dargestellt. Die imaginäre Einheit stützt sich letztlich auf das Körperbild; dieses beruht auf dem Gegensatz von Innen und Außen, Gestaltpsychologen würden sagen: von Figur und Hintergrund, in der Sprache der Systemtheorie: von System und Umwelt.
Eine schöne Illustration für die Verbindung von Sinn und Kreis ist die Rede vom hermeneutischen Zirkel, zu deutsch: vom Kreis des Verstehens (der Teil wird vom Ganzen aus verstanden und das Ganze ausgehend von den Teilen). Heidegger betont, dass diese Kreisstruktur nicht nur für das kunstmäßige Verstehen gilt, sondern zur existentiellen Verfassung des menschlichen Daseins gehört:
„Der ‚Zirkel‘ im Verstehen gehört zur Struktur des Sinns, welches Phänomen in der existentialen Verfassung des Daseins, im auslegenden Verstehen verwurzelt ist.“20
Wenn man etwas nicht versteht, sagt man „Ich kann mir keinen Reim darauf machen“. Anders gesagt: Ich kann das, was ich gehört oder gelesen habe, nicht in eine einfache, regelmäßige, symmetrische, geschlossene Gestalt verwandeln.
Die Verbindung von Imaginärem und Symbolischem
Die These, dass der Sinn durch die Verbindung des Symbolischen und des Imaginären entsteht, wird bereits vom sogenannten Graphen des Begehrens dargestellt, den Lacan in den Seminaren 5 und 6 sowie in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten entwickelt hatte.21
Das Signifikat hat hier seinen Platz am Kreuzungspunkt unten links, s(A), signifié de l’Autre, „Signifikat des Anderen“, im Sinne von: das vom Anderen kommende Signifikat. In diesem Punkt kreuzen sich zwei zum symbolischen gehörende Linien und eine Linie des Imaginären.
Die erste symbolische Linie ist die von „Signifikant“ nach „Stimme“ führende Linie; sie steht für bewussten Anspruch, für eine bewusste artikulierte Forderung als Signifikantenkette (z.B. die Wortfolge „Gib mir Brot“).
Die zweite symbolische Linie geht von A aus, zweigt nach oben links ab und führt auf kurzem Weg zu s(A); durch sie wird repräsentiert, dass das Signifikat – die Bedürfnisbefriedigung – durch den am Ort des Anderen versammelten Wortschatz bestimmt wird, beispielsweise durch das Wort „Brot“ im Unterschied zu „Suppe“, „Brötchen“ usw.
Die imaginäre Linie führt von A nach unten und über i(a) und m wieder hoch zu s(A). Die Zeichenfolge i(a) steht für image de l’autre, „Bild des anderen“. Der Buchstabe m bezieht sich auf das moi, das „Ich“. Die Verbindung m ← i(a) stellt dar, dass das Ich durch die Beziehung zu einem anderen entsteht, zu einem anderen, der die Funktion des Ideals und des Rivalen hat. Von der imaginären Linie m ← i(a) geht ein Pfeil hoch zu s(A), und das soll heißen: Das Signifikat wird auch durch die imaginäre Konstituierung des Ichs durch die Beziehung zum Bild des anderen bestimmt. Beispielsweise wird Brot vom Kind deshalb gefordert, weil ein anderes Kind – ein Rivale – Brot bekommen hat.
Reales
Das Reale ist das, was aus dem Sinn ausgeschlossen ist. Das Reale ist das Unmögliche – das, was weder imaginär noch symbolisch erfasst werden kann. Die Beziehung zwischen dem Sinn und dem Realen ist die der Ex-sistenz, wie Lacan in Seminar 22 sagt, der Äußerlichkeit.
Das unterscheidet den „Sinn“ von der „Bedeutung“ (Lacan übernimmt Freges Terminologie, verwendet also zur Erläuterung die deutschen Ausdrücke): die Bedeutung ist die Beziehung zum Realen. Die Bedeutung des Phallus ist nicht der Sinn des Phallus.22
Zugleich bezieht sich der Sinn auf das Reale, das Reale ist sogar konstitutiv für den Sinn: einzig der Ring des Realen hält die Ringe des Imaginären und des Symbolischen so zusammen, dass sie den Bereich des Sinns erzeugen. Das, was aus dem Sinn ausgeschlossen ist, ermöglicht den Sinn.
