Lacans Sentenzen
„Das Reale ist das Unmögliche.“
Einführung des Theorems in Lacans Seminar 9, „Die Identifizierung“ (1961/62).
Übersetzung und Erläuterung
M. C. Escher, Relativity, 1953, Lithographie, 294 x 282 mm
Das Reale ist das Unmögliche, sagt Lacan. Im Hauptteil dieses Artikels zeichne ich durch Übersetzungen und Erläuterungen nach, wie er diese These in Seminar 9, Die Identifizierung, einführt. Davor gebe ich einen Überblick, wie er sein Theorem in späteren Seminaren ausarbeitet und wie er die Begriffe des Realen und des Unmöglichen vor dem Identifizierungs-Seminar verwendet hatte. Den Schluss bildet eine systematisierende Zusammenstellung von Paraphrasen der übersetzten Stellen.
*
Vom Seminar Die Identifizierung gibt es weder eine offizielle französische Ausgabe noch eine deutsche Übersetzung. Ich übersetze nach Version Staferla, Fassung vom 15. November 2015; die Gliederung in Absätze ist von mir. Eine ausgezeichnete kritische Ausgabe des Identifizierungsseminars, die mir bei der Übersetzung leider noch nicht zur Verfügung stand, ist die von Michel Roussan (nicht im Buchhandel, bei Roussan per E-Mail bestellbar). Eine englische Übersetzung des Seminars, erstellt von Cormac Gallagher, findet man auf der Website Lacan in Ireland als PDF hier, als Buch bei Karnac books hier. Eine Zusammenfassung des Seminars gibt Moustapha Safouan in: Ders.: Lacaniana. Les séminaires de Jacques Lacan. 1953–1963. Fayard, Paris 2001.
Die übersetzten Passagen haben zusammengenommen den Umfang von etwa dreieinhalb Seminarsitzungen. Weitere Übersetzungen längerer Sequenzen aus diesem Seminar findet man auf dieser Website im Artikel über den „einzigen Zug“ sowie in einem Beitrag zu Lacans Theorie des Eigennamens.
Herzlichen Dank an Gerhard Herrgott für einen Grundkurs in Sachen Logik (das war 1987 bei der Lektüre von Lacans Identifizierungsseminar, vor dreißig Jahren!) und für großzügige Hilfe beim Übersetzen (vor ein paar Monaten).
Zur Notation in den Übersetzungen
*: Wort im Original deutsch
Ausdrücke [in eckigen Klammern]: nicht von Lacan
Zur Notation in den Paraphrasen mit Ergänzungen sowie in der systematisierenden Zusammenstellung
In eckigen Klammern und grüner Schrift: meine Ergänzungen
In eckigen Klammern, mit einem ¿ umgekehrten Fragezeichen beginnend und grün unterlegt: meine Fragen
Nachgeschichte
Ich beginne von hinten: mit einem Überblick, wie Lacan das Theorem „Das Reale ist das Unmögliche“ in späteren Seminaren ausarbeitet.
In Seminar 10, Die Angst (1962/63), und in Seminar 11, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), wird die Definition des Realen als des Unmöglichen aufgegriffen und bekräftigt.1
Das Reale, das Unmögliche, das Geschlecht und die Logik
In Seminar 11 gibt es erste Versuche, das Reale auf das Geschlecht (sexe) zu beziehen. Man kann hier lesen:
„Für uns, in unserem Bezug auf das Unbewusste, ist das, worum es geht, die Beziehung zum Organ. Es geht nicht etwa um die Beziehung zur Sexualität oder gar zum Geschlecht – wenn wir diesem Begriff überhaupt einen spezifischen Bezug geben können –, sondern um die Beziehung zum Phallus, insofern er bei dem fehlt, was in dem, was vom Geschlecht angezielt wird (dans la visée du sexe), an Realem erreicht werden könnte.“2
Das Geschlecht zielt auf etwas Reales ab – der Begriff des Geschlechts wird zugleich für problematisch erklärt, und was hier mit dem Realen gemeint ist, bleibt offen. Später heißt es im selben Seminar:
„Hier überlagern sich zwei Mängel. Der eine beruht auf dem zentralen Fehlen, um das sich jene Dialektik dreht, in welcher das Subjekts zu seinem eigenen Sein durch die Beziehung zum Anderen kommt, deshalb, weil das Subjekt vom Signifikanten abhängt und der Signifikant zuerst im Feld des Anderen erscheint. Dieser Mangel greift den anderen Mangel auf, den vorgängigen realen Mangel, der zur Entstehung des Lebendigen gehört, nämlich zur geschlechtlichen Fortpflanzung. Der reale Mangel ist das, was das Lebendige selbst wiederum an Lebendigem dadurch verliert, dass es sich auf sexuellem Wege fortpflanzt. Real ist dieser Mangel, weil er sich auf etwas Reales bezieht, das darin besteht, dass das Lebendige, da es dem Geschlecht unterworfen ist, dem individuellen Tod ausgesetzt ist.“3
Sexuelle Fortpflanzung und Sterblichkeit sind eng verbunden; das Reale, das mit dem Geschlecht verbunden ist, ist, dieser Bemerkung zufolge, der individuelle Tod.
In Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse, bezieht Lacan die These vom Realen als dem Unmöglichen zum ersten Mal sowohl auf die Logik als auch auf das Geschlecht.
„Denn entweder ist dies etwas in seiner Art, das im strengen Sinne des Wortes als das Reale zu verstehen ist, und zwar jenes Reale, das wir alle bereit sind, als eine Dimension zu akzeptieren, als die vielleicht eigentliche und wesentliche Dimension des Realen, nämlich das Unmögliche – entweder dies ist das Reale oder alles, was ich Ihnen sage, hat keinen Bestand.“4
Soweit nichts Neues gegenüber dem Identifizierungs-Seminar: Die eigentliche Dimension des Realen besteht darin, dass es das Unmögliche ist. Eine Beziehung zwischen dem Realen, dem Unmöglichen und dem Geschlecht wird zum ersten Mal in der folgenden Bemerkung hergestellt:
„Das Spiel stellt sich von seinen einfachsten bis zu seinen elaboriertesten Formen als Ersatz für die Dialektik dieser drei Terme dar [der Terme Wissen, Subjekt und Geschlecht], durch eine Vereinfachung, durch welche dies als geschlossenes System eingesetzt wird. Kennzeichen des Spiels ist immer – auch wenn sie verschleiert ist – eine Regel. Eine Regel, die daraus als Verbot jenen Punkt ausschließt, der eben jener ist, den ich Ihnen auf der Ebene des Geschlechts als den unmöglichen Zugangspunkt bezeichne, anders gesagt, den Punkt, an dem sich das Reale als das Unmögliche definiert.“5
Die These „Das Reale ist das Unmögliche“ ist demnach unter anderem auf das Geschlecht zu beziehen. Etwas später heißt es in diesem Seminar:
„ […] der Psychoanalytiker ist durch seine Position auf ganz besondere Weise vom Realen ausgeschlossen, und durch seine Technik verbietet er sich jedes Mittel, es anzugehen.
Ausgeschlossen zu sein ist eine Beziehung, und es ist eben dieser Ausschluss, der es ihm so schwer macht, seinen Platz zu halten, ihn sowohl als Theoretiker zu halten als auch in seiner Praxis. Bis zu einem gewissen Punkt kann das Reale von ihm sogar als die Gefahr angesehen werden, als die Faszination, die seinem Denken angeboten wird und der er allzu leicht, auf allzu leichte Weise, erliegt, dann nämlich, wenn er sich in dasjenige Feld des Realen begibt, das seine wichtigste Referenz ist, das Reale des Geschlechts. Falls er sich an den Ort begibt, an dem es das gibt, was er sich selbst verweigert und wovon er ausgeschlossen ist, wird er ein Reales konstruieren, das dann zwangsläufig das Reale des Psychologen oder des Soziologen sein wird oder das von anderen, die ihre Gültigkeit in dem nicht nur mehrdeutigen, sondern bastardhaften Register haben, welches sich ‚Humanwissenschaften‘ nennt und das eben das ist, wovor er sich – wenn er Psychoanalytiker bleiben will – zu hüten hat.
Was also ist für den Analytiker der Platz des Realen und was bedeutet die Art und Weise, in der wir die Möglichkeiten erproben und aufzeigen, diesen Platz zu konstruieren, auf dem paradoxen Weg, der darin besteht, dass wir den Weg der Logik einschlagen?
Es ist ja auffällig, dass wir in dem Maße, wie die Logik historisch voranschreitet, und an dem Punkt, an dem sie zur Frege’schen Theorie führt, zur Frege’schen Unterscheidung zwischen Bedeutung und Sinn, dass wir dabei zu einer Art Entkräftung der Referenz gelangen, was dazu führt, dass Frege Folgendes formuliert: Wenn wir eine Referenz für das sogenannte Urteil finden müssen, dann kann dies letztlich nur der doppelte Wert des Falschen oder des Wahren sein – der [Wahrheits-]Wert ist die eigentliche Referenz. Verstehen Sie, es gibt keinen anderen Gegenstand des Urteils – das ist die Pointe eines logischen Denkens, das für uns jedoch exemplarisch ist für das, was ein bestimmter Weg als Paradoxie hervorbringt –, es gibt letztlich keine andere Referenz als den [Wahrheits-]Wert, entweder ist es wahr oder es ist falsch. Klar ist, dass diese Entkräftung [der Referenz] von uns buchstäblich als eine Art Symptom aufgefasst werden muss. Und wenn wir den Dingen auf diesem Weg folgen, auf dieser Spur, dann suchen wir das, wodurch die Entwicklung des logischen Denkens bedingt sein könnte, nämlich das, was für die Bezeichnung des Platzes des Realen gefehlt haben könnte. Insofern ist für uns Folgendes spürbar: Das, was auf solche Weise in Form eines Mangels umrissen wird, steht in einer Beziehung zu dem, wie sich für uns Analytiker das Reale darstellt.“6
Für einen Psychoanalytiker ist die wichtigste Form des Realen das Geschlecht. Dem Realen des Geschlechts hat er sich auf dem Weg der Logik anzunähern – das Reale des Geschlechts ist das logisch Unmögliche. Dies ist ein „paradoxer“ Weg, womit vielleicht angedeutet werden soll: Eine der Formen des logisch Unmöglichen ist die Paradoxie. Bei Frege führt der Weg der Logik zu einer Ausdünnung der Referenz – der Referent eines Urteils ist für Frege der Wahrheitswert –, und Lacan nimmt an, dass dies in einer Beziehung zum Realen steht.
Das Reale des Geschlechts ist das logisch Unmögliche, diese These wird Lacan von nun an intensiv beschäftigen. Sie wird zu den Theoremen Es gibt keinen sexuellen Akt7 und Es gibt kein sexuelles Verhältnis8 führen sowie zu den Formeln der Sexuierung, die er in den Seminaren 18 bis 20 und in dem Aufsatz L’étourdit ausarbeiten wird.
Die Formen des Unmöglichen
Eine der Fragen, die Lacan auf diesem Weg beschäftigen wird, ist die, wie der Begriff des Unmöglichen zu präzisieren ist. In Seminar 17 von 1969/70, Die Kehrseite der Psychoanalyse, liest man, das Reale sei unter der Bedingung das Unmögliche,
„dass man dem Wort ‚unmöglich‘ einen strengen Sinn gibt, d.h. dass man es nur von der Ebene unserer formalisierten Wahrheit her bestimmt. Nämlich dass es in jedem formalisierten Feld der Wahrheit Wahrheiten gibt, die sich nicht beweisen lassen.“9
Formalisierte Felder der Wahrheit sind die symbolische Logik und die Mathematik. Von hier aus – von Gödels Unvollständigkeitssatz aus – muss man dem Wort „unmöglich“ (und damit dem Begriff des Realen) einen strengen Sinn geben.
In Radiophonie (1970) und L’étourdit (1972) unterscheidet Lacan vier Arten der Unmöglichkeit: das Inkonsistente (also das Widersprüchliche), das Unentscheidbare, das Unvollständige und das Unbeweisbare.10 Er orientiert sich hierbei an den Untersuchungen von Frege, Russell, Whitehead und Gödel über die Sackgassen der der Logik und der Mengenlehre und er bemüht sich, zu diesen Unmöglichkeiten Entsprechungen im Feld der Psychoanalyse zu finden. In Radiophonie (1970) sagt er, nach einem Hinweis auf Inkonsistenz, Unvollständigkeit, Unbeweisbarkeit und Unentscheidbarkeit:
„Die Schnitte des Unbewußten zeigen diese Struktur, indem sie sie aus ähnlich einzukreisenden Fällen attestieren.“13
In „Vielleicht in Vincennes …“ (1975) charakterisiert er die Logik als „Wissenschaft vom Realen, insofern sie den Zugang zum Modus des Unmöglichen gestattet“14.
Er fordert die Psychoanalytiker also dazu auf, dem Realen im Sinne des logisch Unmöglichen den Vorrang zu geben.
Die Modalkategorien
In Seminar 12 macht Lacan einen ersten Versuch, die Kategorie des Unmöglichen auf drei andere Modalkategorien zu beziehen, auf das Mögliche, auf das Notwendige und auf das Zufällige (oder Kontingente):
„Darf ich sie vorläufig darauf hinweisen, dass wir – um zwei Zugänge zum Realen zu erfassen, die es uns ermöglichen, die Beziehung zum „Möglichen“ zu begreifen, deren Charakterisierung für unser gesamtes Vorgehen als Analytiker so wesentlich ist –, darf ich Sie daran erinnern, dass das „Zufällige“ vom Realen das ist, „was auch nicht sein kann“, und dass das „Notwendige“ – wenn wir den Fehler begehen, es durch das Reale zu begründen und nicht durch das, worin es seinen Grund hat, nämlich durch eine symbolische Beziehung –, […] dass das „Notwendige“ das ist, „was nicht nicht sein kann“. Wenn wir darin die Grundlage des Realen sehen., müssen Sie, wenn ich so sagen darf, nur mit diesen beiden Formeln operieren: „das, was nicht sein kann“ und „das, was sein kann“, und die Subtraktion vornehmen. Bei der Umwandlung von „kann“ in „kann nicht“, bei der Einführung des Unmöglichen, taucht tatsächlich die Dimension des Realen auf.“15
Erst in Seminar 19 und in der parallel dazu laufenden Vortragsreihe Das Wissen des Psychoanalytikers wird er darauf zurückommen und von da an bis einschließlich Seminar 21 seine Version der Modalkategorien ausarbeiten. 16
Vorgeschichte
Jetzt aber ganz von vorn: Was ist für Lacan vor dem Identifizierungsseminar das Reale und was das Unmögliche?
Das Reale
Lacans erste Bestimmung des Realen – man findet sie in Seminar 1 – hatte gelautet, das Reale „ist das, was der Symbolisierung absolut widersteht“17; an dieser Definition wird er bis zum Schluss festhalten (vgl. diesen Blogartikel). In diesem Seminar findet man auch einen ersten Versuch, das Verhältnis des Realen zum Imaginären und zum Symbolischen topologisch darzustellen, durch den nebenstehenden Dieder. Er besteht aus zwei Dreieckspyramiden, die mit der Basis gewissermaßen aneinander geklebt sind. Diese geteilte Grundfläche repräsentiert das Reale.18
Eine zweite Definition des Realen liefert Lacan in Seminar 2, sie lautet: „Das Reale ist das, was am selben Platz immer wiederkehrt“19, anders gesagt: das Reale zeigt sich im Wiederholungszwang.
Die nächste Bestimmung des Realen lautete (in Seminar 6), dass sich das Reale im Symbolischen als Schnitt manifestiert, etwa in der Beendigung einer psychoanalytischen Sitzung; vgl. diesen und diesen Blogartikel.20
Danach (in Seminar 7) trat das Reale als „Ding“ auf, genauer hieß es dort, das „Ding“ sei ein „Loch im Realen“21.
In Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, trägt Lacan zum ersten Mal die These vor, um die es in diesem Artikel geht: Das Reale ist das Unmögliche. Von da an wird er diese Formel, in vielen Varianten, bis einschließlich Seminar 24 in jedem Seminar aufgreifen. In Seminar 12 beispielsweise wird er sagen, dass „das Reale als das Unmögliche definiert ist“.22 An der anfänglichen Definition des Realen wird er dabei festhalten, wonach das Reale darin besteht, dass etwas nicht symbolisiert werden kann (vgl. diesen Blogartikel). Man kann das so zusammenfügen: Das Reale ist das, dessen Symbolisierung unmöglich ist.
Das Unmögliche
Den Begriff des Unmöglichen bzw. der Unmöglichkeit hatte Lacan zunächst speziell auf die Zwangsneurose bezogen. Dabei knüpft er an Freud an, der in der Studie über den sogenannten Rattenmann herausgestellt hatte, dass bei diesem das Symptom – das komplizierte Szenario bei der Rückgabe einer Geldsumme – „an eine unerfüllbare absurde Bedingung geknüpft“ war, dass er sich bestrafte durch „Auferlegen eines unmöglich zu erfüllenden Eides“23. In dem Vortrag Der individuelle Mythos des Zwangsneurotikers (1953) sagt Lacan über denselben Fall:
„Selbstverständlich ist dieses Szenario unmöglich durchzuführen.“ „[D]as Element der Schuld ist auf zwei Ebenen zugleich angesetzt, und genau in der Unmöglichkeit, diese beiden Ebenen zusammenzubringen, spielt sich das ganze Drama des Neurotisierten ab.“24
Im selben Text heißt es über Goethe und dessen Flucht vor dem begehrten Objekt:
„Vor dem Ziel sehen wir, wie es von Neuem zu einer Verdoppelung des Objekts kommt, zu seiner Entfremdung im Verhältnis zu sich selbst, zu den Manövern, mit denen er sich einen Ersatz gibt, auf welchen sich die tödlichen Bedrohungen beziehen müssen. Sobald er diesen Ersatz in sich selbst reintegriert, ist es unmöglich, das Ziel zu erreichen.“25
In einem Selbstkommentar zu diesem Vortrag, drei Jahre später, spitzt Lacan den Begriff der Unmöglichkeit zu:
„Ich habe gar den Fall [des Rattenmanns] gemäß einer von Claude Lévi-Strauss gegebenen Formel zu formalisierten vermocht, wodurch ein a, zuerst verknüpft mit einem b, während ein c mit einem d verknüpft ist, in der zweiten Generation mit ihm einen Wechsel des Partners erfährt, doch nicht ohne dass ein irreduzibler Rest in der Form der Negativierung eines der vier Terme bestehen bleibt, die sich als korrelativ zur Transformation der Gruppe auferlegt; woran sich ablesen lässt, was ich als das Zeichen einer Art Unmöglichkeit der vollständigen Lösung des Problems des Mythos behaupten werde. Derart, dass der Mythos da wäre, um uns zu zeigen, wie in einer signifikanten Form in eine Gleichung eine Problematik umgesetzt wird, die aus sich selbst heraus notwendig etwas Offenes übrig lassen muss, das dem Unlösbaren entspricht, insofern es die Unlösbarkeit bedeutet, und dessen Hervortreten, wiedergefunden in ihren Äquivalenzen, das den Signifikanten des Unmöglichen liefert (dies wäre daran die Funktion des Mythos).“26
In Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (geschrieben 1960) kommt Lacan darauf zurück:
„Doch das Beste ist, dass der Zugang zu diesem Material nur durch eine Deutung eröffnet wurde, in der Freud zu sehr auf ein Verbot abhob, dass der Vater des Rattenmanns über die Legitimierung der erhabenen Liebe, die ihm alles bedeutet, verhängt haben soll, um das Merkmal des Unmöglichen zu erklären, von dem diese Verbindung in allen ihren Modi für ihn geprägt scheint.“27
Dem Begehren des Zwangsneurotikers stabilisiert sich dadurch, dass es auf das Unmögliche abzielt; der typische Fall – auch für den Nicht-Psychoanalytiker gut zu beobachten – ist das hin und her Springen zwischen zwei einander ausschließenden Entscheidungen. Dieser Art des Begehrens stellt Lacan in diesem Aufsatz das Begehren der Hysterikerin gegenüber, die ihr Begehren dadurch sichert, dass es sich darauf richtet, unbefriedigt zu sein.28
Ähnlich heißt es im Aufsatz über Lagache, im selben Jahr geschrieben:
„Wir lenken die Aufmerksamkeit auf das Begehren zurück, bei dem vergessen wird, dass weit authentischer als irgendeine Suche nach einem Ideal das Begehren die signifikante Wiederholung des Neurotikers als seine Metonymie reguliert. Nicht in dieser Bemerkung werden wir darlegen, wie er dieses Begehren als unbefriedigt (das ist die Hysterische) und wie als unmöglich (das ist der Zwangsneurotiker) stützen muss.“29
In Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens (geschrieben 1962), wird diese Gegenüberstellung ausgebaut:
„Aber dieser durch den Neurotiker dem Anspruch verliehene Vorrang, der für eine in die Bequemlichkeit umschlagende Analyse die ganze Kur in die Handhabung der Frustration hat abrutschen lassen, verbirgt seine Angst vor dem Begehren des Anderen, die unmöglich zu verkennen ist, wenn sie nur vom phobischen Objekt verdeckt wird, die aber für die beiden anderen Neurosen schwieriger zu verstehen ist, wenn man nicht den Faden hat, der es ermöglicht, das Phantasma als Begehren des Anderen zu setzen. Man findet dann davon die beiden Glieder gleichsam auseinandergebrochen vor: das eine beim Zwangsneurotiker, insofern er das Begehren des Anderen verleugnet, wenn er sein Phantasma ausbildet, um das Unmögliche des Verschwindens des Subjekts zu betonen, das andere bei der Hysterischen, insofern das Begehren sich darin nur durch die Unbefriedigung aufrechterhält, die man darin einbringt, indem man sich darin als Objekt entzieht.“30
Die These „Das Reale ist das Unmögliche“ ist, wie man sehen wird, eine Verallgemeinerung der These über den Zwangsneurotiker. Nicht nur die Zwangsneurotiker, auch die Hysteriker begehren das Unmögliche.
Auszüge aus dem Seminar „Die Identifizierung“ (1961/62). Übersetzung mit Erläuterungen
Das Theorem „Das Reale ist das Unmögliche“ wird von Lacan also, wie gesagt, in Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung eingeführt, dort in ständiger Auseinandersetzung mit der traditionellen, der transzendentalen und der modernen Logik. Ein Jahr später wird er dieses Seminar so beschreiben:
„Ich unterstelle, dass ich mich an Leute wende, […] die sich […] an das erinnern, was ich mich im letzten Jahr herauszuarbeiten bemüht habe, bezogen auf den so genannten allgemeinen bejahenden Satz, dass er nämlich Sinn nur von der Definition des Realen als des Unmöglichen her hat. […] Wie Sie sehen, hat die Logik seither im Wesentlichen die heikle Funktion, das Reale dazu zu verdammen, auf ewig im Unmöglichen herumzutappen.“31
Im Identifizierungsseminar sollte demnach gezeigt werden, dass die Definition des Realen als des Unmöglichen grundlegend dafür ist, dass die universale bejahende Aussage einen Sinn hat. (Eine universale bejahende Aussage hat die Form „Alle S sind P“, z.B. „Alle Menschen sind sterblich“; S steht hierbei für „Subjekt“, P für „Prädikat“, beide Begriffe im Sinne der Logik, nicht der Grammatik. Diese Aussage ist universal im Gegensatz zu partikular, d.h. sie bezieht sich auf alle, nicht auf einige. Sie ist bejahend statt verneinend, eine universale verneinende Aussage hat die Form „Alle S sind nicht P“.)
Wenn man nachvollziehen will, was das Theorem „Das Reale ist das Unmögliche“ bei seinem ersten Auftreten besagen will, sollte man sich also klarmachen, inwiefern es die universale bejahende Aussage fundiert, wie es sich auf welche Logik bezieht und warum das für die Psychoanalyse relevant sein könnte.
Im Folgenden übersetze ich alle Passagen aus Seminar 9, die sich auf das Reale als das Unmögliche sowie auf die universale bejahende Aussage beziehen. Die Stellen sind chronologisch geordnet. Auf die Übersetzung einer Passage folgt eine Paraphrase mit erläuternden Ergänzungen und Fragen.
Eine Logik des unbewussten Denkens (19. November 1961)
Übersetzung
Zu Beginn der Sitzung vom 15. November 1961 erläutert Lacan sein Vorhaben in diesem Seminar: Thema ist die Identifizierung, und das heißt, es geht um das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten.
Das Verb „identifizieren“, sagt er, kommt vom Lateinischen idem facere, „identisch machen“, deshalb wolle er sich vor allem damit beschäftigen, worin im Falle der Identifizierung das Identisch-Machen besteht. Der Satz der Identität lautet A = A, und das werfe jede Menge Probleme auf. Aber als Psychoanalytiker müsse man in Fragen der Logik von einer Erfahrung mit dem Sprechen ausgehen; von hier aus müsse man den Begriff der Identifizierung angehen, in seiner Mehrdeutigkeit und seiner Ambiguität. Im Französischen heißt „das Selbe“ le même, vom lateinischen metipsum. In moi-même, „ich selbst“, werde das Selbe mit dem Ich verkoppelt, so wie auch im Deutschen „selbst“ die Identität bezeichnet.
Dies sei vielleicht nicht ohne Beziehung dazu, dass Descartes das Sein in der berühmten Formel „ich denke, also bin ich“ als etwas denken konnte, was dem Subjekt innewohnt. Die Formel sei vielleicht kein schlechter Zugang zur Frage der Identifizierung, zur Frage nach der Identität des Subjekts. Lacan fährt so fort:
„ ‚Ich denke, also bin ich‘, in dieser Form scheint mir das die üblichen Verwendungen in sich zu konzentrieren, sodass es zu dieser ‚abgegriffenen Münze‘ ohne Relief geworden ist, auf die Mallarmé sich irgendwo bezieht.32 Wenn wir das einen Augenblick lang festhalten und versuchen, daraus die Funktion des Zeichens herauszufeilen, wenn wir versuchen, seine Funktion für unseren Gebrauch neu zu beleben, dann möchte ich bemerken, dass diese Formel – zu der ich Ihnen zum wiederholten Male sage, dass man sie bei Descartes in ihrer konzentrierten Form nur an einem bestimmten Punkt der Abhandlung über die Methode findet33 –, dass diese Formel keineswegs so, in dieser verdichteten Form, ausgedrückt wird.
Dieses ‚Ich denke, also bin ich‘ stößt auf den folgenden Einwand, und ich glaube, dass er nie vorgebracht worden ist, nämlich dass ‚Ich denke‘ kein Gedanke ist.
Es ist klar, dass Descartes uns diese Formel als Ergebnis eines langen Denkprozesses vorlegt, und ganz gewiss ist das Denken, um das es dabei geht, das Denken eines Denkers. Ich möchte sogar noch mehr sagen: Das Merkmal ‚das ist ein Denken eines Denkers‘ ist nicht erforderlich, um vom Denken zu sprechen. Ein Denken, um es klar zu sagen, erfordert keineswegs, dass man an das Denken denkt.
Insbesondere für uns beginnt das Denken mit dem Unbewussten.
Man kann sich nur wundern über die Zaghaftigkeit, die uns, wenn wir versuchen, etwas über das Denken zu sagen, zur Formel der Psychologen greifen lässt, zu der Formel, dass wir sagen, dass das Denken ein skizzenhaftes, verkürztes Handeln ist – das kleine ökonomische Handlungsmodell. Sie werden mir sagen, dass man das irgendwo bei Freud findet.34 Aber sicher, bei Freud findet man alles, in irgendeinem Absatz hat er mal von dieser psychologischen Definition des Denkens Gebrauch machen können. Aber schließlich ist es sehr schwierig, auszuklammern, dass wir bei Freud auch finden, dass das Denken ein äußerst effektiver und gewissermaßen selbstgenügsamer Modus der masturbatorischen Befriedigung ist. Dies um zu sagen, dass wir, bezogen auf den Sinn des Denkens, eine Spannbreite haben, die vielleicht ein bisschen größer ist als die der anderen Arbeiter.
Das schließt jedoch nicht aus, dass wir sagen können – bei der Prüfung der Formel, um die es geht, ‚Ich denke, also bin ich‘ –, dass die Formel uns, bezogen auf den Gebrauch, der davon gemacht wird, nur vor ein Problem stellen kann. Denn es empfiehlt sich, diese Redeweise zu prüfen, ‚ich denke‘ – wie groß das Feld, dass wir dem Denken vorbehalten haben, auch sein mag –, um zu sehen, ob sie den Merkmalen des Denkens genügt, um zu sehen, ob sie den Merkmalen dessen genügt, was wir ein Denken nennen können.
Es könnte sein, das dies eine Redeweise ist, die sich als völlig ungenügend erweist, sodass sie in keiner Weise das stützt, was auch immer wir am Ende von dieser Präsenz ausmachen können: ‚Ich bin‘. Und das ist eben das, was ich behaupte.
Um zu erklären, worauf ich hinauswill, möchte ich darauf hinweisen, dass ‚Ich denke‘ – ganz kurz in dieser Form genommen – logisch nicht tragbarer, nicht haltbarer ist als das ‚Ich lüge‘, das bereits für eine gewisse Anzahl von Logikern ein Problem dargestellt hat, dieses ‚Ich lüge‘, das sich nur durch das logische Schwanken aufrechterhält, sicherlich leer, aber dennoch haltbar, das diesen Schein von Sinn entfaltet, der im Übrigen ganz ausreicht, um in der formalen Logik seinen Platz zu finden. ‚Ich lüge‘: wenn ich das sage, ist es wahr – also lüge ich nicht. Aber dennoch lüge ich, da ich, wenn ich ‚Ich lüge‘ sage, das Gegenteil behaupte.
Es ist sehr leicht, diese angebliche logische Schwierigkeit zu demontieren und zu zeigen, dass die angebliche Schwierigkeit, auf der dieses Urteil beruht, auf Folgendem beruht: Das Urteil, das es enthält, kann sich nicht auf seine eigene Aussage (énoncé) beziehen, das ist ein Kollaps. Diese berühmte Schwierigkeit entsteht durch das Fehlen der Unterscheidung zweier Ebenen, dadurch, dass vom ‚Ich lüge‘ angenommen wird, dass es sich auf die Artikulation von ‚Ich lüge‘ selbst bezieht und nicht davon unterschieden wird.
Dies, um Ihnen zu sagen, dass es sich mangels dieser Unterscheidung nicht um eine wirkliche Aussage handelt.
Diese kleinen Paradoxien, von denen die Logiker übrigens viel her machen, um sie unmittelbar danach aufs rechte Maß zurückzubringen, können als einfacher unterhaltsamer Zeitvertreib angesehen werden. Gleichwohl sind sie von Interesse; sie müssen festgehalten werden, um die wahre Position jeder formalen Logik insgesamt aufzuzeigen, nicht zuletzt die des berühmten logischen Positivismus, über den ich vorhin [zu Beginn der Sitzung] gesprochen habe.
Damit meine ich, dass man unseres Erachtens von der berühmten Aporie des Epimenides keinen hinreichenden Gebrauch gemacht hat, einer Aporie, die nur eine entwickeltere Form dessen ist, was ich Ihnen gerade mit dem ‚Ich lüge‘ vorgelegt habe: dass alle Kreter Lügner sind, wie Epimenides der Kreter sagt. Und Sie sehen sofort das kleine Drehkreuz, das sich daraus ergibt.
Man hat davon keinen hinreichenden Gebrauch gemacht, um die Nichtigkeit der berühmten sogenannten bejahenden universalen Aussage A zu beweisen. Denn tatsächlich, man bemerkt es dabei, liegt hier, wie wir sehen werden, die interessanteste Form vor, um die Schwierigkeit zu lösen. Denn beachten Sie bitte, was geschieht, wenn man Folgendes sagt, was möglich ist, was in der Kritik an der berühmten universalen Bejahung A gesagt worden ist, über die nämlich einige behauptet haben, nicht ohne Grund, dass deren Substanz nie eine andere gewesen ist als die einer negativen Existenzaussage: ‚Es gibt keinen Kreter, der nicht fähig wäre zu lügen.‘35 Wenn man von da ausgeht, gibt es kein Problem mehr.36 Epimenides kann das aus dem Grunde sagen, weil er, wenn das so ausgedrückt wird, keineswegs sagt, es gebe jemanden, nämlich einen Kreter, der ohne Unterbrechung lügen könnte.
Vor allem wenn man sich klarmacht, dass fortdauernd zu lügen ein nie erlahmendes Erinnerungsvermögen voraussetzt, das dafür sorgen würde, der Rede letztlich eine Richtung zu geben, die das Äquivalent eines Geständnisses wäre, derart, dass selbst dann, wenn ‚Alle Kreter sind Lügner‘ bedeutet, dass es keinen Kreter gibt, der nicht ununterbrochen lügen will, ihm die Wahrheit dann doch herausrutschen wird – je stärker dieser Wille ist, umso mehr.
Die plausibelste Bedeutung des Geständnisses des Kreters Epimenides, dass alle Kreter Lügner sind, diese Bedeutung kann nur die sein – und dessen rühmt er sich –, dass er Sie damit verwirren will, indem er Sie wahrheitsgemäß vor seiner Methode warnt. Aber dahinter steckt kein anderer Wille. Das hat denselben Erfolg wie dieses andere Vorgehen, dass darin besteht, anzukündigen, das man selbst nicht höflich sein wird, dass man absolut aufrichtig sein wird – das ist eben der Typ, der Sie dazu bringen will, ihm seinen ganzen Bluff abzunehmen.
Ich will damit sagen, dass jede Bejahung einer Allgemeinaussage, im formalen Sinne der Kategorie, dieselben krummen Absichten hat, und es ist sehr hübsch, das sie, diese Absichten, in den klassischen Beispielen deutlich hervortreten.
Dass ein Aristoteles sich die Mühe macht, zu offenbaren, dass Sokrates sterblich ist, muss doch ein gewisses Interesse bei uns wecken, das heißt Anlass zu etwas bieten, was wir unter uns ‚Interpretation‘ nennen können, insofern dieser Ausdruck beansprucht, ein bisschen weiter zu gehen als die Funktion, die man ja sogar im Titel eines der Bücher der Logik von Aristoteles findet.37 Denn wenn derjenige, den Athen als Sokrates bezeichnet, als menschliches Tier offensichtlich des Todes gewiss ist, so entgeht er dem Tod in Wirklichkeit dennoch: als derjenige, der ‚Sokrates‘ genannt wird, und dies offensichtlich nicht nur deshalb, weil sein Ruf so lange fortdauern wird, wie die von Platon vorgenommene sagenhafte Übertragungsoperation lebendig ist, sondern noch genauer nur deshalb, weil es ihm gelungen ist, sich – ausgehend von seiner sozialen Identität – als dieses Wesen der Atopie zu konstituieren, das ihn kennzeichnet.38 Nur deshalb konnte besagter Sokrates, derjenige, den man in Athen so nennt, und deshalb konnte er nicht ins Exil gehen, konnte er sich im Begehren nach seinem eigenen Tod soweit stärken, dass er daraus das acting out seines Lebens gemacht hat. Es wird <von ihm> noch diese heitere Bemerkung hinzugefügt, dem Asklepios den berühmten Hahn zu entrichten, als ginge es darum, dass die Empfehlung ausgesprochen werden musste, den Maronenverkäufer an der Ecke nicht zu schädigen.39
Es gibt hier bei Aristoteles also etwas, das wir als einen Versuch deuten können, eine Übertragung auszutreiben, die er als Hindernis für die Entwicklung des Wissens ansah.
Das war übrigens von seiner Seite ein Irrtum, denn das Scheitern dieses Versuchs ist offenkundig. Damit die Dinge einen anderen Ausgang nehmen, musste die Entnaturalisierung des Begehrens sicherlich noch ein bisschen weiter gehen als bei Platon. Die moderne Wissenschaft ist aus einem Hyperplatonismus heraus entstanden und keineswegs aus der aristotelischen Rückkehr zur Funktion des Wissens als etwas, was den Status des Begriffs hat. Es war tatsächlich das nötig, was wir den „zweiten Tod der Götter“ nennen können, nämlich ihre schemenhafte Wiederkehr zum Zeitpunkt der Renaissance, damit das Wort uns seine wahre Wahrheit zeigte, diejenige, die nicht die Illusionen vertreibt, sondern die Finsternis des Sinns, woraus die moderne Wissenschaft hervorgeht.
Demnach ist der Satz ‚Ich denke‘, wir haben es bereits gesagt, insofern interessant, als er uns die willentliche Dimension des Urteils zeigt – das ist das Minimum, das wir daraus ableiten können.
Wir müssen darüber nicht allzu viel sagen; die beiden Linien <des Graphen>, die wir als Äußerungsvorgang (énonciation) und Ausgesagtes (énoncé) unterscheiden, sind für uns hinreichend, um bestätigen zu können, dass wir in dem Maße, wie diese beiden Linien sich verwirren und vermengen, vor einer solchen Paradoxie stehen können, die zu der Sackgasse des ‚Ich lüge‘ führt, bei der ich Sie einen Augenblick lang festgehalten habe, und der Beweis dafür, dass es eben dies ist, worum es geht, nämlich, dass ich zugleich lügen und mit derselben Stimme sagen kann, dass ich lüge.
Wenn ich diese Stimmen unterscheide, ist das völlig zulässig. Wenn ich sage ‚Er sagt, dass ich lüge‘, ist das einfach, dagegen gibt es keinen Einwand, genauso wenig, wie wenn ich sagen würde ‚Er lügt‘. Aber ich kann sogar sagen ‚Ich sage, dass ich lüge‘.
