Lacans Schemata
Der Graph des Begehrens oder Auf der Suche nach dem „Schreibbegehren“
Eli 5 Stone, Hearing voices, von hier
Seit ich Corinna Sigmunds inspirierendes Buch Schreibbegehren gelesen habe1, beschäftigt mich dieser Begriff. Wie funktioniert das „Schreibbegehren“? Wie lässt sich das Konzept an Lacans Theorie des Begehrens anschließen?
Vor ein paar Tagen stieß ich im Internet beim FAZ-Lesen auf einen Artikel von Ian McEwan, in dem er die Anfänge seiner schriftstellerischen Tätigkeit beschreibt. Der Text ist das Vorwort zu einer Neuausgabe seines ersten Buches, der 1975 erschienenen Kurzgeschichtensammlung First love, last rites; im Deutschen heißt es Erste Liebe – letzte Riten.2 Das Lesen dieser autobiographischen Skizze hat mich auf eine Idee gebracht.
Lacan hat seine Theorie des Begehrens im sogenannten Graphen des Begehrens zusammengefasst.3 Müsste es nicht möglich sein, die Beziehung zwischen dem Begehren im Sinne von Lacan und dem Schreiben dadurch zu erhellen, dass man McEwans autobiographische Miniatur in Lacans Schema einträgt? Wenn die beiden Stockwerke des Graphen, wie Lacan behauptet, „gleichzeitig beim geringsten Sprechakt funktionieren“4, wenn ein Diskurs, wie er sagt, nur auf der Grundlage der vom Graphen dargestellten Strukturen vollzogen werden kann5, könnte man dann nicht versuchen, auch einen Text wie McEwans Vorwort auf den Graphen zu beziehen?Das wäre ein erster schlichter Zugang zur Frage des „Schreibbegehrens“. Schlicht, insofern er alles überspringt, was Lacan über das Schreiben sagt (und schreibt); schlicht auch deshalb, weil das Vorwort als Illustrationsmaterial verwendet wird, nicht aber, um der Besonderheit von McEwans „Schreibbegehren“ auf die Spur zu kommen, und auch nicht, um Lacans Theorie des Begehrens weiterzuentwickeln. Aber es wäre immerhin ein Zugang. Auch zum Graphen. Also zugleich eine Einführung in Lacans Theorie des Begehrens.
Der folgende Versuch, Lacans Graphen des Begehrens an einem kurzen Text detailliert zu erläutern, ist eine Wiederholung. Vor drei Jahren habe ich einen solchen Versuch bereits einmal unternommen, in einem Vortrag im Psychoanalytischen Salon Berlin zu dem 55-Sekunden-Videoclip „Have you seen my glasses?“.
Das Diagramm des Graphen, das ich im Folgenden verwende, ist aus dem Aufsatz Subversion des Subjekts. Bei der Deutung beziehe ich mich überwiegend auf die Seminare 5 und 6; später von Lacan vorgenommene Umdeutungen lasse ich weitgehend außer Acht.6
Ich gebe zunächst einen groben Überblick über das Schema. Das ist ein bisschen trocken. Wen das stört, der kann diesen Teil überspringen und sich gleich dem unteren Stockwerk des Graphen und damit McEwans „Schreibbegehren“ zuwenden.
Ein erster Blick auf den Graphen
In der Sekundärliteratur wird das Diagramm als „Graph des Begehrens“ bezeichnet; Lacan verwendet diesen Ausdruck nicht, er sagt meist „mein Graph“, einmal auch „das Gramm“ (le gramme7), im Sinne von „die Schrift“ (wie in „Telegramm“).
Der Graph besteht aus Linien (aus „Kanten“, heißt es in der mathematischen Graphentheorie), die sich überschneiden, sodass Schnittpunkte entstehen („Knoten“). Bei den Linien handelt es sich um Pfeillinien, sie haben also eine Richtung; Lacan spricht von „Vektoren„8, das Diagramm hat damit die Form eines „gerichteten Graphen“, wie die Mathematiker sagen. Wie bei einem Graphen im Sinne der Mathematik interessieren einzig die Verbindungslinien und die Überkreuzungspunkte; die Länge der Linien, ihre Form und die Felder zwischen ihnen sind irrelevant. Am besten, man stellt sich vor, dass der Graph aus Fäden geknüpft ist, die beliebig dehnbar und knautschbar sind, die aber vorübergehend für didaktische Zwecke erstarrt sind, und dass dieses Gebilde wie ein Mobile im dreidimensionalen Raum aufgehängt ist.
Der Graph ist ein Graph des Subjekts – nicht des Subjekts der Erkenntnistheorie, d.h. nicht des Subjekts, das an das Objekt und die Welt angepasst ist, sondern des Subjekts, das spricht, dessen Antriebssystem durch die Sprache strukturiert ist und dessen Beziehung zu Objekten aus diesem Grunde immer problematisch ist.
In Seminar 5 wird der Graph aus einer Elementarzelle entwickelt, die von Lacan unter anderem so dargestellt wird9:
Die unten rechts beginnenende, hufeisenförmig gebogene Pfeillinie ist eine Intention, die aus dem Bedürfnis hervorgeht, das Streben nach Befriedigung des Bedürfnisses. Mit der Rede vom „Bedürfnis“ orientiert sich Lacan vermutlich an Freud, der sagt, dass man in Bezug auf den Trieb, da er eine konstante Kraft ist, nicht von „Reiz“ sprechen sollte, sondern von „Bedürfnis“10. „Intention“ meint in der philosophischen Phänomenologie das Gerichtetsein auf etwas; Lacan bezieht sich vermutlich auf Freud, der das Triebbedürfnis auf ein Triebziel bezieht, das in der Befriedigung besteht.11 Die Intention wäre demnach, im unteren Stockwerk des Graphen, das Streben nach Bedürfnisbefriedigung.
Die quer hierzu von links nach rechts verlaufende Linie repräsentiert eine Signifikantenkette, beispielsweise den Satz „Gib mir Brot!“.
Bedürfnis und Sprechen sind durch zwei Schnittpunkte miteinander verknüpft, sie stehen für zwei Formen, wie sich die Sprache in das Subjekt einprägt.
Der rechte Schnittpunkt ist mit dem Buchstaben A bezeichnet, für „Anderer“; im Graphen wird unter dem Anderen der Code einer Sprache, der Wortschatz. Die Überkreuzung der Linien an diesem Punkt meint: die Notwendigkeit, sich eines bestimmten Wortschatzes zu bedienen, führt dazu, dass sich der Wortschatz dem Subjekt einprägt, un der Weise, dass es zu einer Veränderung der Befriedigungsabsicht kommt.
Zwischen den beiden Schnittpunkten gibt es einen Kreislauf.
Am Ende der auf dem Bedürfnis beruhenden Absicht steht die Verweigerung, die Versagung, die Frustration, soll heißen: Das Streben nach Bedürfnisbefriedigung kann nur auf dem Weg über das Sprechen befriedigt werden, deshalb unterliegt diese Ausrichtung strukturell einer Frustration, d.h. einer Modifikation, bei der ein Mangel erzeugt wird.
(Man muss beachten, dass diese Elementarzelle in Seminar 5 zunächst, zur Erklärung des Witzmechanismus, anders eingeführt, wird, nämlich als Überschneidung einer Kette von Semantemen (die von links nach rechts verlaufende Linie) mit einer Kette von Phonemen (die von rechts nach links verlaufende, hufeisenförmige Linie). Die Umdeutung der hufeisenförmigen Linie erfolgt im Verlauf von Seminar 5, beginnend mit der Sitzung vom 27. November 1957. Die phonemische Kette wandert dann, vereinfacht gesagt, in das obere Stockwerk des Graphen.)
Die Grundstruktur des vollständigen Schemas habe ich in der folgenden Abbildung durch die Farbgebung hervorgehoben:
Die rote hufeisenförmige Linie, die unten rechts in $ beginnt und über die Kreuzungspunkte A, $◊D, S(Ⱥ) und s(A) bis zum Endpunkt I(A) führt, steht für das Subjekt. Lacan bezeichnet diese Linie als „Schleife der subjektiven Intention“12.
Im unteren Teil des Graphen besteht die Intention des Subjekts in der Bedürfnisbefriedigung, im oberen Teil besteht sie in einer Frage des Subjekts, in dem Versuch des Subjekts, auf die Frage nach dem Begehren des Anderen eine Antwort zu erhalten.
Die beiden von links nach rechts verlaufenden blauen Linien – die untere von „Signifikant“ bis „Stimme“, die obere von „Genießen“ bis „Kastration“ – repräsentieren diachrone Signifikantenketten, Signifikanten, die zeitlich nacheinander miteinander verbunden sind, z.B. Sätze.
Bei den Signifikantenketten geht es speziell um Forderungen. Sie werden artikuliert, um Bedürfnisse zu befriedigen (unterer Teil des Graphen) oder um die Frage zu beantworten. Diese Signifikantenketten greifen in die Intention ein und verändern sie. Der Grundgedanke ist anti-expressiv: die Subjektivität – die Intention, das Bedürfnis, die Frage – wird in bestimmten Forderungen nicht einfach ausgedrückt, sie wird durch sie nicht schlicht repräsentiert. Die Repräsentation greift in das Repräsentierte ein und verändert es, und zwar radikal.
Die Schnittpunkte – die schwarz gefärbten Kreise – zeigen an, wie das Subjekt in die Sprache eintreten kann und muss, um seine Intention, seine Frage zu artikulieren.