Genießen, Lust (jouissance, plaisir)
In der bereits zitierten Passage aus Seminar 21 über das Verhältnis zwischen dem Imaginären und dem Sinn sagt Lacan, dass es beim Sinnverstehen „ein undeutliches Genießen“ gibt.23
In Seminar 23 heißt es in der Sitzung vom 10. Februar 1976:
„Bei Freud – das ist offenkundig, auf diese Art hat er sich sogar orientiert – bereitet das Wahre Lust (plaisir), und eben dies unterscheidet es vom Realen – bei Freud zumindest –, nämlich dass das Reale nicht zwangsläufig Lust verschafft.“ (84)
Diese Auffassung wird von Lacan in derselben Sitzung nicht nur referiert, sondern übernommen:
„Bei einer bestimmten Zahl von kleinen Fäden finde ich mich zurecht, sicherlich; seine Geschichten mit Nora, davon mache ich mir eine bestimmte Vorstellung, ausgehend von meiner Praxis, ich meine, ausgehend von den Vertraulichkeiten, die ich erhalte, da ich mit Leuten zu tun habe, die ich dazu abrichte, dass sie Lust (plaisir) daran haben, das Wahre zu sagen.“ (87)
Das Sagen des Wahren – das sich im Feld des Sinns ereignet – ist mit Lust (plaisir) verbunden, mit einem Genießen, das unter der Herrschaft des Lustprinzips steht.
Die vier Überschneidungsbereiche des „geplätteten“ borromäischen Knotens beziehen sich also auf vier Arten von Erregungen, von Genießen (jouissance) im weiten Sinne des Wortes.
– Genießen des ausgestrichenen Anderen, JȺ: das Genießen des Partners des anderen Geschlechts als anderes Geschlecht, was unmöglich ist, da es kein sexuelles Verhältnis gibt), siehe hier
– phallisches Genießen, JΦ: das durch den Bezug auf den Phallus-Signifikanten veränderte sexuelle Genießen
– Objekt a: die „Mehrlust“ (plus-de-jouir), der durch die Sprache hervorgerufene Verlust an Genießen, der durch die Partialobjekte symbolisiert wird
– Sinn: die mit dem Sinn verbundene Lust (plaisir), die vom Lustprinzip beherrscht wird.
Das Verhältnis des Sinns zum Objekt a
Wie kann die Deutung – also der Sinn – auf das Reale einwirken? Durch Vermittlung des Objekts a. In Seminar 23 von 1975/76, Das Sinthom, heißt es:
„Damit aber dieses Sagen, damit es resoniere, Resonanz gebe, damit es konsoniere, um ein weiteres Wort des Sinthomasvonaquin zu verwenden, damit es konsoniere, dafür ist es nötig, dass der Körper sensibel dafür ist und dass er es ist, das ist eine Tatsache. Weil der Körper einige Öffnungen hat, deren wichtigste, weil es nicht verstopft, geschlossen werden kann, deren wichtigste das Ohr ist, weil es nicht verschlossen, nicht zugemacht werden kann, aus diesem Grund antwortet im Körper das, was ich die Stimme genannt habe.25
Das Objekt a, durch das der Sinn im Realen eine Resonanz erzeugt, ist die Stimme.
Später heißt es in Seminar 23:
„Das Reale findet sich in den Wirrnissen des Wahren. Und eben das hat mich zu der Idee des Knotens geführt, die von da ausgeht, dass das Wahre sich autoperforiert, aufgrund der Tatsache, dass sein Gebrauch den Sinn ganz und gar erschafft, und zwar dadurch, dass er gleitet, dadurch, dass er angesaugt wird vom Bild des Körperlochs, aus dem er ausgesandt wird, nämlich dem Mund, insofern er saugt.“26
Der Sinn wird angesaugt vom Bild des Körperlochs, aus dem er angesaugt wird, also vom Bild des Mundes. Im borromäischen Knoten steht das Loch des imaginären Rings für die Körperöffnungen27, also auch für den Mund. Der Überschneidungsbereich „Sinn“ ist Teil des Lochs im Ring des Imaginären und dies veranschaulicht u. a. das Angezogenwerden des Wahren (das zum Symbolischen gehört) durch das Bild des Mundes.
Der saugende Mund verweist auf den Oraltrieb und auf die Brust als Objekt a. Der Sinn – als Beziehung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen – wird zusammengehalten durch die Intervention des Realen, des Genießens unter anderem in Form des Sprechens als einer oralen Ersatzbefriedigung.
Sinn in früheren Diagrammen
Im optischen Modell von 1953 repräsentiert der Blumenstrauß das Reale (wie es zu diesem Zeitpunkt verstanden wird), die gespiegelte Vase das Imaginäre und der ebene Spiegel in der Mitte der Zeichnung das Symbolische. Die Begriffe „Signifikat“ oder „Sinn“ haben hier keinen Ort.