Es gibt hier jedoch etwas, wobei wir uns aufhalten müssen, nämlich wenn ich sage ‚Ich weiß, dass ich lüge‘. Das hat dann etwas völlig Überzeugendes, bei dem wir als Analytiker innehalten müssen, denn als Analytiker wissen wir ja, dass das Ursprüngliche, das Lebendige und das Faszinierende unserer Intervention darin besteht, dass wir sagen können, dass wir da sind, um zu sagen, um uns in genau der entgegengesetzten, aber streng hierauf bezogenen Richtung zu bewegen, die darin besteht, zu sagen ‚Aber nein, du weißt nicht, dass du die Wahrheit sagst‘ – was sofort weiterführt. Und mehr noch: ‚Du sagst es nur in dem Maße so gut, wie du zu lügen glaubst, und wenn du nicht lügen willst, dann deshalb, um dich vor dieser Wahrheit zu schützen.‘ Es scheint, dass man diese Wahrheit nur durch dieses Flackern einkreisen kann, die Wahrheit, die insofern eine Tochter ist – Sie erinnern sich an unsere Termini –, als sie ihrem Wesen nach, wie jede andere Tochter, nur eine Verirrte wäre.40“41
Nach weiteren Hinweisen zum „Ich denke, also bin ich“ geht Lacan zum Sujet supposé savoir über, zum Subjekt, dem zu wissen unterstellt wird.
Paraphrase mit Ergänzungen
Das Denken des Unbewussten
Lacan bezieht sich auf Descartes’ berühmten Satz „Ich denke, also bin ich“ [den man in den Mediationen über die erste Philosophie (1641) findet]. Der Satz ist zu einer „abgegriffenen Münze“ geworden, wie Mallarmé sagt, und Lacan möchte den Satz für seine Zwecke [also für die der Psychoanalyse] neu beleben, indem er daran die Funktion des Zeichens herausarbeitet [gemeint ist: die Funktion des Signifikanten in der Perspektive des Unbewussten]. [In späteren Seminaren wird Lacan immer wieder auf Descartes’ Formel zurückkommen.]
Lacans Einwand gegen Descartes’ Satz lautet: „Ich denke“ ist kein Gedanke. Sicherlich ist die Aussage „Ich denke, also bin ich“ das Denken eines Denkers, der an das Denken denkt. Aber damit ist es noch kein Gedanke – dass etwas das Denken eines Denkers ist, dass man an das Denken denkt, ist keine notwendige Bedingung dafür, dass es sich um ein Denken handelt. Vor allem für „uns“, für die Psychoanalytiker, beginnt das Denken mit dem Unbewussten. [Freud spricht von „unbewussten Gedanken“.]
Die Formel der Psychologen, dass das Denken ein verkürztes Handeln ist [ein Probehandeln] – eine Formulierung, die man auch bei Freud findet –, ist zurückzuweisen. Freud sagt auch, das Denken sei eine Form der masturbatorischen Befriedigung. [¿ Mir ist nicht klar, ob Lacan auch diese Freud’sche These zurückweist oder ob er hier eine Beziehung zwischen unbewusstem Denken und Genießen andeutet, ein Zusammenhang, der ihn in späteren Seminaren stark beschäftigen wird.] Psychoanalytiker haben, wenn es um das Denken geht, zwar eine größere Spannbreite als andere [insofern sie „unbewusste Gedanken“ kennen und nach der Beziehung zur Triebbefriedigung fragen]; das ändert jedoch nichts daran, dass die Formel „Ich denke, also bin ich“ auch sie vor ein Problem stellt.
Paradoxien der Aussage
[Um dieses Problem anzugehen, wendet Lacan sich dem ersten Bestandteil von Descartes’ Formulierung zu, dem Satz „Ich denke“.] Lacan behauptet: Die Formulierung „ich denke“ ist kein Denken und sie stützt auch nicht den anschließenden Satz „ich bin“; die Formulierung „ich denke“ ist nicht haltbarer als die Aussage „Ich lüge [mit diesem Satz]“.
Mit der Aussage „Ich lüge [mit diesem Satz]“ haben sich einige Logiker beschäftigt. Denn der Satz führt zu einem Schwanken [zwischen Wahr und Falsch]. Wenn ich sage „ich lüge [mit diesem Satz]“ [und wenn ich annehme, dass der Satz wahr ist], dann ist der Satz falsch, da ich ja das Gegenteil behaupte, nämlich dass ich lüge – wenn der Satz wahr ist, ist er also falsch. [Wenn der Satz aber falsch ist, dann heißt das, dass ich nicht lüge, sondern die Wahrheit spreche, dann ist er also wahr.] Diese Oszillationsbewegung [zwischen Wahrheit und Falschheit] hat dazu geführt, dass der Satz zu einem Thema der formalen Logik geworden ist.
Die Paradoxie entsteht dadurch, dass das Urteil [bzw. die Aussage, die Proposition] sich hier auf sich selbst bezieht, dass also zwei Ebenen nicht unterschieden werden, die Ebene von „Ich lüge“ [wobei das Lügen Gegenstand einer Aussage ist, ein Thema] und die Ebene der Artikulation von „Ich lüge“ [dass also die Ebene dessen, worüber gesprochen wird (énoncé) und die des aktuell vollzogenen Sprechvorgangs (énonciation) nicht unterschieden werden]. Da diese Unterscheidung nicht getroffen wird, handelt es nicht um eine wirkliche Aussage. [?]
Solche Paradoxien sind insofern interessant, als sie die wahre Position der formalen Logik insgesamt aufzeigen, u.a. die des logischen Positivismus [da die Logik über dem Problem einer ähnlichen Paradoxie in eine Krise geraten ist].
[Der Ausdruck „formale Logik“ wird in zwei Bedeutungen verwendet, einer weiten und einer engen. Die formale Logik im weiteren Sinn ist die Logik, die sich mit dem Zusammenhang zwischen der Form von Aussagen (von Urteilen, von Propositionen) und ihrer Wahrheit und Falschheit befasst, unter Absehung vom Inhalt; so verwendet gehört auch die von Aristoteles begründete Logik (auch „aristotelische Logik“ oder „traditionelle Logik“ genannt) zur formalen Logik. Als „formale Logik“ wird aber auch speziell diejenige Logik bezeichnet, die den Bruch mit der aristotelischen Logik vollzieht, indem sie sich auf das Vorbild der Algebra stützt und spezielle Schriftzeichen verwendet; sie wurde im 19. Jahrhundert von Boole und Frege begründet und wird auch als „moderne Logik“, „symbolische Logik“ oder „mathematische Logik“ bezeichnet. Ich kann nicht erkennen, welche Bedeutung hier gemeint ist.]
Um das zu zeigen, sollte man sich beim Umgang mit dieser Paradoxie auf den berühmten Satz des Kreters Epimenides beziehen, „Alle Kreter lügen“, das ist eine entwickeltere Form des Satzes „Ich lüge [jetzt gerade]“. Man hat keinen hinreichenden Gebrauch davon gemacht, um die Nichtigkeit der bejahenden universalen Aussage zu beweisen. [Die nachzuweisende „wahre Position“ der formalen Logik bezieht sich speziell auf die universale bejahende Aussage. „Nichtigkeit“ könnte heißen: dass die universale Aussage sich auf „nichts“ bezieht, das ist die von Lacan im Verlauf des Identifizierungsseminars entwickelte These.]
Lacan bezeichnet die universale bejahende Aussage mit dem Buchstaben A [da sie im sogenannten logischen Quadrat der scholastischen Logik mit diesem Buchstaben bezeichnet wird; auf dieses Quadrat und die darin verwendeten Buchstaben kommt er später zurück].
Die Paradoxie des Epimenides ist geeignet, um die Nichtigkeit der bejahenden universalen Aussage zu zeigen [also die Nichtigkeit der Aussagen vom Typ „Alle S sind P“]. [Lacans Argument ist: (a) Grundlage der traditionellen Logik ist die universale bejahende Aussage. (b) Eine bestimmte universale bejahende Aussage führt in eine Paradoxie, nämlich die Aussage eines Kreters „Alle Kreter sind (immer) Lügner“ – wenn sie wahr ist, ist sie falsch. (c) Diese scheinbare Ausnahme zeigt, dass es mit der universalen bejahenden Aussage insgesamt Schwierigkeiten gibt, dass sie auf wackligem Grund steht.]
Das Problem, das mit „Ein Kreter sagt: ‚Alle Kreter sind Lügner‘“ verbunden ist, löst sich auf, wenn man sagt, mit dem Satz des Epimenides sei die folgende negative Existenzaussage gemeint „Es gibt keinen Kreter, der nicht in der Lage wäre zu lügen.“ [Durch die doppelte Verneinung ist diese Aussage einer universalen bejahenden Aussage äquivalent, also der Aussage „Alle Kreter sind in der Lage zu lügen“. Die Paradoxie löst sich dadurch auf, das ein Dispositionsprädikat verwendet wird („in der Lage sein, etwas zu tun“), nicht durch die Umwandlung in eine Aussage, die mit „Es gibt nicht“ beginnt.] Epimenides kann durchaus sagen, „Es gibt keinen Kreter der nicht lügen kann“, denn damit sagt er nicht, dass es Kreter gäbe, die ununterbrochen lügen können.
Wenn alle Kreter aber tatsächlich beständig lügen würden [statt dass sie nur in der Lage wären, beständig zu lügen], dann würde dies ein beständiges Erinnerungsvermögen erfordern [an den Beschluss, fortwährend zu lügen]. Damit aber würde die lügnerische Rede zum Äquivalent eines Geständnisses, denn je stärker der Wille ist, zu lügen, desto eher rutscht einem die Wahrheit heraus. [Lacan bezieht sich auf eine Urerfahrung der Psychoanalyse: dass die Wahrheit etwas ist, was einem im Gespräch herausrutscht, etwa in Gestalt eines Versprechers oder einer Mehrdeutigkeit.]
Man kann sich fragen, warum der Kreter Epimenides auf die Idee kommt, einem das Geständnis zu machen „Alle Kreter sind Lügner“. Die plausibelste Erklärung ist, dass er einen damit verwirren will – und zwar durch Ankündigung seiner Methode, wobei diese Ankündigung der Wahrheit entspricht. [Das könnte heißen: Er sagt dies, damit ich das, was er an Wahrem sagt, für falsch halte.] Lacan vergleicht das mit dem umgekehrten Vorgehen, dass jemand mir sagt, er werde aufrichtig sein und er werde sich die Höflichkeiten sparen – er sagt mir das, damit ich ihm seine Täuschungen abnehme [damit ich das, was er an Falschem sagt, für wahr halte].
Lacan geht nun, wie angekündigt, von diesem Sonderfall einer universalen Bejahung – von „Alle Kreter sind Lügner“ – zur universalen Bejahung schlechthin über.
Seine These lautet: Jede universale Bejahung [jede Aussage vom Typ „Alle S sind P“] verfolgt eine krumme Absicht, ist ein Täuschungsmanöver [so wie im Falle von Epimenides, der mich mit der universal bejahenden Aussage „Alle Kreter sind Lügner“ verwirren will].
„Alle Menschen sind sterblich“
Aristoteles verwendet in seiner Logik den Satz „Sokrates ist sterblich“. Warum sagt er das? Als Psychoanalytiker sollte man diese Aussage deuten.
[Mit „Sokrates ist sterblich“ sind wir bei einer singulären bejahenden Aussage, bei einer Aussage über ein Individuum, nicht bei einer universalen bejahenden Aussage. Indirekt geht es jedoch auch hier um eine universale bejahenden Aussage, denn „Sokrates ist sterblich“ ist die Schlussfolgerung in einem berühmten logischen Schluss (oder Syllogismus oder Argument), bei dem aus der Prämisse „Alle Menschen sind sterblich“ und der Prämisse „Sokrates ist ein Mensch“ die Schlussfolgerung gezogen wird, „Also ist Sokrates sterblich“. Der singuläre bejahende Satz „Sokrates ist sterblich“ funktioniert vor dem Hintergrund der universalen bejahenden Aussage „Alle Menschen sind sterblich“.]
Dass Aristoteles den Satz „Sokrates ist sterblich“ verwendet, sollte Anlass für eine Interpretation sein, wobei man sich nicht auf die Interpretation in dem Sinne beschränken sollte, wie man das im Titel eines der Bücher von Aristoteles findet. [Lacan bezieht sich auf das Werk, das im Lateinischen De interpretatione heißt (im Deutschen meist Lehre vom Satz); in dieser Schrift wird die Unterscheidung von universalen und partikulären sowie von bejahenden und verneinenden Aussagen eingeführt.] Vielmehr geht es um eine Deutung im Sinne der Psychoanalyse.
Bei dieser Deutung sollte man sich darauf beziehen, dass Sokrates keineswegs, wie alle Menschentiere, sterblich ist, sondern dass er [auf der symbolischen Ebene] unsterblich ist. Erstens, weil sein Ruf solange fortdauern wird, wie die Übertragungsbeziehung, die Platon zu Sokrates hergestellt hat, fortdauern wird [durch die Wirksamkeit von Platons Dialogen, in denen Sokrates die Hauptfigur ist]. Außerdem ist Sokrates deshalb unsterblich, weil es ihm gelungen ist, sich ausgehend von seiner sozialen Identität [als Bürger von Athen] als ein Wesen der Atopie zu konstituieren [der Ortlosigkeit, als jemand, der nicht einzuordnen ist]. [Die „Atopie“ des Sokrates wurde von Lacan in Seminar 7, Die Ethik der Psychoanalyse (1959/60), untersucht, die Übertragungsbeziehung gegenüber Sokrates war Thema von Seminar 8, Die Übertragung (1960/61).– Die Deutungstechnik besteht hier darin, dass angenommen wird, dass der unbewusste Sinn der Aussage ihr Gegenteil ist. Das, was mit dem Satz „Sokrates ist sterblich“ abgewehrt wird, ist Sokrates’ Unsterblichkeit.]
[Worin bestand die „Atopie“ des Sokrates? Darin, dass er beständig nach Begriffsdefinitionen fragte, selbst aber keine Lösung hatte? Und inwiefern ist er gerade aufgrund seiner „Atopie“ unsterblich? Vermutlich insofern, als das Begehren sich auf ein „atopisches“ Objekt stützt, auf das Objekt des Begehrens als Ursache des Begehrens, wie es ab dem folgenden Seminar heißen wird (Seminar 10, Die Angst, 1962/63).]
Diese Ortlosigkeit beruht auf seiner sozialen Identität [als Bürger Athens], wobei diese soziale Identität so stark war, dass er nicht ins Exil gehen konnte [um so der Exekution zu entgehen]. Diese Ortlosigkeit hat das Begehren von Sokrates nach seinem eigenen Tod gestärkt [seinen „Todeswunsch“, seinen „Todestrieb“, in der Terminologie von Freud], sodass er daraus das acting out seines Lebens gemacht hat [indem er die Hinrichtung gelassen akzeptierte (statt ins Exil zu gehen) und auf diese Weise sein Leben „ausagierte“]. [Es geht um die Subjektspaltung, um die Spaltung zwischen der Identifizierung und dem Begehren: Sokrates identifiziert sich mit der Position des athenischen Bürgers, das ist die eine Seite der Spaltung. Die Kehrseite ist sein Begehren, ein Objekt zu sein, das in der sozialen Ordnung gerade keinen Platz hat; er realisiert dieses Begehren, indem er sich hinrichten lässt.] Seine letzten Worte beziehen sich darauf, dass man dem Asklepios [dem Gott der Heilkunst] noch einen Hahn schuldet, ein Opfer, und er sagt das, als ginge es um eine gewöhnliche soziale Pflicht [er ist also zugleich in der sozialen Ordnung tief verankert, es ist ihm wichtig, seine Schulden (gegenüber irgendeinem Tempel) zu bezahlen, auch noch nach seinem Tod].
[Warum also setzt Aristoteles mitten in seine Logik des Satz „Sokrates ist sterblich“?] Um die von Platon aufgebaute Übertragung [im Verhältnis zu Sokrates] auszutreiben [die Bindung an Sokrates und an dessen Begriffskritik]. Warum war Aristoteles das wichtig? Weil er in dieser Übertragung [in dieser Bindung an Sokrates] ein Hindernis für die Entwicklung des Wissens sah. [Das ist vielleicht eine Anspielung auf den Begriff des epistemologischen Hindernisses von Gaston Bachelard.]
Jenseits der Begriffslogik
Allerdings hat Aristoteles sich geirrt. Die moderne Wissenschaft hat sich nicht ausgehend von Aristoteles entwickelt, nicht ausgehend von der Rückkehr zum Wissen als Begriff. [Die Aristotelische Logik ist eine Begriffslogik, das heißt, für sie sind die grundlegenden Elemente Begriffe, und sie untersucht die Beziehungen zwischen Begriffen. In „Alle Menschen sind sterblich“ fungiert „Alle Menschen“ als Begriff, man kann dafür einsetzen „Menschen sind sterblich“. Und auch das Prädikat wird als Begriff aufgefasst, „Alle Menschen sind sterblich“ wird umformuliert in „Menschen sind Sterbliche“. Für die moderne Logik hingegen sind nicht Begriffe die Grundelemente, sondern vor allem Aussagen (Boole, Frege) oder Prädikate (Frege, Peirce). Aussagen im Sinne der Logik (Urteile, Propositionen) sind Sätze wie z.B. „Menschen sind sterblich“, die Aussagenlogik untersucht die Beziehungen zwischen Aussagen. Prädikate sind Aussagen mit Leerstellen und Quantoren, z.B. „Alle … sind sterblich“ (der Quantor ist hierbei „alle“); die Prädikatenlogik wird auch als Quantorenlogik bezeichnet. In den sogenannten Formeln der Sexuierung (Seminare 18 bis 20) wird Lacan an die Prädikatenlogik anknüpfen.]
Für die Entstehung der modernen Wissenschaft musste die Entnaturalisierung des Begehrens noch weiter gehen als bei Platon. Die moderne Wissenschaft ist aus einem Hyperplatonismus heraus entstanden. Dazu war der „zweite Tod der Götter“ nötig, ihre schemenhafte Wiederkehr in der Renaissance. Dieser zweite Tod der Götter besteht in der Vertreibung der „Finsternis des Sinns“ [möglicherweise ist gemeint: in der Geometrisierung der Astronomie in der Renaissance].
[Inwiefern geht es um einen Hyperplatonismus? Kennzeichnend für die moderne Wissenschaft ist, wie Lacan immer wieder sagt, die Verwendung von Formeln nach dem Vorbild der Algebra und in diesem Sinne die Vertreibung des Sinns bzw. des Begriffs. Möglicherweise will Lacan andeuten, dass für die Orientierung am mathematischen Formalismus die platonische Trennung von sinnlich wahrnehmbarer Welt und geistig zugänglichen Ideen eine entscheidende Voraussetzung war und dass diese Trennung durch die Rezeption des Neuplatonismus in der Renaissance (Ficino) möglich wurde. Den Zusammenhang von Rezeption des Neuplatonismus und Entstehung der modernen Wissenschaft hat Alexandre Koyré untersucht, auf den Lacan sich hier vermutlich stützt.]
[In der Renaissance gibt es eine Wiederkehr der antiken Götter; insofern kann man die Wendung zu den mathematischen Formeln als zweiten Tod der Götter bezeichnen. Den Begriff des „zweiten Todes“ hatte Lacan in Seminar 7 von 1959/60 eingeführt, Die Ethik der Psychoanalyse, vgl. diesen Blogbeitrag.]
Ausgesagtes und Äußerungsvorgang
Lacan kommt auf den Satz „Ich denke“ zurück. Dieser Satz hat eine willentliche Dimension, das ist das Mindeste, was man aus den vorangehenden Darlegungen ableiten kann. [Der Satz „ich denke“ beruht auf einem Willen, so wie der Satz „Alle Kreter lügen“ auf dem Wunsch beruht, mich zu verwirren, und der Satz „Sokrates ist sterblich“ auf einem Todeswunsch gegenüber Sokrates.]
Die Paradoxie des Satzes „Ich lüge [gerade]“ ergibt sich daraus, dass das Ausgesagte (énoncé) und der Äußerungsvorgang (énonciation) vermengt werden. [In „Ich lüge (gerade)“ ist das Lügen des Ichs etwas, worüber gesprochen wird, was thematisiert wird (ähnlich wie in „er lügt“); dies liegt auf der Ebenes des Ausgesagten. Die Formulierung „Ich lüge (gerade)“ bezieht sich zugleich auf das aktuell vollzogene Sprechen (damit das eindeutig ist, muss man „gerade“ hinzufügen), insofern liegt „ich lüge (gerade)“ auf der Ebene des Äußerungsvorgangs.]
Im Graphen des Begehrens hatte Lacan diese beiden Ebenen unterschieden und ihnen zwei Linien zugeordnet. [Die untere von links nach rechts verlaufende Querlinie (in der endgültigen Version des Graphen führt sie von „Signifikant“ bis „Stimme“) entspricht dem Ausgesagten (énoncé), die obere von links nach rechts verlaufende Linie (von „Genießen“ bis „Kastration“) dem Äußerungsvorgang (énonciation).42]
Die Unterscheidung der beiden Stimmen für das Ausgesagte (enoncé) und für den Äußerungsvorgang (enonciation) ist völlig zulässig. [Ein und dieselbe Lautfolge, z.B. „ich lüge“, hat zwei „Stimmen“, in ihr wird über etwas gesprochen, und zugleich ist sie ein Sprechvorgang.]
Wenn ich sage „Er sagt, dass ich lüge“, ist das einfach. [Das, worüber gesprochen wird, das Ausgesagte, bezieht sich nicht auf den laufenden Sprechvorgang, sowohl das „sagen“ von „er“ als auch das „lügen“ von „ich“ sind hier einfach nur etwas, worüber gesprochen wird.] Das ist so einfach, wie wenn ich sage, „Er lügt“. Und ich kann sogar sagen „Ich sage, dass ich lüge“ [der Bestandteil „ich sage“ bezieht sich zwar auf den Sprechvorgang, aber das „ich lüge“ wird hier nur zitiert, und damit wird die Vermengung verhindert].
Wahrheit
[Die Logik betrachtet Aussagen (im Sinne der Logik) unter dem Gesichtspunkt von Wahrheit und Falschheit. Also fragt sich, wie der Begriff der Wahrheit sich für die Psychoanalyse darstellt.]
Etwas anderes ist es, wenn ich sage „Ich weiß, dass ich lüge“.
Einem Analytiker fällt diese Formulierung deshalb auf, weil er seinem Patienten gewissermaßen das Gegenteil sagt: „Du weißt nicht, dass du die Wahrheit sagst.“ [Du weißt nicht, dass du die Wahrheit in deinen Träumen sagst und in deinen Symptomen, z.B. in einem Versprecher oder einer Mehrdeutigkeit.]
[Lacan entfaltet die Dialektik von Wahrheit und Lügen in der Psychoanalyse:] Der Patient sagt genau in dem Maße die Wahrheit, wie er zu lügen glaubt. Wenn er nicht lügen will, dann nur deshalb, um sich vor der Wahrheit zu schützen [Freuds Begriff der Rationalisiserung]. Nur auf diese Weise ist die Wahrheit zugänglich. Die Wahrheit ist immer etwas Verirrtes. [Die Wahrheit kann, in psychoanalytischer Perspektive, nicht intentional angegangen werden, sie ist für die Psychoanalyse immer etwas, was sich überraschend zeigt, die Aufdeckung von etwas Verdrängtem.] Die Wahrheit ist wie eine Tochter, insofern jede Tochter eine Verirrte ist. [¿ Mir ist nicht klar, worauf Lacan hier anspielt.]
Misstrauen gegenüber Klassen (13. Dezember 1961)
Übersetzung
Am 13. Dezember 1961 verweist Lacan auf die Heterogenität von Freuds Unterscheidung zwischen drei Formen der Identifizierung in Massenpsychologie und Ich-Analyse und fährt dann fort:
„Dieser partielle Charakter des Zugangs, dieses Eintreten in das Problem um die Ecke herum, wenn ich so sagen darf – ich habe, wenn ich Sie darauf hinweise, das Gefühl, dass es angebracht ist, dass ich das heute rechtfertige; und ich hoffe, es rasch genug tun zu können, um mich ohne allzu große Umwege verständlich zu machen, indem ich Sie an etwas erinnere, das für uns ein Grundsatz der Methode ist, nämlich dass wir uns – angesichts unseres Platzes, unserer Funktion – bei unserer Urbarmachung, sagen wir, vor dem Allgemeinen (général) hüten müssen, und treiben Sie das so weit Sie wollen: vor der Gattung (genre) und sogar vor der Klasse.
Es mag Ihnen eigenartig vorkommen, dass jemand, der Ihnen gegenüber, bei der Artikulation der |{6} Phänomene, mit denen wir es zu tun haben, die Prägnanz der Funktion der Sprache betont, dass er sich hier von einem Beziehungsmodus abgrenzt, der im Bereich der Logik wahrhaft grundlegend ist. Wie soll man sich auf eine Logik beziehen, wie von einer Logik sprechen, die in ihrem ersten anfänglichen Schritt das Misstrauen gegenüber dem Begriff der Klasse hervorheben muss, ein Misstrauen, das ich als ganz ursprünglich ansetzen möchte? Das ist ja eben das, worin das Feld, das wir hier zu artikulieren versuchen, seine Originalität und seine Besonderheit gewinnt.
Was mich dazu veranlasst, ist keineswegs eine prinzipielle Voreingenommenheit. Vielmehr ist es die Notwendigkeit unseres eigenen Gegenstandes, die uns zu dem drängt, was sich im Laufe der Jahre, Stück für Stück, tatsächlich entwickelt: eine logische Artikulation, die mehr als nur andeutet, die sich – vor allem, wie ich hoffe, in diesem Jahr – immer mehr dem nähert, Algorithmen auszuarbeiten, die es mir erlauben, dieses Kapitel als Logik zu bezeichnen, ein Kapitel, das wir den von der Sprache ausgeübten Funktionen werden hinzufügen müssen, in einem bestimmten Feld des Realen, demjenigen, in dem wir, sprechende Wesen, die Führer sind.
Hüten wir uns also aufs Äußerste, um einen Platon’schen Terminus zu verwenden43, vor jeder koinonia tōn genōn, vor all dem, was bei irgendeinem Genre die Figur der Gemeinschaft ist und insbesondere bei denen, die für uns die ursprünglichsten sind. Die drei Identifizierungen bilden wahrscheinlich keine Klasse.44 Wenn sie dennoch denselben Namen tragen können, der hier den Schatten eines Begriffs hineinbringt, müssen wir sicherlich auch dem gerecht werden. Wenn wir mit Genauigkeit vorgehen, ist das wohl keine Aufgabe, die unsere Kräfte übersteigt.
Tatsächlich wissen wir bereits, dass das, was für uns eine universelle Funktion ist, immer auf der Ebene des Besonderen auftaucht, und darüber sollten wir uns – auf der Ebene des Feldes, in dem wir uns bewegen – nicht zu sehr wundern, denn was die Funktion der Identifizierung angeht, so kennen wir bereits – dafür haben wir genügend zusammengearbeitet – die Bedeutung der Formel, dass das, was geschieht, im Wesentlichen auf der Ebene der Struktur geschieht. Und die Struktur – muss man daran erinnern? doch, ich glaube, dass ich heute, bevor ich einen Schritt weiter gehe, daran erinnern muss –, die Struktur ist das, was wir namentlich als Spezifizierung eingeführt haben – Register des Symbolischen.“45
Anschließend betont Lacan, dass die Unterscheidung zwischen dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen keine ontologische Unterscheidung sei, keine Unterscheidung von Seinsarten. Vielmehr handele es sich, was das Symbolische angeht, um ein Feld der psychoanalytischen Erfahrung, das bislang nicht hinreichend unterschieden worden sei, wobei dieses Erfahrungsfeld durch die psychoanalytische Technik konstituiert werde.
Paraphrase mit Ergänzungen
Misstrauen gegenüber Klassen
Psychoanalytiker müssen misstrauisch sein gegenüber dem Allgemeinen (général). Das heißt auch, dass sie gegenüber der Gattung (genre) und der Klasse misstrauisch sein müssen, gegenüber allem, was bei einer Gattung die Figur der Gemeinschaft ist, dass sie misstrauisch gegenüber dem sein müssen, was Platon im Sophistes als koinonia tōn genōn bezeichnet, als Gemeinschaft der Klassen. [Weder die Begriffslogik noch die Klassenlogik sind demnach ein unproblematischer Ausgangspunkt für die Entwicklung einer Logik des unbewussten Denkens.] Psychoanalytiker müssen also gegenüber einer Beziehungsart misstrauisch sein, die für die Logik grundlegend ist. Dieses Misstrauen ist ganz ursprünglich, hierdurch bekommt das Feld der Psychoanalyse seine Originalität. Das Misstrauen gegenüber dem Begriff der Klasse hat keineswegs prinzipiellen Charakter, es beruht vielmehr auf der Notwendigkeit des Gegenstandes der Psychoanalyse.
Der Gegenstand der Psychoanalyse drängt Lacan dazu, sagt er, Schritt für Schritt eine logische Artikulation zu entwickeln, die auf „Algorithmen“ abzielt [auf Formeln], die es gestatten, ein bestimmtes Kapitel als „Logik“ zu bezeichnen.
Die drei Formen der Identifizierung [von denen Freud in Massenpsychologie und Ich-Analyse spricht], bilden wahrscheinlich keine Klasse. [Die drei Identifizierungsarten sind dort: primäre Identifizierung mit dem idealisierten Vater, Identifizierung mit dem unzugänglichen Liebesobjekt, hysterische Identifizierung mit dem Begehren von anderen.]
Die Identifizierung ist für den Analytiker eine „universale Funktion“ [wohl im Sinne von: er stößt beständig darauf]. Aber wir [als Analytiker] wissen, dass diese „universale Funktion“ immer auf dem Niveau des Besonderen auftaucht.
Man muss [bei der Rekonstruktion der verschiedenen Identifizierungsarten] von der Struktur ausgehen, und die Struktur ist eine Spezifizierung im Register des Symbolischen.
Fundierung der universalen bejahenden Aussage durch das Nichts (17. Januar 1962)
Übersetzung
Drei Sitzungen später, am 17. Januar 1962, spricht Lacan über die verschiedenen Formen der Negation im Französischen, insbesondere über das sogenannte „expletive ne“ (wie in je crains qu’il ne vienne, „ich fürchte, dass er kommt“, „ich fürchte, dass er vielleicht kommt“). Er knüpft an Pichon an, der dieses ne als „diskordantielles ne“ bezeichnet – als ne, das eine Nicht-Übereinstimmung anzeigt –, und er führt diesen Gedanken fort: Das sogenannte expletive ne ist für Lacan der Signifikant des Subjekts des Äußerungsvorgangs (énonciation) im Unterschied zum Ausgesagten (énoncé).46 Danach heißt es:
„Pas un homme qui ne mente (kein Mensch, der nicht lügt / der nicht lügen würde) zeigt seinen Unterschied im Verhältnis zu diesem Zusammenspiel von Arten des Fehlens: etwas, das auf einer ganz anderen Ebene liegt und das hinreichend durch die Verwendung des Subjunktivs [mente] angezeigt wird. Dieses ‚Kein Mensch, der nicht lügt‘ liegt auf derselben Ebene wie das, was die ganz und gar diskordantiellen Formen motiviert und definiert – um den Terminus von Pichon zu verwenden –, wie wir dem ne zuschreiben könnten: vom je crains qu’il ne vienne (ich fürchte, dass er vielleicht kommt) bis zum avant qu’il ne vienne (bevor er kommt), bis zum plus petit que je ne le croyais (kleiner als ich geglaubt habe / als ich glauben mochte) oder auch il y a longtemps que je ne l’ai vu (es ist lange her, dass ich ihn gesehen habe), die, das sage ich Ihnen am Rande, alle möglichen Fragen aufwerfen, die ich im Augenblick übergehen muss. Am Rande weise ich Sie darauf hin, was von einer Formulierung wie il y a longtemps que je ne l’ai vu gestützt wird – Sie können das nicht über einen Toten sagen und nicht über einen Vermissten, il y a longtemps que je ne l’ai vu unterstellt, dass eine weitere Begegnung immer möglich ist. Sie sehen, mit welcher Vorsicht die Prüfung, die Untersuchung dieser Ausdrücke vorgenommen werden muss.
Und deshalb, in dem Moment, in dem wir versuchen, nicht die Dichotomie vorzubringen, sondern eine allgemeine Tabelle der unterschiedlichen Charaktere der Negation, für deren Felder uns unsere Erfahrung Einträge liefert, die weitaus reicher sind als alles, was, auf der Ebene der Philosophen von Aristoteles bis Kant gemacht worden ist –; und Sie wissen, wie diese Feldeinträge heißen: Privation, Frustration, Kastration.47
Wir werden versuchen, sie wieder aufzunehmen, um sie mit der Signifikantenstütze der Negation zu konfrontieren, so wie wir versuchen können, sie zu identifizieren.
‚Kein Mensch, der nicht lügt.‘ Was gibt diese Formulierung uns zu verstehen?
‚Homo mendax‘ [lateinisch, ‚Der Mensch (ist) ein Lügner‘], dieses Urteil, diese Aussage, die ich Ihnen in Form des Typus der universalen Bejahung präsentiere, worüber Sie vielleicht wissen, dass ich in meiner ersten Seminarsitzung in diesem Jahr bereits darauf angespielt habe, bezogen auf die klassische Verwendung des Syllogismus ‚Jeder Mensch ist sterblich‘, ‚Sokrates ist ein Mensch‘ usw., mit dem, was ich am Rande zu seiner Übertragungsfunktion angemerkt habe.
Ich glaube, dass es uns weiterbringt, beim Zugang zu dieser Funktion der Negation, auf der Ebene ihres ursprünglichen radikalen Gebrauchs, wenn wir das formale System der Aussagen betrachten, wie es von Aristoteles klassifiziert worden ist, mit den Kategorien, die als universale Bejahungen [A] und als universale Verneinungen [E] bezeichnet werden, und den partikulären Aussagen, die ebenfalls als bejahend [I] und als verneinend [O] bezeichnet werden.48
Sagen wir es gleich: Das Thema der sogenannten Entgegensetzung von Aussagen, dass seinen Ursprung bei Aristoteles hat, in seiner gesamten Analyse, in seiner gesamten Mechanik des Syllogismus, ist, auch wenn es anders aussieht, nicht ohne zahlreiche Schwierigkeiten.
Wenn man sagen würde, dass die Entwicklungen der modernsten Logik diese Schwierigkeiten erhellt haben, würde man ganz sicher etwas sagen, dem die gesamte Geschichte widerspricht. Ganz im Gegenteil, das einzige, was in dieser Geschichte erstaunlich hervortritt, ist der Eindruck der Einheitlichkeit in der Zustimmung, der diese sogenannten aristotelischen Formeln bis hin zu Kant begegnet sind, denn Kant hegte die Illusion, dieses Gebäude sei unangreifbar. Gewiss, es ist schon etwas, dass man beispielsweise darauf hinweisen kann, dass darin die Akzentuierung der bejahenden und der verneinenden Funktion nicht von Aristoteles selbst artikuliert worden ist und dass man deren Ursprung erst viel später ansetzen sollte, wahrscheinlich mit Averroes. Dies, um Ihnen zu sagen, dass die Dinge, wenn es darum geht, sie einzuschätzen, nicht so einfach sind.
Diejenigen, denen die Funktion dieser Aussagen in Erinnerung gebracht werden muss, möchte ich kurz daran erinnern.
– A49 –
Homo mendax, weil es das ist, was ich gewählt habe, um diese Erinnerung einzuführen, nehmen wir also dies, homo [Mensch] und sogar omnis homo [jeder Mensch], omnis homo mendax: Jeder Mensch ist ein Lügner.50
Bei Aristoteles die Konnotation von pas [griechisch „alle“], um die Funktion des Universalen zu bezeichnen.
– E51 –
Was ist die verneinende Formel? Einer Form entsprechend, die trägt, und zwar in vielen Sprachen, kann omnis homo non mendax [Alle Menschen sind keine Lügner] genügen. Ich meine, dass omnis homo non mendax bedeutet, dass für jeden Menschen wahr ist, dass er kein Lügner ist. Doch um der Klarheit willen verwenden wir den Ausdruck nullus [kein]: nullus homo mendax [kein Mensch ist ein Lügner].
Das ist das, was üblicherweise mit dem Buchstaben A bzw. E konnotiert wird, für die bejahende Universalaussage und für die verneinende Universalaussage.52
Was geschieht auf der Ebene der partikulären Bejahungen?53
Da wir uns für die verneinende Aussage interessieren, werden wir die partikuläre Aussage hier in verneinender Form einführen.
– O54 –
Non omnis homo mendax: Nicht jeder Mensch ist ein Lügner. Anders gesagt, ich wähle aus und ich stelle fest, dass es Menschen gibt, die keine Lügner sind.55
– I –
Kurz, das bedeutet nicht, das irgendjemand, aliquis, kein Lügner sein kann: aliquis homo mendax [jemand ist Lügner], das ist die bejahende Partikuläre, die in der klassischen Notation gemeinhin mit dem Buchstaben I bezeichnet wird.
[– O –]
Hier wird die verneinende partikuläre Aussage so sein – wobei das non omnis durch <non> nullus ersetzt wird –: non nullus homo non mendax: es gibt nicht keinen Menschen, der kein Lügner ist. Anders ausgedrückt, ganz wie wir gewählt hatten, zu sagen, dass nicht jeder Mensch kein Lügner ist [O], drückt dies es auf andere Weise aus, nämlich dass es nicht keinen gibt, für den gälte, kein Lügner zu sein.56
Die so organisierten Termini unterscheiden sich in der klassischen Theorie durch die folgenden Formeln, durch die sie reziprok in sogenannte konträre und subkonträre Positionen gebracht werden.57
Das heißt, dass die universalen Propositionen A und E auf ihrer eigenen Ebene insofern im Gegensatz zueinander stehen, als sie nicht zugleich wahr sein können: Es kann nicht zugleich wahr sein, dass jeder Mensch ein Lügner sein kann [A] und dass kein Mensch ein Lügner sein kann [E], während alle anderen Kombinationen möglich sind.58
Es kann nicht zugleich falsch sein, dass es Menschen gibt, die Lügner sind [I] und Menschen, die keine Lügner sind [O].59
Der kontradiktorische Gegensatz ist derjenige, für den die Aussagen, die in jedem dieser Quadranten verortet sind, sich insofern diagonal gegenüberstehen [A↔O und E↔I], als jede, wenn sie wahr ist, die Wahrheit derjenigen ausschließt, die ihr als kontradiktorisch gegenübersteht, und wenn sie falsch ist, die Falschheit derjenigen ausschließt, die ihr als kontradiktorisch gegenübersteht. Wenn es lügnerische Menschen gibt [I], ist das nicht damit vereinbar, dass kein Mensch ein Lügner ist [E]. Umgekehrt ist die Beziehung dieselbe bei der verneinenden partikulären Aussage [O] im Verhältnis zur bejahenden [universalen] Aussage [A].