Die untere Etage des Graphen stellt, genetisch aufgefasst, dar, wie das Es, das Bedürfnis, von der Sprache erfasst wird, und wie dies mit der Herausbildung des Ichs, des Ideal-Ichs und des Ichideals verbunden ist. Lacan lehnt sich hier an Freuds zweite Topik an, an die Konzeption, dass sich aus dem Es durch die Einwirkung der Außenwelt das Ich und das Über-Ich ausdifferenzieren; statt vom Über-Ich spricht Freud auch vom Idealich und vom Ich-Ideal.13 In Lacans Konzeption ist es die Sprache, die als Außenwelt interveniert. Er kommentiert das untere Stockwerk so:
„Ich habe Sie bereits darauf hingewiesen, was aus dem intentionalen Prozess hervorgeht, der vom Es zum großen I führt. Was an seinem Ursprung liegt, stellt sich dar in Form der Entfaltung des Bedürfnisses, der Strebung, wie die Psychologen sagen. Das wird in meinem Schema auf der Ebene des Es dargestellt.“14
Diese Bemerkung bezieht sich auf die in der oberen Zeichnung rot gefärbte Linie. An deren Beginn muss man für dieses Zitat das durchgestrichene S, also $, durch ein einfaches S ersetzen, für das noch nicht von der Sprache geprägte Subjekt und zugleich für Es.
Das, was der Graph darstellt, ist – sagt Lacan –
„die Einschreibung des elementaren biologischen Subjekts, des Subjekts des Bedürfnisses, in die Engführungen des Anspruchs.“15
In der folgenden Abbildung betone ich mit der Färbung einen anderen Aspekt des Graphen: Er besteht aus zwei Stockwerken, die dieselbe Struktur haben.
Die untere Etage (rot) entspricht dem Bewussten, die obere Etage (blau) beherbergt das Unbewusste im Sinne des Verdrängten und damit auch das Begehren. Mit dieser Architektur orientiert Lacan sich an Freuds sogenannter erster Topik, an der Unterscheidung der drei Systeme Bewusst, Vorbewusst und Unbewusst.16 Das untere Stockwerk zeichnet die Beziehung des Subjekts zur Struktur der Umgangssprache nach. Das obere Stockwerk ist gleich gebaut. Das Schema soll zeigen: Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache. Die untere Etage zeigt das Subjekt in einem Verhältnis zur Sprache, das dadurch charakterisiert ist, dass das Subjekt weiß, was es tut, wenn es spricht (oder es zumindest zu wissen glaubt), die obere Etage stellt es in einem Verhältnis zur Sprache dar, bei dem es sich nicht selbst bezeichnen kann, wie Lacan sagt, von dem es kein Bewusstsein hat, ein Verhältnis zur Sprache, das von seinem Selbstbewusstsein abgekoppelt ist.
Welche Struktur hat die Sprache? Sie beruht auf der Beziehung zwischen der synchronen Signifikantenbatterie und der diachronen Signifikantenkette. Die Signifikantenbatterie, das ist, grob gesagt, der Wortschatz; die Signifikantenkette ist mehr oder weniger die Verknüpfung von Signifikanten zu Wörtern und Sätzen. Die Differenz von Signifikantenbatterie und Signifikantenkette entspricht einigermaßen Saussures Unterscheidung zwischen paradigmatischen (oder assoziativen) und syntagmatischen Beziehungen17; zu Lacans Signifikantenbatterie gehören jedoch nicht die Signifikate.
Im Graphen wird die Signifikantenbatterie in beiden Stockwerken durch den rechten Schnittpunkt dargestellt (in der oberen Zeichnung blau), die Signifikantenkette auf beiden Ebenen durch die Linie, die die beiden Schnittpunkte durchquert (rot).
Die Signifikantenbatterie der Umgangssprache ist also das Lexikon, das Vokabular, der Wortschatz, jedoch ohne die Signifikate; sie ist der „Signifikantenschatz“, wie Lacan sagt; in Freuds Terminologie besteht die Signifikantenbatterie aus „Wortvorstellungen“18. Wie die bewusste Ebene verfügt auch das Unbewusste über eine Signifikantenbatterie – es gibt ein Vokabular des Unbewussten.
Auf beiden Ebenen werden mithilfe der synchronen Signifikantenbatterie diachrone Signifikantenketten erzeugt, im zeitlichen Nacheinander miteinander verknüpfte Signifikanten, „Worte‘ “ und „Sätze“ im weiteren Sinne des Wortes. Im unteren Teil des Graphen sind dies im typischen Fall bestimmte Forderungen, in allgemeinerer Deutung handelt es sich um das, was Lacan den „konkreten Diskurs des Subjekts“19 nennt, insoweit er dem Bewusstsein zugänglich ist, genauer gesagt: insofern er als dem Bewusstsein zugänglich erscheint. Was die unbewussten Signifikantenketten angeht, denke man etwa an Freuds Rede von „unbewussten Gedanken“20, von „unbewussten Gedankenoperationen“21.
Die Sprache wird im Diagramm durch einen weiteren Gegensatz charakterisiert, den von Code und Mitteilung.
In der Zeichnung oben steht „C“ für den Code und „M“ für message: Mitteilung, Botschaft, Nachricht.22 Die Opposition von Code und Mitteilung übernimmt Lacan von Roman Jakobson.23 Wie die Signifikantenketten der bewussten Ebene haben auch die des Unbewussten eine Mitteilung, eine Botschaft, d.h. eine Bedeutung, einen Sinn, ein Signifikat. Die psychoanalytische Praxis zielt darauf ab, die Botschaften des Unbewussten – den Sinn der Träume, Symptome, Fehlleistungen usw. – durch Deutung ans Licht zu holen.24
Mit der Kategorie des Codes beschreibt Lacan den unteren Teil des Graphen so:
„Wir haben hier bereits das groß A des großen Anderen plaziert, in dem sich der Code befindet und der den Anspruch aufnimmt. Im Übergang von A an den Punkt, an dem die Botschaft ist, kommt das Signifikat des Anderen zustande. Danach findet sich das hier in Gang gebrachte Bedürfnis dort verwandelt wieder und wird auf den verschiedenen Ebenen verschieden bezeichnet. Wenn wir diese Linie als die der Realisierung des Subjekts nehmen, so drückt sie sich am Ende durch etwas aus, das stets mehr oder weniger einer Identifizierung, das heißt der Umgestaltung, der Verwandlung auch, dem Übergang letzten Endes des Bedürfnisses des Subjekts in den Engführungen des Anspruchs untersteht.“25
Das untere Stockwerk beschreibt die Umwandlungen der mit dem Bedürfnis verbundenen Intention, die sich dadurch vollziehen, dass die Bedürfnisbefriedigung sprachlich vermittelt ist, d.h. dass sie einem Code unterworfen wird sowie an die Bildung von Botschaften, von Signifikaten gebunden ist.
Wichtig sind die Beziehungen zwischen Code und Mitteilung: Der Code bezieht sich auf die Mitteilung und die Mitteilung auf den Code; auch diesen Gedanken übernimmt Lacan von Jakobson. Jakobsons Beispiel für die Bezugnahme des Codes auf die Mitteilung sind Personalpronomen; das Wort „ich“ ist ein Element des Codes, es bedeutet den Sprecher der Mitteilung, in der das Wort „ich“ verwendet wird, insofern bezieht sich dieses Code-Element auf die Mitteilung. Eine Mitteilung, die sich auf den Code bezieht, ist, Jakobson zufolge, eine Worterläuterung, das wäre also beispielsweise der Satz „Mit dem Wort ‚writer‘ bezeichnet man im Englischen einen Schriftsteller“.
In der Abbildung oben habe ich die Linien, die darstellen, dass sich der Code auf die Miteilung bezieht, blau gefärbt, und grün diejenigen Linien, die anzeigen, dass umgekehrt die Mitteilung auf den Code einwirkt. Die blau und die grün gefärbten Linien stellen zusammen kreisförmige Beziehungen dar, Rückkoppelungen: der Code wirkt auf die Mitteilung und die Mitteilung auf den Code. Was den oberen Teil des Graphen angeht, stellt Lacan sich vor, dass sich das Verdrängte im Kreise dreht.26 Möglicherweise spielt er damit auf die Wiederholung an, auf den Wiederholungszwang – das Unbewusste, sagt Lacan, stellt sich im Wesentlichen als eine Artikulation dar, die beständig wiederholt wird.27
(Die von M nach C führenden Linien haben also eine Doppelfunktion, sie sind das mittlere Segment einer Signifikantenkette und sie repräsentieren die Bezugnahme der Mitteilung auf den Code.)
Normalerweise sind die beiden Systeme getrennt – das untere bewusste und das obere unbewusste. Es gibt jedoch einen Punkt, an dem die unbewusste Botschaft in die bewusste Botschaft eingreift und sie in Unordnung bringt, dies ist das Symptom. Im Graphen wird es durch den Schnittpunkt unten links repräsentiert, s(A).28
Das erste Segment der Linie des Subjekts, die Linie der Intentionalität, bezieht sich auf das Reale, das von Lacan im Zusammenhang des Graphen als „Bedürfnis“ bezeichnet wird (ähnlich wie im Aufsatz Die Bedeutung des Phallus von 1958). Die Linie der Intentionalität ist mit dem Realen nicht identisch, darauf verweist das Symbol $ am Beginn der Intentionalitätslinie: das Subjekt, S, ist von Signifikanten „durchgestrichen“, es ist von der Sprache geprägt, das Streben nach Bedürfnisbefriedigung ist immer schon durch die Sprache vermittelt. Vielleicht kann man es so formulieren: Die Beziehung zwischen der Intentionalitätslinie und der Signifikantenlinie im unteren Stockwerk des Graphen spielt an auf das Verhältnis zwischen dem Realen und dem Symbolischen.