In Schema L von 1955 erscheint das Imaginäre als Beziehung zwischen dem Ich und dem anderen, das Symbolische als Anderer mit großem A, das Reale als „(Es)S“, Subjekt S als Es. Das Imaginäre – die Beziehung zwischen dem Ich und dem anderen – fungiert hier als Sperre, die den Zugang des Subjekts, des Es, zum Symbolischen (zum Anderen) blockiert und zugleich vermittelt. Auch in diesem Schema findet man nicht die Begriffe „Sinn“ oder „Signifikat“.
Im Grafen des Begehrens von 1957/58 wird das Signifikat (der Sinn) erstmals als Effekt des Zusammenwirkens des Imaginären und des Symbolischen und dargestellt.
Am Punkt s(A), „Signifikat des Anderen“ laufen drei Linien zusammen:
– die (hier rot gefärbte) Linie des Symbolischen, die von „Signifikant“ nach „Stimme“ führende Linie des Anspruchs auf Bedürfnisbefriedigung
– die (grün gefärbte) Linie, die durch die Einwirkung des Imaginären entsteht, also die von A über i(a) und m nach s(A) führende Linie,
- die (blau gefärbte) Linie des Bedürfnisses; das Bedürfnis fungiert hier gewissermaßen als Stellvertreter für das Reale.
Das Signifikat entsteht also durch das Zusammenspiel des Symbolischen, des Imaginären und des Bedürfnisses.
Von oben – von S(Ⱥ) ausgehend – führt eine Pfeillinie zum Schnittpunkt s(A). Diese Linie führt an der Formel des Phantasmas vorbei, $◊a. Das kleine a in der Formel wird von Lacan ab Seminar 10 von 1962/63, Die Angst, als Partialobjekt gedeutet. Die von oben kommende Pfeillinie verbindet dann den Sinn mit dem Objekt a.
s(A) meint „das vom Anderen kommende Signifikat“, der vom Anderen kommende Sinn. Dass der Sinn vom Anderen kommt, wird im borromäischen Knoten durch die Verbindung des Sinns mit dem Ring des Symbolischen dargestellt. Verglichen mit dem Grafen des Begehrens besteht die Neuerung der Darstellung des Sinns im borromäischen Knotens darin,
– dass das Bedürfnis durch das Reale ausgetauscht wird,
– dass der Sinn nicht mehr allgemein auf das Phantasma mit dem Objekt a bezogen wird, sondern speziell auf das Objekt a.
In Seminar 11 wird Sinn als Komponente der Entfremdung dargestellt. Zwei Kreise überschneiden sich: das Sein des Subjekts und der vom Anderen kommende Sinn; hierdurch entsteht ein Überschneidungsbereich: der Nicht-Sinn.28 Aus dem vom Anderen kommenden Signifikat des Grafen des Begehrens, s(A), wird hier der auf der Seite des Anderen verortete Sinn. Das Sein des Subjekts kann sicherlich nicht umstandslos mit dem Realen gleichgesetzt werden, aber sicherlich kann man sagen, dass beide Begriffe verwandt sind. Die Beziehung zwischen dem Sinn und dem Sein im Schema der Entfremdung entspricht also vermutlich grob der Beziehung zwischen dem Sinn und dem Realen im borromäischen Knoten. Die Funktion des Imaginären bei der Erzeugung des Sinns wird im Schema der Entfremdung nicht berücksichtigt
Das Schema ist so zu lesen: das lebendige Sein des Subjekts (linker Kreis) wird erfasst vom Anderen als Ort der Sprache, von den Signifikanten (rechter Kreis). Die Verbindung der Signifikanten in Form von Metaphern ergibt den Sinneffekt (rechte Mondsichel). Der Sinn beruht auf der Identifizierung, auf der Übernahme des „einzelnen Zugs“, des unären Signifikanten, wie Lacan in Seminar 11 sagt. Hierdurch geht das Sein des Subjekts verloren, das Subjekt wird zum Seinsmangel, dargestellt durch den linken Kreis. Im Symbolischen manifestiert sich der Seinsmangel als Nicht-Sinn, als „Nabel des Traums“, wie Freud sagt, in einem Knäuel unentwirrbarer Traumgedanken; dieser Nicht-Sinn ist der urverdrängte binäre Signifikant(zur Zuordnung von S1 und S2 zum Schema vgl. diesen Blogbeitrag). Der rechte Kreis zeigt also die Spaltung des Unbewussten in das Urverdrängte (Nicht-Sinn) und das sekundär Verdrängte (Sinn).