Was werde ich Ihnen anbieten, um Sie spüren zu lassen, was sich auf der Ebene des aristotelischen Textes immer als das darstellt, was sich im Verlauf der Geschichte, bezogen auf die Definition der Universalaussage, an Unsicherheit entwickelt hat?
Beachten Sie zunächst, wenn ich hier für Sie das non omnis homo mendax [O] eingebracht habe, dass das ‚nicht alle‘ – wobei der Ausdruck ‚nicht‘ sich auf den Begriff ‚alle‘ bezieht –, dass das „nicht alle‘ das ist, was das Partikuläre definiert.
Das ist keineswegs legitim, denn gerade Aristoteles widersetzt sich dem, und das in einer Weise, die im Gegensatz zur gesamten Entwicklung steht, die die Spekulation über die formale Logik danach nehmen konnte, das heißt zu einer Entwicklung, einer Erläuterung durch Extension60, die einen Apparat eingreifen ließ, der durch einen Kreis symbolisiert werden kann, durch eine Zone, in der die Gegenstände versammelt sind, die seine Träger bilden. Aristoteles – und zwar genau vor der Ersten Analytik, zumindest in dem Werk, dass ihr in der Gruppierung seiner Werke vorausgeht, das ihr aber offenkundig auch logisch, wenn nicht chronologisch, vorausgeht, und welches Lehre vom Satz heißt61 –, Aristoteles weist darauf hin, nicht ohne das Erstaunen der Historiker hervorgerufen zu haben, dass die Negation sich nicht auf die Qualifizierung der Universalität beziehen soll. Worum es geht, ist also vielmehr ein ‚irgendein Mensch‘, aliquis, ein ‚irgendein Mensch‘, das wir als solches befragen müssen.
Was hier in Frage steht, ist also die Qualifizierung als omnis, von omnitude62, der Umfang der Kategorie des Universalen.
Liegt das auf derselben Ebene, auf der Ebene der Existenz dessen, wovon die Bejahung oder die Verneinung getragen oder nicht getragen werden kann? Gibt es zwischen diesen beiden Ebenen eine Homogenität?
Anders gesagt, geht es beim Unterschied zwischen dem Universalen und dem Partikulären darum, dass einfach angenommen wird, dass die Sammlung abgeschlossen ist?
Um dem, was ich Ihnen soeben zu erklären versuche, eine ganz neue Tragweite zu geben, werde ich Ihnen etwas vorstellen, etwas, was in gewisser Weise dazu gemacht ist, darauf zu antworten. Worauf zu antworten? Auf die Frage, durch die die Definition des Subjekts [der logischen Aussage] mit der Ordnung der Bejahung und Verneinung verbunden ist, in die das Subjekt bei der Aufteilung in diese Aussagearten eintritt.
Im Unterricht der klassischen formalen Logik wird gesagt – und für den Fall, dass man recherchiert, auf wen das zurückgeht, möchte ich Ihnen sagen, dass das nicht ohne einen gewisse Pointe ist –, wird also gesagt, dass das Subjekt [durch das Prädikat] unter dem Gesichtspunkt der Qualität genommen wird und dass das Attribut, dass Sie hier im Ausdruck mendax verkörpert sehen, [durch das Subjekt] unter dem Gesichtspunkt der Quantität aufgefasst wird, anders gesagt, bezogen auf ein Prädikat sind sie alle, sind sie mehrere oder aber es gibt einen.63 Das wird noch von Kant beibehalten, auf der Ebene der Kritik der reinen Vernunft, in der Dreiteilung.64 Nicht ohne dass dies massive Einwände von Seiten der Linguisten hervorgerufen hätte.65
Wenn man die Dinge historisch betrachtet, wird man gewahr, dass die Unterscheidung Qualität – Quantität einen Ursprung hat. Sie erscheint zum ersten Mal in einer kleinen Abhandlung, paradoxerweise über die Lehren Platons, und dies – das steht im Gegensatz zur aristotelischen Aussage der formalen Logik, die in abgekürzter Form wiedergegeben wird, jedoch nicht ohne didaktische Periode66, und der Autor ist kein Geringerer als Apuleius, Autor einer Abhandlung über Platon –, und dies hat hier eine einzigartige historische Funktion, nämlich die, eine Kategorienbildung eingeführt zu haben, die von Quantität und Qualität, über die man zumindest Folgendes sagen kann, nämlich dass sie von daher, dass sie eingeführt wurde und so lange in der Analyse der logischen Formen geblieben ist, dass man sie hier eingeführt hat –.67
Dies hier schließlich ist das Modell, auf das ich Sie bitte, für heute ihr Nachdenken zu konzentrieren.68
Hier ist ein Kreisviertel [1], in das wir senkrechte Striche setzen wollen.
Die Funktion ‚Strich‘ (trait) wird die Funktion des Subjekts übernehmen und die Funktion ‚senkrecht‘, die im Übrigen einfach als Stütze gewählt ist, die des Attributs.69
Ich hätte gut sagen können, dass ich als Attribut den Ausdruck ‚unär‘ genommen habe70, aber für den repräsentativen und vorstellbaren Aspekt dessen, was ich Ihnen zu zeigen habe, setze ich sie senkrecht.
Hier [2] haben wir ein Segment der Kreisfläche, in dem es sowohl senkrechte als auch schräge Striche gibt, hier [3] gibt es nur schräge Striche, und hier [4] gibt es keinen Strich.
Das soll veranschaulichen, dass die Unterscheidung universal/partikulär, insofern sie ein Paar bildet, das sich vom Gegensatz bejahend/verneinend unterscheidet, als ein Register aufzufassen ist, das völlig anders ist als dasjenige, das Kommentatoren, ausgehend von Apuleius, geglaubt haben, mit mehr oder weniger Geschick entwickeln zu müssen, mit diesen so mehrdeutigen, gleitenden und verworrenen Formeln, die als Qualität und Quantität bezeichnet werden, die geglaubt haben, sie mit diesen Ausdrücken einander entgegensetzen zu müssen.
Wir werden den Gegensatz universal/partikulär als Gegensatz von der Ordnung der Lexis bezeichnen71, das für uns – legō, ‚ich lese‘, und auch ‚ich wähle aus‘ – eben verbunden ist mit der Funktion der Extraktion, der Signifikantenauswahl, die das ist – das Gebiet, der Steg –, worüber wir uns im Augenblick vorwärtsbewegen.72
Dies, um sie von der Phasis zu unterscheiden, das heißt von etwas, was sich hier als ein Sprechen mit entweder Ja oder Nein darstellt, womit ich mich hinsichtlich der Existenz dessen engagiere, was die erste Lexis ins Spiel bringt.73
Denn wie Sie sehen werden, worüber werde ich sagen können, ‚Jeder Strich ist senkrecht‘?
Natürlich über das erste Segment [1], aber, aufgepasst, auch über das leere Segment [4]. Wenn ich sage ‚jeder Strich ist vertikal‘ bedeutet das: Wenn es nichts Senkrechtes gibt, gibt es auch keinen Strich. Jedenfalls wird dies durch das leere Segment der Scheibe illustriert. Der Bejahung ‚Jeder Strich ist senkrecht‘ widerspricht das leere Segment nicht nur nicht, steht zu ihr nicht nur nicht im Gegensatz, sondern es veranschaulicht sie: In diesem Segment der Scheibe gibt es keinen Strich, der nicht senkrecht ist. Die universale Bejahung [A] wird hier also durch die ersten beiden Segmente [1 und 4] veranschaulicht.
Die universale Verneinung [E] wird von den beiden rechten Segmenten illustriert [3 und 4], und das, worum es dabei geht, wird durch die folgende Formulierung artikuliert: ‚Kein Strich ist senkrecht.‘ Hier, in diesen beiden Segmenten [3 und 4], gibt es keinen vertikalen Strich.
Zu beachten ist das gemeinsame Segment [4], das von diesen beiden Aussagen [A und E] abgedeckt wird, die nach der klassischen Formel, der klassischen Lehre, scheinbar nicht zugleich wahr sein können.74
Was werden wir finden, wenn wir unserer Drehbewegung folgen, die als Formel so gut begonnen hat, was werden wir hier [I] wie auch hier [O] finden, um die beiden anderen möglichen Zweiergruppierungen der Quadranten zu bezeichnen?
Hier [I] werden wir das Wahre dieser beiden Kreisviertel in bejahender Form sehen: ‚Es gibt …‘. Ich sage es auf phasische Weise, ich konstatiere die Existenz vertikaler Striche: ‚Es gibt senkrechte Striche‘, ‚es gibt einige senkrechte Striche‘, die ich entweder hier [1] finden kann, und zwar immer, oder hier [2], in den passenden Fällen.75
Hier [O] sehen wir, wenn wir versuchen, die Unterscheidung des Universalen und des Partikulären zu definieren, welches die beiden Segmente sind, die hierbei der partikulären Äußerung entsprechen, dem ‚es gibt nicht-senkrechte Striche‘, nonnulli non verticales [einige Nicht-Senkrechte] [2 und 3].
Genauso wie uns eben die Mehrdeutigkeit dieser Wiederholung der Negation einen Moment lang festgehalten hat, entspricht das ‚non – non‘, die vorgebliche Annullierung der ersten Negation durch die zweite, keineswegs zwangsläufig einem Ja, und das ist etwas, worauf wir im weiteren Verlauf noch zurückkommen müssen.
Was bedeutet das? Warum ist es für uns interessant, uns einer solchen Apparatur zu bedienen? Warum versuche ich für Sie, die Ebene der Lexis von der Ebene der Phasis zu trennen?76 Ich werde sofort darauf zu sprechen kommen und nicht um die Sache herumreden, und ich werde es veranschaulichen.
Was können wir sagen, wir Analytiker? Was lehrt uns Freud?
Weil die Bedeutung dessen, was man ‚universale Aussage‘ nennt, völlig verloren gegangen ist, und zwar genau seit einer Formulierung, die man als Kapitelüberschrift verwenden kann, für die Euler’sche Formulierung, der es gelingt, uns sämtliche Funktionen des Syllogismus durch eine Reihe von kleinen Kreisen darzustellen, die sich ausschließen, überlappen oder überdecken, anders ausgedrückt und im eigentlichen Sinne: dem Begriffsumfang nach, dem man den Begriffsinhalt (compréhension) entgegensetzt, der einfach durch irgendeine unvermeidliche Art des Verstehens (comprendre) gekennzeichnet wäre. Was zu verstehen? Dass das Pferd weiß ist? Was gibt es da zu verstehen?
Was wir einbringen und wodurch die Frage erneuert wird, ist Folgendes. Ich sage, dass Freud die folgende Formel verkündet, vorbringt: ‚Der Vater ist Gott‘ oder ‚Jeder Vater ist Gott‘.77
Daraus ergibt sich, wenn wir an dieser Aussage auf der universalen Ebene festhalten, auf derjenigen, dass es keinen anderen Vater gibt als Gott, und dieser andererseits hinsichtlich der Existenz in der Freud’schen Reflexion vielmehr aufgehoben* ist, vielmehr in der Schwebe gehalten wird, ja radikal in Zweifel gezogen wird.
Es geht darum, dass die Funktionsordnung, die wir mit dem Namen-des-Vaters einführen, etwas ist, was einen universalen Wert hat, was aber zugleich Ihnen – dem anderen – die Aufgabe überlässt, festzustellen, ob es einen Vater dieser Art gibt oder nicht.
Wenn es keinen gibt, ist immer noch wahr, dass der Vater Gott ist. Ganz einfach – durch den leeren Abschnitt der Kreisfläche [4] wird die Formel nur bestätigt.
Dadurch haben wir <in der partikulären Aussage> auf der Ebene der Phasis: Es gibt Väter, die diejenige symbolische Funktion mehr oder weniger erfüllen, die wir gerade als solche geäußert haben, nämlich als diejenige des Namens-des-Vaters, ‚Es gib welche, die …‘[I], und: ‚Es gibt welche, die nicht …‘ [O].
Dass es aber welche gibt, ‚die nicht …‘, die in allen Fällen ‚nicht … sind‘, was hier durch diesen Abschnitt [3] gestützt wird, das ist genau dasselbe wie das, was uns die Stütze und die Grundlage für die universale Funktion des Namens-des-Vaters gibt. Denn mit demjenigen Abschnitt zusammen genommen, in dem es nichts gibt [4], sind es genau diese beiden Abschnitte [1 und 4], auf der Ebene der Lexis erfasst, die aufgrund dessen, aufgrund dieses gestützten Abschnitts, der den anderen vervollständigt, die dem, was wir als universale Bejahung äußern können, seine volle Tragweite geben.
Ich möchte das anders veranschaulichen, weil ja bis zu einem bestimmten Punkt die Frage nach ihrem Wert gestellt werden konnte – ich meine, in Bezug auf einen traditionellen Unterricht –, der das sein muss, was ich das letzte Mal zum kleinen i eingebracht habe.78
Hier diskutieren die Professoren: ‚Was sollen wir sagen?‘ Was soll der Professor unterrichten? Das, was andere vor ihm unterrichtet haben. Das heißt, dass er sich worauf gründet? Auf das, was bereits eine bestimmte Lexis erfahren hat.79 Das, was sich aus jeder Lexis ergibt, ist genau das, worauf es uns hier ankommt, und auf dessen Ebene ich Sie heute zu halten versuche: der Buchstabe (lettre).
Der Professor ist lettré, gebildet, literat; seinem universalen Charakter nach ist er derjenige, der sich auf den Buchstaben stützt, auf die Letter, auf der Ebene einer bestimmten Aussage.80
Wir können jetzt sagen, dass er es halb und halb sein kann: es kann nicht ganz literat sein, woraus sich ergibt, dass man immerhin nicht sagen kann, dass irgendein Professor illiterat wäre, in seinem Fall wird es immer ein wenig Literalität geben.
Falls es aber zufällig einen Gesichtspunkt gäbe, unter dem wir sagen könnten, dass es möglicherweise, unter einem bestimmten Gesichtspunkt, solche gibt, die dadurch charakterisiert sind, hinsichtlich des Buchstabens einem bestimmten Nichtwissen stattzugeben, dann gilt trotzdem, dass dies uns keineswegs daran hindern würde, den Kreis zu schließen und zu sehen, dass die Wiederkehr und die Grundlage, wenn man so sagen kann, der universalen Definition des Professors ganz streng darin besteht, dass die Identität der Formel, dass der Professor derjenige ist, der sich mit dem Buchstaben identifiziert, den Kommentar aufnötigt und sogar erforderlich macht, dass es analphabetische Professoren geben kann.
Der negative Fall, als wesentliche Entsprechung zur Definition der Universalität, ist etwas, was auf der Ebene der ursprünglichen Lexis grundlegend verborgen ist. Das bedeutet etwas in Bezug auf die Mehrdeutigkeit der partikulären Stütze, die wir im Engagement unseres Sprechens dem Namen-des-Vaters geben können.
Dennoch gilt, dass wir nicht bewirken können, dass irgendjemand, der sich – von der Atmosphäre des Menschlichen angesaugt, wenn ich mich so ausdrücken darf –, der sich als jemand auffassen könnte, wenn man so sagen darf, der vom Namen-des-Vaters völlig abgelöst ist, dennoch gilt, dass selbst hier, wo es nur Väter gibt, für die die Funktion des Vaters, wenn ich mich so ausdrücken darf, reiner Verlust ist – der Nicht-Vater Vater, die ‚verlorene Sache‘ (cause perdue81), mit der ich letztes Jahr mein Seminar beendet habe82 –, dennoch gilt, dass selbst hier, abhängig von diesem Verlust, diese partikuläre Kategorie im Verhältnis zu einer ersten Lexis beurteilt wird, nämlich derjenigen des Namens-des-Vaters.
Der Mensch kann nicht bewirken, dass seine Bejahung oder seine Verneinung – mit allem, was sie mit sich führt: ‚der da ist mein Vater‘ oder ‚der da ist sein Vater‘ – nicht völlig von einer ursprünglichen Lexis abhängig ist, bei der es natürlich nicht um den üblichen Sinn geht, nicht um das Signifikat des Vaters, sondern um etwas, bei dem wir hier vor der Herausforderung stehen, ihm seine wahrhafte Stütze zu geben, einer Lexis, die es rechtfertigt, selbst in den Augen von Professoren – die, wie Sie sehen werden, in großer Gefahr wären, wenn sie, was ihre reale Funktion angeht, immer in einer gewissen Schwebe gehalten würden –, die es selbst in den Augen von Professoren rechtfertigen muss, dass ich mich bemühe – sogar auf ihrer Ebene als Professor – ihrer Existenz als Subjekt eine algorithmische Stütze zu geben.“83
Ende der Sitzung.
Paraphrase mit Ergänzungen
Negation
[In einer früheren Sitzung, am 15. November 1961, hatte Lacan über die universale bejahende Aussage gesprochen, sein Beispiel war „Alle Menschen sind Lügner“. Darauf kommt er jetzt zurück.]
Pas un homme qui ne mente, „Kein Mensch, der nicht lügt / der nicht lügen würde“. [Der Ausdruck ist gleichwertig mit „Alle Menschen sind Lügner“, aber nur bei logischer Betrachtung, nicht unter grammatischem oder semantischem Aspekt.] Lacan macht darauf aufmerksam, dass hier der Subjunktiv verwendet wird, mente. Das ne (nicht) liegt damit auf derselben Ebene wie das diskordantielle ne [ist aber damit keineswegs zu verwechseln, das ne in Pas un homme qui ne mente funktioniert als vollwertige Negation – wenn man es weglässt, verkehrt sich der Sinn des Satzes ins Gegenteil].
[Das, was Lacan hier mit Pichon als „diskordantielles ne“ bezeichnet, heißt in den Grammatiken „expletives ne“, Füllwort-ne. Das expletive ne ist nicht mit pas (oder einem anderen Negationsausdruck) verklammert ist und wird in der Regel nicht mitübersetzt: Je crains qu’il ne vienne heißt „ich fürchte, dass er kommt“. Dieses ne kann wegfallen, ohne dass der Sinn sich verändert – sagen die Grammatiker; Pichon und Lacan sind damit nicht einverstanden. Man kann aber auch übersetzen mit „ich fürchte, dass er vielleicht kommt“, und damit ist man dem Unterschied auf der Spur, um den es Pichon und Lacan geht. Lacan zufolge ist dieses spezielle ne der Signifikant des Subjekts des Äußerungsvorgangs (énonciation), im Gegensatz zum Subjekt des Ausgesagten (énoncé), also der Signifikant des Subjekts, insofern es in dieser Äußerung spricht, und nicht des Subjekts, über das in ihr gesprochen wird, nicht des thematisierten Subjekts. Das ne unterbricht das Ausgesagte und ist scheinbar überflüssig, in ihm schwingt jedoch Begehren und Hoffnung mit; durch die Übersetzung mit „vielleicht“ lässt sich das andeutungsweise wiedergeben.]
[Eine grobe Entsprechung im Deutschen ist das „nicht“ in Formulierungen wie „Ist das nicht schön?“. Gemeint ist damit nicht, dass der Gegenstand, über den gesprochen wird, hässlich ist; das „nicht“ bezieht sich nicht auf das Ausgesagte (énoncé). Vielmehr bringt der Sprecher sich mit dem „nicht“ in den Satz ein, und zwar als Sprecher, so als würde er sagen „Ich möchte wirklich sagen, dass das schön ist“; das „nicht“ liegt hier auf der Ebene des Äußerungsvorgangs (énonciation). Er bringt sich als Sprecher ein, der etwas begehrt und der möglicherweise befürchtet, dass das Schöne sich als trügerisch erweisen könnte.]
[Wenn Lacan sagt, in Pas un homme qui ne mente liege das ne auf derselben Ebene wie das expletive bzw. diskordantielle ne in Je crains qu’il ne vienne, ist also gemeint, dass in beiden Fällen das ne der Signifikant des Subjekts des Äußerungsvorgangs ist.]
Lacan beschreibt eines der Vorhaben, die er in diesem Seminar zu realisieren versucht: Die Tabelle „Kastration – Frustration – Privation“ [die er in Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung, ausgearbeitet hatte] soll auf die unterschiedlichen Formen der Negation bezogen werden.
Tabelle Kastration – Frustration – Privation aus Seminar 4
AGENT | MANGEL | OBJEKT |
---|---|---|
Realer Vater | Symbolische Kastration | Imaginärer Phallus |
Symbolische Mutter | Imaginäre Frustration | Reale Brust |
Imaginärer Vater | Reale Privation | Symbolischer Phallus |
Die Arten der Aussage
Lacan erläutert die universale bejahende Aussage durch einen lateinischen Satz: Homo mendax [„Der Mensch (ist) ein Lügner“, anders gesagt „Alle Menschen lügen“]. [Der Wechsel ins Lateinische soll vielleicht andeuten, dass dies ein Beispiel der scholastischen Logik ist.] Er erinnert daran, dass er in diesem Seminar für die universale bejahende Aussage bereits den Satz „Alle Menschen sind sterblich“ verwendet hatte und dass diese Aussage zum berühmtesten aller Syllogismen gehört und dort mit der Aussage „Sokrates ist ein Mensch“ [sowie „Sokrates ist sterblich“] verbunden ist.
Lacan interessiert sich also, sagt er, für die Funktion der Negation [wie schon Freud in dem Aufsatz Die Verneinung], und von daher befasse er sich mit dem System der Aussage-Arten, wie es in der klassischen Logik schematisiert worden ist: universale bejahende Aussagen (A), universale verneinende Aussagen (E), partikuläre bejahende Aussagen (I) und partikuläre verneinende Aussagen (O). [Die Buchstaben A, E, I, O sind die Symbole, mit denen diese Aussagetypen in der scholastischen Logik bezeichnet worden sind.]
Dieses System der Aussagenarten macht Probleme. Bis hin zu Kant war man der Auffassung, es sei unangreifbar.
Bemerkenswert ist, dass die traditionelle Entgegensetzung von bejahenden und verneinenden Aussagen so nicht von Aristoteles stammt, sie ist jünger und geht wahrscheinlich auf Averroes zurück [12. Jh.].
A: Homo mendax, „Der Mensch (ist) ein Lügner“ oder Omnis homo mendax, „Alle Menschen (sind) Lügner“, „Jeder Mensch ist ein Lügner“. Das ist eine universal bejahende Aussage. [Alle S sind P.] „Alle“ heißt im Griechischen, also bei Aristoteles, pas.
E: Omnis homo non mendax, „Jeder Mensch (ist) kein Lügner“. Das ist eine universale verneinende Aussage. [Alle S sind nicht P.] Man kann stattdessen auch sagen Nullus homo mendax, „Kein Mensch ist ein Lügner“.
O: Non omnis homo mendax, „Nicht jeder Mensch (ist) ein Lügner“ oder „Es gibt Menschen, die keine Lügner sind“. Dies ist eine partikuläre verneinende Aussage. [Einige S sind nicht P.]
I: Aliquis homo mendax, „Mancher Mensch (ist) eiun Lügner“. Das ist die partikuläre bejahende Aussage. [Einige S sind P.]
Lacan zufolge beruht die Partikularität auf einer Wahl [wobei die Wahl eine Auswahl ist]. [Die Fundierung der Opposition von universalen und partikulären Aussagen durch eine Wahloperation übernimmt Lacan von Charles Sanders Peirce, wie später noch klar werden wird.]
Die partikuläre verneinende Aussage kann auch so ausgedrückt werden: Non nullus homo non mendax, „Einige Menschen (sind) keine Lügner“, wörtlich „Nicht kein Mensch (ist) kein Lügner“.
[Möglicherweise kommentiert Lacan hier, indirekt, Freuds Aufsatz über die Verneinung: Es stimmt, scheint er zu Freud zu sagen, die Urteilsfunktion hat die Aufgabe, zu bejahen oder zu verneinen. Es fehlt bei Freud jedoch der Gegensatz zwischen dem Universalen und dem Partikulären, er ist für das Urteil ebenso wichtig.]
Die Beziehungen zwischen diesen vier Aussage-Arten werden in der klassischen [mittelalterlichen] Logik durch das sogenannte logische Quadrat dargestellt.
Es zeigt, dass es zwischen den Aussageformen verschiedene Arten des Gegensatzes gibt, die als „konträrer“, „subkonträrer“ [und „kontradiktorischer“] Gegensatz bezeichnet werden. [Die Beziehung zwischen A und E ist konträr, die zwischen I und O ist subkonträr, und die zwischen A und O sowie zwischen E und I ist kontradiktorisch.]
[Die Gegensatzarten werden durch ihre Wahrheitsbedingungen unterschieden. Man kann nicht nur nach der Wahrheit einer einzelnen Aussage fragen, sondern auch nach der Wahrheit einer Aussagenkombination insgesamt. Angenommen, es gibt zwei Aussagen A und B, so kann man fragen: Kann es wahr sein, dass A wahr ist und zugleich B falsch ist? Kann es wahr sein, dass A und B zugleich wahr sind? Usw.]
Der Gegensatz zwischen A [universal bejahend] und E [universal verneinend] ist konträr, und das heißt: beide Aussagen können nicht zugleich wahr sein [sie „schließen sich aus“, wie das in der Alltagssprache heißt]. Es kann nicht zugleich wahr sein, dass alle Menschen Lügner sind und dass kein Mensch ein Lügner ist. [Wenn A wahr ist und wenn zugleich E wahr ist, ist die Behauptung „A ist wahr und zugleich ist E wahr“ falsch.]
[Das ist die negative Bestimmung. Positiv formuliert heißt dies, dass folgende Aussagenkombinationen vereinbar sind, also wahr können:
- Es ist wahr, dass alle Menschen Lügner sind, und es ist zugleich falsch, dass kein Mensch ein Lügner ist.
- Es ist falsch, dass alle Menschen Lügner sind, und es ist zugleich wahr, dass kein Mensch ein Lügner ist.
- Es ist falsch, dass alle Menschen Lügner sind und es ist zugleich falsch, dass kein Mensch ein Lügner ist. Wahr ist in diesem Falle, dass einige Menschen Lügner sind und dass einige Menschen keine Lügner sind.]
[Der konträre Gegensatz zeichnet sich also dadurch aus, dass (a) beide Seiten nicht zugleich wahr sein könnten und dass es (b) drei Kombinationen von wahren und falschen Aussagen gibt, die insgesamt wahr sein können. Der konträre Gegensatz teilt die Welt nicht vollständig auf, etwas anderes ist möglich.]
[Der subkonträre Gegensatz ist der zwischen I und O], zwischen „Es gibt Menschen, die Lügner sind“ (I), und „Es gibt Menschen, die keine Lügner sind“. Hierfür gilt, dass nicht beides zugleich falsch sein kann.
[Im Falle des subkonträren Gegensatzes sind die folgenden Kombinationen möglich, d.h. können die folgenden Aussagenverbindungen insgesamt wahr sein:
- Es ist wahr, dass es einige Menschen gibt, die Lügner sind, und es ist zugleich wahr, dass es einige Menschen gibt, die keine Lügner sind. (Einfacher gesagt: Einige Menschen sind Lügner, einige nicht.)
- Es ist wahr, dass es einige Menschen gibt, die Lügner sind, und es ist zugleich falsch, dass es einige Menschen gibt, die keine Lügner sind. (Dies gilt für „Alle Menschen sind Lügner“ – wenn alle Menschen Lügner sind, sind auch einige Menschen Lügner.)
- Es ist falsch, dass es einige Menschen gibt, die Lügner sind, und es ist zugleich wahr, dass es einige Menschen gibt, die keine Lügner sind. (Dies gilt für „Alle Menschen sind keine Lügner“ – wenn dies wahr ist, gilt auch „Einige Menschen sind keine Lügner“.)]
[Der subkonträre Gegensatz zeichnet sich dadurch aus, dass (a) beide Seiten nicht zugleich falsch sein können und dass es (b) drei mögliche wahre Kombinationen gibt: entweder ist die eine Seite des Gegensatzes wahr oder die andere Seite des Gegensatzes ist wahr oder beide Seiten des Gegensatzes sind wahr. Auch der subkonträre Gegensatz teilt die Welt nicht vollständig auf, es gibt weitere Aussagenverbindungen, die wahr sein können.]
Zwischen den Aussagen, die sich im logischen Quadrat schräg gegenüberstehen, A und O sowie E und I, gibt es einen kontradiktorischen Gegensatz. Das heißt: wenn die eine wahr ist, muss die andere falsch sein.
[Beim kontradiktorischen Gegensatz gibt es nur zwei Aussagenkombinationen, die insgesamt wahr sein können: entweder ist eine wahr und die andere falsch oder umgekehrt – etwas Drittes ist nicht möglich, weitere Aussagenverbindungen können nicht wahr sein.]
Nach diesem Logik-Referat geht Lacan zu dem Punkt über, der ihn interessiert: In Bezug auf die Definition der Universalaussage gibt es bei Aristoteles eine Unsicherheit.
[Lacan nähert sich dieser Schwachstelle auf einem Umweg, auf dem Weg über die partikuläre Aussage.] Lacans Beispiel für die partikuläre [bejahende] Aussage war „Nicht alle Menschen sind Lügner“. In dieser Aussage bezieht sich die Negation auf das „alle“ – der Satz beginnt mit „nicht alle“ –, und dieses „nicht alle“ sorgt dafür, dass die Aussage partikulären Charakter hat.
Das ist jedoch nicht legitim, denn Aristoteles weist diese Formulierung zurück. In der Lehre vom Satz (De interpretatione) sagt er, dass die Negation sich nicht auf das Merkmal der Universalität beziehen soll [also nicht auf das „alle“]. Die Partikularität eines Aussage werde vielmehr dadurch festgelegt, dass die Aussage sich auf „irgendein“ bezieht, im Lateinischen auf aliquis: „Irgendein Mensch ist Lügner“ [statt „Nicht alle Menschen sind Lügner“]. [„Irgendein“ ist hier nicht im Sinne von „nur ein einziger“ gemeint; vielmehr kann sich „irgendein“ durchaus auch auf mehrere beziehen; „aliquis homo“ meint, obwohl es ein Singular ist, „irgendwelche Menschen, mindestens einer“. Die Streitfrage ist demnach, wie die partikuläre Aussage zu formulieren ist, durch „Nicht alle S sind P“ oder durch „Irgendein S ist P“. Soll man sagen „Nicht alle Menschen sind Lügner“ oder „Einige Menschen sind Lügner“? Dies ist, soweit ich sehe, der erste Auftritt des „nicht alle“ bei Lacan, das später, in den Formeln der Sexuierung (Seminare 18 bis 20), eine wichtige Rolle spielen wird.]
Die Lösung, die Aristoteles wählt, steht im Gegensatz zur späteren Entwicklung der formalen Logik, für welche die Extension [und die Intension] eines Begriffs wesentlich sind [Umfang und Inhalt], und in der die Extension durch einen Kreis symbolisiert wird, der die Gegenstände versammelt, die zum Begriff gehören.
[Unter dem Umfang oder der Extension eines Begriffs versteht man die Gesamtheit der Dinge, die unter einen Begriff fallen, unter dem Inhalt eines Begriffs oder seiner Intension (nicht zu verwechseln mit „Intention“) die gemeinsamen Merkmale der Dinge, die unter den Begriff fallen.]
Bei der Streitfrage um die partikuläre Aussage [„nicht alle“ versus „einige“] geht es um das „alle“ [also um das, wodurch eine Aussage als Universalaussage bestimmt wird].
Wie ist der Unterschied zwischen einer universalen und einer partikulären Aussage aufzufassen? Liegt er auf derselben Ebene wie Bejahung und Verneinung einer Aussage?
Besteht der Unterschied zwischen der universalen und der partikulären Aussage darin, dass im Falle der universalen Aussage die Sammlung abgeschlossen ist [und dass im Falle der partikulären Aussage die Sammlung unabgeschlossen ist – dass beispielsweise das Merkmal, Lügner zu sein, nur für eine Teilmenge zutrifft]? [Lacan signalisiert mit seiner Frage, dass er es anders sieht: bei der Universalität einer Aussage geht es nicht darum, dass eine Sammlung komplett ist.]
Er verbindet die beiden letzten Fragen durch „anders gesagt“ – die Frage, ob die Unterscheidung universal/partikulär auf derselben Ebene liegt wie die Unterscheidung bejahend/verneinend, ist für ihn dieselbe Frage wie die, ob die Universalität darin besteht, dass eine Sammlung abgeschlossen ist. [Worin besteht der Zusammenhang zwischen diesen beiden Fragen? Darin, dass die Negation, wie Lacan annimmt, für die Universalität grundlegend ist. Das wird in dieser und den folgenden Sitzungen ausgeführt.]
Es stellt sich die Frage, wie in einer Aussage die Definition des Subjekts [des Subjekts der Aussage] mit der Bejahung oder Verneinung der Aussage verbunden ist. [Das Subjekt der Aussage ist diejenige Größe, der das Prädikat (oder Attribut) zu- oder abgesprochen wird, das „S“ in „S ist P“ oder „S ist nicht P“, z.B. „Menschen“ in „Menschen sind Säugetiere“.]
[In der traditionellen Logik wird die Merkmale universal oder partikulär als „Quantität“ des Urteils bezeichnet, die Merkmale bejahend oder verneinend als „Qualität“ des Urteils.] Im Unterricht der klassischen Logik wird gesagt, das Subjekt [das Subjekt des Urteils, das logische Subjekt, das z.B. in der Aussage „Menschen sind Lügner“ durch den Ausdruck „Menschen“ repräsentiert wird], das Subjekt werde [durch das Prädikat] unter dem Aspekt der Qualität genommen [insofern das Prädikat zu- oder abgesprochen wird], das Attribut [oder Prädikat, also z.B. „Lügner“] werde [durch das Subjekt] unter dem der Quantität aufgefasst, das heißt, bezogen auf ein bestimmtes Prädikat, etwa „Lügner“, sind die Subjekte alle, mehrere oder eins. Diese Dreiteilung findet man noch bei Kant. [Kant unterscheidet drei Kategorien der Quantität: Allheit, Vielheit und Einheit, und drei Kategorien der Qualität: Realität, Negation und Limitation. Kants Kategorien beruhen auf der Struktur des Urteils bzw., wie man heute sagt, der Aussage, der Proposition. Die Unterscheidung der Kategorien der Allheit und der Vielheit beruht auf der Unterscheidung des universalen und des partikulären Urteils, die Kategorien von Realität und Negation auf dem Unterschied von bejahendem und verneinendem Urteil.] Das hat von Seiten der Linguisten massive Einwände hervorgerufen. [Lacan bezieht sich auf Jespersens Arbeit über Negation; in einer späteren Sitzung wird er darauf näher eingehen (die Passage ist Teil dieser Übersetzung).]
Die Unterscheidung von Quantität und Qualität einer Aussage geht auf Apuleius zurück, man findet sie bei ihm in einer Abhandlung über Platon.
Das Quadrantenschema von Peirce
Lacan erläutert dies [das Verhältnis von universal/partikulär zu bejahend/verneinend] am Quadrantenschema von Charles Sanders Peirce [wobei er dessen Namen nicht nennt].
Der Strich steht für das Subjekt [für das Subjekt der Aussage im Sinne der Logik], die Neigung des Strichs für das Attribut [also für das Prädikat der Aussage]. [Die Neigung ist entweder senkrecht oder schräg; das Prädikat bzw. Attribut ist „senkrecht“ oder „schräg“; die Schrägstellung des Strichs lässt sich als Negation des Prädikats deuten, als „nicht senkrecht“.]
Lacan merkt an, dass er statt „senkrecht“ auch hätte „unär“ sagen können [und damit erinnert er an die Konzeption des trait unaire, des „einzigen Zugs“ oder „einzelnen Zugs“ oder „Einzelstrichs“ oder „Unärstrichs“, wie er sie in diesem Seminar zu entwickeln begonnen hat – es geht um die Identifizierung mit dem einzigen Zug]. Aber damit die Sache anschaulicher wird, sagt er statt „unärer Strich“ lieber „senkrechter Strich“.
[Im Quadranten 1 (oben links) gibt es nur senkrechte Striche.]
Im Quadranten 2 [unten links] gibt es senkrechte und schräge [nicht senkrechte] Striche.
Im Quadranten 3 [unten rechts] gibt es nur schräge [nur nicht-senkrechte] Striche.
Im Quadranten 4 [oben rechts] gibt es keinen Strich [weder senkrechte noch nicht-senkrechte Striche].
Das Diagramm soll zeigen, dass die Unterscheidung zwischen universalen und partikulären Aussagen einerseits und bejahenden und verneinenden Aussagen andererseits nicht so funktioniert, dass es dabei um den Gegensatz von Quantität [universal/partikulär] und Qualität [bejahend/verneinend] geht.
Lacan bezeichnet den Unterschied zwischen universalen/partikulären Aussagen einerseits und bejahenden/verneinenden Aussagen andererseits vielmehr [mit Peirce] als Unterschied von Lexis und Phasis. Unter lexis [griechisch für „Wort“, „Sprechen“] versteht er einen Wahlvorgang zwischen Signifikanten, gestützt auf das lateinische Wort legere, „lesen“ oder „auswählen“; Lexis meint also die Opposition zwischen universalen und partikulären Aussagen. Den Gegensatz zwischen bejahenden und verneinenden Aussagen bezeichnet er als Unterschied auf der Ebene der phasis, was hier „Sprechen“ bedeutet soll; dieses Sprechen engagiert sich hinsichtlich der Existenz dessen, was die lexis ins Spiel gebracht hatte. [Das Sagen, die Phasis, besteht darin, dass im Sprechen die Existenz eines Merkmals bejaht oder verneint wird.]