In das Schema, das sich durch die Beziehung zwischen der Linie des Subjekts, den Signifikantenlinien und den Rückkoppelungen zwischen Code und Botschaft ergibt, trägt Lacan dann noch das Imaginäre ein. Das Imaginäre interveniert auf beiden Ebenen, auf der des bewussten Sprechens und auf der des Unbewussten.
In der obenstehenden Abbildung habe ich die imaginäre Beziehung gelb gefärbt. Im unteren Teil des Graphen besteht das Imaginäre in der Beziehung zwischen dem Bild des anderen (i(a)) und dem Ich (m), oben zeigt es seine Wirksamkeit darin, dass das Begehren (d) sich auf das Phantasma ($◊a) bezieht.
Das Imaginäre interveniert in die Bezugnahme des Codes auf die Botschaft. Im unteren Stockwerk greift es in die von A ausgehende, unten herum zu s(A) führende (blaue) Linie ein, oben interveniert es in die von ($◊D) ausgehende (blaue) Linie, die unten herum zu S(Ⱥ) führt.
Die imaginäre Beziehung muss nicht in jedem Fall in die symbolische Beziehung eingreifen.
Im Graphen wird dieser imaginäre Kurzschluss in beiden Etagen durch die Pfeilverbindung dargestellt, die ich in der Abbildung oben grün gefärbt habe, sie geht von unten rechts aus, biegt bald nach links ab, ohne den Weg über die Signifikantenlinie zu nehmen, und führt direkt zum Endpunkt. Unten ist das die Linie $ – i(a) – m – I(A), oben die Linie A – d – ($◊a) – s(A).
Insgesamt stellt der Graph also die Beziehung zwischen dem Symbolischen, dem Realen (annäherungsweise) und dem Imaginären dar. Das Symbolische interveniert in die auf dem Bedürfnis beruhende Intention, strukturiert sie um und erzeugt schließlich eine neue Form der Intention: das Subjekt wird sich selbst zum Rätsel und artikuliert im Sprechen die Frage, was es denn wirklich will. Hierbei kommt es zu Rückkoppelungen zwischen Code und Botschaft, in die wiederum das Imaginäre eingreift.
Das untere Stockwerk
Nun also zu McEwan und der Frage des Schreibbegehrens.
Bedürfnis, Intentionalität
Auf der unteren Etage des Graphen wird das folgende Drama in Szene gesetzt. Das Bedürfnis muss, um befriedigt zu werden, durch das Raster der Sprache hindurchgehen. Es muss in Ansprüchen – in symbolisch artikulierten Forderungen – geäußert werden. Damit diese Ansprüche verstanden werden können, müssen sie in einem vorgegebenen Code ausgedrückt werden. Dies führt zur Umwandlung des Bedürfnisses, und diese Bedürfnismodifikation wird letztlich durch eine Identifizierung befestigt. Die obere Etage handelt dann davon, wie das Subjekt sich bemüht, sich in seiner Originalität wiederzufinden, jenseits dessen, was der Anspruch von den Bedürfnissen hat erstarren lassen. In diesem Jenseits ist das Begehren verortet.29 Der Graph repräsentiert so die Spaltung zwischen der Identifizierung (als dem Produkt des unteren Stockwerks, I(A)) unten links) und dem Begehren (das im oberen Stockwerk des Graphen zirkuliert).
In dieses Schema also soll McEwans „Schreibbegehren“ eingetragen werden. Da noch nicht klar ist, worin die Beziehung zwischen dem Schreiben und dem Begehren im Lacanschen Sinne des Wortes eigentlich besteht, muss ich den Ausdruck „Begehren“ in „Schreibbegehren“ suspendieren und durch einen diffusen Terminus ersetzen, der theoretisch nicht allzuviel präjudiziert. Statt vom „Schreibbegehren“ werde ich vom „Schreibwunsch“ sprechen. (Den Leser muss ich bitten, auf dem Wort „Wunsch“ nicht herumzuhacken – bei der Klärung von Begriffen ist man immer genötigt, sich unbestimmter Oberbegriffe zu bedienen, die vage ein bestimmtes Feld umreißen. Keineswegs ist der Wunsch im Sinne von Freud gemeint. Wer mag, kann „Schreibwunsch“ ersetzen, durch einen Terminus, bei dem er sich wohler fühlt, etwa „Schreibabsicht“, „Schreibintention“, „Schreibdrang“, „Schreibimpuls“, „Schreibjieper“ oder was auch immer. Besser nicht „Schreibverlangen“, das liegt zu dicht bei „Anspruch“ und „Begehren“.) Die Frage lässt sich dann so umformulieren: Worin besteht das Verhältnis zwischen McEwans Schreibwunsch und dem Begehren à la Lacan?
Und das heißt im ersten Schritt: Welches Bedürfnis liegt McEwans Schreibwunsch zugrunde?
Dieses Bedürfnis – wenn es denn eins gibt – wäre im unteren Stockwerk der hufeisenförmigen Linie zuzuordnen, die unten rechts beginnt, also am Punkt $, die am Schnittpunkt A nach schräg links oben abzweigt und dann über s(A) zu I(A) führt. Am Punkt A würde dieses Bedürfnis auf den Code der Sprache treffen, auf den Wortschatz, und hierdurch ein erstes Mal modifiziert werden. Am Punkt s(A) würde es mit Bedeutungen versehen werden und so ein zweites Mal überformt werden. Auf der Achse m – i(a) würde es durch die imaginäre Beziehung des Ichs zum anderen abermals umgewandelt werden. Im Punkt I(A) käme es zur symbolischen Identifizierung – zur Bildung des Ichideals – und damit zu einer weiteren Modifizierung der Antriebsstruktur. Am Anfang dieser Linie steht im Graphen das Symbol $ – ausgestrichenes S (S barré) für das von der Sprache geprägte und deshalb ausgesperrte Subjekt (sujet barré), für das Subjekt, insofern es von dem ausgesperrt ist, was „das Unbewusste“ genannt wird, dem Sitz des Begehrens. Das soll daran erinnern, dass das Bedürfnis diese Stationen immer schon durchlaufen hat, dass es immer schon von der Sprache geprägt ist, dass die Annahme eines Subjekts als Träger eines vorsprachlichen Bedürfnisses also eine mythische Konstruktion ist.
Von welchem (sprachlich vermittelten) Bedürfnis also wird McEwan zum Schreiben gedrängt?
Ich vermag es nicht zu sagen. McEwans autobiographische Skizze gibt keine Hinweise darauf. Und es wäre absurd, den berüchtigten Bedürfnis- und Motivationskatalogen ein weiteres Bedürfnis hinzuzufügen, etwa ein Sprechbedürfnis, das dann zum Schreibbedürfnis mutiert. Um trotz dieses stotternden Anfangs den Graphen auf den Weg zu bringen, behaupte ich dogmatisch: Dem Schreibwunsch von Ian McEwan liegt auch ein körperliches Bedürfnis zugrunde, sein Schreibwunsch stützt sich auf einen im Organismus verankerten Drang. Das ist zumindest nicht völlig unplausibel. Durch diese Notlösung gleich zu Beginn meiner Reise durch den Graphen ist immerhin eine Frage entstanden (und das ist bei der Applikation eines Schemas ja nicht das Schlechteste): Welche körperliche Strebung könnte einem Schreibwunsch zugrunde liegen?
Dieser körperliche Drang, so es ihn gibt, ist durch die Sprache vielfach überformt – wo wäre das offenkundiger als bei einem „Schreibbedürfnis“.
Bewusster Anspruch
McEwan beginnt sein Vorwort so:
„Im Jahr 1970, mit zweiundzwanzig, zog ich nach Norwich und mietete ein hübsches kleines Zimmer am Stadtrand. Eigentlich war ich für einen Master-Studiengang in Englisch an der University of East Anglia hergekommen, aber mehr als alles andere wollte ich schreiben. (…) Der Umzug nach Norwich war die erste wichtige Entscheidung in meinem Leben, bei der ich mich nicht vom Vorbild oder Ratschlag anderer hatte leiten lassen.“
Um es in Lacans Terminologie zu übersetzen: McEwan bringt sich zwei „Ansprüche“ in Erinnerung – zwei demandes, zwei symbolisch artikulierte Forderungen: ‚Ich will in Norwich studieren, im Master-Studiengang Englisch‘ und ‚ich will schreiben‘.30 Diese beiden Ansprüche laufen auf einen hinaus, denn der Master-Studiengang Englisch ist, wie man aus dem englischen Wikipedia-Artikel zu McEwan erfährt, ein Studiengang in Creative Writing.
Dieser Schreibanspruch, diese Schreibforderung, antwortet auf den „Ratschlag“ von anderen, d.h. auf andere Ansprüche.Im Graphen werden die bewussten Forderungen von der unteren Querlinie repräsentiert, von der Linie, die von „Signifikant“ nach „Stimme“ führt. Dies ist die Linie der bewussten Signifikantenkette.
Das hypothetische Bedürfnis (die mit $ beginnende Linie) wird durch einen Schreibanspruch artikuliert (die mit „Signifikant“ beginnende Linie), durch die Forderung „Ich will schreiben“.