Auf die Entfremdung folgt in Seminar 11 eine zweite Operation, die Trennung; hierbei wird, wenn ich’s recht verstanden habe, der Überschneidungsbereich zum Objekt a. In der Veröffentlichung von Seminar 11 gibt es kein Diagramm zur Trennung. Wenn man in den Überschneidungsbereich a einsetzt, ist man dicht bei der Darstellung des Sinns in Seminar 22, in dem das Objekt a als Teil des Sinns dargestellt wird.
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- Kommentar zum Sinthom-Seminar
Anmerkungen
- aus Seminar 23, Version Miller, S. 72, geändert
- In Seminar 22 heißt es in der Sitzung vom 11. Februar 1975: „Auf meinem kleinen Schema befindet sich der Sinneffekt in der Verbindung des Symbolischen und des Imaginären. Mit dem konsistenten Kreis des Realen steht er im Prinzip nur in einem Verhältnis von Äußerlichkeit. Ich sage im Prinzip, weil diese Äußerlichkeit den geplätteten Knoten unterstellt. Er ist geplättet, weil wir nur platt denken – man kann ihn aber ebensogut anders darstellen.“ Kleiner-Übersetzung, S. 29.
- Vgl. Seminar 17 von 1969/70, L’envers de la psychanalyse, Version Miller, S. 93.
- Vgl. Seminar 22, RSI, Sitzung vom 18. März 1975; Kleiner-Übersetzung S. 49 und 53.
- J. Lacan: Vorwort zur deutschen Ausgabe meiner ausgewählten Schriften (1973). Übersetzt von Norbert Haas und Chantal Creusot. In: J.L.: Schriften II. Hg. v. Norbert Haas. Walter-Verlag, Olten u.a. 1975, S. 7–14, hier: S. 11.
- Vgl. Conférence à Genève sur le symptôme (4. Oktober 1975). In: La Cause du désir, Nr. 95 (2017/1), S. 9–13, hier.
- Conférence à Genève sur le symptôme, a.a.O., meine Übersetzung.
- Vgl. Seminar 17, Sitzung vom 17. Dezember 1969; Version Miller, S. 39–41.
- A.a.O., S. 7.
- Seminar 23, Sitzung vom 18. November 1975; übersetzt nach Version Staferla; Version Miller, S. 17; Kleiner-Übersetzung, S. 9.
- Bemerkungen über Hysterie. Übersetzt von Michael Meyer zum Wischen, in diesem Blog hier.
- Vgl. Seminar 22 von 1974/75, RSI, 21. Januar 1975, Version Staferla, Anfang, nicht in der Kleiner-Übersetzung.
- Seminar 22, RSI, Sitzung vom 11. März 1975, Kleiner-Übersetzung S. 39.
- Seminar 22, Sitzung vom 11. März 1975, Kleiner-Übersetzung S. 39; Seminar 23, Sitzung vom 18. November 1975, Version Miller, S. 13. In Seminar 22 schreibt er die Benennung der Tiere irrtümlich Gott zu, der in der hebräischen Bibel angeblich „Vater“ genannt wird; in Seminar 23 korrigiert er das.
- Die Konzeption der Metapher findet man zuerst in dem Aufsatz Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud, verfasst und veröffentlicht 1957, in: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, sie wird erläutert in Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten.
- Seminar 22, Sitzung vom 11. März 1975, Kleiner-Übersetzung S. 39.
- Diesen Gedanken von der schöpferischen Funktion des Sprechens findet man bereits in Seminar 1 von 1953/54, Sitzung vom 16. Juni 1954.
- Seminar 21 von 1973/74, Les non-dupes errent, Sitzung vom 13. November 1973, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Vgl. Seminar 22, 21. Januar 1975, Kleiner-Übersetzung S. 21.
- M. Heidegger: Sein und Zeit. Niemeyer, Tübingen 1979, S. 153.
- Die folgende Abbildung ist aus: J. Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Ders.: Schriften II. Walter-Verlag, Olten und Freiburg i. Br. 1975, S. 193. Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag von 1960 und wurde 1966 veröffentlicht.
- Vgl. Conférence à Genève sur le symptôme (4. Oktober 1975), in: Pas-tout Lacan, S. 1678.
- Vgl. Seminar 21 von 1973/74, Les non-dupes errent, Sitzung vom 13. November 1973, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Vgl. Seminar 23 von 1975/76, Das Sinthom, Sitzung vom 13. Januar 1976; Version Miller S. 62.
- Seminar 23, Sitzung vom 18. November 1975, Version Miller S. 17, übersetzt nach Version Staferla, vgl. den Kommentar zu Seminar 23 hier.
- Sitzung vom 10. Februar 1976; Version Miller, S. 85.
- Vgl. Seminar 22, RSI, Sitzung vom 14. Januar 1975.
- Abbildung aus Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 222, von mir geändert nach Seminar 11, Version Miller, S. 192.
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