Das leere Feld als Stütze der universalen Bejahung
[Lacan kommt nun zu dem, was für ihn die Pointe des Diagramms ist.] Über welches Kreisviertel kann man die Aussage machen „Jeder Strich ist vertikal“ bzw. „Alle Striche sind vertikal“? Nicht nur über den Quadranten oben links (1), sondern auch über den Quadranten oben rechts (4), also über den Quadranten, in dem es keinerlei Striche gibt, weder vertikale noch schräge, weder vertikale noch nicht-vertikale. Wenn etwas nicht senkrecht ist, gibt es auch keinen Strich. Der leere Quadrant (4) steht zur Aussage „Jeder Strich ist senkrecht“ also nicht im Gegensatz. Der leere Quadrant (4) veranschaulicht sogar die Aussage „Jeder Strich ist senkrecht“ – indem es hier keinen Strich gibt, der nicht senkrecht ist.
Also wird die universale bejahende Aussage [A] „Jeder Strich ist senkrecht“ durch die oberen beiden Segmente (1 und 4) veranschaulicht.
Die universale verneinende Aussage „Kein Strich ist senkrecht“ [E] wird durch die beiden rechten Quadranten illustriert [3 und 4]. Anders gesagt: in diesen beiden Segmenten gibt es keinen senkrechten Strich.
Zu beachten ist, dass die universale bejahende Aussage [A: 1, 4] und die universale vereinende Aussage [E: 3, 4] sich ein Feld teilen, das leere Feld oben rechts (4), obwohl sie doch, der klassischen Lehre zufolge, nicht zugleich wahr sein können.
Die partikuläre bejahende Aussage „Es gibt einige senkrechte Striche“ (oder auch „Es gibt senkrechte Striche“) [I] wird durch die beiden linken Quadranten, 1 und 2, veranschaulicht.
Dann gibt es noch die partikuläre verneinende Aussage [O], „es gibt nicht-senkrechte Striche“. Ihr entsprechen die beiden unteren Segmente, 2 und 3 [Quadrant 2 enthält sowohl senkrechte als auch nicht-senkrechte Striche, Quadrant 3 enthält nur nicht-senkrechte Striche].
Auf Lateinisch kann man die partikuläre verneinende Aussage [O] so formulieren: „nonnullli non verticales“. [„Nonnulli“ meint „einige“ (die wörtliche Bedeutung ist „nicht keine“); „nonnulli non verticales“ heißt also „einige (sind) nicht-senkrechte“.]
Das „non – non“ [in „non nulli non verticales“] ist eine doppelte Negation. Wird die erste Negation durch die zweite annulliert? Ist die doppelte Negation zwangsläufig ein Ja? [Das wird so gesagt, aber] Lacan bestreitet es; er kündigt an, später darauf zurückzukommen.
[Kurz: Im Quadrantenschema stehen die beiden oberen Kreisviertel (1 und 4) für die universale bejahende Aussage (A): „Alle Striche sind senkrecht.“
Die beiden rechten Kreisviertel (3 und 4) repräsentieren die universale verneinende Aussage (E): „Kein Strich ist senkrecht“ oder „Alle Striche sind nicht senkrecht“.
Die beiden linken Kreisviertel (1 und 2) veranschaulichen die partikuläre bejahende Aussage (I): „Einige Striche sind senkrecht.“
Und die beiden unteren Kreisviertel (2 und 3) illustrieren die partikuläre verneinende Aussage (O): „Einige Striche sind nicht senkrecht.“]
Warum ist es für uns [für Psychoanalytiker] interessant, die Lexis von der Phasis zu trennen? [Ich habe den Eindruck, dass Lacan unter „Lexis“ an dieser Stelle nicht die Opposition Universalität/Partikularität versteht, sondern nur das Universale, und ebenso unter Phasis nicht die Opposition Bejahen/Verneinen, sondern speziell die Negation. Dann wäre gemeint: Warum ist es für Psychoanalytiker interessant, das Universale von der Negation zu trennen?]
Es geht um die Bedeutung dessen, was man als „universale Aussage“ bezeichnet. Diese Bedeutung ist völlig verloren gegangen [und zwar dadurch, dass die Universalität als Quantität begriffen wurde].
Dieser Verlust kam durch die Euler’sche Formulierung des Syllogismus zustande [und beruht auf der Unterscheidung zwischen der Extension und der Intension von Begriffen]. Hierbei werden die Beziehungen zwischen den Begriffen eines Syllogismus durch Kreise dargestellt, die sich ausschließen oder überlappen oder vollständig überdecken; diese Relationen sollen sich auf den Begriffsumfang beziehen [auf die Extension]. [Beispielsweise wird „Alle Menschen sind sterblich“ mit Eulerkreisen so dargestellt, dass der Kreis der Menschen innerhalb des größeren Kreises der Sterblichen liegt; „Kein Mensch ist sterblich“ dadurch, dass der Kreis der Menschen außerhalb des Kreises der Sterblichen liegt“; „Einige Menschen sind sterblich“ und „Einige Menschen sind nicht sterblich“ dadurch, dass die Kreise der Menschen und der Sterblichen sich teilweise überlappen.]
Der Begriffsumfang, die Extension, wird vom Begriffsinhalt [von der Intension] unterschieden und es wird angenommen, dass der Begriffsinhalt (compréhension) durch eine unvermeidliche Art des Verstehens (comprende) charakterisiert sei. [Lacan macht sich über den Ausdruck „verstehen“ lustig:] Was ist beispielsweise daran zu verstehen, dass das Pferd weiß ist? [Lacan wechselt hier vom Begriff zur Aussage. „Das Pferde ist weiß“ ist eine bejahende Aussage mit „Pferd“ als Subjektbegriff und „weiß“ als Prädikatsbegriff. Die Extension des Begriffs „Pferd“ ist die Gesamtheit aller Gegenstände, die unter diesen Begriff fallen, also die Gesamtheit aller Pferde. Die Intension dieses Begriffs ist etwa „Säugetier mit einem Zeh“. Bei „weiß“ ist die Extension „alles, was weiß ist“, die Intension vielleicht „hellste unbunte Farbe“.]
Freud hat die folgende Formel verkündet (sagt Lacan): „Der Vater ist Gott“, anders ausgedrückt „Jeder Vater ist Gott“ oder „Es gibt keinen anderen Vater als Gott“. [In „Der Vater ist Gott“ meint der Artikel „der“ nicht „dieser Vater da“ sondern „der Vater schlechthin“, „alle Väter“, „jeder Vater“; es geht also um die universale bejahende Aussage „Alle Väter sind Gott“. Wir sind hier bei Freuds primärer Identifizierung, bei der Identifizierung mit dem idealisierten Vater, und Lacan rekonstruiert diese Identifizierung als Beziehung zu einer universalen bejahenden Aussage.] Lacan formuliert diese universale bejahende Aussage auch so: „Es gibt keinen anderen Vater als Gott“ [was man auch durch eine doppelte Negation ausdrücken kann: „Es gibt keinen Vater, der nicht Gott ist“].
Zugleich aber hat Freud die Existenz Gottes aufgehoben*, in der Schwebe gehalten, sogar radikal in Zweifel gezogen [man denke an Freuds Aufsatz Die Zukunft einer Illusion]. [Dem entspricht die Aussage: „Kein Vater ist Gott.“]
Anders formuliert: Die Funktionsordnung, die Lacan als „Name-des-Vaters“ bezeichnet [der Vater in seiner Gottesfunktion] hat einen universalen Wert [sie kann so artikuliert werden: „Alle Väter erfüllen die Funktion Name-des-Vaters“]. Zugleich aber bleibt es „dem anderen“ überlassen, festzustellen, ob es einen Vater dieses Schlages gibt oder nicht [damit sind wir auf der Ebene der partikulären bejahenden Aussage „Es gibt einen Vater der Gott ist“ und der universalen verneinenden Aussage „Es gibt keinen Vater, der Gott ist“].
Wenn es keinen Vater gibt, der Gott ist, ist dennoch stets wahr, dass der Vater Gott ist. [Lacan bezieht hier die universale affirmative Aussage auf die universale verneinende Aussage.]
Zur Begründung bezieht Lacan sich auf das Quadrantenschema. [Im Quadrantenschema muss man jetzt für „Strich“ den Ausdruck „Vater“ einsetzen (logisches Subjekt), für das Merkmal „senkrecht“ das Merkmal „ist Gott“ bzw. „ erfüllt die Funktion ‚Name-des-Vaters‘“ und für das Merkmal „schräg“ das Merkmal „ist nicht Gott“ bzw. „erfüllt nicht die Funktion ‚Name-des-Vaters‘“.] Die Formel „Alle Väter sind Gott“ [A] wird durch den leeren Abschnitt der Kreisfläche [4] nur bestätigt. [Lacan bringt hier etwas durcheinander Der leeren Kreisfläche 4 entspricht nicht die Aussage „Es gibt keinen Vater, der Gott ist“, sondern die Aussage „Es gibt keinen Vater“. Die Aussage „Es gibt keinen Vater, der Gott ist“ wird durch die Kreisflächen 3 und 4 repräsentiert (universale verneinende Aussage); für sie gilt, dass es keinen Strich gibt, der senkrecht ist.]
Lacan wechselt [zur partikulären Aussage und hier] zur Ebene der Phasis [also zum Gegensatz bejahend/verneinend]. Hier haben wir „Es gibt Väter, die die symbolische Funktion ‚Name-des-Vaters‘ erfüllen“ [partikulär bejahend, I, Segmente 1 und 2] und „Es gibt Väter, die die symbolische Funktion ‚Name-des-Vaters‘ nicht erfüllen“ [partikulär verneinend, O, Segmente 2 und 3].
Dabei gibt es solche, die in allen Fällen die Funktion „Name-des-Vaters“ nicht erfüllen, und dies entspricht Abschnitt [3] des Schemas [bei dem die Striche in allen Fällen nicht senkrecht sind, sondern schräg].
Dass es Väter gibt, die in allen Fällen die symbolische Funktion „Name-des-Vaters“ nicht erfüllen, was dem Abschnitt [3] entspricht, ist dasselbe wie das, was der universalen Funktion des Namens-des-Vaters die Grundlage gibt. [Abschnitt 3 verhält sich zu O (2 und 3) wie Abschnitt 4 zu A (1 und 4).]
Denn die universale Bejahung [A, Abschnitte 1 und 4] erhält durch den Abschnitt, in dem es nichts gibt [Abschnitt 4] ihre volle Tragweite.
Die beiden fraglichen Abschnitte werden, sagt Lacan, „auf der Ebene der Lexis erfasst“. [Unter „Lexis“ scheint er hier speziell das Universale zu verstehen – die beiden fraglichen Abschnitte gehören zur universalen (bejahenden) Aussage.]
Lacan erläutert das Problem der universalen Bejahung durch ein weiteres Beispiel, das des Professors oder Lehrers [professeur meint, wie in Österreich das Wort „Professor“, sowohl den Gymnasiallehrer als auch den Hochschullehrer]. [Der Wechsel vom Vater zum Lehrer orientiert sich vermutlich an Freuds These, dass die Identifizierung mit dem Lehrer häufig ein Ersatz oder Nachfolger für die Identifizierung mit dem Vater ist.]
Der Wert des traditionellen Unterrichts muss das sein, was Lacan in der vorangegangenen Sitzung zum i [zur imaginären Zahl] gesagt hatte. [Das Subjekt (so hieß es in dort), kann durch die imaginäre Zahl dargestellt werden, also durch i.]
Die Professoren diskutieren, was sie sagen sollen, was sie unterrichten sollen [sie diskutieren über das Curriculum]. Sie sollen unterrichten, was andere vor ihnen unterrichtet haben [ihre Funktion ist die Tradierung der Kultur]. Damit gründen sie sich auf das, was bereits eine bestimmte Lexis erfahren hat [eine bestimmte Signifikantenselektion, deren Ergebnis für gewöhnlich als „Kanon“ bezeichnet wird], und diese Bildung stützt sich auf den Buchstaben [auf die Schrift]. Der Bezug auf diese Lexis [auf den geschriebenen Kanon] ermöglicht es zu sagen: „Der Professor ist lettré, gebildet, literat.“
Von daher lässt sich die folgende universale [und bejahende] Aussage formulieren: „Der Professor ist literat“ [im Sinne von „Alle Professoren sind literat“].
Als nächstes kann man behaupten, dass der Professor halb gebildet sein kann, halb literat. [Die Aussage lautet dann: „Es ist möglich, dass alle Professoren halb literat sind“. Die Modalität der Möglichkeit spielt im Gang der Argumentation keine Rolle, deshalb ist wohl gemeint: „Alle Professoren sind halb literat.“ Auch dies ist eine universale bejahende Aussage, das Prädikat ist jetzt „halbliterat“.] Das impliziert, dass es keinen Professor gibt, der nicht literat ist.
Aber vielleicht gibt es doch einen Gesichtspunkt, unter dem man behaupten kann, „Es gibt Professoren, die nicht literat sind“ [das wäre die partikuläre verneinende Aussage]. Dies würde nichts daran ändern, dass die Definition eines Professors darin besteht, dass er literat ist, dass er sich mit dem Buchstaben identifiziert – der negative Fall ist die wesentliche Entsprechung zur Definition der Universalität. [Als stützenden negativen Fall bezieht sich Lacan hier, wie bei zuvor bei den Vätern, auf die verneinende partikuläre Aussage, im Quadrantenschema sind das die Felder 2 und 3. Dem leeren Feld 4 würde die Aussage „Es gibt keinen Professor“ entsprechen.]
[An dieser Stelle erfährt man, dass Lacan die Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Prädikat als Identifizierung deutet: „Alle Professoren sind literat“ meint: „Alle Professoren identifizieren sich mit dem Buchstaben.“]
Lacan paraphrasiert dies mit der Aussage „Es kann analphabetische Professoren geben“. [Durch die Einführung der Modalität der Möglichkeit verändert sich die Logik der Aussage, das scheint Lacan auch an dieser Stelle nicht wichtig zu sein.]
Der negative Fall ist die wesentliche Entsprechung zur Definition der Universalität, und das ist „auf der Ebene der ursprünglichen Lexis grundlegend verborgen“. [Das könnte heißen: „das ist auf der Ebene der universalen Aussage verborgen“; offenbar setzt er hier „Lexis“ mit „universal bejahend“ gleich.]
„Das bedeutet etwas in Bezug auf die Mehrdeutigkeit der partikulären Stütze, die wir im Engagement unseres Sprechens dem Namen-des-Vaters geben können.“ [Unter der partikulären Stütze, die wir dem Namen-des-Vaters geben können, versteht er, wie zwei Sätze später klar wird, dass wir sagen „der da ist mein Vater“ oder „der da ist sein Vater“.]
Lacan spricht dann über einen Menschen, der sich als jemand auffassen kann, der vom Namen-des-Vaters völlig abgelöst ist, für den die Funktion des Vaters reiner Verlust ist, für den er ein Vater ist, der kein Vater ist, für den die Funktion des Vaters eine verlorene Sache ist. [Das entspricht der universalen verneinenden Aussage „Kein Vater erfüllt die Funktion Name-des-Vaters“; im Quadrantenschema sind dies die Felder 3 und 4.]
Selbst die partikuläre Kategorie wird im Verhältnis zu einer ersten Lexis beurteilt, derjenigen des Namens-des-Vaters. [Vermutlich ist gemeint: Selbst die Aussagen „Es gibt Väter, die die Funktion ‚Name-des-Vaters‘ erfüllen“ und „Es gibt Väter, die die Funktion ‚Name-des-Vaters‘ nicht erfüllen“ setzten die universale Aussage „Alle Väter erfüllen die Funktion ‚Name-des-Vaters‘ “ voraus.]
Die Aussage „der da ist mein Vater“ oder „der da ist sein Vater“ ist von einer ursprünglichen Lexis abhängig. [Unter „Lexis“ versteht Lacan hier offenbar wieder exklusiv die Allgemeinheit. „Dieser da ist mein Vater“ ist abhängig von einer universalen bejahenden Aussage über den Vater, nämlich „Alle Väter sind Gott“.]
Professoren wären in großer Gefahr, wenn sie hinsichtlich ihrer realen Funktion in der Schwebe gehalten würden. [Ich nehme an, dass gemeint ist: Professoren wären in Gefahr, wenn sie nicht vor dem Hintergrund der Aussage wahrgenommen würden, dass alle Professoren literat sind.]
Buchstaben (24. Januar 1962)
Übersetzung
In der Folgesitzung spricht Lacan über das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten und darüber, was diese Beziehung mit der Schrift zu tun hat, mit dem Buchstaben. Es sei offensichtlich, dass der Zwangsneurotiker es mit dem Buchstaben zu tun hat, man sehe das am Mechanismus des „Ungeschehenmachens“: Der Zwangsneurotiker hat eine Art Buchhaltung, und es geht ihm darum, Signifikanten auszulöschen. Zur Verdeutlichung des Verhältnisses von Sprache und Schrift verweist er auf die chinesische Schrift (die ihn in Seminar 18 wieder beschäftigen wird, Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre, 1971).
Die formale Logik, heißt es weiter, hält sich streng an den Buchstaben und klammert den Sinn aus (Lacan versteht hier unter „formaler Logik“ die auch „symbolische Logik“ genannte algebraisierte Logik, die an Boole und Frege anknüpft). In den Principia Mathematica haben Bertrand Russell und Alfred North Whitehead den Versuch gemacht, die Mathematik mittels der Mengenlehre auf die symbolische Logik zu gründen. Dabei stießen sie auf die sogenannte Russell’sche Paradoxie (oder Russell’sche Antinomie), durch die sie das gesamte Unternehmen bedroht sahen, auf eine Paradoxie, die den Wert der Mengenlehre in Frage zu stellen schien. Lacan fährt fort:
„Worin sich eine Menge von einer Definition der Klasse unterscheidet, ist in einer gewissen Mehrdeutigkeit geblieben, denn das, was ich Ihnen sagen werde – und was am häufigsten akzeptiert wird, von jedem beliebigen Mathematiker –, dass nämlich das, was eine Menge von der Form derjenigen Definition unterscheidet, die als Klasse bezeichnet wird, nichts anderes ist als dies, dass die Menge durch Formeln definiert wird, die man Axiome nennt, die man auf der Tafel mit Symbolen notiert, die auf Buchstaben reduziert sind, zu denen einige ergänzende Signifikanten hinzukommen, die die Relationen anzeigen. Es gibt absolut keine andere Spezifizierung dieser sogenannten symbolischen Logik im Vergleich zur traditionellen Logik, außer dieser Reduktion auf Buchstaben. Ich garantiere es Ihnen; Sie können es mir glauben, ohne dass ich mich weiter auf Beispiele einlassen muss.
Worin also besteht die Kraft – die ja zwangsläufig irgendwo ist –, die dazu führt, dass aufgrund dieses einzigen Unterschieds zahlreiche Konsequenzen entwickelt werden konnten, zu denen ich Ihnen versichere, dass die Auswirkung auf die Entwicklung dessen, was sich Mathematik nennt, keineswegs gering ist, verglichen mit dem Apparat, über den man seit Jahrhunderten verfügt hat und bei dem das Kompliment, das man ihm gemacht hat, nämlich dass er sich zwischen Aristoteles und Kant nicht bewegt hat, ins Gegenteil umschlägt?
Das ist eben –; wenn die Dinge dennoch so ins Laufen gekommen sind, wie es geschehen ist, denn die Principia Mathematica bestehen aus zwei sehr, sehr dicken Bänden84 und sie sind nur von sehr geringem Interesse85, aber wenn das Kompliment schließlich ins Gegenteil umschlägt, dann deshalb, weil der frühere Apparat aus irgendeinem Grunde ungemein stagniert hat.
Nun, wie kommen die Autoren von hier aus dazu, über etwas in Erstaunen zu geraten, was man als Russell’sche Paradoxie bezeichnet?86 Die Russell’sche Paradoxie beruht darauf, dass man von der Menge aller Mengen spricht, die sich nicht selbst enthalten (comprennent).
Ich muss diese Geschichte ein bisschen aufhellen, die Ihnen beim ersten Zugang eher als trocken erscheinen mag. Ich weise Sie sofort darauf hin: Wenn ich Sie dafür interessiere – zumindest hoffe ich das –, dann mit der Stoßrichtung, dass es die engste Beziehung gibt – und nicht nur homonymisch, genau deshalb, weil es um Signifikanten geht und folglich darum, nicht zu verstehen (comprendre) –, dass es die engste Beziehung gibt zur Position des analytischen Subjekts, insofern auch es, in einem anderen Sinne des Wortes ‚verstehen‘ –; und wenn ich Ihnen sage, ‚nicht zu verstehen‘, dann, damit Sie auf jede Weise verstehen können, dass auch das Subjekt ‚sich nicht selbst versteht/enthält‘.87 Hier hindurchzugehen ist keineswegs nutzlos, sie werden es sehen, denn auf diesem Wege werden wir die Funktion unseres Objektes kritisieren können.
Aber halten wir einen Moment lang bei diesen Mengen inne, die sich nicht selbst enthalten.
Um zu erfassen, worum es sich handelt, muss man offensichtlich ausgehen –; denn in der Kommunikation können wir schließlich anderes tun als Konzessionen an intuitive Bezüge zu machen, denn die intuitiven Bezüge, die haben Sie bereits, man muss sie also ins Wanken bringen, um andere an ihre Stelle zu setzen.
Da Sie die Vorstellung haben, dass es eine Klasse gibt und dass es eine Klasse der Säugetiere gibt, muss ich Ihnen wohl zu zeigen versuchen, dass man sich auf etwas anderes beziehen muss.
Wenn man anfängt, sich mit der Kategorie der Menge zu befassen, sollte man sich auf die bibliographische Klassifikation beziehen, die von einigen geschätzt wird, ob sie nun aus Dezimalzahlen besteht oder aus etwas anderem; aber wenn man etwas Geschriebenes hat, muss das irgendwo eingeordnet sein, man muss wissen, wie man es automatisch wiederfindet.
Also, nehmen wir eine Menge, die sich selbst enthält. Nehmen wir beispielsweise in einer bibliographischen Klassifikation das Studium der Humaniora (l’étude des humanités).88 Es ist klar, dass man hierzu die Arbeiten der Humanisten über die Humaniora rechnen muss.89 Die Menge ‚Studium der Humaniora‘ muss alle Arbeiten enthalten, die sich auf das Studium der Humaniora als solche beziehen.
Betrachten wir nun aber diejenigen Mengen, die sich nicht selbst enthalten – das ist nicht weniger gut fassbar, das ist sogar der gewöhnlichste Fall.
Und da wir Mengentheoretiker sind, und da bereits eine Klasse der Menge aller Mengen, die sich selbst enthalten, existiert, gibt es wirklich keinen Einwand dagegen, dass wir die entgegengesetzte Klasse bilden – ich verwende hier den Ausdruck ‚Klasse‘, da eben hierin die Mehrdeutigkeit bestehen wird: die Klasse derjenigen Mengen, die sich nicht selbst enthalten: die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten.
Und da fangen die Logiker an, sich den Kopf zu zerbrechen, das heißt, sie fragen sich: Diese Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten – enthält sie sich selbst oder enthält sie sich nicht selbst?
In beiden Fällen verwickelt sie sich in einen Widerspruch. Denn wenn sie sich selbst enthält, wie es zunächst erscheint, befinden wir uns im Widerspruch zum Ausgangspunkt, der uns sagte, es handele sich um Mengen, die sich nicht selbst enthalten.
Andererseits, wenn sie sich nicht selbst enthält, wie genau soll man sie dann von dem ausnehmen, was uns von der Definition geliefert wird, nämlich dass sie sich nicht selbst enthält?90
Das mag Ihnen ziemlich kindisch vorkommen, aber die Tatsache, dass sie, die Logiker, das so sehr überrascht, dass sie sich dabei aufhalten, die Logiker, die wirklich nicht Leute von der Art sind, dass sie sich bei einer nichtigen Schwierigkeit aufhalten –; und wenn sie hier etwas spüren, was sie einen Widerspruch nennen können, der ihr gesamtes Gebäude in Frage stellt91, dann ist das deshalb so, weil es etwas gibt, das gelöst werden muss und was – dass Sie mich recht verstehen – nichts anderes betrifft als dies, was die einzige Sache betrifft, die die betreffenden Logiker nicht genau gesehen haben, nämlich dass der Buchstabe, dessen sie sich bedienen, etwas ist, was an sich selbst Kräfte hat, eine Triebkraft, an die sie überhaupt nicht gewöhnt zu sein scheinen.
Denn wenn wir dies in Anwendung dessen illustrieren, dass wir gesagt haben, dass es um nichts anderes geht als um den systematischen Gebrauch eines Buchstabens – den Buchstaben zu reduzieren, ihm seine Signifikantenfunktion zu reservieren, um auf ihn und einzig auf ihn das gesamte Gebäude der Logik zu gründen –, dann kommen wir zu etwas sehr Einfachem: dass es wirklich ganz einfach auf das hinausläuft, was geschieht, wenn wir dann – wenn wir uns daranmachen, über das Alphabet zu spekulieren – beispielsweise dem Buchstaben a die Funktion zu geben, als Buchstabe a alle anderen Buchstaben des Alphabets zu repräsentieren.
Entweder – oder. Entweder wir rechnen die anderen Buchstaben des Alphabets von b bis z dazu, wobei der Buchstabe a sie unzweideutig repräsentieren soll, ohne sich jedoch selbst zu enthalten.
Andererseits ist jedoch klar, dass er, indem er als Buchstabe diese Buchstaben des Alphabets repräsentiert, ganz natürlich dazu gelangt – an der Stelle, von der wir ihn bezogen haben, ihn ausgeschlossen haben –, die Reihe der Buchstaben, ich möchte nicht einmal sagen zu bereichern, sondern zu vervollständigen, und dies einfach insofern als, wenn wir davon ausgehen, dass a – das ist hier bei der Identifizierung unser Ausgangspunkt – grundlegend keineswegs a ist, und es hier keine Schwierigkeit gibt: Der Buchstabe a ist im Inneren der Klammer – in der alle Buchstaben aufgereiht sind, die er symbolisch unter sich subsumiert – nicht dasselbe a und zugleich dasselbe.
Es gibt hier keinerlei Schwierigkeit. Es sollte hier umso weniger eine geben, als diejenigen, die hier eine sehen, eben diejenigen sind, die den Begriff der Menge erfunden haben, um die Mängel des Begriffs der Klasse auszugleichen, und die folglich die Vermutung haben, dass es bei der Funktion der Menge etwas anderes geben muss als bei der Funktion der Klasse.
Das interessiert uns jedoch, denn was heißt das? Wie ich Ihnen gestern Abend gezeigt habe: Das metonymische Objekt des Begehrens, das, welches unter allen Objekten dieses bevorzugte klein a repräsentiert, wo das Subjekt sich verliert, wenn dieses Objekt metaphorisch ans Licht kommt, wenn wir dazu kommen, es an die Stelle des Subjekts zu setzen, das im Anspruch dazu gelangt ist, sich zu synkopieren, sich aufzulösen – keine Spur: $ –, dann enthüllen wir ihn, den Signifikanten dieses Subjekts, dann geben wir ihm seinen Namen: das gute Objekt, die Mutterbrust, die mamme.92
Da haben wir die Metapher, in der, sagen wir, alle artikulierten Identifizierungen des Anspruchs des Subjekts erfasst sind. Sein Anspruch ist oral, und die Brust der Mutter nimmt sie in ihre Klammer. Es ist das a, das all diesen Einheiten ihren Wert gibt, die sich in der Signifikantenkette addieren werden: a (I + I + I …).
Die Frage, die wir zu stellen haben, bezieht sich darauf, den Unterschied zu bestimmen zwischen der Verwendung, die wir von der mamme machen, und der Funktion, die sie bei der Definition beispielsweise der Klasse der Säugetiere hat, der Mammalia.
Die Mammalia sind daran zu erkennen, dass sie mammes haben. Es ist, unter uns gesagt, ziemlich seltsam, dass wir so wenig darüber unterrichtet sind, was bei jeder Art damit tatsächlich gemacht wird. Die Ethologie der Säugetiere ist noch stark zurückgeblieben, da wir bei diesem Thema, wie bei der formalen Logik, kaum weiter sind als auf dem Niveau von Aristoteles – ausgezeichnetes Werk: die Tierkunde!
Aber was uns angeht: Ist es das, was für uns der Signifikant mamme bedeutet, insofern er das Objekt ist, um das herum wir dem Subjekt Substanz verleihen, in einer bestimmten, als ‚prägenital‘ bezeichneten Beziehungsart?
Es ist ganz klar, dass wir davon einen völlig anderen Gebrauch machen, viel näher an der Manipulation des Buchstabens E in unserer Mengenparadoxie93, und um Ihnen das zu zeigen, möchte ich Sie auf Folgendes aufmerksam machen: a (I + I + I …), also unter diesen I des Anspruchs, deren konkrete Signifikanz wir aufgedeckt haben, gibt es da die Brust selbst oder nicht?94
Anders ausgedrückt, wenn wir von oraler Fixierung sprechen, von der latenten Brust, ist dann die aktuelle Brust – diejenige, nach der Ihr Subjekt ‚ah!, ah!, ah!‘ macht – etwas von der Art der Brustdrüse? Es ist ganz offensichtlich, dass sie das nicht ist, denn Ihre Oralen, die für Brüste schwärmen, sie schwärmen deshalb für Brüste, weil diese Brüste ein Phallus sind. Und eben deshalb, weil es möglich ist, dass die Brust auch ein Phallus ist, lässt Melanie Klein ihn sofort genauso früh wie die Brust auftreten, von Beginn an, indem sie uns sagt, dass er letztlich eine kleine Brust ist, nur bequemer, tragbarer, netter.
Sie sehen also, wenn wir diese strukturalen Unterscheidungen einführen, kann uns das irgendwohin führen – in dem Maße, in dem die verdrängte Brust wiederauftaucht, wiedererscheint, im Symptom oder sogar einfach in einem Schlag, den wir nicht anders qualifiziert haben: die Funktion in der perversen Skala –, um etwas von diesem anderen hervorzurufen, nämlich das Heraufbeschwören des phallischen Objekts.
Die Sache schreibt sich so:Was ist das a? Setzen wir an seine Stelle den kleinen Pingpongball, das heißt nichts, irgendwas, irgendeine Stütze für das Alternierspiel des Subjekts im Fort-Da.95
Da sehen Sie, dass es sich strikt um nichts anderes handelt als um den Übergang des Phallus vom a plus zum a minus und dass wir dadurch in der Identifizierungsbeziehung sind, da wir wissen, dass in dem, was das Subjekt assimiliert – das ist das Subjekt selbst in seiner Frustration –, wir wissen, dass darin das Verhältnis des $ zu diesem I(A)96 – zum Ein, insofern es die Bedeutung des Anderen als solchen annimmt – die engste Beziehung zur Realisierung dieses Wechsels von a mal minus a hat, zu diesem Produkt von a und –a, was formal ein minus a im Quadrat ergibt: –a2. Wir werden näher bestimmen, warum eine Negation irreduzibel ist – wenn es Affirmation und Negation gibt, bildet die Affirmation der Negation eine Negation, und ebenso die Negation der Affirmation. Wir sehen, wie sich das in der Formel –a2 zeigt; wir finden die Notwendigkeit wieder, bei der Wurzel aus diesem Produkt die Wurzel aus minus eins ins Spiel zu bringen, .
Es geht nicht einfach um die Anwesenheit oder die Abwesenheit des klein a, sondern um die Konjunktion von beiden, um den Schnitt (coupure), worum es geht, ist die Disjunktion von a und minus a.97
Und das ist der Punkt, wo das Subjekt dazu gelangt, sich als solches zu verorten, wo sich die Identifizierung mit diesem Etwas herzustellen hat, mit dem Objekt des Begehrens.
Darum ist der Punkt, an den ich Sie heute geführt habe, Sie werden es sehen, eine Artikulation, die Ihnen später noch helfen wird.“98
Ende der Sitzung
Paraphrase mit Ergänzungen
Mengentheorie und moderne Logik beruhen auf dem Buchstaben
[Nachdem Lacan in der Sitzung vom 15. November 1961 über die Lügnerparadoxie gesprochen hatte, bezieht er sich jetzt auf die sogenannte Russell’sche Antinomie bzw., wie er sagt, Russell’sche Paradoxie; diese Antinomie oder Paradoxie zeigt sich im Rahmen eines bestimmten Typs der symbolischen Logik, nämlich der Klassenlogik im engeren Sinne, in welcher Klassen als Mengen aufgefasst werden.]
Wodurch unterscheidet sich eine Menge von einer Klasse? Mengen werden durch Formeln definiert, genauer: durch Axiome. Diese Axiome werden in schriftlichen Symbolen notiert, durch Buchstaben sowie durch Grapheme für Relationen. Die Reduktion auf Buchstaben ist charakteristisch für die symbolische Logik [auch mathematische Logik genannt], darin unterscheidet sie sich von der traditionellen Logik [die auf Aristoteles zurückgeht]. [Die „Symbole“, auf die sich der Ausdruck „symbolische Logik“ bezieht, sind Schriftzeichen nach dem Vorbild der Algebra, des „Buchstabenrechnens“.]
Warum konnte durch die Verwendung des Buchstabens die Stagnierung der Logik überwunden werden? Worin besteht die besondere Kraft des Buchstabens?
Auch die Russell’sche Antinomie beruht auf dem Buchstaben
Warum staunen die Autoren über die Russell’sche Paradoxie? Die Paradoxie bezieht sich hier auf die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten. In Bezug auf diese Menge wird gefragt, ob sie sich selbst enthält.
Ein Beispiel für eine Menge, die sich selbst enthält, ist die Klasse „Humaniora“ in einer bibliographischen Klassifikation, wobei diese Klasse außerdem Werke über die Klasse der Humaniora enthält [oder, sagen wir, eine Bibliographie zu einem bestimmten Thema, in der diese Bibliographie selbst aufgeführt wird].
Eine Menge, die sich nicht selbst enthält, ist der Normalfall.
Angenommen, die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst enthalten, enthält sich selbst, dann steht sie zu ihrer Definition im Widerspruch, Angenommen, sie enthält sich nicht selbst, ergibt sich ebenfalls ein Widerspruch, da sie ja alle Mengen enthalten soll, die sich nicht selbst enthalten.
[Angenommen, wir wählen als Elemente die Freud-Bibliographien. Bei der Abfassung einer jeden Bibliographie stand der Autor vor der Entscheidung, ob er die von ihm selbst erstellte Bibliographie in seine Bibliographie der Freud-Bibliographien mit aufnehmen soll. Nehmen wir weiterhin an, dass dieses Problem unterschiedlich gelöst wurde. Einige haben den Titel der von ihnen erstellten Bibliographie mit in ihre Freud-Bibliographie aufgenommen, andere nicht. Die auf sich selbst verweisenden Bibliographien bilden eine Menge, die sich selbst enthält, die anderen eine Menge, die sich nicht selbst enthält.]
[Stellen wir uns als nächstes vor, dass jemand den Auftrag erhält, von diesen Bibliographien eine Bibliographie zweiter Ordnung zu erstellen, also eine Bibliographie der Freud-Bibliographien. Angenommen, es soll zwei Metabibliographien geben. Die eine, Freud-Metabibliographie I, soll alle selbstreferentiellen Bibliographien enthalten, also diejenigen, die sich selbst enthalten. Die andere, Freud-Metabibliographie II, soll alle zurückhaltenden Bibliographien umfassen, all diejenigen, die sich nicht selbst enthalten.]
[In die erste Freud-Metabibliographie nimmt der Autor die Titel auf, die sich selbst enthalten. Zum Schluss fragt er sich, ob er er den Titel Freud-Metabibliographie I ebenfalls aufnehmen soll. Er kommt schnell zum Ergebnis, dass dieser Titel hineingehört: Diese Metabibliographie soll ja alle Titel enthalten, die sich selbst enthalten und durch die Aufnahme des Titels Freud-Metabibliographie I in das Titelverzeichnis enthält die Freud-Metabibliographie I sich selbst. Durch die Aufnahme des Titels in sich selbst erfüllt die Freud-Metabibliographie I gewissermaßen rückwirkend die Aufnahmebedingung.]
[Die Freud-Metabibliographie II soll die zurückhaltenden Bibliographien erfassen, all diejenigen, die sich nicht selbst enthalten. Also nimmt der Autor den Titel „Freud-Metabibliographie II“ nicht darin auf. Er denkt: Wenn er ihn aufnehmen würde, würde diese Bibliographie sich ja selbst enthalten, und ein Titel, der sich selbst enthält, soll darin nun gerade nicht aufgeführt werden. Doch dann gerät er ins Grübeln. Er hatte ja den Auftrag, in die zweite Metabibliographie alle Bibliographien aufzunehmen, die sich nicht selbst enthalten, und er hatte soeben dafür gesorgt, dass dass seineeigene Metabibliographie sich nicht selbst enthält. Mit diesem Merkmal gehört der Titel „Freud-Metabibliographie II“ ganz klar in das Titelverzeichnis. Also korrigiert er seine Entscheidung, und nimmt den Titel „Freud-Metabibliographie II“ dann doch in seine Titelliste auf. Dann wird ihm klar, dass er einen Fehler begangen hat, denn nun enthält seine Metabibliographie den Titel einer Bibliographie, die sich selbst enthält, obwohl sie doch nur solche Bibliographien verzeichnen soll, die sich nicht selbst enthalten. Und so weiter.]
Lacan macht ein Wortspiel mit se comprendre (sich enthalten / sich verstehen): auch das Subjekt enthält sich nicht / versteht sich nicht. [Es geht aber nicht nur um ein Wortspiel, sondern um die paradoxe Position des Objekts a.]