Anderer, A
McEwan kann seinen Schreibanspruch nicht nur an sich selber richten. Er muss ihn kommunizieren, er muss darüber mit seinen Eltern sprechen, mit den Instanzen, von denen er ein Stipendium erhält, mit der Universitätsverwaltung, mit den Dozenten. Um den Schreibanspruch für sie verständlich zu machen – verständlich in dem elementaren Sinne, dass sie verstehen, was er meint, auch wenn sie seine Forderung vielleicht nicht akzeptieren –, um ihn verständlich zu machen, muss er sich eines Wortschatzes bedienen, den er mit seinen Gesprächspartnern teilt und den er fertig vorfindet. In seinem Fall ist dies vor allem das Vokabular der englischen Sprache. Es ist differentiell organisiert, „I“ unterscheidet sich von „you“, „write“ von „speak“, „short story“ von „novel“, „publish“ von „perish“ usw.
Schriftsteller haben in der Regel ein besonderes Geschick im Umgang mit den Differenzen des Vokabulars, mit den Selektionen auf der paradigmatischen Achse. Manche von ihnen, wie Solschenizyn, verschreiben sich der Aufgabe, den Reichtum des Signifikantenschatzes zu hüten, andere, wie Joyce oder Arno Schmidt, ihn überdies zu vermehren.
Der Wortschatz – der „Schatz der Signifikanten“, wie Lacan sagt – wird im Graphen durch den unteren rechten Kreuzungspunkt repräsentiert. Er ist mit dem Symbol „A“ gekennzeichnet, für Autre, „Anderer“; die Großschreibung verweist darauf, dass es um das Symbolische geht. Der Wortschatz ist in dem Sinne ein „Anderer“, als das Subjekt genötigt ist, seinen Anspruch in einem vorgegebenen Vokabular zu artikulieren und sich an das anzupassen, was in seiner Muttersprache sagbar ist.
Der „Andere“ ist am Schnittpunkt der Bedürfnislinie und der Signifikantenlinie verortet. Was heißen soll: Der Wortschatz greift in die Bedürfnisstruktur ein, er verändert die Struktur der Strebungen.
Der Andere ist für Lacan zugleich der Adressat, an den der Anspruch sich wendet. Allerdings nicht als konkrete Person, sondern als impliziter Adressat: als Bezugspunkt des Sprechens, sofern das Subjekt mit dem, was es sagt, die Dimension der Wahrheit ins Spiel bringt – etwa durch eine Lüge. Lacan nennt dies den Anderen als Ort des Sprechens. Die Wahrheitsdimension schwingt in jedem Sprechen mit, sie kann aber auch explizit gemacht werden; wenn man vor gestelzter Ausdrucksweise nicht zurückschreckt, hört sich das beispielsweise so an: „Ich will schreiben, das ist mein aufrichtiger Wunsch.“ Wie könnte eine solche Explikation bei McEwan gelautet haben? Vielleicht einfach „really“ oder „honestly“: „I really want to write.“ „I want so write, honestly.“ Dass die Wahrheitsdimension, die mit dem Sprechen unabschüttelbar verbunden ist – der Geltungsanspruch, wie Habermas es nennt –, sich an einen abstrakten Anderen jenseits des konkreten Gesprächspartners wendet, ist in manchen Schwurformeln erkennbar: „beim Grabe meiner Mutter“, „bei Gott“, „so wahr mir Gott helfe“, „beim Barte des Propheten“ usw. Man verspricht etwas „hoch und heilig“ – der Andere, auf den man sich damit bezieht, ist das Heilige.
Ausgehend von einem hypothetischen sprachlich überformten Bedürfnis artikuliert McEwan einen Schreibanspruch. Er ist hierfür genötigt, sich eines vorgegebenen Vokabulars zu bedienen, wodurch seine Antriebsstruktur modifiziert wird, und einen Wahrheitsanspruch zu erheben, der sich an eine Instanz wendet, die unabhängig ist vom konkreten Gegenüber.
Signifikat des Anderen (s(A))
„Nach dem Bachelor-Abschluss sollte für mich ein neues Leben anfangen. Ich sah mich als hauptberuflichen Schriftsteller.“
Der zwangzigjährige McEwan hat die unterschiedlichen Ansprüche um eine Zielvorstellung herum organisiert, die des hauptberuflichen Schriftstellers. Mit ihr verleiht er den Ansprüchen einen Sinn.
Lacan betont, dass die Sinngebung nachträglich erfolgt.
McEwan ist mit allen möglichen Ansprüchen befasst, die sich oftmals widersprechen; das gilt sowohl für diejenigen Ansprüche, die andere an ihn richten, als auch für Forderungen, mit denen er sich selbst an andere wendet. Irgendwann wird ihm klar, dass er ein hauptberuflicher Schriftsteller werden will. Zum Wortschatz der englischen Sprache gehört der Terminus „full-time commited writer“. McEwan greift den Terminus auf, bezieht ihn auf die Serie der heterogenen Ansprüche und verleiht ihnen dadurch einen bestimmten Sinn: sie haben sich auf jemanden bezogen, der dazu bestimmt ist, ein hauptberuflicher Schriftsteller zu werden. Insofern kann man sagen: Der Sinn kommt vom Anderen, s(A). Der Sinn dessen, was er sagen will, wird durch das Sprachsystem modelliert.
Das Symbol s(A) bezeichnet den zweiten Knotenpunkt im unteren Stockwerk des Graphen. Dieser Punkt entsteht durch die Überschneidung der Bedürfnis- oder Intentionalitätslinie mit der Linie des Anspruchs. Damit soll gesagt werden: Das Signifikat greift in das Bedürfnis ein. Das Ziel, ein hauptberuflicher Schriftsteller zu werden, modifiziert die Antriebsstruktur.
Polsterstich
Lacan nennt den Vorgang, durch den ein Signifikant rückwirkend eine Reihe von Signifikanten reorganisiert und ihnen einen Sinn verleiht, point de capiton, „Polsterstich“ oder „Stepppunkt“.
Im Graphen des Begehrens wird der Polsterstich durch die Überkeuzung zweier Linien dargestellt, der Linie des Bedürfnisses und der Linie des Anspruchs (in der Abbildung oben gelb markiert). Die rückwirkende Funktion bestimmter Signifikanten bei der Sinnerzeugung wird durch das Pfeilsegment angezeigt, das von A ausgeht, schräg nach links oben führt und im Knotenpunkt s(A) endet, das also vom Code (A) zur Mitteilung (s(A)) führt. Mithilfe eines aus dem Wortschatz des Englischen (A) stammenden Terminus, full-time commited writer, wird dem Wirrwarr der Ansprüche nachträglich ein Sinn verliehen (s(A)).
Ich (m) und Ideal-Ich (i(a))
McEwan schreibt über sein damaliges Selbstbild:
„Zuweilen sah ich mich als wilden Mann, als fauviste, der sich gegen den bürgerlichen Scheidungsroman auflehnte, über den alle Welt jammerte. Vierzig Jahre nach Erscheinen dieses kleinen Erzählungsbandes sehe ich das naturgemäß anders. Selbstverständlich hatte die englische Literatur 1970 sehr viel mehr zu bieten als nur den sogenannten Hampsteader Scheidungsroman.“
Der junge McEwan begriff sich als Fauvisten, als Anhänger der Wildheit, und als Mitglied einer Gruppe von Gleichgesinnten, nach dem Vorbild der Maler des Fauvismus. Dabei hatte er eine Reihe von anderen Autoren scharf im Auge, die Verfasser der Hampsteader Scheidungsromane.
Dies ist die imaginäre Ebene seiner Beziehung zum Schreiben, das Verhältnis zwischen dem imaginären anderen (mit kleinem a) und dem Ich. Im Graphen des Begehrens entspricht dieser Beziehung die von rechts nach links verlaufende Achse m ← i(a) im unteren Stockwerk des Graphen. Den Ort des (negativ) idealisierten anderen nehmen die Verfasser der Hampstead-Romane ein: i(a), für image de l’autre, Bild des anderen, und zugleich für moi idéal, Ideal-Ich. In der Position des Ichs findet man die Identifizierung als Wildheitsfan (m, für moi, Ich). Der literarische Wilde grenzt sich, als der wahre Literat, vom literarischen Spießer ab und verkennt dabei, dass er ihn nicht nur hasst, sondern auch liebt, dass er auf diesen Lieblingsgegner angewiesen ist – als Rivale, als (negiertes) Ideal-Ich –, dass er ihm als Spiegelbild dient, durch das es ihm erst möglich ist, ein guter Wilder zu sein, einer, der die literarische Leistung erbringt, auf die es wahrhaft ankommt. Man könnte diese Art der Beziehung als „imaginäre Gegenidentifizierung“ bezeichnen.
Verbindung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen (A → i(a) → m → s(A))
Die symbolische Beziehung zum Anderen und die imaginäre Beziehung zwischen dem Ich und dem Idealich greifen ineinander ein.
Wie jeder weiß, ist es für die Konstituierung eines soliden sozialen Gegensatzes entscheidend, einen Terminus für den Gegner zu haben und einen weiteren Terminus für die eigene Seite und beide Ausdrücke beständig zu wiederholen, Poliker beispielsweise sprechen fortwährend von „Extremisten“ oder „Terroristen“, sich selbst bezeichnen sie mit Ausdrücken wie „der Westen“ oder „die Völkergemeinschaft“. Bei einer literarischen Gegnerschaft ist das nicht anders, auch sie ist auf Signifikantenoppositionen angewiesen. Im Falle von McEwan ist dies der Gegensatz von „Hampstead divorce novel“ und „fauviste“. Gäbe es überhaupt „den“ Hampsteader Scheidungsroman (für ein breites Spektrum von Autoren und Werken), wenn der Ausdruck „Hampsteader Scheidungsroman“ nicht zur Verfügung stünde? Im Graphen des Begehrens wird diese Verbindung zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären durch den Pfeil dargestellt, der vom Schnittpunkt unten rechts ausgeht, A, und nach unten zum Bild des anderen führt, i(a). Die Rivalitätsfunktion der Hampsteader Scheidungsromane am Platz i(a) stützt sich auf Elemente des Codes, auf die Signifikanten „Hamstead divorce novels“ und „fauviste“.
Das Ergebnis der imaginären Beziehung, das wilde Ich (m), interveniert in die vom Anderen kommende Bedeutung (s(A)): Ein hauptberuflicher Schriftsteller zu sein, das heißt: schreiben wie ein Wilder. Im Graphen wird dies in der unteren imaginären Linie durch das Segment repräsentiert, das von m nach s(A) führt. Das Signifikat, ein hauptberuflicher Schriftsteller zu sein, entsteht durch die Überlagerung des Symbolischen (des Terminus „hauptberuflicher Schriftsteller“) und des Imaginären (des Bildes des fauvistischen Ichs).
Im Jahre 2015, beim Schreiben des neuen Vorworts, ist diese imaginäre Konstellation für McEwan zerfallen. Jetzt kann er schreiben:
„Im Übrigen ist Scheidung ein ergiebiges Thema und Hampstead ein vollkommen zulässiger Schauplatz.“
Ichideal (I(A))
Die Pointe von Lacans Ich-Theorie besteht darin, dass das Ich (moi) nicht nur durch die imaginäre Beziehung zum Bild des anderen bzw. zum Ideal-Ich (moi idéal) konstituiert wird, sondern zugleich durch die symbolische Beziehung zum Ichideal (idéal du moi). Das Ichideal ist diejenige Instanz, für die das Ich als liebenswert erscheinen will, es entsteht durch die Identifizierung mit dem Anderen, mit dem Adressaten des Anspruchs, mit dem Adressaten, der spricht und der dem Subjekt insofern als allmächtig erscheint, als er den Anspruch erfüllen oder zurückweisen kann. Diese Identifizierung vollzieht sich durch die Übernahme einer „Insignie“.31
Worin besteht für McEwan das Ichideal? Über seine erste Geschichte, „Gespräch mit einem Schrankmenschen“, schreibt er:
„Der Erzähler der Geschichte war ein Mann, der nicht erwachsen werden wollte – eine merkwürdige Wahl, glaubte ich doch in diesem Jahr, endlich erwachsen geworden zu sein. Der Umzug nach Norwich war die erste wichtige Entscheidung in meinem Leben, bei der ich mich nicht vom Vorbild oder Ratschlag anderer hatte leiten lassen.“
Der ideale Bezugspunkt, von dem aus er sich beurteilt und für den er als liebenswert erscheinen möchte, das Ichideal also, scheint für ihn „der Erwachsene“ zu sein. Man denke daran, dass ein lebhaftes Kind von den Eltern oft zärtlich als „Wildfang“ bezeichnet wird (oder bezeichnet wurde, ich habe das lange nicht gehört). Ein Wilder möchte er, so vermute ich, für die Augen „des Erwachsenen“ sein.
Die Identifizierung vollzieht sich durch die Übernahme eines bestimmten Merkmals des Anderen, einer „Insignie“. Worin besteht sie? Die folgenden Bemerkungen geben vielleicht einen Hinweis:
„Am Ende der ersten Woche [in Norwich], nachdem sämtliche Formalitäten erledigt waren, setzte ich mich eines Abends an den kleinen Tisch neben meinem Bett und nahm mir vor, die ganze Nacht durchzuarbeiten, bis ich eine Kurzgeschichte fertig hätte. (…) Ich arbeitete in die Nacht hinein, erfüllt von einem romantischen Bild meiner selbst: ein Schriftsteller, der, getrieben von einer zwingenden Idee, heldenhaft der Morgendämmerung entgegenschreibt, während die Stadt im Tiefschlaf liegt.“
Nachtarbeit – das könnte das Element sein, das McEwan aus dem Verhalten eines Anderen herausgebrochen hat, aus dem Verhalten „des Erwachsenen“, und das er in das Merkmal der Nachtarbeit verwandelt hat, in die Insignie, durch deren Übernahme sich die symbolische Identifizierung vollzieht. Ist doch aus der Perspektive des kleinen Kindes der Erwachsene nicht zuletzt derjenige, der seine Allmacht dadurch bekundet, dass er dem Kind das Schlafgesetz aufzwingt – ihn ins Bett schickt –, der selbst aber beliebig lang aufbleiben darf.
Die „Insignie“ ist ein „einzelner Zug“, wie Lacan später sagen wird32, eine narzisstisch besetzte „kleine Differenz“33. Das könnte in diesem Fall der Gegensatz von Tag und Nacht sein, als von Sprache und Kultur binär kodierte Opposition von Anwesenheit und Abwesenheit – hier: des Sonnenlichts.34
Im Graphen des Begehrens wird dieses Element durch das Symbol I(A) repräsentiert, links unten, am Ende der rechts unten von $ ausgehenden Linie der Intentionalität; der Buchstabe I kann als Einzelstrich gelesen werden, als trait unaire, als „einzelner Zug“, als absolute Differenz.
Das Ichideal ist am Ende der Bedürfnislinie verortet, und das soll heißen: Das Ichideal besteht nicht nur aus Signifikanten, es ist zugleich eine Modifikation der Antriebsstruktur. Im Falle der Nachtarbeit ist das besonders einleuchtend. Falls sie tatsächlich auf der Bildung des Ichideals beruht, würde das ja heißen: Das Ichideal greift in den Schlafrhythmus ein, in die genetisch verankerte innere Uhr.
Das obere Stockwerk
Jenseits der Fixierung des Bedürfnisses durch den Schreibanspruch, jenseits des vom Anderen kommenden Sinns, ein hauptberuflicher Schriftsteller zu werden, jenseits der Rivalität mit dem Hampsteader Scheidungsroman, jenseits des Ichideals des nachtarbeitenden Erwachsenen – jenseits dieser Formation versucht das Subjekt, seine Originalität wiederzufinden. Was bin ich? Was will ich? Was ist mein Begehren? Diese Frage ist bewusst; um sie sich zu beantworten, gehen manche zur Psychoanalytikerin.
Que vuoi?
Die Verbindung zwischen dem Schreiben und dem Begehren im Sinne von Lacan zeigt sich im Zusammenhang zwischen dem Schreiben und dem Begehren des Anderen.
„Als ‚Erste Liebe, letzte Riten‘ herauskam, hatte es bei der Kritik (nicht aber bei den Buchkäufern) einen gewissen Erfolg. Doch auch die wohlwollenden Rezensenten äußerten sich schockiert: Was für ein Ungeheuer war da aufgetaucht? Manchmal waren gute und schlechte Rezensionen kaum voneinander zu unterscheiden, denn beide Seiten strichen genüsslich die vielen Obszönitäten und barocken Perversionen heraus.“
McEwan beschreibt hier, wie er auf die Sperre zwischen Signifikant und Signifikat stößt. Als Signifikantenketten sind die angeblich wohlwollenden Rezensionen durchaus lesbar, aber was ist ihr Signifikat? Ist die Zustimmung aufrichtig gemeint? Was bedeutet es, wenn diese Rezensenten die obszönen und perversen Aspekte der Geschichten so stark betonen? Wie kann man da eine zustimmende von einer ablehnenden Rezension unterscheiden? Will der Rezensent, der ihn rühmt, ihn letztlich vernichten? Was will der Rezensent wirklich? Lacans Formel für die Frage des Subjekts nach dem wahrhaften Begehren des Anderen jenseits der Mehrdeutigkeit der artikulierten Absichten ist „Que vuoi?“, italienisch für: Was willst du? Was ist die Botschaft des Anderen?
Im Graphen entspricht dieser Frage die Linie, die vom Schnittpunkt A ausgeht, nach oben führt und über ($◊D) oben herum zu S(Ⱥ) und zu ($◊a) führt. Lacan betont, dass die Gestalt dieser Linie an ein Fragezeichen erinnert (S(Ⱥ) und ($◊a) sind die beiden Antworten auf diese Frage). Auch diese Linie steht also für eine Signifikantenkette, jedoch für ein Sprechen zweiter Ordnung, für ein Sprechen über das Sprechen: sie repräsentiert die Frage des Subjekts nach einer versteckten Bedeutung und damit die Frage nach einem Begehren, das sich im Sprechen manifestiert, das aber unverständlich ist.35
Das Begehren ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum (hätte Marx gesagt36), es ist, wenn man den Ausdruck verwenden darf, „intersubjektiv“ verfasst – von der Beziehung zum Begehren auf der Seite des Anderen ist das Begehren des Subjekts nicht zu lösen. Hätte der Andere kein Begehren, gäbe es auch kein Begehren auf der Seite des Subjekts. „Das Begehren ist das Begehren des Anderen“, ist Lacans Formel für diese Verwicklung (vgl. diesen Blogartikel). Damit bezieht er sich nicht primär darauf, dass man begehrt, vom Anderen begehrt zu werden, sondern darauf, dass man „als Anderer“ begehrt. Das sogenannte eigene Begehren, das sind die Wünsche der Eltern, Großeltern, Urgroßeltern. Die typische Form, in der sich ein Subjekt die Frage nach dem eigenen Begehren stellt, ist deshalb die Frage nach dem Begehren auf der Seite des Anderen, in einer Psychoanalyse: nach dem Begehren des Analytikers. (Das gibt dem Begehren seine Asymmetrie, und aus diesem Grunde ist es nicht „intersubjektiv“ verfasst, nicht reziprok.)