[Lacan stellt sich die Frage, wie es möglich war, dass diese Paradoxie der Selbstbezüglichkeit, obwohl sie in den Grundzügen seit der Antike bekannt war, erst für die moderne Mathematik eine grundlegende Rolle gespielt hat und hier zur sogenannten Grundlagenkrise führte.] Die Logiker, die sich wegen dieser Paradoxie den Kopf zerbrochen haben, haben nicht gesehen, dass die Paradoxie auf der systematischen Verwendung des Buchstabens beruht, auf der Reduktion von Buchstaben auf ihre Signifikantenfunktion [auf der rigorosen Abstraktion vom Sinn]. [Erst in dem Moment, in dem man eine symbolische Logik ausarbeitet, eine Logik, die auf der Manipulation von Schriftzeichen beruht, ähnlich der Algebra, gewinnt die paradoxe Dimension der Selbstbezüglichkeit eine umwälzende Kraft.]
Wenn man dem Buchstaben a die Funktion gibt, alle anderen Buchstaben des Alphabets zu repräsentieren, dann repräsentiert er sie entweder ohne a, also von b bis z. Und zugleich gelangt er „ganz natürlich“ dazu, die Buchstaben einschließlich a zu repräsentieren, indem wir die Buchstaben, die er repräsentiert, vervollständigen. Dann ist der Buchstabe a, der die Buchstaben repräsentiert, derselbe wie der innerhalb der Klasse, die er repräsentiert, und zugleich nicht derselbe. Denn a ist nicht gleich a, das ist bei der Identifizierung der Ausgangspunkt [Lacan hatte dies in diesem Seminar in der Sitzung vom 12. Dezember 1961 erläutert; vgl. die Übersetzung hier]. [Ich kann dieses Argument nicht nachvollziehen.]
Diejenigen, die den Begriff der Menge erfunden habe, müssen vermutet haben, dass es einen Mangel im Begriff der Klasse gibt. [¿ Welchen?]
Die Brust als Merkmal der Säugetiere und als Objekt des Begehrens
Das metonymische Objekt des Begehrens [das Objekt, um das die Ansprüche kreisen] wird von Lacan durch klein a repräsentiert.
Im Anspruch gelangt das Subjekt dazu, sich zu synkopieren, sich aufzulösen. Das Subjekt verliert sich dann, wenn sich das Objekt an die Stelle des Subjekts setzt, wenn also eine Metapher gebildet wird [wenn eine Ersetzung stattfindet].
Die Psychoanalytiker enthüllen diesen Signifikanten des Subjekts und sie geben ihm einen Namen: gutes Objekt [Melanie Klein], Mutterbrust [Freud], mamme [Lacans Verdichtung aus dem lateinischen Wort mamma, „weibliche Brust“, und dem französischen Wort maman, „Mama“, also in etwa „Mutterbrust“].
Der Anspruch ist beispielsweise oral. Die Serie der Ansprüche [die Metonymie] wird durch eine Strichliste dargestellt: (I+I+I ….). Diese Serie erhält ihren Wert durch den Bezug auf das a, was sich so darstellen lässt: a (I + I + I …).
Von hier aus stellt Lacan die Frage, wie sich die Brust als Objekt a, also in der oralen Beziehungsart des Subjekts, zu der Brust verhält, durch welche die Klasse der Säugetiere definiert ist, die Klasse der Mammalia. Es ist klar, dass die Brust als Objekt a anders funktioniert, dass sie näher an der Manipulation des Buchstabens E in der Mengenparadoxie ist. [¿ Was ist mit dem Buchstaben E in der Mengenparadoxie gemeint?]
Ausgangspunkt ist a (I + I + I …). Gibt es unter den I des sich wiederholenden Anspruchs die Brust selbst oder nicht? [Lacan spielt auf die Frage an, ob die Menge sich selbst enthält.] Anders ausgedrückt, wenn wir von oraler Fixierung des Subjekts sprechen, dann müssen wir die latente Brust von der aktuellen Brust unterscheiden als der Wiederkehr der verdrängten Brust. [Die latente Brust ist die Brust, auf die sich die prägenitale orale Fixierung bezieht.] Die aktuelle Brust ist die Brust, nach der das Subjekt „ah! ah! ah!“ macht [auf die sich sein Begehren richtet]. Sie sind keineswegs dasselbe, die Oralen schwärmen deshalb für Brüste, weil die Brust für sie ein Phallus ist [im Phantasma ist das Objekt a eine Phallusmetapher, die aktuelle Brust ist also nicht prägenital, sondern die durch den Kastrationskomplex transformierte Brust]. Wie Melanie Klein sagt: Der Phallus ist eine kleine Brust.
Die manifeste Brust ist die Wiederkehr der verdrängten Brust im Symptom oder in der perversen Skala; die manifeste Brust dient dazu, das phallische Objekt heraufzubeschwören.
Lacan stellt die Beziehung zwischen der latenten und der manifesten Brust durch diese Formel dar:
[Links unten]: die latente Brust, Gegenstand der Fixierung [prägenitale orale Beziehung]; [rechts oben:] die Wiederkehr der verdrängten Brust, etwa in einem Symptom oder in einer Perversion. [Brust (a) fungiert als Phallusmetapher.]
Inwiefern bezieht sich das Subjekt auf die [manifeste] Brust als Phallus? Insofern die [manifeste] Brust [rechte Seite] wie eine Art Pingpongball funktioniert, d.h. im Alternieren von Abwesenheit und Anwesenheit. Und hinter dieser Pingpongfunktion steckt der Phallus als Übergang vom (a+) zum (a–) [der symbolische Phallus im Sinne des Gegensatzes von Anwesenheit und Abwesenheit (vgl. Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung und diesen Blogartikel)].
Und damit sind wir in der Beziehung der Identifizierung, bei der es um das Verhältnis des ausgestrichenen Subjekts [$] zu I(A) geht [zum Ichideal], zum Ein [zum einzigen Zug], insofern das Ein die Bedeutung des Anderen als solchen annimmt. Das Subjekt, um das es bei dieser Identifizierung geht, ist das Subjekt der Frustration. [In der Frustrationsbeziehung ist der Andere der allmächtige Andere, insofern er die Befriedigung des Anspruchs erfüllen oder verweigern kann, das Subjekt antwortet hierauf mit dem Liebesanspruch und mit der Identifizierung (vgl. hierzu ausführlich Seminar 4).]
Das, was das Subjekt durch diese Form der Identifizierung assimiliert, nämlich die Frustration, steht in enger Beziehung zum Wechsel von a plus und a minus [zum Erscheinen und Verschwinden der Mutterbrust]. Lacan stellt diesen Wechsel als Produkt von +a und –a dar, als –a2. Hierbei ist die Negation [bzw. das Minus] irreduzibel: Die Affirmation der Negation ist eine Negation, aber auch die Negation der Affirmation ist eine Negation [das Entsprechende gilt für Plus und Minus].
Wenn man aus –a2 die Wurzel zieht, kommt man zur imaginären Zahl, zu i. [Die imaginäre Zahl, i, ist für Lacan ein Symbol für das ausgestrichene Subjekt99.]
Es geht [bei –a2] nicht um die Abwesenheit oder um die Anwesenheit des klein a, sondern um die Konjunktion von beiden, um den Schnitt, es geht um die Disjunktion von a und minus a. [Im französischen Original findet man hinter „Schnitt“ einen Punkt, was dazu führt, dass man Konjunktion mit Schnitt mehr oder weniger gleichsetzt und beiden die Disjunktion gegenüberstellt. Ich nehme an, dass Lacan hier unter „Schnitt“ die Verbindung von Konjunktion und Disjunktion versteht und setzte deshalb nach „Schnitt“ ein Komma. Unter „Schnitt“ versteht Lacan ab dem Aufsatz Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (1960) das Symbol der Raute, ◊, aufgefasst als Verbindung von Konjunktion und Disjunktion, von Und, ∧, und Oder, ∨.100]
[Unter dem symbolischen Phallus versteht Lacan die Einheit von Anwesenheit und Abwesenheit, ihr Aufeinander-Bezogensein. Wenn das Objekt als Verbindung und Trennung von Anwesenheit und Abwesenheit existiert, fungiert es als Phallusmetapher.]
Eben das ist der Punkt, wo das Subjekt sich verorten kann, wo sich die Identifizierung mit dem Objekt des Begehrens herstellt [nämlich an dem Punkt, an dem das Objekt als Phallusmetapher wirksam ist].
Von der Logik des Begriffs zur Logik des Signifikanten: der einzelne Zug (21. Februar 1962)
Übersetzung
Am 21. Februar 1962 erinnert Lacan zu Beginn der Sitzung daran, dass er in der vorangegangenen Sitzung über das metonymische Objekt gesprochen hatte, beispielsweise das des Oraltriebs, sowie darüber, dass der Signifikant den Widerspruch stützt, etwa in der Russell’schen Antinomie. Danach heißt es:
„Daraus ergab sich, dass, bezogen auf dieses Objekt des Oraltriebs, insofern wir es als die ursprüngliche Brust auffassen, dass sich zu dieser generischen mamme der psychoanalytischen Objektkonstituierung die folgende Frage stellen konnte: Hat, unter diesen Bedingungen, die reale Brust ‚mammalen‘ Charakter? Nein, habe ich Ihnen gesagt. Was ganz offenkundig ist, denn wenn die Brust in der Oralerotik erotisiert ist, ist sie das, insofern sie etwas ganz anderes ist als eine Brust – wie Ihnen nicht unbekannt ist.
Und nach der letzten Sitzung hat jemand sich mir genähert und gesagt: ‚Ist, unter diesen Bedingungen, der Phallus phallisch?‘ Natürlich nicht!
Oder genauer muss man Folgendes sagen: Insofern in einem bestimmten Stadium der Phallus-Signifikant zu einem Faktor für die Enthüllung des Sinns der Signifikantenfunktion wird, insofern der Phallus, bezogen auf die symbolische Funktion, an eben den Platz gelangt, an dem die Brust war; insofern das Subjekt sich als phallisch konstituiert, ist der Penis – der im Inneren der Klammer ist, die die Menge der Objekte enthält, die dem Subjekt im phallischen Stadium zugekommen sind –, ist der Penis, so kann man sagen, genauso wenig phallisch wie die Brust ‚mammalisch‘ ist; allerdings geht es auf dieser Ebene um sehr viel schwerwiegendere Dinge, nämlich darum, dass der Penis, Teil des realen Körpers, der Drohung ausgesetzt ist, die als Kastration bezeichnet wird. Aufgrund der Signifikantenfunktion des Phallus wird der reale Penis dem ausgesetzt, was zuerst in der analytischen Erfahrung als Drohung erfasst worden ist, nämlich der Kastrationsdrohung.
Das ist also der Weg, auf den ich Sie führe, ich zeige Ihnen hier seinen Zweck und sein Ziel. Jetzt geht es darum, ihn Schritt für Schritt zu durchlaufen, anders gesagt, auf das zurückzukommen, was ich, seit wir dieses Jahr begonnen haben, vorbereite und nach und nach angehe, nämlich die besondere Funktion des Phallus bei der Identifizierung des Subjekts.
Dass wir uns recht verstehen, bei all dem, das heißt dabei, dass wir in diesem Jahr über die Identifizierung sprechen, das heißt dabei, dass von einem bestimmten Moment des Freud’schen Werkes an die Frage der Identifizierung an die erste Stelle rückt, dass sie zu dominieren beginnt, dass sie die gesamte Freud’sche Theorie umzuarbeiten beginnt, bei all dem geht es darum – man errötet fast, es sagen zu müssen –, dass von einem bestimmten Moment an, für uns nach Freud, für Freud vor uns, sich die Frage nach dem Subjekt als solchem stellt, nämlich: Wer ist? Wer ist da? Wer funktioniert? Wer spricht? Wer – noch vieles andere.
Und deshalb musste man tatsächlich damit rechnen – bei einer Technik, die grob gesagt eine Kommunikationstechnik ist, eine Technik, bei welcher der eine sich an den anderen wendet, und, um es klar zu sagen, eine Beziehungstechnik –, musste man tatsächlich wissen, wer da spricht und mit wem.
Und aus diesem Grunde betreiben wir in diesem Jahr Logik.
Ich kann nichts dafür, es geht nicht darum, ob mir das gefällt oder ob mir das missfällt. Das missfällt mir nicht. Es mag andere geben, denen das nicht missfällt. Aber eins ist sicher: dass es unvermeidlich ist. Es geht darum, zu welcher Logik uns das führt. Sie haben ja sehen können, dass ich Ihnen bereits gezeigt habe – ich bemühe mich, die Sache so knapp wie möglich zu halten, ich versichere Ihnen, dass ich hier nicht die Schule schwänze –, wo wir uns im Verhältnis zur formalen Logik verorten und dass es sicherlich nicht so ist, dass wir dazu kein eigenes Wort zu sagen hätten.
Ich erinnere Sie an die kleine Kreisscheibe, die ich zu allerlei nützlichen Zwecken für Sie konstruiert habe und auf die zurückzukommen wir vielleicht mehr als einmal die Gelegenheit haben werden, damit dies zumindest – aufgrund des Tempos, zu dem wir gezwungen sind, um in diesem Jahr unser Ziel zu erreichen –, damit dies nicht noch einige Monate oder Jahre lang eine Aussage bleiben muss, die in der Schwebe bleibt, für den Einfallsreichtum derjenigen, die sich die Mühe machen, auf das, was ich Sie lehre, zurückzukommen.
Aber sicherlich handelt sich keineswegs nur um formale Logik. Geht es um das, ist es das, was man seit Kant – ich meine seit Kant auf gut ausgearbeitete Weise – als transzendentale Logik bezeichnet? Anders gesagt, geht es um die Logik des Begriffs? Sicherlich auch das nicht. Es ist sogar ziemlich erstaunlich, zu sehen, wie sehr der Terminus des Begriffs im Funktionieren unserer Kategorien offensichtlich abwesend ist.
Was wir ausarbeiten – im Augenblick geht es keineswegs darum, dass wir uns groß bemühen, dem ein genaueres Etikett zu geben –, ist eine Logik, über die einige sogleich sagen, dass ich mich bemüht habe, eine Art elastische Logik zu konstituieren. Aber nun ja, das genügt nicht, um etwas zu konstituieren, das für den Geist wirklich beruhigend wäre.
Wir arbeiten eine Logik des Funktionierens des Signifikanten aus. Denn ohne diesen als primär, als grundlegend konstituierten Bezug des Subjekts zum Signifikanten ist das, was ich hier vorbringe, dies, dass es eigentlich undenkbar ist, dass es einem gelingt, den Irrtum zu verorten, in den die gesamte Analyse sich zunehmend verstrickt hat und der eben darauf beruht, dass sie nicht die Kritik der transzendentalen Logik im kantischen Sinne durchgeführt hat, die von den neuen Tatsachen, die sie, die Psychoanalyse, mitbringt, streng aufgenötigt wird.
Dies – ich will Ihnen etwas anvertrauen, was an sich keine historische Bedeutung hat, was ich aber glaube, Ihnen dennoch als Anregung mitteilen zu können –, dies hat mich dazu gebracht, während der Zeit, in der ich, kurz oder lang, von Ihnen und unseren wöchentlichen Begegnungen getrennt war, die Nase wieder, nicht, wie ich es vor zwei Jahren getan habe, in die Kritik der praktischen Vernunft zu stecken, sondern in die Kritik der reinen Vernunft.
Da es durch Zufall dazu kam, dass ich aufgrund eines Vergessens nur mein deutsches Exemplar mitgenommen hatte, habe ich sie nicht vollständig wiedergelesen, sondern nur das Kapitel, das „Einführung in die transzendentale Analytik“ heißt.101
Und obgleich es bedauerlich ist, dass die etwa zehn Jahre, seit denen ich mich an Sie wende, hinsichtlich der Verbreitung des Deutschlernens unter Ihnen, wie ich glaube, nicht viel Wirkung gehabt haben – was mich immer wieder in Erstaunen versetzt, was eine dieser kleinen Tatsachen ist, die mich manchmal dazu bringen, mir mein eigenes Bild als das einer Figur aus einem gut bekannten surrealistischen Film widerzuspiegeln, einem Film mit dem Titel Ein andalusischer Hund, das Bild eines Mannes, der mithilfe von zwei Seilen einen Flügel hinter sich herzieht, auf dem, das soll jetzt keine Anspielung sein, zwei tote Esel liegen102 –, bis auf dies, dass zumindest diejenigen, die bereits Deutsch können, nicht zögern sollten, das Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, das ich ihnen angebe, wieder zu öffnen, das wird ihnen sicherlich helfen, die Art der Umkehrung, die ich in diesem Jahr für Sie zu artikulieren versuche, richtig einzuordnen.
Aber in gewissem Sinne glaube ich, Sie ganz einfach daran erinnern zu können – das ist kein Universalschlüssel, sondern ein Hinweis –, dass das Wesentliche in der radikal anderen, exzentrischen Weise besteht, in der ich versuche, Sie dazu zu bringen, einen Begriff aufzufassen, der bei Kant die gesamte Strukturierung der Kategorien beherrscht. Wobei er nichts anderes tut, als hinter das, wovon das philosophische Denken beherrscht wurde, den gereinigten Punkt zu setzen, den Punkt der Vollendung, den Endpunkt, und zwar soweit, dass er es hier in gewisser Weise abschließt, bezogen auf die Funktion der Einheit*, die Grundlage jeder Synthese ist, der ‚Synthesis a priori‘, wie er sich ausdrückt, und die sich tatsächlich, seit der Zeit, in der sie sich ausgehend von der platonischen Mythologie entwickelt hat, als der notwendige Weg aufzudrängen scheint: das Ein, das große Ein, welches das gesamte Denken von Platon bis Kant beherrscht, das Ein, das für Kant als synthetische Funktion sogar das Modell für das ist, was in jeder Kategorie a priori, wie er sagt, die Funktion einer Norm mit sich führt, verstehen Sie das recht: einer universalen Regel.
Nun, sagen wir also, um dem, was ich seit Beginn des Jahres für Sie artikuliere, eine spürbare Zuspitzung hinzuzufügen: Wenn es wahr ist, dass die Funktion des Ein in der Identifizierung, wie sie von der Analyse der Freud’schen Erfahrung strukturiert und dekomponiert wird, nicht die der Einheit* ist, sondern diejenige, die ich seit Beginn des Jahres versucht habe, Sie konkret spüren zu lassen, als der ursprüngliche Akzent dessen, was ich hier den einzigen Zug / den Unärstrich (trait unaire) genannt habe – das heißt, etwas ganz anderes als der Kreis, der versammelt, worin auf der Ebene einer imaginären summarischen Anschauung die gesamte logische Formalisierung letztlich mündet, nicht der Euler’sche Kreis, sondern etwas ganz anderes, nämlich das, was ich hier ein Ein genannt habe, dieser Zug oder Strich (trait), diese unverortbare Sache, diese Aporie für das Denken, die genau darin besteht, dass er, je mehr er gereinigt und vereinfacht wird, je mehr er durch hinreichende Verkürzung seiner Anhängsel auf irgendetwas reduziert wird –, desto mehr kann er damit enden, dass er sich auf dies reduziert: auf ein Ein.
Das, was es an Wesentlichem gibt, an Originalität, bei der Existenz dieses einzelnen Zugs und seiner Funktion und seiner Einführung – wie es dazu gekommen ist, das ist genau das, was ich offen lasse, denn es ist nicht so klar, dass es durch den Menschen dazu kam, wenn es nämlich unter bestimmtem Aspekt möglich ist, wahrscheinlich ist, jedenfalls wird das von uns als Frage aufgeworfen, dass von hier der Mensch ausgegangen ist –, also, die Paradoxie dieses Ein besteht genau in Folgendem: Je mehr es sich ähnelt, ich meine, je mehr all das, was zur Verschiedenheit der Erscheinungen gehört, ausgelöscht wird, umso mehr stützt es, umso mehr ein-karniert es (il un-carne), möchte ich sagen, wenn Sie mir dieses Wort gestatten, die Differenz als solche.
Die Umkehrung der Position in Bezug auf das Ein führt dazu, dass wir darauf achten, von der kantischen Einheit zur Einzigkeit* überzugehen, zur unicité, die als solche ausgedrückt wird.
Wenn ich damit, wenn ich so sagen kann, versuche – um einem Titel einen Ausdruck zu entlehnen, einem Titel, der Ihnen, so hoffe ich, bekannt ist, einer literarischen Improvisation von Picasso103 –, wenn ich mich damit in diesem Jahr entschieden habe, das zu tun zu versuchen, was Sie, wie ich hoffe, dazu bringen wird, es auch zu tun, nämlich ‚das Begehren beim Schwanz zu erwischen‘, wenn ich mich darauf beziehe, das heißt nicht auf die primäre Identifizierung, die Freud definiert hat, die nicht leicht zu handhaben ist, die der Einverleibung, die des Verzehrs des Feindes, des Gegners, des Vaters, wenn ich von der zweiten Form der Identifizierung ausgegangen bin, nämlich von dieser Funktion des einzigen Zugs, dann offensichtlich mit diesem Ziel.104
Aber Sie sehen, wo hier die Umkehrung ist, sie besteht darin, dass, wenn diese Funktion – ich glaube, das ist der beste Ausdruck, den wir deshalb nehmen müssen, weil er der abstrakteste ist, weil er der biegsamste ist, weil er der im eigentlichen Sinne signifikanteste ist, das ist einfach ein großes F –, wenn die Funktion, die wir diesem Ein geben, nicht mehr die der Einheit* ist, sondern die der Einzigkeit*, dann bedeutet das – wir sollten nicht vergessen, worin die Neuartigkeit der Analyse besteht – , dass wir von den Tugenden der Norm zu den Tugenden der Ausnahme übergegangen sind. Etwas, das Sie immerhin ein klein wenig behalten haben, und das mit Grund.
Die Spannung des Denkens arrangiert sich damit, indem sie sagt: „Die Ausnahme bestätigt die Regel.‘ Auch das ist, wie viele Dummheiten, eine tiefe Dummheit; es genügt einfach, dass man in der Lage ist, sie freizuschälen. Hätte ich nichts anderes getan, als diese Dummheit ganz zum Leuchten zu bringen, wie einen dieser kleinen Scheinwerfer, die man auf dem Dach von Polizeiwagen sieht, dann wäre das auf der Ebene der Logik wohl bereits ein kleiner Vorteil. Aber offenkundig ist das ein Nebengewinn.
Sie werden es sehen, vor allem dann, wenn einige von Ihnen –; vielleicht könnten einige so weit gehen, sich dem zu widmen, so weit, eines Tages an meiner Stelle eine kleine Zusammenfassung zu geben, darüber, wie man die Kant’sche Analytik neu interpunktieren muss.
Sie gehen recht in der Annahme, dass es für all dies Ansatzpunkte darin gibt, dass Kant das allgemeine Urteil und das besondere Urteil unterscheidet105 und das einzelne Urteil davon isoliert106, womit er die tiefen Verwandtschaften mit dem allgemeinen Urteil zeigt, ich meine das, was bereits alle vor ihm gesehen haben, aber indem er zeigt, dass es nicht genügt, sie zu versammeln, insofern das einzelne Urteil eben seine Unabhängigkeit hat, ist es als Gelenkstück da, als Ansatzpunkt für die Umkehrung, über die ich zu Ihnen spreche.
Das ist nur ein Beispiel. Es gibt bei Kant viele andere Dinge, die diese Umkehrung anbahnen. Merkwürdig ist, dass man das nicht bereits früher getan hat.
Es ist offenkundig, dass das, worauf ich vor Ihnen beim vorletzten Mal am Rande angespielt habe, nämlich die Seite, die Monsieur Jespersen, Sprachwissenschaftler, so empört hat107 – was beweist, dass die Sprachwissenschaftler keineswegs mit irgendeiner Unfehlbarkeit ausgestattet sind –, nämlich dass eine Paradoxie darin läge, dass Kant die Negation unter die Rubrik derjenigen Kategorien stellt, die die Qualität bezeichnen, nämlich als zweite Phase, wenn man so sagen kann, der Kategorien der Qualität, wobei die erste die Realität ist, die zweite die Negation und die dritte die Limitation.108
Diese Sache, die überrascht, und bei der er uns damit überrascht, dass es diesen Sprachwissenschaftler so sehr überrascht, nämlich Monsieur Jespersen in dieser umfangreichen Arbeit über die Negation, die er in den Annalen der dänischen Akademie veröffentlicht hat, man ist umso mehr überrascht, als dieser lange Artikel über die Negation eben dazu da ist – alles in allem, von einem Ende zum anderen –, um uns zu zeigen, dass die Negation, linguistisch gesehen, etwas ist, was, wenn ich so sagen darf, nur durch eine beständige Überbietung (surenchère perpétuelle) Bestand hat. Das ist also nichts so Einfaches, dass sie unter die Rubrik der Quantität zu bringen wäre109, wo sie sich schlicht und einfach mit dem vermengen würde, was sie der Quantität nach ist, das heißt mit der Null. Aber ich habe Ihnen bereits genügend Hinweise darauf gegeben; denjenigen, die das interessiert, gebe ich den Beleg – die große Arbeit von Jespersen ist wirklich etwas Bemerkenswertes.
Aber wenn Sie das Dictionnaire d’étymologie latine von Ernout und Meillet aufschlagen110 und sich einfach auf den Artikel „ne“ beziehen, werden Sie der historischen Komplexität des Problems des Funktionierens der Negation gewahr werden, nämlich der tiefen Mehrdeutigkeit, die dazu führt, dass die Negation – nachdem sie diese ursprüngliche Funktion der Diskordanz gewesen ist, auf die ich immer wieder hingewiesen habe wie zugleich auf ihre ursprüngliche Natur –, dass die Negation sich immer auf etwas stützen muss, was eben von der Natur des Ein ist, so wie wir hier näher zu erfassen versuchen, dass die Negation keine Null ist, linguistisch gesehen niemals, sondern ein ’nicht ein‘.
Derart, dass beispielsweise das alleinstehende lateinische non [nicht] – um etwas zu veranschaulichen, was Sie in diesem Werk finden können, das bei der dänischen Akademie während des Ersten Weltkriegs erschienen ist und deshalb sehr schwer zu finden ist –, dass beispielsweise das lateinische non selbst, das den Anschein erweckt, die allereinfachste Form der Negation zu sein, bereits ein ne oinom ist, in der Form von unum, das ist bereits ein ‚nicht ein‘. Und nach einiger Zeit vergisst man, dass das ein ‚nicht ein‘ ist, und in der Folge setzt man an die Stelle wieder ein ‚ein‘.111
Und die gesamte Geschichte der Negation ist die Geschichte dieser Aufzehrung durch etwas, was wo ist? Das ist genau das, was wir einzukreisen versuchen: die Funktion des Subjekts als solchem.
Und aus diesem Grunde sind die Bemerkungen von Pichon sehr interessant, die uns zeigen, dass man im Französischen das Operieren der beiden Elemente der Negation besonders gut sieht – die Beziehung des ‚ne‘ zum ‚pas‘ –, sodass man sagen kann, dass das Französische tatsächlich die Sonderstellung hat, übrigens keineswegs einzig unter den Sprachen, zu zeigen, dass es im Französischen keine wirkliche Negation gibt.112
Es ist übrigens eigenartig, dass er nicht bemerkt, dass dies – wenn die Dinge so stehen – über das Feld der französischen Domäne, wenn man sich so ausdrücken kann, ein bisschen hinausgehen muss.113 Denn es ist sehr leicht, sich über alle Arten von Formen hinweg klarzumachen, dass damit zwangsläufig überall dasselbe ist, angesichts dessen, dass die Funktion des Subjekts nicht bis in ihre Wurzel hinein von der Verschiedenheit der Sprachen abhängt.
Es ist sehr leicht, sich klarzumachen, dass das ‚not‘ in einem bestimmten Moment der Entwicklung der englischen Sprache etwas wie ‚naught‘ [Nichts] ist.114“115
Danach spricht Lacan über das Seminar des vorangehenden Jahres – das Seminar zur Übertragung – und erklärt dann, dass es darum geht, die logische Funktion der 1 mit dem Thema des Begehrens zu verbinden.
Paraphrase mit Ergänzungen
Phallus und Kastration
Das Objekt des Oraltriebs ist die ursprüngliche Brust, die generische mamme. Hat die reale Brust [die weibliche Brust als Organ, die Brustdrüse] „mammalen“ Charakter, fungiert sie als mamme? [Ist das Brustorgan Gegenstand des Oraltriebs, ist sie mamme?] Nein. Die Brust, die in der Oralerotik erotisiert ist [also die mamme], ist etwas anderes als die reale Brust [als das Brustorgan].
Von daher kann man sich die Frage stellen, ob der Phallus [im Sinne des Penisorgans] phallisch ist [ob der Penis also der „Phallus“ im Sinne der Psychoanalyse ist]? Ebenfalls nicht. [Damit geht Lacan von der Privation (Brust) zur Kastration über.] In einer bestimmten Entwicklungsphase [auf der „phallischen Stufe“, wie Freud sagt] wird der Phallus-Signifikant zu einem Faktor, der eine bestimmte Signifikantenfunktion enthüllt, nämlich die Funktion des Sinns. [Vielleicht ist gemeint: Der Phallus-Signifikant wird zu dem Faktor, der dafür sorgt, dass sich das Kind die Frage stellt „Was bedeutet das?“ im Sinne von „Was will der Andere mit seinem rätselhaften Verhalten?“]. Der Phallus gelangt, bezogen auf die symbolische Funktion, an den Platz, an dem die Brust war. Wenn das Subjekt sich als phallisch konstituiert [wenn es auf der „phallischen Stufe“ ist], ist der Phallus im Inneren der Klammer, in der die Objekte enthalten sind, auf die sich das Subjekt während der phallischen Stufe bezieht [die Beziehung zum oralen und zum analen Objekt wird vom Phallus-Objekt her reorganisiert].
Dabei gilt für den Penis, dass er nicht phallisch ist, so wie für die Brust gilt, dass sie nicht „mammalisch“ ist. Aber es geht auf dieser Ebene um mehr, nämlich darum, dass der Penis, als Teil des realen Körpers, der von der Psychoanalyse entdeckten Kastrationsdrohung ausgesetzt wird. [Die phallische Stufe ist die Stufe des Kastrationskomplexes.]
Dieser Drohung wird der Penis aufgrund der Signifikantenfunktion des Phallus ausgesetzt. [Die Beziehungskette ist also: (a) der Penis bekommt Signifikantenfunktion, und dies führt zu (b), nämlich dazu dass der Penis in Signifikantenfunktion der Kastrationsdrohung ausgesetzt wird.]
Identifizierung
Bei der Identifizierung des Subjekts spielt der Phallus eine Sonderrolle, und darum soll es im Folgenden gehen.
Thema dieses Seminars ist die Identifizierung. Freud hat dieses Konzept in einem bestimmten Moment eingeführt [vor allem mit dem Kapitel über Identifizierung in Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921] und von hier aus seine Theorie umgearbeitet. Bei der Identifizierung geht es um das Subjekt: Wer ist das Subjekt? Wer spricht?
Die Psychoanalyse ist, grob gesagt, eine Technik der Kommunikation, d.h. eine Technik, bei der es darum geht, dass sich der eine [sprechend] an den anderen wendet; von daher musste man damit rechnen, dass die Frage auftauchte: Wer spricht mit wem?
Logik des Signifikanten
Und aus eben diesem Grunde betreibt Lacan in diesem Jahr Logik. Er hält das für unvermeidlich. [Bei Lacans Beschäftigung mit der Logik geht es also darum, das Thema des Subjekts anzugehen, darum, die Frage zu beantworten, wer mit wem spricht.] [¿ Was hat Logik mit Kommunikation zu tun? Welche Antwort gibt hierauf die Logik?]
Die nächste Frage ist dann, zu welcher Logik uns das führt. Lacans Antwort: es geht um eine „Logik des Funktionierens des Signifikanten“. um eine Logik, bei der es um den „als primär, als grundlegend konstituierten Bezug des Subjekts zum Signifikanten“ geht.
Für die Ausarbeitung dieser Logik bezieht Lacan sich [kritisch, problematisierend] auf zwei etablierte Arten der Logik, auf die formale Logik und auf die transzendentale Logik. [Die „transzendentale Logik“ ist ein Teil von Kants Kritik der reinen Vernunft. Diese Logik fragt, wodurch das Denken in Begriffen ermöglicht wird, und zwar „a priori“, d.h. unabhängig von der Erfahrung. Kants transzendentale Logik knüpft an die aristotelische Logik an; das Haupt-Verbindungsstück ist die sogenannte Urteilstafel (B 95).]
Die Logik, die Lacan ins Auge fasst, ist keine Logik des Begriffs, im Funktionieren der Kategorien der Psychoanalyse ist der Terminus des Begriffs abwesend. [Sowohl in der aristotelischen Logik als auch in der kantischen transzendentalen Logik ist die elementare Größe der Begriff: Begriffe werden zum Urteil zusammengesetzt; Urteile zum Schluss.]
Die Psychoanalyse hat es versäumt, die Kritik der transzendentalen Logik im kantischen Sinne durchzuführen, die ihr von den neuen Tatsachen, die sie mitbringt, jedoch aufgenötigt wird [vgl. Sitzung vom 13. Dezember 1961, Misstrauen gegenüber dem Universalen]. [Die Psychoanalyse hat sich von der Ordnung des Begriffs – des Signifikats und der Ganzheit – nicht emanzipiert, sie ist nicht zur Ordnung der Signifikanten und des Einzelnen übergegangen.]
Bei Kant werden die Kategorien vom Begriff her strukturiert. Für Kant ist der Begriff die Grundlage der Synthese, der „Synthesis a priori“, wie Kant sich ausdrückt, des „Ein“ [im Sinne der Ganzheit]. Dieses große Ein beherrscht das gesamten Denken von Platon bis zu Kant. [Begriffe dienen, Kant zufolge, der Synthese, der „Synthesis“, und die Synthese ist für ihn eine Norm, eine universale Regel.]
Einziger Zug versus Kreis
Freud hat jedoch gezeigt, sagt Lacan, dass der Begriff exzentrisch bestimmt werden muss [von außerhalb des Kreises her].
Freud hat gezeigt, dass die Funktion des „Ein“ in der Identifizierung besteht, und hier hat das „Ein“ nicht die Funktion der Einheit, sondern des einzigen Zugs / des einzelnen Zugs / des Unärstrichs / des Einzelstrichs (trait unaire). Bei der Identifizierung geht es nicht um den Kreis, der versammelt [als Veranschaulichung des Begriffs] – bei diesem Kreis endet die logische Formalisierung, wenn sie den Syllogismus [den logischen Schluss] durch Euler’sche Kreise darstellt. Nicht um den Kreis geht es, sondern um den Zug oder Strich (trait). Je mehr dieser Zug reduziert und vereinfacht wird, desto mehr reduziert er sich auf das Ein [im Sinne des Einzelnen]. [Der trait, der Zug/Strich, steht für Lacan also im Gegensatz zum Kreis.]
Das „Ein“ ist eine Aporie für das Denken. [¿ Worin besteht die Aporie des Ein?]
Wie kam es historisch zur Einführung des einzigen Zugs / des Einzelstrichs? Wurde er durch den Menschen eingeführt? Lacan wirft die Frage auf, ob nicht vielmehr umgekehrt der Mensch durch den einzelnen Zug eingeführt worden ist.
Je mehr beim einzelnen Zug die Verschiedenheit der Erscheinungen ausgelöscht wird, je mehr er also reduziert wird, desto mehr verkörpert der einzelne Zug die Differenz als solche.
Es geht also darum, einen Übergang zu vollziehen: vom kantischen Ein im Sinne der Einheit [der Synthese, der Ganzheit, der Totalität] zum Ein im Sinne der Einzigkeit* [der „Einzelnheit“, wenn man so sagen könnte].
In diesem laufenden Seminar über die Identifizierung geht es, mit einer Formulierung von Picasso, darum, sagt Lacan, das „Begehren beim Schwanz zu erwischen“. [Die Einwirkung des Signifikanten auf das Subjekt in Form der Identifizierung hat das Begehren zur Folge.]
Dabei geht es Lacan nicht um den Typ der Identifizierung, den Freud [in Massenpsychologie und Ich-Analyse] als „primäre Identifizierung“ bezeichnet, also nicht um die Einverleibung des Feindes, des [idealisierten] Vaters. Vielmehr geht Lacan von derjenigen Form der Identifizierung aus, die [in Massenpsychologie und Ich-Analyse] die zweite Form der Identifizierung ist, von der Identifizierung mit dem „einzelnen Zug“ [des verlorenen Liebesobjekts]. Hierbei hat das Ein nicht mehr die Funktion der „Einheit*“, sondern der „Einzigkeit*“.
Von der Norm zur Ausnahme
Der Wechsel von der Einheit* zur Einzigkeit bedeutet, dass man von den Tugenden der Norm zu den Tugenden der Ausnahme übergeht, eben darin besteht die Neuartigkeit der Analyse. [Lacan spielt damit vielleicht auf Freuds These an, dass das Normale vom Pathologischen her zu begreifen ist.] Das Verhältnis von Regel und Ausnahme erzeugt eine Spannung, und man arrangiert sich damit, indem man sagt: „Die Ausnahme bestätigt die Regel.“ Das ist eine Dummheit [da sie das Verhältnis von Regel und Ausnahme durch den Vorrang der Regel harmonisiert], eine Dummheit, die jedoch etwas Tiefes enthält, und Lacan ist es wichtig, dieses Tiefe auf der Ebene der Logik zum Leuchten zu bringen [möglicherweise ist gemeint: als Verhältnis von universal bejahender Aussage und leerem Feld im Quadrantenschema]. Aber das ist nur ein Nebengewinn.
[¿ Worin besteht der Zusammenhang zwischen dem „einzelnen Zug“ und der Ausnahme?]