Der Zusammenhang zwischen dem Begehren im Sinne von Lacan und dem Schreiben ist deshalb untrennbar verwickelt in die Frage nach dem Begehren des Anderen, hier also in die Frage nach dem Begehren des Anderen – des Lesers – in Bezug auf das Schreiben des Subjekts, jenseits des artikulierten Urteils des Anderen, jenseits des Anspruchs.
Von Lacan kann man also lernen, dass die Frage nach dem Begehren des Anderen der Weg ist, um das sogenannte eigene Begehren zu erkunden. Er entnimmt den (italienischen) Satz „Que vuoi?“ einem (französischen) Roman von Jacques Cazotte, Der verliebte Teufel; darin ist es der Andere (der Teufel), der dem Subjekt (dem Ich-Erzähler) diese Frage stellt.37 Die Frage des Subjekts nach dem Begehren des Anderen hat hier die Form der Frage des Anderen nach dem Begehren des Subjekts.
Bezogen auf McEwan würde das heißen: Wenn die Reaktionen einiger Rezensenten ihn so beunruhigen, dass er sich fragt, was sich dahinter verbirgt, dass er sich also die Frage nach ihrem Begehren stellt, dann ist er damit auf dem Weg, um zu erkunden, was er selbst eigentlich begehrt – jenseits des Ichideals, in der Begrifflichkeit der Soziologen: jenseits der verinnerlichten Normen. Und er ist damit konfrontiert, dass sein eigenes Begehren durch das Begehren auf der Seite des Anderen konstituiert wird.
Begehren (d)
Und wo ist das Begehren des Subjekts im Graphen zu verorten, diejenige Größe also, die mich – im Hinblick auf das „Schreibbegehren“ – am meisten interessiert? Das Begehren ist vermittels des Anspruchs zugänglich, der symbolisch artikulierten Forderung. Einen Hinweis auf die mögliche Verklammerung von Anspruch und Begehren gibt die folgende Passage:
„Die [erste] Geschichte [die er in Norwich schrieb] hieß Gespräch mit einem Schrankmenschen und war eine von mehreren, die in diesem Jahr entstanden und in mein erstes Buch Eingang fanden, den Erzählband Erste Liebe, letzte Riten von 1975. Der Erzähler der Geschichte war ein Mann, der nicht erwachsen werden wollte – eine merkwürdige Wahl, glaubte ich doch in diesem Jahr, endlich erwachsen geworden zu sein.“
Die Ansprüche, in Norwich zu studieren und zu schreiben, wurden von McEwan damals pädagogisch kodiert, durch die Differenz nicht-erwachsen/erwachsen. Das Nicht-Erwachsensein bestand für ihn darin, sich den Ansprüchen anderer zu unterwerfen, ein Erwachsener hingegen zeichnete sich in seinen Augen dadurch aus, dass er selbstständig seine Entscheidungen trifft. Der Wechsel von Anspruch zu Anspruch ist, mit Lacan gesprochen, eine Metonymie; die Triebkraft der Metonymiebildung ist für ihn das Begehren. Das, was Lacan als „Metonymie des Begehrens“ bezeichnet, ist die Metonymie der Ansprüche, unter dem Aspekt betrachtet, dass in ihnen das Begehren zittert. Mit dem Übergang vom Fremdanspruch zum Eigenanspruch wird eine Metonymie vollzogen. Also kann man fragen, wie sich hier das Begehren zeigen könnte.
Die erste Geschichte, die McEwan zu Papier bringt, handelt von einem Mann, der nicht erwachsen werden will. Das war, wie er im Rückblick schreibt, eine „merkwürdige Wahl“, da er selbst ja gerade erwachsen werden wollte. In der Rätselhaftigkeit dieser Wahl zeigt sich, dass die Verdrängung wirksam ist und dass der Wechsel vom Fremdanspruch zum Eigenanspruch durch etwas bestimmt wird, das im Anspruch auf Erwachsensein nicht artikuliert werden kann: durch das Begehren.
„Ich lernte [nach dem Umzug nach Norwich] zahlreiche neue Freunde kennen, darunter meine künftige erste Frau, las begeistert die amerikanische Literatur der Stunde, unternahm Wanderungen an der Küste von North Norfolk, hatte einmal auf dem Lande halluzinogene Drogen ausprobiert und nicht schlecht gestaunt – und dennoch, wann immer ich mich zum Schreiben hinsetzte, ergriffen die wildesten, dunkelsten Impulse von mir Besitz. Inzest unter Geschwistern, Transvestismus, eine Ratte, die ein junges Liebespaar drangsaliert, Schauspieler, die während der Probe Sex haben, Kinder, die eine Katze braten, Kindsmissbrauch und Mord, ein Mann, der einen Penis in einem Glas aufbewahrt und durch esoterische Geometrie seine Frau verschwinden lässt – so finster diese Geschichten sein mochten, schienen sie mir auch etwas Komisches zu haben.“
Hier kommen weitere Ansprüche ins Spiel. Er liest begeistert die amerikanische Literatur; die Ansprüche, die damit verbunden sind, werden nicht explizit artikuliert, sie dürften ungefähr so gelautet haben: „So wie X oder Y will auch ich schreiben.“ Man könnte dies den „Schreibanspruch“ nennen. Und dann gibt es sicherlich Ansprüche, die er von seinen neuen Freunden übernimmt, Vorstellungen, wie man zu leben hat.
Das entscheidende Element der zitierten Stelle ist das Wort „dennoch“, yet. Auch dieser Ausdruck verweist auf die Wirksamkeit von etwas Verdrängtem, auch er indiziert den Gegensatz zwischen dem Schreibanspruch und dem Begehren. Wenn er sich zum Schreiben hinsetzt, ereignet sich etwas anderes als das, was er sich vorgenommen hatte, was er „beansprucht“ hatte. „Dunkelste Impulse“ ergreifen von ihm Besitz. In Lacans Terminologie ist dies das Begehren.
Im Graphen des Begehrens wird das Begehren durch das kleine d für désir repräsentiert, im oberen Stockwerk rechts.
Phantasma ($◊a)
Dass es um das Begehren geht, zeigt sich im Wuchern der Phantasien. Nur durch den Bezug auf das Phantasma hat das Subjekt die Möglichkeit, sich als Begehren zu verorten.
Im Graphen wird dieser Zusammenhang dadurch angezeigt, dass das Begehren sich auf ($◊a) bezieht, auf die Formel für das Phantasma.38
Insofern gibt es eine Ähnlichkeit zwischen dem Begehren und dem Ich. So wie es das Ich (m) erst dadurch gibt, dass es sich auf das Bild des anderen (i(a)) bezieht, existiert das Begehren (d) erst durch den Bezug auf bestimmte Phantasievorstellungen ($◊a). Diese Phantasien fixieren und regulieren und aktivieren das Begehren; ohne sie würde das Begehren verlöschen.
Im Graphen wird die Beziehung zwischen dem Ich (m) und dem Ideal-Ich (i(a)) deshalb analog zur Beziehung zwischen dem Phantasma ($◊a) und dem Begehren (d) dargestellt. Was für den Fauvisten die Hampsteader Scheidungsromane, sind für die dunkelsten Impulse die Phantasien vom Geschwisterinzest.
Das Begehren und das bewusste Phantasma
Die Verbindung zwischen dem Begehren und dem Phantasma ist teils bewusst, teils unbewusst. Im Graphen wird die Verbindung zwischen dem Begehren und dem Phantasma deshalb auf zwei unterschiedliche Kreisläufe bezogen, der eine repräsentiert das bewusst kontrollierte Sprechen, der andere das Unbewusste. Der bewusste Kreislauf, von mir blau gefärbt, beginnt in A (Anderer), geht von hier aus nach oben, zweigt bei d nach links ab, führt zu ($◊a) und von dort hinunter zu s(A) und schließlich von dort aus zurück zu A. Der unbewusste Kreislauf beginnt am Anfang der oberen Signifikantenlinie (bei „Genießen“) und durchläuft dann die Stationen S(Ⱥ) (Signifikant eines Mangels im Anderen), ($◊D) (Code des Unbewussten) und d und führt über ($◊a) zurück zu S(Ⱥ).39 Das Begehren ist ein unbestimmter Punkt in diesen beiden Kreisläufen, auf der Höhe der von mir lila gefärbten Linie (lila für die Interferenz der beiden Kreisläufe).40
Eine Besonderheit von McEwan besteht darin, dass er einen so leichten Zugang zu seinen Phantasmen hat, wobei diese Verbindung an den Akt des Schreibens gebunden zu sein scheint oder durch ihn unterstützt wird.
In der Zeichnung oben wird der Zusammenhang zwischen dem Begehren und dem Phantasma, bezogen auf das Geschichtenschreiben von McEwan, durch die gelb gefärbten Beziehungen repräsentiert: der obere Kreislauf des bewussten Sprechens, der von der imaginären Beziehung des Begehrens zum Phantasma erfasst ist.
Bei den erzählten Phantasmen stützt sich das Sprechen auf den Code (A), wird von der imaginären Beziehung des Begehrens (d) zum Phantasma erfasst ($◊a), erzeugt es codegestützte Bedeutungen (s(A)) und führt zu einer Veränderung des Code (A); man denke etwa den Begriff „Lolitakomplex“, ein Element des Codes, das auf einen Roman zurückgeht, in dem eine bestimmte sexuelle Phantasie elaboriert wird.
Das Begehren im Kreislauf des Unbewussten
Die bewussten Phantasievorstellungen ermöglichen einen relativ einfachen Zugang zum Begehren. Für die Psychoanalyse sind die unbewussten Phantasmen interessanter, da sie es sind, die die Symptome bestimmen. Gibt der Text von McEwan einen Hinweis auf das unbewusste Begehren in seiner Beziehung zu unbewussten Phantasmen? Möglicherweise in dieser Passage, die ich bereits zitiert habe.