Einen Ansatzpunkt [für den Wechsel vom Einen als Totalität bzw. als Ganzheit zum Einen als „einzigem Zug“] findet man bei Kant, und zwar darin, dass Kant [in der Urteilstafel der Kritik der reinen Vernunft bei der Quantität des Urteils] nicht nur das allgemeine und das besondere Urteil voneinander unterscheidet, sondern außerdem das einzelne Urteil. Das einzelne Urteil ist der Ansatzpunkt für die Umkehrung [der Logik], auf die Lacan abzielt [also ein Anknüpfungspunkt für eine Logik des Signifikanten als Logik des „einzigen“ bzw. „einzelnen Zugs“].
Negation
Ein anderer Anknüpfungspunkt bei Kant ist dessen Auffassung von der Negation.
Von Kant wird die Negation zu den Kategorien der Qualität gerechnet; Kant zufolge gibt es drei Kategorien der Qualität: Realität, Negation und Limitation (B 106). [Der Gegensatz von bejahendem und verneinendem Urteil gilt in der traditionellen Logik als ein Gegensatz der Qualität.]
Der dänische Sprachwissenschaftler Otto Jespersen hingegen rechnet in seiner großen Arbeit über Negation (1917) die Negation zur Quantität, das heißt Jespersen begreift die Negation als Null. Das zeigt, dass Sprachwissenschaftler nicht unfehlbar sind [da die Negation keineswegs als eine Art Null zu deuten ist].
Dabei weist Jespersen allerdings darauf hin, dass die Negation komplizierter ist, dass sie nur durch eine „beständige Überbietung“ (surenchère perpétuelle) Bestand hat. Und das zeigt, dass die Negation nicht einfach eine Quantität ist, keine Null.
Die Etymologie des „ne“ zeigt nämlich, dass die Negation [nicht von der Null her, sondern] von „Ein“ her zu begreifen ist: die Negation ist ein „nicht ein“. Beispielsweise entsteht das lateinische non aus ne oinom bzw. ne unum, also aus „nicht ein“; später fällt das „ein“ weg. [Die „Überbietung“ dürfte also darin bestehen, dass das „ein“ vom „nicht“ überboten wird; das erste Gebot (im Sinne einer Versteigerung) wäre das „ein“ und das zweite Gebot, die Überbietung, wäre das „nicht ein“.]
Die Etymologie der Negation zeigt, dass ihre ursprüngliche Funktion die der Diskordanz ist [der Zurückweisung von etwas], dass sie sich also immer auf etwas beziehen muss, was ein „Ein“ ist, dass sie also, linguistisch gesehen, „nicht ein“ ist und keineswegs eine Null. Nach einiger Zeit vergisst man, dass das „nicht“ ein „nicht ein“ ist und fügt zu „nicht“ ein „ein“ wieder hinzu. Die Geschichte der Negation ist die Geschichte dieser Aufzehrung [des fundierenden „ein“]. Damit stellt sich die Frage, wodurch diese Aufzehrung bewirkt wird. Lacans Antwort lautet: durch das Subjekt. Eben das versuche er einzukreisen: die Funktion des Subjekts. [Das erinnert an Freuds Aufsatz über die Verneinung, wonach die Verneinung sich auf einen Gedanken bezieht, der verdrängt ist.]
Das Französische, in dem die Negation mit „ne … pas“ gebildet wird, zeigt besonders gut das Funktionieren der Negation. Das zeigt, dass es im Französischen keine wirkliche Negation gibt. [¿ Sinn?] Aber das gibt es auch in anderen Sprachen, denn die Funktion des Subjekts hängt nicht von der Verschiedenheit der Sprachen ab. In einem bestimmten Moment der englischen Sprache ist das „not“ etwas wie „naught“ [nichts]. [Damit geht es um das Verhältnis zwischen „nicht“ und „nichts“, zwischen sprachlicher Negation und ontologischem Nichtsein.]
Arten des Nichts (28. Februar 1962)
Übersetzung
In der nächsten Sitzung spricht Lacan wieder über den trait unaire, den einzige Zug, einzelnen Zug, Einzelstrich, Unärstrich. Er merkt an, dass zwei Logiker, Jevons und Schröder, dasselbe Gewicht darauf gelegt haben wie er. Er wolle den Gegensatz von Einheit und Einzigkeit* ausarbeiten und über die Rolle des Sexualtriebs bei der Konstituierung des Subjekts sprechen. Dann heißt es:
„Bezogen auf die erste Tatsache, die Verbindung des Subjekts mit diesem einzigen Zug (trait unaire), werde ich heute – da ich denke, dass der Weg hinreichend artikuliert ist – den Endpunkt setzen, indem ich Sie daran erinnere, dass diese Tatsache, die in unserer Erfahrung so wichtig ist und die von Freud herausgestellt wurde, in Bezug auf das, was er als den Narzissmus der kleinen Differenzen bezeichnet116, dass dies dasselbe ist wie das, was ich die Funktion des einzelnen Zugs nenne.
Denn das ist nichts anderes als die Tatsache, dass sich, ausgehend von einer kleinen Differenz – und ‚kleine Differenz‘ zu sagen, bedeutet nichts anders als diese absolute Differenz, über die ich zu Ihnen spreche, diese Differenz, die von jedem möglichen Vergleich abgelöst ist –, dass sich an diese kleine Differenz, insofern sie dasselbe ist wie das große I, das Ichideal, die gesamte narzisstische Ausrichtung anpassen kann, das Subjekt, das als Träger dieses einzigen Zugs konstituiert ist oder nicht.
Das erlaubt es uns heute, den ersten Schritt in Richtung auf das zu tun, was Gegenstand unserer nächsten Sitzung sein wird, nämlich die Wiederaufnahme der Funktionen Privation, Frustration und Kastration.
Wenn wir sie gleich wiederaufzunehmen, werden wir ahnen können, wo und wie sich diese Frage stellt, nämlich die, wie sich die Welt des Signifikanten zu dem verhält, was wir als Sexualtrieb bezeichnen – Privileg, Prävalenz der erotischen Funktion des Körpers bei der Konstituierung des Subjekts.
Gehen wir ein wenig darauf zu, schneiden wir sie an, diese Frage, indem wir von der Privation ausgehen, da dies das Einfachste ist. Es gibt minus a [–a] in der Welt, es gibt ein Objekt, das an seinem Platz fehlt, was wohl die absurdeste Auffassung von der Welt ist, wenn man dem Wort ‚real‘ seinen Sinn gibt. Was kann im Realen denn fehlen?117
Da dies eine schwierige Frage ist, sehen Sie selbst noch bei Kant, wie er, weit jenseits der reinen Anschauung, diese alten Reste von Theologie mit sich schleppt, die ihn behindern und die unter dem Namen der kosmologischen Auffassung geführt werden. In mundo non est casus, erinnert er uns: [in der Welt ist] nichts Zufälliges, Gelegentliches. In mundo non est fatum, nichts ist von einer Fatalität, die jenseits einer rationalen Notwendigkeit wäre. In mundo non est saltus: es gibt keinen Sprung. In mundo non est hiatus [in der Welt gibt es keine Lücke].118
Und der große Widerleger der metaphysischen Unvorsichtigkeiten übernimmt diese vier Verneinungen, zu denen ich Sie frage, ob sie uns in unserer Perspektive anders erscheinen können als etwas, was genau umgekehrt verfasst ist wie das, womit wir es immer zu tun haben: mit Fällen (cas) im eigentlichen Sinne des Wortes, um es klar zu sagen; mit einem Fatum, da unser Unbewusstes ein Orakel ist; mit ebenso vielen Lücken, wie es unterschiedliche Signifikanten gibt; mit ebenso vielen Sprüngen, wie sich Metonymien herstellen.
Da es ein Subjekt gibt, das selbst vom einzigen Zug markiert oder nicht markiert ist, das 1 oder –1 ist, kann es hier ein –a geben, kann das Subjekt sich mit dem kleinen Ball von Freuds Enkel identifizieren119, und zwar speziell in der Konnotation seines Fehlens: ‚es gibt nicht‘, ens privativum.120
Natürlich gibt es eine Leere, und davon wird das Subjekt ausgehen: leerer Gegenstand ohne Begriff. Von den vier Definitionen des Nichts, die Kant aufstellt, und die wir das nächste Mal wieder aufnehmen werden, ist dies die einzige, die streng haltbar ist, es gibt hier ein Nichts.
Beachten Sie bitte, dass in der Tabelle, die ich Ihnen von den drei Termini Kastration, Frustration und Privation gegeben habe, das Gegenstück – der mögliche Agent, das im strengen Sinne imaginäre Subjekt, von dem die Privation ausgehen kann, der Äußerungsvorgang der Privation –, dass dies das Subjekt der imaginären Allmacht ist, das heißt das umgekehrte Bild der Ohnmacht.121
Tabelle „Kastration – Frustration – Privation“ aus Seminar 4
AGENT | MANGEL | OBJEKT |
---|---|---|
Realer Vater | Symbolische Kastration | Imaginärer Phallus |
Symbolische Mutter | Imaginäre Frustration | Reale Brust |
Imaginärer Vater | Reale Privation | Symbolischer Phallus |
Ens rationis, leerer Begriff ohne Gegenstand, reiner Begriff der Möglichkeit, das ist der Rahmen, in dem das ens privativum verortet ist und erscheint.
Kant versäumt es gewiss nicht, den rein formalen Gebrauch der Formel zu ironisieren, die sich von selbst zu verstehen scheint: ‚Alles Reale ist möglich‘.122 Wer wird das Gegenteil sagen? Zwangsläufig!
Er macht aber einen weiteren Schritt, indem er uns darauf aufmerksam macht, dass etwas Reales also möglich ist, dass dies aber auch heißen kann, dass etwas Mögliches nicht real ist, dass es Mögliches gibt, das nicht real ist. Was Kant hier kritisiert, ist sicherlich nicht weniger als der philosophische Missbrauch, der damit getrieben werden kann. Für uns ist wichtig, dass wir uns klarmachen, dass die Möglichkeit, um die es geht, nur die Möglichkeit des Subjekts ist. Nur das Subjekt kann dieses negative Reale sein, einer Möglichkeit, die nicht real ist.
Wie sehen auf diese Weise das –1, das für das ens privativum konstitutiv ist, mit der ursprünglichsten Struktur unserer Erfahrung des Unbewussten verbunden, insofern sie nicht die des Verbots ist, auch nicht des ’sagt, dass nicht‘, sondern die des ‚nicht-gesagt‘, des Punktes, wo das Subjekt nicht mehr da ist, um zu sagen, wenn es nicht mehr Herr dieser Identifizierung mit 1 ist oder dieser plötzlichen Abwesenheit des 1, die ihn kennzeichnen könnte.“123
Lacan beendet die Sitzung mit der Ankündigung des Themas, über das er beim nächsten Mal sprechen will: topologische Flächen.
Paraphrase mit Ergänzungen
Einziger Zug als absolute Differenz
Beim „einzigen Zug“ (trait unaire) geht es um das, was Freud als „Narzissmus der kleinen Differenzen“ bezeichnet. Die kleine Differenz ist die absolute Differenz, die Differenz, die von jedem Vergleich losgelöst ist. Die kleine Differenz ist also der „einzige Zug“, das Ichideal, symbolisiert durch ein großes I [bzw. im Graphen des Begehrens durch den Buchstaben groß I von A, I(A)]. Ausgehend von dieser kleinen Differenz [von diesem „einzigen Zug“, von diesem Ichideal] kann die gesamte narzisstische Orientierung des Subjekts reorganisiert werden.
Keine Privation im Realen
Von hier aus können die Funktionen der Privation, der Frustration und der Kastration wieder aufgenommen werden. Dabei geht es um das Verhältnis der Welt des Signifikanten zum Sexualtrieb und um die Sonderstellung der erotischen Funktion des Körpers bei der Konstituierung des Subjekts.
Das lässt sich am einfachsten von der Privation aus angehen. Privation besagt: es gibt ein Objekt, das an seinem Platz fehlt; Lacan symbolisiert das durch „minus a“, bzw. durch „–a“. Das ist jedoch eine absurde Auffassung von der Welt, denn im Realen kann nichts fehlen.
Das Problem zeigt sich etwa bei Kant Erläuterungen [zum dritten Postulat des empirischen Denkens, wonach gilt, dass das, dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, notwendig existiert (KrV A 228 f.)]. Kant übernimmt hier vier Behauptungen der Metaphysik, nämlich dass es in der Welt keinen „casus“ gibt – nichts Zufälliges – , kein Fatum, keinen Sprung und keine Lücke. [Dies ist Kants Version der These, dass im Realen nichts fehlen kann.] In der Perspektive der Psychoanalyse gilt das Gegenteil: hier hat man es immer mit Fällen (cas) zu tun, immer mit einem Fatum, da das Unbewusste ein Orakel ist, immer mit Lücken, nämlich mit Signifikanten, und immer mit Sprüngen, das heißt mit Metonymien. [Wenn im Realen nichts fehlen kann, muss das Fehlen also ausgehend vom Signifikanten begriffen werden.]
Kants Formen des Nichts
Das Subjekt zeichnet sich dadurch aus, dass es vom einzigen Zug markiert ist oder nicht markiert ist. [Dies ist die Spaltung des Subjekts, zwischen der Identifizierung und dem, was jenseits der Identifizierung ist.]
Die Markierung des Subjekts durch den einzigen Zug wird durch 1 symbolisiert, die Nicht-Markierung durch den einzigen Zug durch –1. [Das Symbol – 1 entspricht der Aphanisis des Subjekts, wie es in Seminar 6 heißt, dem Verschwinden des Subjekts, dem, dass es keinen Signifikanten des Subjekts gibt.]
Die Identifizierung bzw. Nicht-Identifizierung mit dem einzigen Zug ist die Bedingung dafür, dass es ein –a geben kann, ein fehlendes Objekt, mit dem das Subjekt sich dann wiederum identifizieren kann, etwa im Fort-da-Spiel von Freuds Enkel. [Lacan spitzt hier eine Bemerkung von Freud über die zweite Form der Identifizierung zu (in Massenpsychologie und Ich-Analyse), wonach die Identifizierung mit dem verlorenen Objekt immer die mit einem einzelnen Zug ist.]
[Zu unterscheiden ist also die Identifizierung/Nicht-Identifizierung mit dem einzelnen Zug (1 oder –1) und die Identifizierung mit dem fehlenden Objekt (–a). Die Identifizierung bzw. Nichtidentifizierung mit dem einzelnen Zug ist die Bedingung für die Identifizierung mit dem fehlenden Objekt.]
[Lacan beginnt nun, das „verlorene Objekt“ mithilfe von Kants Unterscheidung der vier Formen des Nichts in der Kritik der reinen Vernunft zu beschreiben (B 348).]
[Kants vier Begriffe des Nichts sind:
– 1. Leerer Begriff ohne Gegenstand, ens rationis (auch „Gedankending“): ein Begriff, der widerspruchsfrei denkbar ist, dem aber keine Anschauung entspricht, z.B. das Ding an sich
– 2. Leerer Gegenstand eines Begriffs, nihil privativum: der Begriff vom Mangel eines Gegenstands, z.B. Kälte als Fehlen von Wärme, Schatten als Fehlen von Licht
– 3. Leere Anschauung ohne Gegenstand, ens imaginarium: die Anschauungsformen Raum und Zeit ohne Gegenstände (in der Sekundärliteratur finde ich auch „Einhorn“, also ein fiktiver Gegenstand)
– 4. Leerer Gegenstand ohne Begriff, nihil negativum (auch „Unding“): der Gegenstand eines in sich widersprüchlichen Begriffs, z.B. geradlinige Figur von zwei Seiten.]
Das Objekt, sofern es fehlt, ist ein „es gibt nicht“, ein ens privativum [ein Seiendes, dessen Negativität oder Nichtigkeit darin besteht, das es fehlt].
[Lacan ordnet das fehlende Objekt also Kants zweiter Form des Nichts zu, dem nihil privativum, dem Mangel eines Gegenstandes.]
[Kant spricht vom nihil privativum (von dem durch Fehlen gekennzeichnetes Nichts), nicht, wie Lacan, vom ens privativum (von dem durch Fehlen gekennzeichneten Seienden). Ist Lacans Abweichung – ens privativum statt nihil privativum – Absicht? Möglicherweise; auf jeden Fall hilft ihm das, den kantischen Begriff an den des Objektmangels anzunähern – ein „ens“ (ein Seiendes) ist ein Objekt.]
[Den Begriff der Privation hatte Lacan in Seminar 4 eingeführt, für die Abwesenheit von etwas an einem Platz; der psychoanalytische Bezugspunkt für „Privation“ war dort die Entdeckung der Penislosigkeit der Mutter durch das Kind. Hier, in Seminar 9, hat „Privation“ einen anderen Bezug, den des Objektverlusts, insbesondere geht es um den Verlust der Brust, also um das Trauma der Entwöhnung.]
[Lacan wechselt dann zu Kants vierter Form des Nichts.] Das Subjekt wird von einer Leere ausgehen, vom leeren Gegenstand ohne Begriff. [Kant nennt den begriffslosen leeren Gegenstand auch „Unding“, und Kants Terminus für diese Art des Nichts ist nihil negativum. Der leere Gegenstand ohne Begriff ist ein logisch unmöglicher Gegenstand, etwa eine geradlinige Figur von zwei Seiten. Die Negativität besteht hier darin, dass dieser Gegenstand nur so gedacht werden kann, dass das Denken sich in einen Widerspruch verwickelt.] Diese Definition des Nichts ist, Lacan zufolge, die einzige der vier Definitionen, die streng haltbar ist. Hier gibt es ein Nichts.
[Ich nehme an, dass Kants „leerer Gegenstand ohne Begriff“ (nihil negativum) ein Ausgangspunkt für Lacans spätere Formel ist, „das Reale ist das logisch Unmögliche“.]
[Lacan kehrt zur Privation zurück und damit indirekt zu Kants zweiter Form des Nichts, zum nihil privativum.] Der Agent der Privation, derjenige, von dem der Äußerungsvorgang der Privation ausgehen kann, ist ein Subjekt, dem eine imaginäre Allmacht zugeschrieben wird [dies ist der imaginäre Vater, Lacan hatte das in Seminar 4 ausführlich entwickelt, im Zusammenhang der Tabelle „Kastration – Frustration – Privation“]. Das Bild der Allmacht ist das umgekehrte Bild der Ohnmacht. [Möglicherweise spielt Lacan mit dem Hinweis auf die imaginäre Allmacht des Agenten der Privation auf das ens imaginarium von Kants Tabelle an, auf die dritte Form des Nichts.]
Tabelle Kastration – Frustration – Privation aus Seminar 4
AGENT | MANGEL | OBJEKT |
---|---|---|
Realer Vater | Symbolische Kastration | Imaginärer Phallus |
Symbolische Mutter | Imaginäre Frustration | Reale Brust |
Imaginärer Vater | Reale Privation | Symbolischer Phallus |
[Lacan wechselt dann zu Kants erstem Begriff des Nichts, zum ens rationis.] Ens rationis, leerer Begriff ohne Gegenstand [etwas widerspruchsfrei Denkbares, zu dem es keine Anschauung gibt, Kants Beispiel ist das Ding an sich]. Dies ist der reine Begriff der Möglichkeit [des Denk-Möglichen].
[Im nächsten Schritt stellt Lacan eine Beziehung zwischen Kants erster und zweiter Form des Nichts her, zwischen dem ens rationis und dem nihil/ens privativum.] Das ens rationis, der leere Begriff ohne Gegenstand, das bloß [Denk-]Mögliche [das bloß widerspruchsfrei Denkbare], liefert den „Rahmen“, in dem das ens privativum verortet ist, das Fehlen eines Gegenstandes. [Vom (Denk-)Möglichen aus stößt das Subjekt darauf, dass etwas fehlt.]
Kant ironisiert die [klassische aristotelische] Formel „Alles Reale ist möglich“ [alles, was wirklich ist, ist auch möglich], und fordert indirekt [mit dem nihil negativum] dazu auf, das Gegenteil zu sagen [vielleicht im Sinne von „Alles Reale ist unmöglich“]; und Kant macht darauf aufmerksam, dass, wenn etwas Reales möglich ist, dies auch heißen kann, dass es etwas Mögliches gibt, das nicht real ist. [Das ist vielleicht das ens rationis, das „Gedankending“, etwa das Ding an sich.] Kant kritisiert den Missbrauch, der damit getrieben wird [vermutlich die Behandlung des Gedankendings „Ding an sich“, als sei es eine Erscheinung].
[Lacan bezieht nun das ens rationis, das bloß mögliche „Gedankending“, auf die Psychoanalyse.] Das Mögliche, das nicht real ist, das negative Reale, ist die Möglichkeit des Subjekts. [Ich nehme an, dass hier das begehrende Subjekt gemeint ist, das Subjekt jenseits der Identifizierung.]
[Lacan wechselt vom ens rationis (Kants erster Form des Nichts, Gedankending, Subjekt) zum ens privativum (Kants zweiter Form des Nichts, fehlendes Objekt), also zur Privation, und er orientiert sich dabei an seiner These, dass das ens rationis den Rahmen für das ens privativum liefert.]
Das (–1) ist konstitutiv für das ens privativum. [Das Symbol (–1) steht für die Nicht-Identifizierung mit dem „einzigen Zug“, so hieß es zu Beginn. Die Nicht-Identifizierung des Subjekts ist grundlegend für die Beziehung zum verlorenen Objekt, zum ens privativum.]
Das (–1) ist mit der ursprünglichsten Struktur unserer Erfahrung des Unbewussten verbunden. Zur ursprünglichsten Struktur des Unbewussten gehört nicht nur das Verbot, nicht nur das „sagt, dass nicht“,
Zur ursprünglichsten Struktur des Unbewussten gehört auch das „nicht-gesagt“, nämlich der Punkt, wo das Subjekt nicht da ist, um zu sagen, wenn es [nämlich] nicht Herr dieser Identifizierung mit 1 ist, wenn es die plötzliche Abwesenheit des 1 gibt, die ihn kennzeichnen könnte. [Das (–1) steht für die Nicht-Identifizierung, für das, was in Seminar 6 als „Aphanisis des Subjekts“ bezeichnet wird, womit gemeint ist das Fehlen eines Signifikanten des Subjekts; vgl. diesen Beitrag.]
[Damit lässt sich ahnen, inwiefern das ens rationis – das bloß Denkbare – der Rahmen sein könnte, in dem das ens privativum erscheint, der Mangel eines Gegenstands: Das ens rationis entspricht dem begehrenden Subjekt jenseits der Identifizierung, und das ens privativum ist das verlorene Objekt. Dieses Objekt erscheint im Rahmen des begehrenden Subjekts. Es geht um die Subjekt-Objekt-Beziehung im Phantasma, $ ◊ a.]
[Die Argumentation scheint so aufgebaut zu sein:
(a) Es gibt die Identifizierung mit dem „einzigen Zug“, symbolisiert durch (1).
(b) Die Identifizierung mit dem einzigen Zug ist nicht ausfüllend, es gibt eine Subjektivität ohne Identifizierung mit dem einzigen Zug, symbolisiert durch (–1), grob gesagt: das Subjekt als begehrendes, die Aphanisis des Subjekts.
(c) Beides zusammen, die Identifizierung mit dem einzigen Zug und die Nicht-Identifizierung mit dem einzigen Zug ist das Subjekt (gespalten in Identifizierung und Jenseits-der-Identifizierung, in Identifizierung und Begehren bzw. Aphanisis); das Subjekt ist demnach, könnte man auch sagen, ±1.
(d) Die dem Subjekt qua (–1) zugeordnete kantische Form des Nichts ist das ens rationis, der leere Begriff ohne Gegenstand, das widerspruchsfrei Denkbare analog zum Ding an sich.
(e) Die Nicht-Identifizierung mit dem einzigen Zug, also die eine Seite der Subjektspaltung, ist grundlegend für das ens privativum, für das verlorene Objekt. Anders gesagt: das Begehren (das Subjekt in der Aphanisis) bezieht sich auf das fehlende Objekt, entsprechend der Struktur des Phantasmas, $ ◊ a.]
Nur vom Unmöglichen her tritt das Reale auf (7. März 1962)
Übersetzung
Die Wiederholung, heißt es in der nächsten Sitzung, dient dem Subjekt dazu, ein ursprüngliches Unäres wiederauftauchen zu lassen. Hierbei verzählt sich das Subjekt gewissermaßen, und dieser Zählfehler ist für das Subjekt konstitutiv. Das hat Auswirkungen auf das, was man als „Denken“ bezeichnet. Und weiter:
„Es ist wohl klar, dass es keineswegs ohne Bedeutung ist, dass ich mich hier mehr als einmal in der Weise vorwärtsbewegt habe, unvermeidlicherweise, dass ich die Funktion der Klasse und ihr Verhältnis zum Universalen in Frage gestellt habe, und dies seit Beginn meiner Rede von diesem Jahr, sodass dies sogar in gewisser Weise die Kehrseite und das Gegenteil der gesamten Rede ist, die ich Ihnen hier vorzutragen suche.124
Erinnern Sie sich doch bitte an dieser Stelle einfach nur an das, was ich Ihnen mit der kleinen exemplarischen Kreisfläche zu zeigen versucht habe, mit der ich mich bemüht habe, vor Ihnen das Verhältnis des Universalen zum Partikulären neu zu artikulieren sowie das Verhältnis der bejahenden beziehungsweise verneinenden Aussagen.
Einheit (unité) und Ganzheit (totalité) erscheinen hier traditionell als eng miteinander verbunden, und es ist kein Zufall, dass ich immer wieder darauf zurückkomme, um von dort aus die Grundkategorie dazu zu bringen, sich aufzuspalten.
Einheit und Ganzheit, zugleich zusammengehörend, aneinander gebunden, in einem Verhältnis, das man als Verhältnis der Einschließung bezeichnen kann, wobei die Ganzheit eine Ganzheit im Verhältnis zu Einheiten ist, die Einheit aber das ist, worauf die Ganzheit als solche sich gründet, indem sie die Einheit in diese andere Richtung zieht, entgegengesetzt zu derjenigen, die ich davon unterscheide, insofern sie die Einheit eines Ganzen (tout) ist.
Um diesen Punkt herum setzt sich in der sogenannten Klassenlogik das Missverständnis fort, das säkulare Missverständnis über Extension und Intension, worauf die Tradition, wie es scheint, tatsächlich immer größeren Wert gelegt hat, wenn es stimmt – um die Dinge in der Perspektive zu nehmen, wie sie beispielsweise Mitte des 19. Jahrhunderts erschienen sind, aus der Feder eines Hamilton125 –, wenn es denn stimmt, dass man das erst ausgehend von Descartes eindeutig formuliert hat und dass die Logik von Port-Royal, wie Sie wissen, an die Lehre von Descartes anschließt.
Obendrein stimmt das nicht einmal! Denn es gibt ihn bereits ziemlich lange, und zwar seit Aristoteles, diesen Gegensatz von Umfang und Inhalt.
Man kann sagen, dass er uns beim Umgang mit Klassen Schwierigkeiten bereitet, die immer weniger gelöst sind; daher rühren all die Bemühungen, die die Logik gemacht hat, um den Kern des Problems zu verlagern, etwa hin zur Quantifizierung der Aussagen.
Aber warum kann man nicht sehen, dass uns in der Struktur der Klasse selbst, der Klasse als solcher, ein neuer Ausgangspunkt gegeben wird, nämlich dann, wenn wir, als grundlegendes Verhältnis, das Verhältnis der Einschließung durch ein Verhältnis der Ausschließung ersetzen?
Anders gesagt, wenn wir hinsichtlich des Subjekts als logisch ursprünglich das Folgende ansehen – was nicht meine Entdeckung ist, was in der Reichweite eines Logikers der Mittelklasse liegt –, nämlich dass die wahre Grundlage der Klasse weder ihr Umfang ist noch ihr Inhalt, dass die Klasse vielmehr immer die Klassifizierung voraussetzt.
Anders gesagt, die Mammalia beispielsweise, die Säugetiere – um sofort klarzumachen, worum es mir geht –, das ist das, was man aus den Wirbeltieren ausschließt, durch die mamme als einzigen Zug. Was heißt das? Das heißt, die ursprüngliche Tatsache besteht darin, dass der einzige Zug fehlen kann, dass es zunächst Abwesenheit der mamme gibt und dass man <dann> sagt: Da kann es nicht vorkommen, dass die mamme fehlen. Das ist das, wodurch die Klasse der Mammalia, der Säugetiere, konstituiert wird.
Betrachten Sie die Dinge dort, wo die Schwierigkeiten liegen, das heißt, öffnen Sie wieder die Traktate, um diese tausend kleinen Aporien durchzugehen, die Ihnen von der formalen Logik angeboten werden, und Sie werden feststellen, dass dies die einzig mögliche Definition einer Klasse ist – wenn Sie ihr wirklich ihren universalen Status sichern wollen –, insofern dieser Status zugleich mit dieser Klasse, nach einer Seite hin, die Möglichkeit ihrer Nichtexistenz konstituiert, ihre mögliche Nichtexistenz. Denn Sie können mit gleicher Gültigkeit, als dem Universalen fehlend, diejenige Klasse definieren, zu der kein Individuum gehört, das wird von daher nicht weniger eine universal konstituierte Klasse sein.
Wobei diese äußerste Möglichkeit mit dem normativen Wert jeden universalen Urteils versöhnt wird, möchte ich sagen, insofern es über jeden Schluss hinausgeht, der induktiv ist, der also aus der Erfahrung hervorgegangen ist.
Eben das ist der Sinn der kleinen Kreisfläche, die ich Ihnen vorgeführt hatte, bezogen auf die Klasse, die unter den anderen zu bilden ist, nämlich der senkrechte Strich.
Durch das Subjekt wird zunächst die Abwesenheit eines solchen Strichs konstituiert; als solches ist es das Viertel oben rechts.
Der Zoologe, wenn Sie mir gestatten, so weit zu gehen, bildet die Klasse der Mammalia, der Säugetiere, nicht aus der Ganzheit, von der angenommen wird, dass sie durch die mütterliche mamme gebildet wird, sondern gerade deshalb, weil er sich von der mamme ablöst, kann er die Abwesenheit der mamme identifizieren. Das Subjekt als solches ist hierbei –1 [Quadrant oben rechts].
Von daher, ausgehend vom einzigen Zug, insofern er ausgeschlossen ist, legt er dann fest, dass es eine Klasse gibt, bei der es universal keine Abwesenheit der mamme geben kann: –(–1) [Quadrant oben links].
Von da aus ordnet sich alles, namentlich in den partikulären Fällen, in dem Allerlei [tout venant] auf der unteren Ebene: Es gibt welche [Quadrant unten links mit +1] oder es gibt nicht welche [Quadrant unten rechts mit –1].126
Ein kontradiktorischer Gegensatz stellt sich in der Diagonalen her, und das ist der einzige wahre Widerspruch, der auf der Ebene der Herstellung der Dialektik universal – partikulär sowie verneinend – bejahend Bestand hat: durch den einzigen Zug.
Damit ordnet sich alles in dem Allerlei auf der unteren Ebene: Es gibt welche oder es gibt nicht welche, und dies kann nur insofern existieren, als auf der oberen Etage durch Ausschließung des Strichs die Etage der Allesgeltens (tout valant) bzw. dessen, was als alles gilt, konstituiert ist.127
Wie zu erwarten war, ist es also das Subjekt, durch das die Privation eingeführt wird, und zwar durch den Äußerungsvorgang, der im Wesentlichen so formuliert wird: „Se pourrait-il qu’il n’y ait mamme?“, „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“, ein „ne“, ein „nicht“, das nicht negativ ist, ein „nicht“, das ganz streng von derselben Natur ist wie das, was man in der französischen Grammatik als „expletives ne“ bezeichnet.128
„Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt? Pas possible … rien, peut-être“, „Nicht möglich – nichts, kann sein / vielleicht“. Das ist der Beginn einer jeden Äußerung des Subjekts, die sich auf das Reale bezieht.
Im ersten Quadranten [1] geht es darum, die Rechte des oben stehenden „nichts“ zu wahren [4], denn es ist dieses „nichts“, das unten das peut-être erschafft, das „vielleicht“ bzw. „kann sein“, das heißt die Möglichkeit.
Es ist keineswegs so, dass man als Axiom sagen könnte – und darin besteht der verblüffende Irrtum der gesamten abstrakten Deduktion des Transzendentalen –, es ist keineswegs so, dass man sagen könnte, alles Reale ist möglich, vielmehr ist es so, dass nur vom „nicht möglich“ her das Reale auftritt.
Was das Subjekt sucht, ist dieses Reale, insofern es gerade nicht möglich ist – das ist die Ausnahme.
Und dieses Reale existiert sicherlich.
Man kann sagen, dass es am Ursprung jedes Äußerungsvorgangs nur ein „nicht möglich“ gibt, aber das sieht man von daher, dass es das Ausgesagte des „nichts“ ist, wovon sie ausgeht.
Dies, um es klar zu sagen, wird bereits in meiner dreigliedrigen Aufzählung Privation – Frustration – Kastration gesichert und erhellt, so wie ich kürzlich angekündigt habe, dass wir sie entwickeln würden 129.“130
Das Subjekt ist also ursprünglich verworfen*, fährt Lacan fort; danach spricht er über die Sphäre als Form der Totalität.
Paraphrase mit Ergänzungen
Klassen
Lacan beginnt mit einem Rückblick auf frühere Sitzungen. Er erinnert daran, dass er im laufenden Identifizierungs-Seminar die Funktion der Klasse und ihr Verhältnis zum Universalen mehrfach in Frage gestellt hat (vgl. Sitzungen vom 13. Dezember 1961 und vom 24. Januar 1962). Das sei sogar die Kehrseite und das Gegenteil von Lacans gesamtem Diskurs.
Das Quadrantenschema von Peirce
Danach kommt er auf das Quadrantenschema [von Peirce] zurück, bei dem es darum geht, das Verhältnis von universalen und partikulären Aussagen sowie von bejahenden und verneinenden Aussagen neu zu artikulieren. (Das Schema hatte er in der Sitzung vom 17. Januar eingeführt.)
Einheit und Ganzheit erscheinen traditionell als eng miteinander verbunden, und Lacan bemüht sich, diese Verbindung aufzuspalten [in, einerseits, das Eine als einzigen Zug und, andererseits, die Totalität oder Ganzheit als Klasse]. (Dies war ein Thema der Sitzung am 21. Februar 1962.)
Das Verhältnis von Einheit und Ganzheit wird üblicherweise als Einschließung aufgefasst, nämlich so, dass die Ganzheit aus Einheiten besteht [eine Klasse aus Elementen]; das heißt, die Ganzheit gründet sich auf Einheiten und bezieht diese auf ein Ganzes [auf eine Totalität].
Die Klassenlogik setzt das Missverständnis fort, dass der Begriff nach Extension und Intension zu unterscheiden ist, anders formuliert, nach Umfang und Inhalt. [Die Klassenlogik ist eine Logik, deren Objekte „Klassen“ sind, sie ist eine Erweiterung der klassischen aristotelischen Begriffslogik, d.h. Begriffe werden hier als Klassen aufgefasst. Die Klassenlogik im engeren Sinn beschreibt Klassen durch die Eigenschaften ihrer Elemente und ist damit eine Verallgemeinerung der Mengenlehre. Unter der Extension eines Begriffs versteht man traditionell die Gesamtheit der Dinge, die unter einen Begriff fallen, unter der Intension eines Begriffs (nicht zu verwechseln mit „Intention“, Absicht) die Merkmale dieser Dinge.] Das geht angeblich auf die Logik von Port-Royal zurück, die an Descartes anknüpft, jedoch findet man diesen Gegensatz bereits bei Aristoteles.
Der Umgang mit Klassen hat zunehmend größere Schwierigkeiten verursacht; die Wendung zur Quantifizierung der Aussagen [also die Entwicklung der Quantorenlogik mit den Quantoren „alle“ und „es gibt mindestens ein“] ist ein Versuch, den Kern des Problems zu verlagern [also eine Verschiebung].
Von der Einschließung zur „Ausschließung“
Tatsächlich ist uns aber in der Struktur der Klasse ein neuer Ausgangspunkt gegeben, der es ermöglicht, das Verhältnis der Einschließung durch eines der Ausschließung zu ersetzen. [Das erinnert an die These, die Neuartigkeit der Analyse bestehe darin, dass sie von den Tugenden der Norm zu den Tugenden der Ausnahme übergegangen sei (Sitzung vom 21. Februar 1962). Lacans „Logik des Signifikanten“ ist eine Logik, die sich auf die Ausschließung gründet, auf die Ausnahme.]
Das ist dann möglich, wenn man begreift, dass die wahre Grundlage der Klasse nicht ihr Umfang ist und auch nicht ihr Inhalt [also weder Extension noch Intension], sondern die Klassifizierung [und dass die Klassifizierung auf einer Ausschließung beruht]. Dass die Grundlage der Klasse die Klassifizierung ist, das ist, wie Lacan sagt, nicht etwa seine Entdeckung, sie liege in Reichweite „eines Logikers der Mittelklasse“. [¿ Auf welchen Logiker spielt Lacan hier an?]
Die Klassifizierung ist „hinsichtlich des Subjekts“ logisch ursprünglich – es geht um die Konstituierung des Subjekts.
Beispielsweise beruht die Klasse der Säugetiere, der Mammalia, darauf, dass aus den Wirbeltieren etwas ausgeschlossen wird, durch die mamme als einzigen Zug. Die weibliche Brust, die Mamma, kann als einzelner Zug begriffen werden, als trait unaire.
[Lacan sagt /mam/; das Wort findet man in keinem Französischlexikon, es erinnert an das lateinische Wort mamma, „weibliche Brust“, und an das französische Wort maman, „Mama“, bedeutet also vermutlich „Mutterbrust“.]
Die ursprüngliche Tatsache besteht darin, dass die weibliche Brust fehlen kann [bei den Wirbeltieren kann sie fehlen]. Zunächst gibt es Abwesenheit der Brust. [Das ist eine irreführende Formulierung, bei den Wirbeltieren fehlt ja keineswegs die Brust – sie kann fehlen, es kann Abwesenheit geben.] Im nächsten Schritt sagt man: Hier kann die Brust nicht fehlen, und damit hat man die Klasse der Säugetiere definiert.
Eine Klasse wird also durch ihre mögliche Nichtexistenz konstituiert [durch die mögliche Nichtexistenz des sie definierenden Merkmals].
[Bei der Bildung einer Klasse geht man demnach von außen nach innen vor. Den Ausgangspunkt bildet eine umfassendere Menge (etwa „Wirbeltiere“) und aus dieser Menge wird dann eine kleinere Menge ausgegrenzt (etwa „Säugetiere“). Auf diese Weise ist die Klasse der Säugetiere von Anfang an eine Klasse-innerhalb-der-Säugetiere, sie ist differentiell artikuliert. Säugetiere sind zugleich Wirbeltiere; wenn Lacan sagt, aus der Klasse der Wirbeltiere werde die der Säugetiere „ausgegrenzt“, ist damit nicht gemeint, dass Säugetiere keine Wirbeltiere sind, sondern dass innerhalb einer Menge eine Teilmenge „ausgegrenzt“ wird, ausgefiltert wird. Die „Ausgrenzung“ dieser Teilmenge beruht auf der Definition eines bestimmten Merkmals, in Lacans Beispiel ist dies die Mamma. In der größeren Menge, der der Wirbeltiere, kann dieses Merkmal fehlen, für diese umfassendere Menge gilt, dass sein kann, dass es keine Brust gibt. Die Klasse der Säugetiere beruht auf der Möglichkeit der Nichtexistenz des sie konstituierenden Merkmals, d.h. auf der Klasse der Wirbeltiere, bei der es keine Mamma geben muss.]
„Denn Sie können mit gleicher Gültigkeit, als dem Universalen fehlend, diejenige Klasse definieren, zu der kein Individuum gehört, das wird von daher nicht weniger eine universal konstituierte Klasse sein.“
[Lacan vollzieht hier einen Übergang vom Verhältnis zwischen Wirbeltieren und Säugetieren zu einem anderen Verhältnis, zur Beziehung zwischen einer Klasse mit einem bestimmten Merkmal, etwa Säugetiere, und einer Klasse ohne Individuen. Mit dem zweiten Verhältnis bezieht er sich auf das Quadrantenschema und dort auf die Segmente 1 (oben links) und 4 (oben rechts). Offenbar sieht er in beiden Verhältnissen dieselbe Struktur. Ich denke, dass er sich irrt und dass es sich um zwei unterschiedliche Strukturen handelt – die Klasse der Wirbeltiere ist keine Klasse ohne Individuen.]
Jedes universale Urteil hat einen normativen Aspekt, insofern es nicht induktiv gewonnen werden kann, nicht aus Erfahrung hervorgehen kann. [Zwischen der erfahrungsgestützten Aussage „Viele Menschen sind Säugetiere“ und der universalen Aussage „Jeder Mensch ist ein Säugetier“, liegt ein Sprung; der Übergang von „viele“ zu „alle“ kann nicht durch Erfahrung begründet werden kann – das war die These von Hume, an die Karl Popper anknüpfte, um von hier aus seinen Kritischen Rationalismus zu entwickeln.]
Im Quadrantenschema von Peirce ist die Klasse des senkrechten Strichs zu bilden [Quadranten oben links, 1]. Sie ist „unter den anderen“ zu bilden, sie ist differentiell artikuliert.
Lacan wiederholt seine These zur Klassifizierung. Der Zoologe bildet die Klasse der Säugetiere, der Mammalia, nicht, indem er sich auf die Ganzheit der Tiere bezieht, bei denen die Weibchen Brüste haben, sondern so, dass er zum Merkmal „Mamma“ zunächst einmal auf Abstand geht [sein Ausgangspunkt sind die Wirbeltiere]; dies ermöglicht es ihm, im ersten Schritt die Abwesenheit der Brust zu identifizieren. [Das ist nicht haltbar, bei den Wirbeltieren fehlt die Brust keineswegs - sie kann fehlen. Im ersten Schritt ist die Anwesenheit oder Abwesenheit der Brust irrelevant, sie fehlt als definierendes Merkmal.]
Das Subjekt [das sich durch die Abwesenheit des Merkmals auszeichnet, hier des Merkmals „Mamma“] ist hierbei „minus Eins“ (–1). [Aus diesem Grunde sind im Schema die beiden rechten Quadranten mit (–1) gekennzeichnet. Diese beiden Quadranten entsprechen dem Urteil „Kein Strich ist senkrecht“ bzw. „Kein Weibchen hat Brüste“ (in meiner reformierten Fassung: „Brüste dienen nicht als definierendes Merkmal“).]
In einem zweiten logischen Schritt legt der Zoologe fest, dass es eine Klasse gibt, bei der es universal keine Abwesenheit der weiblichen Brust geben kann, minus minus Eins, –(–1). [Dies ist dann die Klasse der Säugetiere. Ihr entspricht der Quadrant oben links, der mit –(–1) gekennzeichnet ist. Die Abwesenheit der Mamma kann es „universal“ nicht geben, das heißt sie ist für alle (weiblichen) Mitglieder dieser Klasse ausgeschlossen.]
[Boole verwendet das Zeichen 0 (Null) für den Begriff, unter den nichts fällt, und das Zeichen 1 (Eins) für den universalen Begriff, unter den alles fällt; an die Stelle der 0 setzt Lacan hier (–1); das erlaubt es ihm die 1 als Ergebnis einer doppelten Negation zu deuten.]
Von daher ordnet sich alles in den partikulären Fällen [in den Fällen, in denen es „einige“ Striche gibt]. Es gibt welche [„Einige Striche sind senkrecht“ gilt für die Quadranten oben links und unten links, bejahendes partikuläres Urteil, I] oder es gibt nicht welche [„Einige Striche sind nicht senkrecht“ gilt für die Quadranten unten links und unten rechts, verneinendes partikuläres Urteil, O].
[Lacan bezieht sich dann wieder auf das logische Quadrat, das ja dem Peirce’schen Quadrantenschema zugrunde liegt:]
[A: Bejahendes universales Urteil (Alle Striche sind senkrecht)
I: Bejahendes partikuläres Urteil (Einige Striche sind senkrecht)
E: Verneinendes universales Urteil (Alle Striche sind nicht senkrecht = Kein Strich ist senkrecht)
O: Verneinendes partikuläres Urteil (Einige Striche sind nicht senkrecht)]
Einen kontradiktorischen Gegensatz gibt es [im logischen Quadrat] in der Diagonale [also beispielsweise zwischen (A) „Alle Individuen haben Mütter mit Brüsten“ und (O) „Einige Individuen haben keine Mütter mit Brüsten“ sowie zwischen (E): „Kein Individuum hat eine Mutter mit Brüsten“ und (I) „Einige Individuen haben Mütter mit Brüsten“.] Dies ist der einzige wahre Widerspruch in der Dialektik von universalen, partikulären, verneinenden und bejahenden Aussagen, die Lacan [mithilfe der Striche von Peirce’s Quadrantenschema] vom einzigen Zug her zu rekonstruieren versucht. [Inwiefern ist nur der kontradiktorische Gegensatz ein wahrer Gegensatz? Vielleicht insofern, als in den andern beiden Gegensatzarten - konträr und subkonträr - eine dritte Möglichkeit gegeben ist.]
Damit ordnet sich alles in dem Allerlei auf der unteren Ebene [damit ist vermutlich die untere Ebene des logischen Quadrats gemeint, mit der partikulären bejahenden Aussage (I) und der partikulären verneinenden Aussage (O)]. Es gibt welche [partikuläre bejahende Aussage] und es gibt nicht welche [das ist allerdings die universale verneinenade Aussage, die partikuläre verneinende Aussage wäre „es gibt welche, die nicht…“].
[Es folgt eine These zur Beziehung zwischen den Aussage-Arten:]
„dies kann nur insofern existieren, als auf der oberen Etage durch Ausschließung des Strichs die Etage des Allesgeltens (tout valant) bzw. dessen, was als alles gilt, konstituiert ist“.
[Anders gesagt: Die beiden Formen der partikulären Aussage, ob bejahend oder verneinend, setzen die universale Aussage voraus, und die universale bejahende Aussage wiederum beruht auf der „Ausschließung des Strichs“, auf der Klasse ohne ein Element, in Quadrantenschema auf dem Viertel oben rechts.]
„Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“
Es ist das Subjekt, wodurch die Privation eingeführt wird, und es führt sie durch den Äußerungsakt ein (l’acte d’énonciation) ein.
Es war zu erwarten, dass es das Subjekt ist, das die Privation einführt. [Inwiefern war das zu erwarten? Vielleicht nur insofern, als Lacan darauf anspielen möchte, dass „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“ eine Erwartung ist.]
Der Äußerungsakt, durch den das Subjekt die Privation einführt, lautet:
„Se pourrait-il qu’il n’y ait mamme?“
„Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“
Das ne in qu’il n’y ait mamme ist keine gewöhnliche Negation, es handelt sich vielmehr um ein expletives ne, um das ne als Füllwort. [Lacan begreift das sogenannte expletive „ne“ nicht als Füllwort, sondern als den Signifikanten des Subjekts des Äußerungsvorgangs, wie er in einem früheren Seminar ausgeführt hatte.131 Eine deutsche Entsprechung zur dieser Art des „nicht“ findet man in Wendungen wie „Ist das nicht schön?“ Damit wird nicht gefragt, ob das hässlich ist, es wird eher gesagt: „Ach wie ist das schön, meinst du nicht auch?“ Man muss das „nicht“ in „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“ demnach so auffassen wie das „nicht“ in „Gibts hier nicht mamme?“, als Signifikant einer positiven Erwartung des Sprechers.]
[Der die Privation konstituierende Äußerungsakt hat nicht die Form des Konstatierens („x fehlt“), sondern einer Frage: „könnte es sein, dass es (nicht) x gibt?“. Das Subjekt ist eine Frage, schreibt Lacan irgendwo. Die Frage artikuliert das Erwarten der Mutterbrust und in dieser Erwartung klingt die Möglichkeit des Fehlens an.]
[Die Einführung der Privation auf dem Weg über die Frage ist vielleicht von Sartre inspiriert, der in Das Sein und das Nichts die Begriffe der Negation und des Nichts ausgehend von der Frage entwickelt.132]
[Die Frage des Subjekts bezieht sich auf die Möglichkeit des Fehlens. Das erinnert an die Klassifizierung: Bei der Bildung der Klasse der Säugetiere ausgehend von den Wirbeltiere ist das Merkmal „Brust“ etwas, was zunächst fehlen kann – bei den Wirbeltieren kann sie fehlen.]
„Nicht möglich – nichts, kann sein / vielleicht.“
Der Äußerungsakt des Subjekts beginnt mit „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“ und er wird so fortgesetzt:
„Pas possible … rien, peut-être.“
„Nicht möglich – nichts, kann sein / vielleicht.“
[Peut-être wird üblicherweise mit „vielleicht“ übersetzt, wörtlich bedeutet es „kann sein“ oder „mag sein“. Da Lacan auf diese wörtliche Bedeutung abhebt, auf das Seinkönnen, übersetze ich mit „kann sein / vielleicht“.]
[In einer Art Kombinatorik spielt Lacan durch, wie drei Arten der Möglichkeit mit drei Arten der Negativität verbunden werden können. Die erste Möglichkeitsform ist das se pourrait-il ?, „könnte es sein ?“, bei dieser Art der Möglichkeit geht es darum, dass ein Erwartungshorizont aufgespannt wird. Die zweite Möglichkeit, in pas possible, „nicht möglich“, liegt in der Nähe einer Modalkategorie. Das peut-être, „kann sein“, hat durch das „sein“ ontologischen Charakter, es erinnert an Heideggers Begriff des „Seinkönnens“.]
[Die erste Form der Negation ist das „nicht“ in „Könnte es sein, dass nicht“; die Möglichkeit („könnte es sein“) wird hier mit dem expletiven oder diskordantiellen ne verknüpft, in dem sich die Erwartung des sprechenden Subjekts artikuliert. In der Wendung „nicht möglich“ hat das „nicht“ zurückweisenden Charakter; die Verbindung „nicht möglich“ erinnert an die modale Kategorie der Unmöglichkeit. Mit „nichts, vielleicht“ erfolgt ein Wechsel von der Negation zum Nichts, von der Logik zur Ontologie; die Wendung rien, peut-être assoziiert das Nichts und das Sein.]
[Sartre hatte den Begriff der Frage auf drei Arten des Nichts bezogen: auf das Nicht-Wissen des Fragenden, auf das Nichts der Antwort und auf das Nichts der Wahrheit, mit dem Nichts der Wahrheit meint er, „so ist es und nicht anders“.133 Das passt gut zu Lacans Formulierung. Das würde heißen: Das „nicht“ in „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt“ bezieht sich auf das Nichtwissen des Fragenden. „Nicht möglich“ würde dann bedeuten: Eine Antwort ist nicht möglich. Und „nichts, kann sein / vielleicht“ würde sich auf das Wahrheitsproblem beziehen, auf dem Weg über die Angleichung von „Wahrheit“ und „Sein“.]
[Die Struktur dieses Äußerungsakts erinnert auch an Freuds Konzept der Ichspaltung im Abwehrvorgang.134 Vor dem Hintergrund der Kastrationsdrohung reagiert der Junge auf gespaltene Weise auf den Anblick der Penislosigkeit der Mutter (der Privation im Sinne von Seminar 4) . Einerseits, indem er (als Ersatz für den fehlenden Penis der Mutter) einen Fetisch erschafft, also durch eine Verleugnung. Zugleich entwickelt er ein Symptom, eine intensive Angst vor Bestrafung durch den Vater, und das beweist, dass er die Gefahr doch anerkennt. Das „Nicht möglich“ könnte der Kastrationsangst entsprechen, das „nichts, kann sein / vielleicht“ der Schaffung des Fetischs. ?]
Ich vervollständige das Zitat:
„‚Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt? Nicht möglich – nichts, kann sein / vielleicht‘ – das ist der Beginn einer jeden Äußerung des Subjekts, die sich auf das Reale bezieht.“
Die Äußerung des Subjekts bezieht sich auf das Reale. [Der Begriff des Realen muss von der Äußerung des Subjekts her rekonstruiert werden.]
]Der Äußerungsvorgang, der sich auf das Reale bezieht, besteht aus drei Komponenten:
(a) „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“ Fragende Erwartung der Anwesenheit des Objekts.
(b) „Nicht möglich.“ Auf die Erwartung folgt gewissermaßen die logische Unmöglichkeit.
(c) „Nichts, kann sein / vielleicht.“ Auf die logische Unmöglichkeit folgt die ontologische Möglichkeit des Nichts.]
[Das ist, wenn ich recht sehe, Lacans erste Annäherung an die Formel „Das Reale ist das Unmögliche“. Der Begriff des Unmöglichen wird aus der Bindung an die Zwangsneurose gelöst (wie man sie etwa in der Wortmeldung von 1956 findet, die ich zu Beginn dieses Artikels zitiert habe), und er wird definitorisch mit dem Realen verknüpft. Das Reale als das Unmögliche ist eingebettet in eine Erwartung des Subjekts und ihm folgt eine Ontologisierung, der Wechsel von der Unmöglichkeit zum Nichts.]
Lacan bezieht dies dann wieder auf das Quadrantenschema. Im ersten Quadranten (oben links) geht es darum, die Rechte des oben stehenden „nichts“ zu wahren [ich nehme an: die Rechte des „nichts“ im Quadranten oben rechts, des Quadranten ohne Striche]. [¿ Soll das „nichts“ von „Nicht möglich – nichts vielleicht“ durch den Quadranten oben rechts repräsentiert werden?]
Das oben stehende „nichts“ erschafft unten das „vielleicht“, das heißt die Möglichkeit. [Was ist hier mit „unten“ gemeint? Möglicherweise die beiden unteren Quadranten, 2 und 3, sie stehen zusammen für die partikuläre verneinende Aussage („Einige S sind nicht P“ oder „Es gibt S, die nicht P sind“). Das „Es gibt einige“ würde dann von Lacan (ohne dies zu begründen) mit der Kategorie der Möglichkeit gleichgesetzt. Das könnte man plausibel machen, indem man die Beziehung zu einem Quadranten als Auswahlvorgang deutet, wie bei einer Lostrommel: Wenn das Subjekt aus dem Quadranten unten links ein Element wählt, ist es möglich, dass das Element senkrecht ist. Das gilt allerdings nicht für den Quadranten unten rechts.]
Man kann nicht sagen, alles Reale sei möglich, darin bestand der Irrtum der gesamten abstrakten Deduktion des Transzendentalen. [Mit „Alles Reale ist möglich“ spielt Lacan auf einen Satz der klassischen Metaphysik an, „Was wirklich ist, ist auch möglich“. Dieses Prinzip stützt sich letztlich auf Aristoteles, auf dessen Begriffsopposition von dynamis (Mögliches) und energeia (Wirkliches): unter bestimmten Bedingungen geht das Mögliche in das Wirkliche über, deshalb ist das Wirkliche auch das Mögliche.]
[Die „Deduktion des Transzendentalen“ (oder besser die „transzendentale Deduktion“) ist die nicht-empirische Begründung der Kategorien von Kants Kategorientafel in der Kritik der reinen Vernunft. Dabei geht es um die Frage, wie sich die Kategorien auf Anschauungen beziehen können, auf Wahrnehmungen. Die Begründung erfolgt so, dass die Kategorien aus der Urteilstafel abgeleitet werden, sie beruht damit letztlich auf der Unterscheidung von allgemeinen und partikulären, bejahenden und verneinenden Urteilen.]
[¿ Lacan zufolge ist der Satz „Alles Wirkliche ist auch möglich“ auch in der transzendentalen Deduktion der Kategorien am Werk. Mir ist nicht klar, worauf er sich damit bezieht. Etwa auf Kants Lehrsatz „Die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objektive Gültigkeit in einem synthetischen Urteile a priori.“ (B 197) –?]
Lacan fährt so fort:
„… vielmehr ist es so, dass nur vom ‚nicht möglich‘ her das Reale auftritt“.
[Anders gesagt: Nur vom Unmöglichen her tritt das Reale auf. Das ist die zweite Formulierung, in der Lacan den Begriff der Unmöglichkeit auf das Reale bezieht. Nach diesen beiden Anläufen wird er zwei Sitzungen später (am 21. März 1962) das Reale ausdrücklich mit dem Unmöglichen gleichsetzen. Von nun an wird die Formel „Das Reale ist das Unmögliche“ (in vielen Formulierungsvarianten) in jedem Seminar aufgegriffen werden, bis einschließlich Seminar 24.]
[Der Satz „Das Reale ist das Unmögliche“ wendet sich also gegen die klassische Metaphysik, für die das Reale das Mögliche ist. Einen Stützpunkt hat der Satz in Kants nihil negativum, dem „leeren Gegenstand ohne Begriff“, dem „Unding“, wie Lacan in der vorangegangenen Sitzung angedeutet hatte (28. Februar 1962).]
Das Subjekt sucht das Reale, insofern es nicht möglich ist
Und wieder direkt anschließend heißt es:
„Was das Subjekt sucht, ist dieses Reale, insofern es gerade nicht möglich ist (…).“
[Dieser Satz verbindet das Reale im Sinne des Unmöglichen mit dem Suchen des Subjekts. Die Frage des Subjekts („Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“) zielt letztlich auf das „nicht möglich“, auf das Reale als das Unmögliche.]
[Nicht speziell der Zwangsneurotiker sucht das Unmögliche, wie Lacan bislang gesagt hatte, sondern das Subjekt überhaupt. Diese These wird hier von ihm zum ersten Mal vorgetragen.]
Ich wiederhole und vervollständige das Zitat:
„Was das Subjekt sucht, ist dieses Reale, insofern es gerade nicht möglich ist, das ist die Ausnahme.“
[Damit bringt Lacan wieder das Konzept der Ausnahme ins Spiel, das er in diesem Seminar bereits eingeführt hatte. Die Neuartigkeit der Analyse bestehe darin, dass sie von den Tugenden der Norm zu den Tugenden der Ausnahme übergegangen ist, hieß es in der Sitzung vom 21. Februar 1962. Zugleich knüpft er an eine frühere Bemerkung in dieser Sitzung an, wonach es darum gehe, die Klasse nicht von der Einschließung, sondern von der Ausschließung her aufzufassen; die Klasse der Säugetiere entsteht dadurch, dass sie aus der Klasse der Wirbeltiere „ausgeschlossen“ wird, ausgesondert wird. Jetzt wird die Ausnahme als das Reale bestimmt, insofern es unmöglich ist. Das lässt an die Logik denken, die den Widerspruch ausschließt (es ist unmöglich, dass A und nicht-A zugleich wahr sind). Das Reale wäre hier also, dass A und nicht-A zugleich wahr sind. Die Psychoanalyse geht demnach insofern zu den Tugenden der Ausnahme über, als sich für sie das Subjekt auf das Reale bezieht, insofern es unmöglich ist.]
Der nächste Satz lautet:
„Und dieses Reale existiert sicherlich.“
Mir ist nicht klar, was hier mit „existieren“ gemeint ist.
Danach heißt e:
„Man kann sagen, dass es am Ursprung jedes Äußerungsvorgangs nur ein ‚nicht möglich‘ gibt, aber das sieht man von daher, dass es das Ausgesagte des ‚nichts‘ ist, wovon sie ausgeht.“
Am Ursprung jedes Äußerungsvorgangs gibt es ein „nicht möglich“. [Die Äußerung „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“ beruht demnach letztlicFh auf der Beziehung des Subjekts zu einer Unmöglichkeit auf der Ebene des Äußerungsvorgangs, zu einer Unmöglichkeit im Sprechen.]
Das sieht man jedoch nur, wenn man vom „nichts“ ausgeht [in „nichts, vielleicht“], und das „nichts“ liegt nicht auf der Ebene des Äußerungsakts, sondern auf der des Ausgesagten [das ontologisierende „nichts“ ist etwas, worüber gesprochen wird, keine Unmöglichkeit im Sprechen].
[Letztlich bezieht sich das Subjekt auf eine Unmöglichkeit im Sprechen (auf ein Trauma als etwas Unsymbolisierbares, auf eine urverdrängte Vorstellungsrepräsentanz). Dorthin kommt es jedoch nur auf dem Weg, dass es über ein Nichts spricht, darüber, dass etwas fehlt, und zwar auf der Ebene dessen, worüber gesprochen wird.]
Am Schluss der zitierten Passage erklärt Lacan, dass er das, was er hier ausführt, bereits in seinem dreigliedrigen Schema Privation – Frustration – Kastration dargestellt hatte [in Seminar 4]. [Wie sind die Komponenten der Äußerung zuzuordnen, der Äußerung „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt? Nicht möglich – nichts, kann sein / vielleicht.“ ? Meine Vermutung:
- Frustration: „Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt?“
- Kastration: „Nicht möglich“.
- Privation: „nichts, kann sein / vielleicht“.]
Ursprüngliche Verwerfung des Subjekts (14. März 1962)
Übersetzung
Zu Beginn der Folgesitzung spricht Lacan über einen Vortrag, den Daniel Lagache am Vorabend über das Thema der Sublimation gehalten hatte. Dann wendet er sich wieder dem Thema des Seminars zu.
„Nehmen wir die Dinge dort wieder auf, wo wir sie das letzte Mal haben liegen lassen, auf der Ebene der Privation.
Ich hoffe, dass ich mich, bezogen auf dieses Thema, verständlich gemacht habe, indem ich sie durch dieses minus Eins, (–1), symbolisiert habe, diese Runde, die zwangsläufig nicht gezählt wird, die bestenfalls als Minus gezählt wird, nämlich wenn es [das Subjekt] die Runde der Runden gedreht hat, die Runde des Torus.135
Die Tatsache, dass ich sofort den Faden gefasst hielt, der die Funktion dieses minus Eins, –1, auf die logische Grundlage jeder Möglichkeit einer universalen Bejahung bezieht, der Möglichkeit also, die Ausnahme zu begründen – und das ist es im Übrigen, wovon die Regel gefordert wird, die Ausnahme bestätigt nicht die Regel, wie man so nett sagt, sie fordert die Regel, sie ist deren wirkliches Prinzip –, kurz, dadurch, dass ich Ihnen meine kleine Kreisfläche gezeichnet habe, dass ich Ihnen also gezeigt habe, dass die einzig wirkliche Sicherung der universalen Bejahung die Ausschließung eines negativen Strichs ist, ‚es gibt keinen Menschen, der nicht sterblich wäre‘ (il n’y a pas d’homme qui ne soit mortel), habe ich zu einer Verwirrung Anlass geben können, die ich jetzt berichtigen möchte, damit Sie wissen, im Rahmen welcher Prinzipien ich Sie voranschreiten lasse.
Ich habe Ihnen diesen Bezug geliefert, aber es ist klar, dass man ihn nicht für eine Ableitung des ganzen Prozesses ausgehend vom Symbolischen halten darf. Den leeren Teil, wo es in meiner Kreisscheibe nichts gibt, muss man auf dieser Ebene noch als abgelöst auffassen.
Das minus Eins, –1, welches auf dieser Ebene das Subjekt ist, ist an sich keineswegs subjektiviert, es geht hier nicht bereits um die Frage von Wissen oder Nicht-Wissen. Damit sich etwas von dieser Art herstellt, muss ein ganzer Zyklus durchlaufen sein, wovon die Privation also nur der erste Schritt ist.
Die Privation, um die es geht, ist reale Privation, wofür ich – mit der Stütze der Anschauung, bei der Sie mir darin zustimmen werden, dass man mir wohl das Recht darauf zugestehen kann –, wofür ich hier nur den Spuren der Tradition folge, und zwar der reinsten.136 Man gesteht Kant das Wesentliche seines Vorgehens zu, und was diese Grundlage des Schematismus angeht, suche ich eine bessere, um zu versuchen, sie für sie spürbar zu machen, anschaulich zu machen.137
Die Triebfeder dieser realen Privation habe ich geschmiedet.
Erst nach einem langen Umweg also kann dem Subjekt das Wissen von seiner ursprünglichen Verwerfung (rejet) zukommen. Aber auf diesem Wege, ich sage es Ihnen sofort, werden genügend Dinge geschehen sein, sodass das Subjekt dann, wenn es ans Licht kommt, nicht nur weiß, dass es von diesem Wissen verworfen ist, sondern auch, dass dieses Wissen selbst zu verwerfen ist, insofern es sich als etwas erweisen wird, was immer entweder jenseits oder diesseits dessen ist, was das Subjekt zur Verwirklichung des Begehrens erreichen muss.
Anders gesagt, wenn das Subjekt jemals – was seit der Zeit von Parmenides sein Ziel ist – zu der Identifizierung gelangt, zu der Bejahung, dass noein kai einai, dass Denken und Sein, to auto ist, dasselbe ist138, wird es sich in diesem Moment zwischen seinem Begehren und seinem Ideal unheilbar gespalten finden.“139
Danach erläutert Lacan wieder den Torus.
Paraphrase mit Ergänzungen
Die Ausnahme fundiert die Regel
Lacan greift das Thema der Privation auf.
Er fasst zusammen, wie er mithilfe des Torus das Verhältnis zwischen Anspruch und Begehren dargestellt hatte: Wenn der Anspruch seine Runden um den Torus dreht (die kleinen lila Kreise um den Schlauch), wird hierbei eine Runde nicht mitgezählt (der große rote Kreis um den Torus insgesamt).
Dieser nicht-mitgezählte Kreis ist die Funktion (–1).
Lacan symbolisiert diesen nicht mitgezählten Kreis durch (–1), und er begreift dieses (–1) als logische Grundlage der Möglichkeit der universalen Bejahung. [Damit stellt er einen Übergang von der Topologie zur Logik her.] Die universale Bejahung stützt sich auf die Ausnahme. [Die Ausnahme wird im Schema von Peirce demnach durch den Quadranten oben rechts repräsentiert, den Quadranten ohne Striche.]
[Im Quadrantenschema entspricht der Quadrant oben rechts also dem Begehren.]
Das Verhältnis von Ausnahme und Regel muss umgedreht werden. Normalerweise sagt man: Die Ausnahme bestätigt die Regel [dabei gilt die Regel als das Fundierende]. Es muss jedoch heißen: Die Ausnahme fordert die Regel, anders gesagt: die Ausnahme ist das Prinzip der Regel [die Ausnahme ist die Grundlage, der Ursprung der Regel].
Eben dies soll durch das Quadrantenschema gezeigt werden. Grundlage der [universalen] Bejahung [die beiden oberen Quadranten] ist die Ausschließung in Gestalt eines „negativen Strichs“ [Quadrant oben rechts, Fehlens von Strichen überhaupt, ob nun senkrecht oder schräg].
Lacan verdeutlicht die Ausschließung, die durch den negativen Strich, den fehlenden Strich, angezeigt wird, durch die Aussage „Es gibt keinen Menschen, der nicht sterblich wäre“ (il n’y a pas d’homme qui ne soit mortel). [Anders gesagt: „Alle Menschen sind sterblich“. In der von Lacan gewählten Formulierung ist jedoch der Bezug auf die Unsterblichkeit enthalten („nicht sterblich“), eine Entsprechung wäre der Satz „Keiner ist unsterblich“. Das alle der Sterblichen, also die Bildung der Klasse der Sterblichen, stützt sich auf die Ausnahme, sie beruht darauf, dass sie die Unsterblichen von sich ausschließt.]
Reale Privation
Lacan sagt, dass er mit dem Quadrantenschema zu einer Verwirrung beigetrage habe. Es sehe so aus, als wolle er den ganzen Prozess [der Konstituierung des Subjekts] aus dem Symbolischen ableiten. Das sei jedoch nicht gemeint. [Die Privation ist zunächst eine reale Privation, wie er wenig später sagen wird.]
Um die Verwirrung aufzulösen, modifiziert er das Quadrantenschema. Das Viertel oben rechts (das ohne Strich) muss im ersten Schritt so aufgefasst werden, dass es abgetrennt ist, dass es noch nicht mit dem Kreis verbunden ist.
Das (–1) ist auf dieser Ebene das Subjekt [das Quadrantenschema stellt also die Struktur des Subjekts dar].
Die Ablösung des Kreisviertels oben rechts soll veranschaulichen, dass das (–1) nicht subjektiviert ist; es geht hier noch nicht um Wissen oder Nicht-Wissen. [Die „Subjektivierung“ hat demnach die Form des Erwerbs von Wissen oder auch von Nicht-Wissen.]
Um das (–1) zu subjektivieren, muss ein Zyklus durchlaufen werden, in dem die Privation nur der erste Schritt ist. Unter Privation versteht Lacan hier die „reale Privation“, womit er, wie er sagt, an die „reinste“ Tradition anknüpft, an Kant [an die Tradition der „reinen Vernunft“]. [Die „reale Privation“ entspricht demnach Kants Begriff des nihil privativum (privatives Nichts) in der Kritik der reinen Vernunft (B 348), der bei Lacan zum ens privativum wird (privatives Seiendes). Das nihil privativum ist der Begriff vom Mangel eines Gegenstandes.] Man gesteht Kant das Wesentliche seines Vorgehens zu. [Die Privation, um die es Lacan geht, ist eine Privation auf der Seite des Gegenstandes (etwa das Fehlen der Brust), eine Privation, die erst in einem zweiten Schritt symbolisiert wird, in Wissen oder Nichtwissen verwandelt wird.]
[Lacan hatte früher mehrfach betont, dass im Realen nichts fehlen kann. Wie passt das zusammen? Offenbar, wie man gleich sehen wird, durch Verzeitlichung: Die Privation ist zunächst Privation im Realen und wird dann auf der Ebene des Wissens subjektiviert.]
Jedoch sucht Lacan – sagt er – nach einer besseren Grundlage für diesen Schematismus. [„Schematismus“ ist ein Begriff von Kant in der Kritik der reinen Vernunft, im Kapitel „Von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe“ (B 176 ff.). Das Schema ist das, was zwischen Begriff und Anschauung vermittelt.– Worin besteht die bessere Grundlage für diesen Schematismus? In der Topologie.]
Der nächste Satz lautet:
„Die Triebfeder dieser realen Privation habe ich geschmiedet.“
[¿ Mir ist nicht klar, was damit gemeint ist.]
Ursprüngliche Verwerfung des Subjekts
Nächster Satz:
„Erst nach einem langen Umweg also kann dem Subjekt das Wissen von seiner ursprünglichen Verwerfung (rejet) zukommen.“
[Demnach ist die „reale Privation“ die „ursprüngliche Verwerfung (rejet)“ des Subjekts. Die Privation des Objekts ist zugleich die Rejektion des Subjekts.] [ [¿ Worin besteht im Phantasma des Wolfsmanns das ausgestrichene S?] Lässt sich das wieder auf die Mutterbrust beziehen? Besteht die ursprüngliche Verwerfung des Subjekts in der Entwöhnung?]
Erst auf langen Umwegen wird das Subjekt ein Wissen von seiner ursprünglichen Verwerfung haben. [Lacan unterscheidet hier also die reale Privation und deren Subjektivierung durch ein Wissen.] [¿ Was ist der lange Umweg, die Wiederbelebung der Privationserfahrung im Verlauf der Lebensgeschichte? Oder die psychoanalytische Kur? Das Ende der Kur wäre dann das Wissen des Subjekts über seine ursprüngliche Verwerfung.]
Das Subjekt wird dann wissen, dass es von diesem Wissen verworfen ist. [Die Subjektivierung der realen Privation besteht also nicht darin, dass das Subjekt ein Wissen von der Privation hat und damit von seiner Verwerfung, sondern sie besteht in einem Wissen über dieses Wissen: die Verwerfung ist eine Verwerfung durch ein Wissen.] [¿ Ist dies das Nicht-Wissen, von dem Lacan vorher gesprochen hatte, die Aphanisis des Subjekts (wie er in Seminar 6 gesagt hatte), die Realisierung dessen, dass es keinen Signifikanten des Subjekts gibt?]
Das Subjekt wird dann auch wissen, dass dieses Wissen selbst zu verwerfen ist, insofern das Wissen immer diesseits oder jenseits dessen ist, was es erreichen muss, um sein Begehren zu verwirklichen. [Bezogen auf die Torus-Runden spricht Lacan nicht von „Wissen“, sondern von „Anspruch“ bzw. „Forderung“ (demande). Das Begehren ist immer diesseits oder jenseits des Anspruchs.]
Anders gesagt, das Subjekt strebt nach Identität von Denken und Sein, wie man mit Parmenides sagen kann, tatsächlich aber findet es sich zwischen Ideal und Begehren [Seinsmangel] unheilbar gespalten. [Dem Denken entspricht hier offenbar das Ideal und das Wissen, dem Sein das Begehren und das Nichtwissen – das Begehren ist Seinsmangel.] [¿ Besteht das Wissen, dass das Wissen zu verwerfen ist, in der Distanzierung vom Ideal?]
Das Begehren des Unmöglichen in Zwangsneurose und Hysterie (21. März 1962)
Übersetzung
Zu Beginn der nächsten Sitzung erinnert Lacan daran, dass er in der vorangegangenen Stunde das Verhältnis des Subjekts zum Anderen in der Neurose durch die Beziehung zwischen zwei Tori dargestellt hatte, die sich gegenseitig in der „zentralen Leere“ durchdringen:
Der „kleine Kreis“, den man auf dem Torusschlauch eintragen kann, entspricht dem Anspruch, der „große Kreis“, den man um den Torus insgesamt drehen kann, dem Begehren. Die Zeichnung veranschaulicht, dass sich das Begehren des Subjekts (zentrale Leere) auf den Anspruch des Anderen richtet (die zentrale Leere des einen Torus wird durch den Schlauchumfang des anderen Torus ausgefüllt). Das entspricht der Neurose, insofern das Subjekt hier versucht, sein Begehren in der Abhängigkeit vom Anspruch des Anderen zu fundieren. In der hier dargestellten Verknotung des Subjekts mit dem Anderen gibt es „eine Beziehung zu einer Attrappe (leurre)“, wie die Ethologen sagen, zu einem Trugbild, einem Köder. Lacan fährt so fort:
„Das Feld, um das es geht, könnte also auf keine Weise auf das Feld des Bedürfnisses reduziert werden, auf das Feld eines Objekts, das sich im Grenzfall dem Organismus, aufgrund der Rivalität mit seinesgleichen, als Objekt der Subsistenz aufnötigen könnte, denn das wäre hier der Aspekt, auf den sich für uns die Rivalität letztlich stützen würde.
Dieses andere Feld, das wir definieren und für das unser Torusbild gemacht ist, ist ein anderes Feld, ein Signifikantenfeld, ein Feld der Konnotation von Anwesenheit und Abwesenheit, wo das Objekt nicht mehr Objekt des Subsistenz, sondern der Ex-sistenz des Subjekts ist.
Damit wir dazu kommen, das zu demonstrieren – letztlich handelt es sich ja um einen bestimmten notwendigen Platz der Ex-sistenz des Subjekts und darum, dass hier die Funktion ist, zu der das kleine a der ersten Rivalität erhoben wird, geführt wird –, haben wir den Weg vor uns, den wir noch durchlaufen müssen, ausgehend von dem Höhepunkt, zu dem ich Sie das letzte Mal geführt habe, nämlich der Dominanz des Anderen bei der Herstellung der frustrierenden Beziehung.