„Doch auch die wohlwollenden Rezensenten äußerten sich schockiert: Was für ein Ungeheuer war da aufgetaucht? Manchmal waren gute und schlechte Rezensionen kaum voneinander zu unterscheiden, denn beide Seiten strichen genüsslich die vielen Obszönitäten und barocken Perversionen heraus.“
Dass manche Kritiker die obszönen und perversen Seiten von McEwans Geschichten betonen, hat Züge einer Abwehr. Die Abwehr verweist auf ein unbewusstes Begehren. Vielleicht funktioniert sie so: Das Phantasma hat immer perverse Züge.41 Wenn man McEwans Geschichten liest, werden die eigenen perversen Phantasmen aktiviert, die bewussten, aber auch die unbewussten. Das an die unbewussten Phantasmen gebundene Begehren wird möglicherweise dadurch abgewehrt, dass man mit dem Finger auf McEwan zeigt: Er ist ein bisschen pervers (und nicht ich). Also ein Projektionsmechanismus, der dadurch erleichtert wird, dass die Phantasien von McEwan tatsächlich ein bisschen pervers sind (was allerdings nicht anders zu erwarten ist).
Im Graphen wäre das Begehren, das sich hier möglicherweise durch Abwehr kundtut, den Verbindungen zuzuordnen, die ich oben gelb gefärbt habe: dem Kreislauf des Unbewussten, wie er von der imaginären Beziehung des Begehrens auf das Phantasma erfasst wird.
Es gäbe also eine Interferenz zwischen dem bewussten „Schreibbegehren“ und dem unbewussten „Lesebegehren“.
Das bereits gezeigte Diagramm mit den beiden Kreisläufen, der eine rot, der andere blau gefärbt, ließe sich dann so deuten, dass McEwans bewusste Phantasien (der blaue Kreislauf) die unbewussten Phantasien von uns Lesern aktivieren (durch die lilafarbene Interferenzlinie) und dadurch unseren unbewussten Kreislauf auf Touren bringen.
Code des Unbewussten ($◊D)
Gibt es Hinweise auf das Unbewusste auf der Seite von McEwan?
Ich zitiere die zuletzt wiedergegebene Passage noch einmal und schiebe einen von mir zuvor ausgelassenen Satz ein:
„Am Ende der ersten Woche, nachdem sämtliche Formalitäten erledigt waren, setzte ich mich eines Abends an den kleinen Tisch neben meinem Bett und nahm mir vor, die ganze Nacht durchzuarbeiten, bis ich eine Kurzgeschichte fertig hätte. Notizen hatte ich keine, nur Fetzen, eine verschwommene Vorstellung davon, was für eine Geschichte das sein sollte. (…) Um sechs war ich fertig.“
McEwan stellte sich eine Schreibaufgabe und erfüllt sie – wo soll man das in das Schema eintragen? Auch hier geht es wieder um einen Anspruch: um eine Forderung, die der werdende Schriftsteller an sich selber richtet: „Ich werde die ganze Nacht durcharbeiten, solange, bis ich eine Geschichte fertig habe.“ Man kann sie also im unteren Teil des Graphen der von „Signifikant“ nach „Stimme“ führenden Signifikantenlinie zuordnen.
Dieser Anspruch hat eine spezielle Konnotation: es geht darum, eine großartige Leistung zu erbringen, eine Leistung, die unbedingt erfüllt werden muss, nachdem die anderen Pflichten ordentlich erledigt worden sind, und die dann auch tatsächlich pünktlich erbracht wird. Noch 45 Jahre später kann McEwan sich erinnern, dass er die Nacht durchgearbeitet hat und dass er um sechs Uhr früh damit fertig war. Diese Züge erinnern an Freuds Beschreibung des „Analcharakters“, und darin an das Merkmal der Ordentlichkeit, wozu auch die Gewissenhaftigkeit bei der Pflichterfüllung gehört.42
Natürlich rechtfertigt dieses Detail es nicht, dem Schriftsteller einen bestimmten Charakter zuzuschreiben. Die Auskünfte über sein Ordnungsverhalten sind zu spärlich, sie erlauben es nicht einmal, von Ordentlichkeit als einem seiner Charakterzüge zu sprechen. Vor allem aber fehlt jede Information über das „Zurückhalten“ – etwa über ein langes Aufschieben des Schreibens – und damit über die beiden anderen, von Freud für wesentlicher gehaltenen Merkmale dieses Charakters: Sparsamkeit und Eigensinn.
Der zarte Hinweis auf ordentliche & pünktliche Pflichterfüllung soll mir aber genügen, um dogmatisch eine Sublimierung analerotischer Triebregungen zu vermuten (der Autor möge es mir verzeihen) – for the sake of the argument, was in diesem Falle heißt: um Verbindungen zwischen dem Schreiben und dem Graphen des Begehrens herzustellen zu können.
Lacan stellt einen bestimmten Aspekt des Triebs in den Vordergrund: den Anspruch, durch den die Triebbefriedigung vermittelt ist, d.h. die symbolische Beziehung zum Anderen, von dem das Subjekt zum Zwecke der Triebbefriedigung etwas fordert (oral) oder der vom Subjekt fordert, die Triebbefriedigung auf eine bestimmte Weise zu einem bestimmten Zeitpunkt vollziehen (anal). Damit knüpft Lacan an Freud an, der von der „Sprache der ältesten, oralen Triebregungen“ spricht und der diese Sprache als Artikulation von Forderungen auffasst: „‚Das will ich essen oder will es ausspucken‘, oder in weitergehender Übertragung: ‚Das will ich in mich einführen oder das aus mir ausschließen.‘ Also: ‚Es soll in mir oder außer mir sein.‘“43 Auch terminologisch kann Lacan sich auf Freud stützen, der den Ausdruck „Triebanspruch“ tatsächlich verwendet.44
Diese Ansprüche sind im Funktionszusammenhang der Bedürfnisbefriedigung entstanden, haben sich davon jedoch gelöst und sind verdrängt worden. Sie bilden jetzt gewissermaßen den Wortschatz des Unbewussten und funktionieren unabhängig vom Bezug auf Bedürfnisbefriedigung.45 Im Falle der Symptombildung oder der Sublimierung oder der Reaktionsbildung sind solche Ansprüche unbewusst wirksam; im Graphen werden sie deshalb nicht der unteren, sondern der oberen Etage zugeordnet. Für sie steht im Schnittpunkt oben rechts das große D (für demande, Anspruch).
Das große D gehört zur Formel $◊D. Hierin meint das durchgestrichene S (S barré), also das Symbol $, das ausgesperrte Subjekt (sujet barré) bzw. das Subjekt im Fading, im Verschwinden. Die Raute, ◊, steht bei in den Seminaren 5 und 6, in denen der Graph eingeführt wird, für das sogenannte Schema L, vereinfacht gesagt, für die Beziehung des Subjekts zum Anderen; später steht die Raute auch für „Schnitt“ (vgl. den Blogartikel „Lacans Formel für den Trieb im Unbewussten: $◊D“).
Insgesamt ist der Ausdruck $◊D die Formel für den Code des Unbewussten, so heißt es in den Seminaren 5 und 6. Der Code des Unbewussten ist dadurch charakterisiert, dass das von der Sprache geprägte Subjekt ($) orale, anale und andere Forderungen (D) verwendet, um sich damit auf den Anderen zu beziehen (◊). Es kann diese Ansprüche befolgen oder sich ihnen widersetzen (so wie es beispielsweise den Kot zurückhalten kann, wenn es ihn hergeben soll). Das Subjekt wird von diesen Ansprüchen zugleich repräsentiert und nicht repräsentiert – insofern es diese Ansprüche artikuliert, ist es ausgesperrt, entfremdet; das Subjekt ist jenseits des Anspruchs.
Die Forderung „Ich werde die Nacht durcharbeiten, bis die Geschichte fertig ist“ wäre im Graphen also doppelt einzutragen. Als bewusste Forderung entspricht sie im unteren Stockwerk der von „Signifikant“ nach „Stimme“ führenden Linie. Soweit in ihr unbewusste Triebansprüche mitschwingen, etwa die Forderung nach Kot-Emission zu einem bestimmten Zeitpunkt, gehört sie zum Schnittpunkt oben rechts und dort zum Symbol D in der Formel für den Code des Unbewussten, $◊D.
Ab dem Aufsatz Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht (geschrieben 1960) bezeichnet Lacan den Ausdruck $◊D als Formel für den Trieb, anders gesagt: der Trieb ist im Unbewussten durch die mit ihm verbundenen Ansprüche repräsentiert.46
Dem Anderen in der unteren Etage (Schnittpunkt A) entspricht in der oberen der Trieb (Schnittpunkt $◊D), soll heißen: Der Trieb ist durch das Verhältnis des Subjekts zum Anspruch strukturiert (und nicht primär durch das Objekt) und insofern ist der Andere als Sprachsystem und als Adressat in den Trieb verwickelt.