Der zweite Teil dieses Weges muss uns von der Frustration zu der noch zu definierenden Beziehung führen, durch die das Subjekt im Begehren konstituiert wird, und Sie wissen, dass wir nur hier die Kastration auf angemessene Weise artikulieren können. Was dieser Platz der Ex-sistenz bedeutet, werden wir also letztlich erst dann wissen, wenn dieser Weg durchlaufen ist.“140
Danach spricht Lacan über die doppelte Negation. In der französischen Alltagssprache funktioniert sie anders als in der Logik. In der Logik ist die doppelte Negation eine Bejahung, in der Umgangssprache hingegen dient sie häufig dazu, die Verneinung zu verstärken. [Eine Entsprechung findet man in vielen deutschen Dialekten, in denen man beispielsweise sagen kann „Das tut kein Mensch nicht“, womit gemeint ist „Das tut nun wirklich kein Mensch“.] Die Verstärkungsfunktion der doppelten Negation im Französischen beruht auf einer „topologischen Duplizität“. Diese Duplizität sorgt dafür, dass die beiden Negationen nicht auf derselben Ebene liegen – die eine Negation liegt auf der Ebene des Ausgesagten (énoncé), also dessen, worüber gesprochen wird, die andere auf der Ebene des Äußerungsvorgangs (énonciation), sie bezieht sich auf das aktuell vollzogene Sprechen. [Die beiden Ebenen lasse sich an dem Satz „Ich sage, dass p“ veranschaulichen. Negiert man den Satz auf der Ebene des Ausgesagten, erhält man „Ich sage, dass nicht p“; negiert man ihn auf der Ebene des Äußerungsvorgangs, ergibt sich „Ich sage nicht, dass p“.141]
Etwas später heißt es:
„Das führt uns zu unserem Ausgangspunkt zurück, zum Verhältnis zum Anderen, insofern ich über dieses Verhältnis gesagt habe, es beruhe auf einem Köder, wobei es jetzt darum geht, es anders zu artikulieren als durch dieses natürliche Verhältnis, da wir ja auch sehen, wie sehr es sich dem Denken entzieht, wie sehr es vom Denken zurückgewiesen wird.
Wir müssen von einem anderen Punkt ausgehen, nämlich von der Frage, die an den Anderen gestellt wird, von der Frage nach seinem Begehren und dessen Befriedigung.
Wenn es einen Köder gibt, muss er an dem teilhaben, was ich vorhin die radikale Duplizität der Position des Subjekts genannt habe.
Und das möchte ich Sie spüren lassen, auf der für den Signifikanten charakteristischen Ebene, insofern sie durch die Duplizität der subjektiven Position gekennzeichnet ist, und es ist das, wobei ich Sie im Augenblick bitten möchte, mir zu folgen, bei etwas, was man letztlich die Differenz nennen kann, derentwegen der Graph, mit dem ich Sie während einer gewissen Zeit meines Diskurses festgehalten habe, eigentlich konstruiert worden ist.142 Diese Differenz nennt sich: Unterschied zwischen der Botschaft und der Frage.
Dieser Graph, der sich hier so gut in genau die Kluft einschreibt, durch die das Subjekt in doppelter Weise mit der Ebene des universalen Diskurses verbunden ist – ich werde hier heute die vier Überschneidungspunkte eintragen, diejenigen, die Sie bereits kennen:
– A,
– s(A), die Bedeutung der Botschaft, insofern sie auf der Rückkehr des Signifikanten beruht, der im Anderen angesiedelt ist,
– hier: ($◊D), das Verhältnis des Subjekts zum Anspruch, insofern hier der Trieb spezifiziert wird,
– hier: das S(Ⱥ), der Signifikant des Anderen, insofern der Andere letztlich nur formalisiert oder signifikantisiert werden kann als selbst vom Signifikanten markiert, anders gesagt, insofern er uns den Verzicht auf jede Metasprache aufnötigt.
Die Kluft, die hier zu artikulieren ist, ist gänzlich in einer Form aufgespannt, die letztlich darin besteht, dass die Forderung (demande) an den Anderen, zu antworten, in einer Serie von Rückläufen beständig wechselt, beständig pendelt, zwischen dem ‚Nichts vielleicht?‘ (‚Rien peut-être?‘) und dem ‚Vielleicht nichts‘ (‚Peut-être rien‘), das hier eine Botschaft ist.
Sie öffnet sich auf das hin, was uns als die Öffnung erschienen ist, die dadurch gebildet wird, dass ein Subjekt in das Reale eintritt.
Wir stimmen hier mit der zuverlässigsten Ausarbeitung des Begriffs der Möglichkeit* überein. Das Mögliche ist nicht von der Sachseite her <aufzufassen>, sondern von der Seite des Subjekts her. Die Botschaft öffnet sich auf den Begriff der Eventualität hin, der durch eine Erwartung in der konstituierenden Situation des Begehrens gebildet wird, so wie wir sie hier festzumachen versuchen. ‚Peut-être‘, ‚vielleicht‘ [wörtlich ‚kann sein‘]: die Möglichkeit geht dem Nominativ ‚rien‘, ‚nichts‘, voraus, der im Extremfall den Wert eines Ersatzes für die Positivität annimmt.
Das ist ein Punkt [des Graphen], und ein Punkt, das ist alles.
Hier ist der Platz des einzigen Zugs, in der Leere aufbewahrt, die auf die Erwartung des Begehrens antworten kann.
Das ist etwas ganz anderes als die Frage, insofern sie mit ‚Nichts vielleicht?‘ artikuliert wird, etwas anderes als das ‚vielleicht?‘, auf der Ebene des in Frage gestellten Anspruchs ‚Was will ich?‘, wobei zum Anderen gesprochen wird, etwas anderes als das ‚vielleicht?‘, das hier in eine Position gelangt, die homolog zu derjenigen ist, durch die auf der Ebene der Botschaft die eventuelle Antwort konstituiert wurde.
‚Vielleicht nichts‘, das ist die erste Formulierung der Botschaft. ‚Vielleicht: nichts‘, das kann eine Antwort sein. Aber ist das die Antwort auf die Frage ‚Nichts vielleicht?‘? Gerade nicht! Hier nimmt das Aussagepartikel ‚nichts‘ (rien) – insofern es die Möglichkeit aufwirft, dass es nicht zu einem Beschluss kommt (non lieu de conclure143), als vorgängig gegenüber der Seite der Existenz, gegenüber der Potenz des Seins –, hier, auf der Ebene der Frage, nimmt dieses Aussagepartikel seinen vollen Wert an, den einer Substanzialisierung des Nichts (néant) der Frage selbst.
Der Satz ‚Nichts vielleicht?‘ öffnet sich für die Wahrscheinlichkeit, dass nichts ihn als Frage determiniert, dass überhaupt nichts determiniert ist, dass es möglich bleibt, dass nichts sicher ist, dass es möglich ist, dass man – außer im Rückgriff auf die unendliche Vorgängigkeit des Kafka’schen Prozesses – nicht zu einem Beschluss kommen kann, dass es ein reines Fortbestehen der Frage gibt, mit der Unmöglichkeit des Schließens. Einzig die Eventualität des Realen gestattet es, etwas zu bestimmen, und die Benennung des Nichts (néant) des reinen Fortbestehens der Frage, damit haben wir es auf der Ebene der Frage selbst zu tun.
‚Vielleicht nichts‘ könnte auf der Ebene der Botschaft eine Antwort sein, aber die Botschaft war gerade keine Frage. ‚Nichts vielleicht?‘ liefert auf der Ebene der Frage nur eine Metapher, nämlich dass die Potenz des Sein jenseits liegt. Jede Eventualität ist da bereits verschwunden und ebenso jede Subjektivität. Es gibt nur Sinneffekt, unendliche Verweisung von Sinn auf Sinn, abgesehen davon, dass wir Analytiker uns durch Erfahrung daran gewöhnt haben, diese Verweisung auf zwei Ebenen zu strukturieren und dass sich hierdurch alles ändert.
Dass nämlich für uns die Metapher eine Verdichtung ist, das heißt, zwei Ketten, und dass sie, die Metapher, auf unerwartete Weise mitten in der Botschaft in Erscheinung tritt; dass sie auch mitten in der Frage zur Botschaft wird, dass die Frage ‚Familie‘ anfängt, artikuliert zu werden und dass mittendrin die Million des Millionärs auftaucht144; dass das Einbrechen der Frage in die Botschaft darin besteht, dass uns enthüllt wird, dass die Botschaft sich inmitten der Frage manifestiert; dass sie auf dem Wege zutage tritt, auf dem wir zur Wahrheit aufgerufen sind; dass vermittels unserer Frage nach der Wahrheit die Botschaft zutage tritt, ich meine in der Frage selbst und nicht in der Antwort auf die Frage.
Genau an diesem Punkt also, der für die Artikulation des Unterschiedes zwischen Äußerungsvorgang (énonciation) und Ausgesagtem (énoncé) von Wert ist, genau hier mussten wir einen Moment lang innehalten.
Wenn diese Möglichkeit des ‚nichts‘ (‚rien‘) nicht bewahrt wird, hindert uns das daran, diese Kluft zu sehen – trotz dieser Allgegenwart –, die den Ursprung für jede mögliche Artikulation bildet, die wirklich subjektiv ist, diese Kluft, die sehr genau ebenso durch den Übergang vom Zeichen zum Signifikanten verkörpert wird, wo wir das erscheinen sehen, wodurch sich in dieser Differenz das Subjekt auszeichnet.
Ist es letztlich Zeichen oder Signifikant? Zeichen ? Zeichen von was? Es ist genau das Zeichen von nichts. Der Signifikant definiert sich dadurch, bei einem anderen Signifikanten das Subjekt zu repräsentieren: unendliche Verweisung des Sinns. Und wenn das etwas bedeutet, dann deshalb, weil der Signifikant beim anderen Signifikanten diese besondere Sache bedeutet, die das Subjekt als nichts ist.
Hier ermöglicht uns unsere Erfahrung, die Notwendigkeit des Weges herauszustellen, durch den jede Realität gestützt wird, in der Struktur, die dadurch identifizierbar ist, dass sie es ist, die es uns gestattet, weiterhin unsere Erfahrung zu machen.
Der Andere antwortet also nichts, außer, dass nichts sicher ist; das hat jedoch nur eine Bedeutung, nämlich dass es etwas gibt, wovon er nichts wissen will, nämlich genau von dieser Frage.
Auf dieser Ebene ist das Unvermögen des Anderen in einem Unmöglichen verwurzelt, in dem Unmöglichen, auf dessen Weg uns bereits die Frage des Subjekts geführt hatte.
‚Nicht möglich‘ war diese Leere, wo es dazu kam, dass der einzige Zug in seinem spaltenden Wert auftauchte.
Hier sehen wir, wie dieses Unmögliche Gestalt annimmt (prend corps) und das zusammenfügt, wovon wir vorhin gesehen haben, wie es von Freud definiert wird, über die Konstituierung des Begehrens durch das ursprüngliche Verbot.
Das Unvermögen des Anderen zu antworten rührt von einer Sackgasse her, und diese Sackgasse – wir kennen sie – wird als Begrenztheit seines Wissens bezeichnet. ‚Er wusste nicht, dass er tot war‘145, dass er zu dieser Absolutheit des Anderen nur durch den Tod gelangt ist, der nicht akzeptiert, sondern erlitten wurde, durch das Begehren des Subjekts erlitten wurde.
Dies weiß das Subjekt, wenn ich so sagen kann: dass der Andere es nicht wissen darf, dass der Andere fordert (demande), nicht zu wissen.
Das ist hier der spezielle Bereich in diesen beiden nicht miteinander vermengten Forderungen (demandes), derjenigen des Subjekts und derjenigen des Anderen, nämlich dass das Begehren eben als Überschneidung dessen definiert wird, was in beiden Forderungen nicht zu sagen ist.
Nur von da aus befreien sich die Forderungen, die überall anderswo formulierbar sind, nicht jedoch im Felde des Begehrens.
Das Begehren konstituiert sich auf diese Weise zunächst als das, was seiner Natur nach dem Anderen strukturell verborgen ist. Es ist genau das dem Anderen Unmögliche, das zum Begehren des Subjekts wird. Das Begehren konstituiert sich als der Teil des Anspruchs, der dem Anderen verborgen ist.
Dieser Andere, der gerade als Anderer, als Ort des Sprechens, nichts garantiert, gewinnt hier seine erbauliche Wirkung. Er wird der Schleier, die Abdeckung, das Prinzip der Verdunkelung des Platzes des Begehrens, und eben hier wird das Objekt in Deckung gebracht.
Wenn es eine Existenz gibt, die sich zuerst konstituiert, dann ist es diese hier, und sie setzt sich an die Stelle der Existenz des Subjektes selbst, da das Subjekt, insofern es vom Anderen abhängt, gleichermaßen davon abhängig bleibt, dass auf der Seite des Anderen nichts sicher ist, außer eben, dass er etwas verbirgt, dass er etwas verdeckt, nämlich dieses Objekt, dieses Objekt, das noch ‚vielleicht nichts‘ ist, insofern es zum Objekt des Begehrens werden wird.
Das Objekt des Begehrens existiert als eben dieses Nichts, wovon der Andere nicht wissen kann, dass dies alles ist, woraus es besteht. Dieses Nichts, insofern es dem Anderen verborgen ist, gewinnt Konsistenz, es wird zur Hülle für jedes Objekt, vor dem die Frage des Subjekts innehält, insofern das Subjekt dann nur noch imaginär wird.
Die Forderung (demande) ist von der Forderung des Anderen in dem Maße befreit, wie das Subjekt das Nichtwissen des Anderen ausschließt. Es gibt jedoch zwei mögliche Formen des Ausschlusses. ‚Bezogen auf das, was Sie wissen oder was Sie nicht wissen, wasche ich meine Hände in Unschuld und handle.‘ ‚Sie wissen nur allzu gut‘ bedeutet, dass mir völlig gleichgültig ist, ob Sie wissen oder nicht wissen.
Es gibt jedoch auch die andere Form: ‚Es ist absolut notwendig, dass Sie wissen‘, und das ist der Weg, den der Neurotiker wählt, und darum ist er, wenn ich so sagen kann, von vornherein dazu bestimmt, Ihr Opfer zu sein. Für den Neurotiker ist die gute Art und Weise, das Problem dieses Feldes des Begehrens zu lösen – insofern es durch dieses zentrale Feld der Forderungen konstituiert wird, die sich nun mal überschneiden und deshalb ausgeschlossen werden müssen –, besteht sie darin, dass er findet, dass die gute Art und Weise darin besteht, dass Sie wissen. Wenn es nicht so wäre, würde er keine Psychoanalyse machen.
Was tut der Rattenmann, wenn er sich wie Theodor nachts erhebt146? Er schleppt sich in Pantoffeln zum Hausflur, um dem Gespenst seines toten Vaters die Tür zu öffnen – und um ihm was zu zeigen? Dass er gerade einen Ständer hat.147
Ist das nicht die Enthüllung eines grundlegenden Verhaltens? Der Neurotiker will, dass der Andere – mangels Können, denn es erweist sich, dass der Andere nichts kann – zumindest weiß.
Vorhin habe ich zu Ihnen über das Engagement gesprochen; im Gegensatz zu dem, was man glaubt, ist der Neurotiker jemand, der sich als Subjekt engagiert. Er verschließt sich dem doppelten Ausgang von Botschaft und Frage, er wirft sich selbst in die Waagschale, um zwischen dem ‚Nichts vielleicht?‘ und dem ‚Vielleicht nichts‘ zu entscheiden, er stellt sich gegenüber dem Anderen als real dar, das heißt als unmöglich. Das wird für Sie sicherlich deutlicher, wenn Sie wissen, wie das zustande kommt.
Es ist nicht ohne Bedeutung, dass ich heute dieses Bild des ‚Freud’schen Theodors‘ habe auftauchen lassen, mit seiner nächtlichen phantasmatischen Exhibition, denn das heißt, dass es für diese unglaubliche Umwandlung des Objekts des Begehrens in die Existenz des Subjekts durchaus ein bestimmtes Medium gibt, besser gesagt, ein bestimmtes Instrument, und dass eben dies der Phallus ist. Aber das ist für unseren nächsten Vortrag reserviert.
Heute konstatiere ich einfach, dass der Neurotiker – ob Phallus oder nicht – in dem Feld als das ankommt, was vom Realen als unmöglich spezifiziert wird.
Das ist nicht erschöpfend, denn auf die Phobie werden wir diese Definition nicht anwenden können. Wir werden das erst beim nächsten Mal tun können, aber wir können das sehr gut auf den Zwangsneurotiker anwenden. Vom Zwangsneurotiker werden Sie nichts verstehen, wenn Sie sich nicht an die Dimension erinnern, die er, der Zwangsneurotiker, verkörpert, er, insofern er zu viel ist, das ist die ihm eigene Form des Unmöglichen, und dass er, wenn er versucht, aus seiner versteckten Position des verborgenen Objekts herauszukommen, dass er dann das Objekt von nirgendwo sein muss. Von daher beim Zwangsneurotiker diese Art fast wilder Gier, derjenige zu sein, der überall ist, nämlich um gerade nirgendwo zu sein. Der Hauch von Allgegenwart, der den Zwangsneurotiker umgibt, ist gut bekannt, und wenn Sie ihn nicht ausfindig machen, werden Sie von den meisten seiner Verhaltensweisen nichts begreifen. Das Mindeste ist jedenfalls, da er nicht überall sein kann, an mehreren Orten zugleich zu sein, was auf jeden Fall heißt, dass man ihn nirgendwo fassen kann.
Die Hysterikerin hat einen anderen Modus, der natürlich derselbe ist, da er dessen Wurzel ist, auch wenn er weniger leicht, weniger unmittelbar zu verstehen ist. Auch die Hysterikerin kann sich als real im Sinne von unmöglich darstellen, wobei ihr Trick darin besteht, dass dieses Unmögliche dann Bestand haben wird, wenn der Andere sie als Zeichen akzeptiert. Die Hysterikerin stellt sich als Zeichen von etwas dar, woran der Andere glauben könnte, aber um dieses Zeichen zu bilden, ist sie höchst real, und es ist unbedingt erforderlich, dass dieses Zeichen sich dem Anderen aufnötigt und ihn markiert.
Das also ist es, wohin diese Struktur führt, diese grundlegende Dialektik, die ganz und gar darauf beruht, dass der Anderen als Garantie des Sicheren letztlich versagt. Hier wird die Realität des Begehrens eingesetzt und hier ereignet sie sich, durch Vermittlung von etwas, dessen Paradoxie wir niemals hinreichend kennzeichnen werden: durch Vermittlung der Dimension des Verborgenen, d.h. derjenigen Dimension, die wohl die widersprüchlichste ist, die der Geist konstruieren kann, sobald es um Wahrheit geht.
Was ist bei der Einführung dieses Feldes der Wahrheit natürlicher als die Position eines allwissenden Anderen? So sehr, dass der schärfste, der schneidendste Philosoph die Dimension der Wahrheit nur dadurch stützen kann, dass er annimmt, dass das, was es ihr ermöglicht, sich zu halten, die Wissenschaft desjenigen ist, der alles weiß. Und dennoch, nichts von der Realität des Menschen, nichts von dem, was er sucht, noch von dem, dem er folgt, wird auf andere Weise gestützt als durch diese Dimension des Verborgenen, insofern sie es ist, woraus sich die Garantie herleitet, dass es tatsächlich ein existierendes Objekt gibt, und insofern sie durch Reflexion diese Dimension des Verborgenen liefert. Letztlich ist einzig sie es, die diesem problematischen Anderen seine Konsistenz verleiht. Die Quelle jeden Glaubens, vor allem des Glaubens an Gott, besteht eben darin, dass wir uns genau in der Dimension bewegen, dass wir so handeln, als ob er von neun Zehnteln unserer Absichten nie etwas wüsste, obwohl das Wunder, dass er alles wissen soll, ihm insgesamt seine gesamte Subsistenz verleiht. ‚Kein Wort an die Königinmutter!“, das ist das Prinzip, von dem aus jede Konstituierung des Subjekts sich entfaltet und sich bewegt.148
[…]
Insofern am Ende der Analyse das Maß des unbewussten Begehrens in diesem Ort des Anderen, den wir als Analytiker verkörpern, noch enthalten bleibt, kann Freud am Ende seines Werkes den Kastrationskomplex als irreduzibel charakterisieren, als etwas, was vom Subjekt nicht akzeptiert werden kann.149“150
Lacan schließt damit, dass er das Themas der nächsten Sitzung ankündigt.
Paraphrase mit Ergänzungen
Frage des Subjekts und Botschaft des Anderen
Lacan erinnert an das Thema der vorangegangenen Sitzung. Es ging um das Verhältnis des Subjekts zum Anderen, insofern dieses Verhältnis auf einer Attrappe (leurre) beruht [wie die Ethologen sagen], auf einem Trugbild, auf einem Köder. Das soll jetzt auf andere Weise artikuliert werden, nicht durch dieses natürliche [von den Ethologen untersuchte] Verhältnis.
Das Feld, um das es jetzt geht, kann nicht auf das Feld des Bedürfnisses reduziert werden, das Objekt ist hier nicht das Objekt der Subsistenz [der Selbsterhaltung]. In der Beziehung zum Anderen geht es nicht um Rivalität in Bezug auf das Objekt der Subsistenz [nicht um Konkurrenz um knappe Mittel]. Vielmehr handelt es sich jetzt um das Feld der Signifikanten, und dies soll der Torus veranschaulichen [das Bild der beiden ineinander verschränkten Tori].
In diesem Feld geht es um Anwesenheit und Abwesenheit. Das Objekt ist das der „Ex-sistenz“ des Subjekts [das Subjekt konstituiert sich durch den Bezug auf ein Außen, ein Ex; das, was außen ist, „sistiert“, es verharrt im Außen].
Es dreht sich jetzt nicht mehr um die Frustration [bei der Bedürfnisbefriedigung], sondern um die Kastration und damit um die Konstituierung des begehrenden Subjekts [die Konstituierung des begehrenden Subjekts vollzieht sich demnach durch die Kastration]. In der Frustrationsbeziehung ist der Andere dominant [da er die Bedürfnisbefriedigung gewähren oder verweigern kann]. [Die Frage ist also: Welche Rolle spielt der Andere bei der Kastration?]
Dabei muss man von der Frage ausgehen, die das Subjekt an den Anderen stellt, von der Frage des Subjekts nach dem Begehren des Anderen und nach der Befriedigung dieses Begehrens.
Das Trugbild, von dem Lacan soeben gesprochen hatte, steht im Zusammenhang mit der radikalen Duplizität der Position des Subjekts, auf die er sich zu Beginn der Sitzung bezogen hatte.
Bei dieser Duplizität geht es um die Differenz, derentwegen Lacan [in den Seminaren 5 und 6] den Graphen [des Begehrens] konstruiert hatte, nämlich um die Differenz zwischen der Frage [des Subjekts] und der Botschaft [die vom Anderen kommt, hier wohl vom Anderen im Sinne des Unbewussten, das ja der Diskurs des Anderen ist].
[Die Frage des Subjekts wird im Graphen durch die Linien repräsentiert, die vom Schnittpunkt rechts unten ausgehen, A, und zu ($ ◊ a) führen, zur Formel für das Phantasma. Im Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens, den Lacan im selben Jahr schreibt, wird die Frage des Subjekts von ihm wie unten als dritte Konstruktionsstufe dargestellt und als „Que vuoi?“ bezeichnet, italienisch für „Was willst du?“; die Form der beiden Pfeillinien soll an ein Fragezeichen erinnern.]
[Im Graphen des Begehrens wird die Botschaft durch die beiden linken Schnittpunkte dargestellt, s(A) und S(Ⱥ). Die beiden rechten Schnittpunkte sind der Code. Ich habe das in der unteren Zeichnung in die endgültige Fassung des Graphen eingetragen, mit „M“ für message, „Botschaft“, „Nachricht“.151]
[Im aktuellen Zusammenhang ist die Botschaft gemeint, die durch den oberen linken Schnittpunkt gebildet wird, also durch S(Ⱥ) – dem Anderen fehlt ein Signifikant, die Frage kann nicht beantwortet werden.]
Wegen der Differenz zwischen der Frage und der Botschaft hatte er den Graphen konstruiert, sagt Lacan über sich. [In der Version von Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens ist die Pointe des Graphen demnach der Übergang von der dritten Konstruktionsstufe mit „Que vuoi?“ zur vierten Konstruktionsstufe mit dem Symbol S(Ⱥ) am Platz der Botschaft. Wenn man Frage und (unbewusste) Botschaft in die vierte Konstruktionsstufe des Graphen einträgt, ergibt sich das folgende Bild (Frage: gelb, Botschaft: grün):]
Der Graph zeigt die Kluft an, durch die das Subjekt mit der Ebene des universalen Diskurses auf doppelte Weise verbunden ist. [Unter dem „universalen Diskurs“ versteht Lacan das Sprechen aller Anderen (Eltern, Großeltern usw.).152 Im Graphen wird der universale Diskurs durch die beiden Linien des Anspruchs repräsentiert; die untere beginnt bei D (links unten) und endet bei Stimme (rechts unten), die obere beginnt in Subversion des Subjekts mit „Genießen“ (oben links) und endet mit „Kastration“ (oben rechts).]
Das Subjekt [das repräsentiert wird durch die unten rechts beginnende Pfeillinie, die über die Kreuzungspunkte A, ($◊D), S(Ⱥ) und s(A) zu I führt] ist mit der Ebene des universalen Diskurses durch vier Schnittpunkte verbunden:
– [unten rechts] A [Anderer],
– [unten links] s(A) [das vom anderen kommende Signifikat], die Bedeutung der Botschaft, die darauf beruht, dass die Signifikanten, die im Anderen angesiedelt sind [in A] [auf die untere Linie des Anspruchs] zurückkommen [diese Beziehung wird durch den Pfeil angezeigt, der von A ausgeht, anfangs schräg nach links oben zeigt und in s(A) endet],
– [oben rechts] ($◊D), das Verhältnis des Subjekts ($) zum Anspruch [D für demande], insofern hier der Trieb spezifiziert wird [die unterschiedlichen Triebarten – oral, anal – beruhen auf unterschiedlichen Verhältnissen des Subjekts zum Anspruch, nämlich darauf, ob der Anspruch vom Subjekt ausgeht (oral) oder vom Anderen (anal); vgl. hierzu diesen Blogartikel].
– [oben links] S(Ⱥ), der Signifikant des Anderen, insofern der Andere selbst vom Signifikant markiert ist, insofern er uns den Verzicht auf jede Metasprache aufnötigt [vgl. zu S(Ⱥ) diesen Blogartikel und zum Graphen insgesamt diesen Artikel].
„Nichts vielleicht?“ „Vielleicht nichts.“
Die Kluft [zwischen der Frage und der Botschaft] beruht darauf, dass an den Anderen eine Frage (demande) gestellt wird [eine Frage ist eine Forderung (demande) nach einer Antwort]. Die Frage lautet „Nichts vielleicht?“ [Rien peut-être, man könnte auch übersetzen mit „Nichts möglicherweise?“ oder wörtlich mit „Nichts kann-sein?“.]
Auf der anderen Seite der Kluft ist die Botschaft in Gestalt von „Vielleicht nichts“. [Peut-être rien, „Möglicherweise nichts“ oder wörtlich „Kann-sein nichts“. Dies Formulierung ist eine Botschaft, d.h. im Graphen an einem der beiden linken Schnittpunkte zu verorten; gemeint ist hier der Schnittpunkt oben links, S(Ⱥ), den ich weiter oben grün markiert habe.]
[In der Sitzung vom 7. März 1962 ging es um die Äußerung:
„Se pourrait-il qu’il n’y ait mamme? Pas possible … rien, peut-être.“
„Könnte es sein, dass es nicht mamme gibt? Nicht möglich – nichts, kann sein / nichts, vielleicht.“
Stattdessen heißt es jetzt:
„Rien peut-être?‘“ „Peut-être rien.“
„Nichts kann-sein? / Nichts vielleicht?“ „Kann sein nichts / vielleicht nichts.“]
[Die Hauptunterschiede sind: In der früheren Fassung gab es zwei Formen der Negation und einmal das „nichts“, jetzt gibt es keine Negation, stattdessen zweimal das „nichts“. Die Komponente „nicht möglich“, der Bezug auf das Unmögliche, ist nicht enthalten. In beiden Redeteilen geht es jetzt vermutlich um die Privation, einmal als erwartete Privation, das andere mal als Privationsbotschaft.]
[Frage und Botschaft enthalten die Komponenten „nichts“ und „vielleicht/kann-sein“ in entgegengesetzter Anordnung – die Botschaft ist die Frage in umgekehrter Form. Lacan knüpft hier an eine These aus seinem Rom-Vortrag von 1953 an, „Der Sender erhält vom Empfänger seine eigene Botschaft in umgekehrter Form“, vgl. diesen Blogartikel.]
Zwischen dieser Frage und dieser Botschaft gibt es einen beständigen Wechsel. [Das spielt möglicherweise darauf an, dass es im Graphen zwischen den Kreuzungspunkten eine Zirkulationsbeziehung gibt.]
Die Botschaft öffnet sich auf die Öffnung hin, die dadurch gebildet wird, dass das Subjekt [durch seine Frage] in das Reale eintritt.
[Der Zugang zum Realen erfolgt vom „nicht möglich“ her, hatte Lacan in der Sitzung vom 7. März 1962 gesagt. Ich nehme deshalb an, dass gemeint ist: Durch die Frage „Nichts vielleicht?“, durch den Bezug auf die mögliche Privation, tritt das Subjekt in das Reale ein, in das „nicht möglich“, das hier jedoch ausgelassen ist. Das Reale als das Unmögliche verschwindet gewissermaßen in der Kluft zwischen Privations-Frage und Privations-Botschaft.]
[Der Begriff der Möglichkeit (in Gestalt des peut-être, des „kann-sein“, des Seinkönnens) wird sowohl in der Frage als auch in der Botschaft ins Spiel gebracht: „Nichts möglicherweise?“ „Möglicherweise nichts.“ Was also ist unter Möglichkeit zu verstehen?] Das Mögliche ist nicht von der Seite der Sache her aufzufassen [etwa als Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses], sondern von der Seite des Subjekts. Lacan beruft sich hierfür auf die „zuverlässigste Ausarbeitung“ des Terminus der Möglichkeit. [Er verwendet hier das deutsche Wort „Möglichkeit“, meint also wohl einen deutschen Autor, vermutlich Heidegger.153]
Bei der Möglichkeit geht es um eine Eventualität, die durch eine Erwartung des Subjekts gebildet wird. [Auch „Erwartung“ ist ein Heidegger’scher Terminus.154 Aber stärker noch erinnert das Folgende an Sartres Das Sein und das Nichts; „die Frage“, so heißt es dort, ist „eine Variante der Erwartung: ich erwarte eine Antwort von dem befragten Sein“155; es „ist evident, dass das Nicht-Sein immer in den Grenzen einer menschlichen Erwartung erscheint“156.] Die Botschaft „Vielleicht nichts“ bzw. „Möglicherweise nichts“ bezieht sich auf eine Eventualität, und diese Eventualität wird durch die Erwartung des Subjekts gebildet [wobei diese Erwartung durch die Frage „Nichts vielleicht?“ artikuliert wird]. [Auch den Begriff der Eventualität in Verbindung mit dem Nichts findet man bei Sartre. „Und wenn ich eine Seinsenthüllung erwarte, so deshalb, weil ich gleichzeitig auf die Eventualität der Enthüllung eines Nicht-seins vorbereitet bin.“157]
Die Erwartung des Subjekts wird durch eine Situation des Begehrens konstituiert.
In der Botschaft Peut-être rien, „Vielleicht nichts“, geht die Möglichkeit [das „vielleicht“ bzw. „kann-sein“, das Seinkönnen] dem rien voraus, dem „nichts“, das Lacan hier als „Nominativ“ bezeichnet. [Damit könnte das Nomen gemeint sein, rien wäre dann als „das Nichts“ aufzufassen.]
Das „nichts“ [oder „Nichts“] kann im Extremfall den Wert eines Ersatzes für die Positivität annehmen. [Zwei Jahre später, in Seminar 11, wird Lacan sagen, dass im Falle der Magersucht das Kind das Nichts verspeist; auf der Ebene der Kastration könne das Objekt der Entwöhnung als Privation fungieren.158]
„Das ist ein Punkt, und ein Punkt, das ist alles.“
[Die Botschaft ist ein Kreuzungspunkt im Graphen, der Kreuzungspunkt oben links, S(Ⱥ).]
„Hier ist der Platz des einzigen Zugs, in der Leere aufbewahrt, die auf die Erwartung des Begehrens antworten kann.“
[Lacan zeigt bei „hier“ vermutlich auf den Graphen. Darin ist der Platz des einzigen Zugs der Endpunkt ganz unten links, der mit I(A) bezeichnet ist, symbolisches Ichideal; das I repräsentiert hierin den einzigen Zug. Die Leere, in der der einzige Zug aufbewahrt wird, ist, mit Freud, der Verlust des Liebesobjekts.]
Dies [¿ die Identifizierung mit dem einzigen Zug?] ist etwas anderes als die Frage „Nichts vielleicht?“, d.h. etwas anderes als die Frage „Was will ich?“, die an den Anderen gerichtet wird [in der Form „Was willst du?“], etwas anderes [also] als das „vielleicht“.
Das „vielleicht“ [der Frage „Nichts vielleicht?“] kommt in eine Position, die strukturähnlich ist zum „vielleicht“ [der Botschaft „Vielleicht nichts“].
„Vielleicht nichts“ ist die erste Formulierung der Botschaft. Aber ist es auch die Antwort auf die Frage „Nichts vielleicht?“ Gerade nicht. [Die Beziehung zwischen „Nichts vielleicht?“ und „Vielleicht nichts“ ist ein Verhältnis von Frage und Botschaft, nicht von Frage und Antwort; wäre die Botschaft eine Antwort, gäbe es zwischen Frage und Botschaft keine Kluft. Hier weicht Lacan von Sartre ab, der die Negation als Antwort begreift.]
Auf der Ebene der Frage, also von Rien peut-être? („Nichts kann-sein?“, „Nichts vielleicht?“) hat das Wort rien („nichts“) seinen vollen Wert, es wirft die Möglichkeit auf, dass es nicht zu einem Beschluss kommt (non-lieu de conclure) [nicht zu einem „so ist es und nicht anders“] und dass diese Möglichkeit vorgängig ist gegenüber der Existenz, gegenüber der Potenz des Seins. [In der Formulierung der Frage Rien peut-être? („Nichts kann sein?“) geht die Möglichkeit des Nichts (fragendes rien) der Möglichkeit des Seins, dem peut-être („kann sein“), voraus.] [Non-lieu ist ein juristischer Terminus, der in etwa „Einstellung des Verfahrens“ bedeutet; die juristische Metaphorik wird im nächsten Satz weiter ausgearbeitet.]
Das „nichts“ (rien) der Frage „Nichts vielleicht?“ kann substanzialisiert werden [und wird dann zu „dem Nichts“ (néant) wie in Sartres Buchtitel „Das Sein und das Nichts“]; und dies [also das Nichts] ist eine Substanzialisierung des Nichts der Frage [der Begriff des Nichts muss von der Frage des Subjekts aus rekonstruiert werden, ausgehend von Sartres erster Form des Nichts].
Die Frage „Nichts vielleicht?“öffnet sich dafür, dass es wahrscheinlich ist, dass „nichts ihn als Frage determiniert“, und damit ist gemeint, dass es möglich ist, dass man nicht zu einem Beschluss kommen kann. [Das ist eine Umschreibung der Funktionsweise des Symbols S(Ⱥ) im Graphen des Begehrens, also der Botschaft im oberen Stockwerk. Das Symbol S(Ⱥ) meint, dass es keinen Signifikanten gibt, der die Wahrheit garantiert.] Was bleibt, ist die „unendliche Vorgängigkeit des Kafka’schen Prozesses“ [also die Verweisung von Instanz zu Instanz, ohne dass es eine letzte Instanz gäbe]. Dies wäre ein Fortbestehen der Frage „mit der Unmöglichkeit des Schließens“, mit der Unmöglichkeit zu einem Beschluss zu kommen, zu einem Abschluss [zu einem endgültigen Urteil].
[An dieser Stelle ist Lacan von der Kategorie der Möglichkeit zur Kategorie der Unmöglichkeit übergegangen, auf dem Weg über die Negation der Möglichkeit. In der Sitzung vom 7. März 1962 hatte er gesagt, das Reale trete nur vom „nicht möglich“ her auf. Das wird jetzt substantiviert und präzisiert: Es gibt eine „Unmöglichkeit“, die worin besteht? Darin, die Frage des Subjekts abschließend zu beantworten.]
[Im Hintergrund steht hier vielleicht das Problem der „unendlichen Analyse“, wie Freud es genannt hat.159]
„Einzig die Eventualität des Realen gestattet es, etwas zu bestimmen“.
[Anders formuliert, einzig die Möglichkeit der Unmöglichkeit (der Unmöglichkeit, die Frage zu einem Abschluss zu bringen) erlaubt es, etwas zu „bestimmen“.]
Die Bestimmung besteht darin, dass das reine Fortbestehen der Frage benannt wird. Das Fortbestehen der Frage ist ein bestimmtes Nichts (néant), nämlich das Nichts, mit dem wir es auf der Ebene der Frage zu tun haben [also Sartres erste Form des Nichts, neben dem Nichts der Antwort und dem Nichts der Wahrheit].
[Damit zeichnet sich auch ab, warum „Vielleicht nichts“ keine „Antwort“ ist, sondern eine „Botschaft“: Weil die Frage des Subjekts damit nicht beantwortet, sondern als unbeantwortbar zurückgewiesen wird.]
„ ‚Vielleicht nichts‘ könnte auf der Ebene der Botschaft eine Antwort sein, aber die Botschaft war gerade keine Frage.“
[Ich nehme an, dass Lacan hier sagen wollte: „… aber die Botschaft war gerade keine Antwort auf die Frage“.]
Auf der Ebene der Frage haben wir das „Nichts vielleicht?“. Dieses „Nichts vielleicht?“ [„Nichts kann-sein?“, „Nichts möglicherweise?“] ist nur eine Metapher, und zwar dafür, „dass die Potenz [die Möglichkeit] des Seins jenseits ist“.
„Jede Eventualität ist hier bereits verschwunden und ebenso jede Subjektivität.“
Hier [beim anfän