Später – im Aufsatz Subversion des Subjekts (geschrieben 1962) – erklärt Lacan den Begriff des Codes für problematisch, da er eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat suggeriert, wodurch eines der entscheidenden Merkmale des Signifikanten getilgt wird, seine Mehrdeutigkeit. Stattdessen spricht er nun vom Signifikantenschatz (analog zum Wortschatz).47
Unbewusster Liebesanspruch
Ich kehre zurück zur Deutung des Graphen in den Seminaren 5 und 6 und damit zur Interpretation der Formel $◊D als Code des Unbewussten. Dieser Code dient dazu, unbewusst einen Anspruch zu artikulieren, eine Forderung, die sich an den Anderen richtet. Dieser unbewusste Anspruch ist ein Liebesanspruch, d.h. die Forderung an den Anderen, von ihm geliebt zu werden, von ihm anerkannt zu werden – die verdrängte Forderung des Ödipuskomplexes. Das ist nichts anderes, sagt Lacan, als der Anspruch auf die Anwesenheit des Anderen, umgangssprachlich formuliert: Liebe ist der Wunsch, dass der Andere „ganz für einen da ist“. Da der Andere seine Liebe gewähren oder versagen kann, gilt er dem Subjekt auf der unbewussten Ebene als allmächtig. Der an den allmächtigen Anderen gerichtete Liebesanspruch ist entscheidend für das Funktionieren des Unbewussten – er ist die Hauptquelle für die Triebunterdrückung (wie Freud es formuliert) und damit für die Entstehung des Begehrens.
Im Graphen des Begehrens wird der unbewusste Liebesanspruch durch die obere von links nach rechts verlaufende Querlinie repräsentiert, also durch die Pfeillinie, die von „Genießen“ nach „Kastration“ führt (vgl. diesen Blogartikel).
Die unbewussten oralen oder analen Ansprüche (D in $◊D) sind das Vokabular, mit dem dieser Liebesanspruch formuliert wird, der Liebesanspruch kann gewissermaßen in einem oralen oder in einem analen Dialekt artikuliert werden (vgl. diesen Blogartikel).
Gibt es in McEwans Bericht über die Entstehung von First love, first rites Hinweise auf einen unbewussten Liebesanspruch?
Man liest hier:
„Bevor ich diese Gedanken niederschrieb, nahm ich ‚Erste Liebe, letzte Riten‘ aus meinem Regal und las die Titelgeschichte. Das Exemplar gehörte einmal meinen Eltern, es enthält meine Widmung an sie vom 24. April 1975. (Sie waren sehr stolz und ein wenig entsetzt.)
Man erfährt außerdem:
„Die schwangere Ratte, die hinter einer Fußleiste herumscharrt, war frei erfunden, aber das schöne, unnahbare Teenager-Mädchen, ihr jüngerer Bruder, die vor der Trennung stehenden Eltern, das kleine Fischerdorf und das dem Untergang geweihte Aalfang-Unternehmen waren alle für kurze Zeit Teil meines Lebens gewesen.“
Während McEwan die Geschichten schreibt, stehen seine Eltern kurz vor der Trennung. Er schenkt ihnen ein Exemplar des veröffentlichten Buches und trägt darin eine Widmung ein. Die Eltern sind sehr stolz auf ihn – und ein wenig entsetzt. Anders gesagt, ihre Reaktion ist ambivalent. Die Ambivalenz ist charakteristisch für den Liebesanspruch, er ist nicht nur Anspruch auf Liebe, sondern auch eine Todesforderung. Kann man aus der Ambivalenz auf Seiten der Eltern auf einen unbewussten Liebesanspruch schließen, den McEwan an seinen Anderen richtete? Wohl kaum. Es fehlt eines jener winzigen überraschenden Details, die es einem ermöglichen, mit einer gewissen Plausibilität auf die Aktivität des Unbewussten zu schließen. Bedauerlicherweise muss ich die Linie des Liebesanspruchs deshalb unbesetzt lassen.
Aber angenommen, nur mal angenommen, in der Figur „eine grandiose Leistung pünktlich abliefern“ schwingt tatsächlich ein analer Anspruch mit, nun, dann kann man vielleicht behaupten, das Produkt, das auf diese Weise geliefert wird, die Erzählung und schließlich das Buch, hat auf der unbewussten Ebene die Funktion einer Liebesgabe – einer Gabe, die dazu dient, sich der Liebe des Anderen zu versichern, seiner Anwesenheit und seiner Anerkennung.
Signifikant eines Mangels im Anderen (S(Ⱥ))
Das Begehren ist das Begehren des Anderen; das Begehren des Anderen, das ist hier vor allem das Begehren der Leser und der Kritiker. Die Frage nach dem „Schreibbegehren“ ist nicht abzulösen von deren „Lesebegehren“. Aber wie weiß man, was sie begehren? Man kann sich nie sicher sein, und das heißt: in der Beziehung zum Begehren des Anderen (also zum eigenen Begehren) gibt es einen Sprung, einen Sprung über den Abgrund.
Ich wiederhole ein weiteres Mal ein Zitat:
„Der Erzähler der Geschichte war ein Mann, der nicht erwachsen werden wollte – eine merkwürdige Wahl, glaubte ich doch in diesem Jahr, endlich erwachsen geworden zu sein. Der Umzug nach Norwich war die erste wichtige Entscheidung in meinem Leben, bei der ich mich nicht vom Vorbild oder Ratschlag anderer hatte leiten lassen.“
McEwan glaubt, endlich erwachsen geworden zu sein, und Erwachsensein besteht für ihn darin, selbständig Entscheidungen zu treffen, unabhängig von anderen. Seine Entscheidung bezieht sich auf das Schreiben. Es geht ihm nicht nur darum, überhaupt zu schreiben, sondern auch darum, auf eine bestimmte Weise zu schreiben.
„Und für mich war Literatur gleichbedeutend mit Freiheit. Joyces Kampf um die Veröffentlichung von ‚Ulysses‘, der Prozess gegen ‚Lady Chatterley‘, wilde Grenzüberschreitungen wie ‚Portnoys Beschwerden‘ von Philip Roth und Burroughs’ ‚Naked Lunch‘: das alles sagte mir, wer Bücher schreibt, nimmt den Leser an die Hand, führt ihn zum Abgrund – und springt. Es ging darum, eine Grenze zu finden und sie dann zu überschreiten.“
Die Entscheidung führt zum Sprung in oder über den Abgrund. Das erinnert an Kierkegaards Rede vom „Sprung als der Entscheidung schlechthin“48 und an seine Charakterisierung der Angst als dem „Schwindel der Freiheit“49 („Schwindel“ im Sinne von Vertigo, wie die Mediziner sagen, es geht um das mit der Freiheit verbundene Schwindelgefühl). Die freie Entscheidung für eine bestimmte Art des Schreibens ist insofern ein Sprung in oder über den Abgrund, als es keine Garantie dafür gibt, dass die Entscheidung die richtige ist – wenn es sie gäbe, wäre es keine Entscheidung.
Der Sprung der Entscheidung ist nicht einfach der von McEwan. Wer Bücher schreibt, nimmt den Leser an die Hand, sagt er, der Autor führt den Leser zum Abgrund und springt – mit ihm. Der Sprung der Entscheidung ist ein Sprung, für den der Autor auf den Leser angewiesen ist, das Subjekt auf den Anderen. Dabei ist der Autor dem rätselhaften Begehren des Anderen – des Lesers – ausgeliefert, einem Begehren, das er nicht kalkuliert herbeiführen kann und das sich nicht durchschauen lässt. Angenommen, das Buch wird wenig gekauft: was bedeutet das? Angenommen, es wird auf dem Buchmarkt ein Erfolg: heißt das, man hat als Künstler versagt? Angenommen, es wird von den Kritikern gepriesen – wie aufrichtig ist das Lob? Angenommen, es wird verrissen – was steckt wirklich dahinter?
In Lacans Begrifflichkeit heißt das: Es gibt keinen Signifikanten, der die Wahrheit garantiert. Es gibt keine Möglichkeit, definitiv zu sagen, was der Andere will, an dessen Begehren er sich mit seinem Schreiben wendet.
Im Literaturbetrieb wird versucht, dieses Problem durch die Funktion des Kritikers zu lösen. Er soll als der Andere des Anderen fungieren, als derjenige, der dem Leser (dem ersten Anderen) sagt, was er im Felde der Literatur zu begehren hat. Die Faszination, die von manchen Kritikern ausgeht – wie Alfred Kerr oder Marcel Reich-Ranicki –, beweist, wie sehr die Funktion des „Literaturpapstes“ gewünscht wird, des literarischen Wahrheitsgaranten, des Anderen des Anderen. Aber natürlich sind die Urteile solcher Päpste fehlbar. Was bleibt, ist der Dissens der Kritiker.
Lacans Symbol für das Fehlen eines wahrheitgarantierenden Signifikanten ist die Zeichenfolge S(Ⱥ), Signifikant des ausgestrichenen Anderen, Signifikant eines Mangels im Anderen (vgl. diesen Blogartikel).
Im Graphen des Begehrens findet man dieses Symbol am Schnittpunkt oben links, am Punkt der unbewussten Botschaft. Die Botschaft des Unbewussten ist: der Sprung, die Angst machende Konfrontation mit dem rätselhaften Begehren des Anderen.
Vergleicht man die beiden linken Schnittpunkte – im unteren Stockwerk s(A), das vom Anderen kommende Signifikant, und im oberen Stockwerk S(Ⱥ), Signifikant eines Mangels im Anderen –, zeigen sie die Spannung zwischen der Botschaft „ich werde ein hauptberuflicher Schriftsteller“ und der Auslieferung an den Leser, dessen Begehren auf ewig rätselhaft bleibt.
Die Konfrontation mit dem Rätsel des Begehrens des Anderen wird abgewehrt. Hierzu dient unter anderem der unbewusste Liebesanspruch; die Liebesgabe hat die Aufgabe, das Subjekt vor dieser traumatischen Erfahrung zu schützen.
Das Begehren: jenseits und diesseits
Das Begehren wird durch das Zusammenwirken von zwei Arten von Ansprüchen erzeugt und abgewehrt: der bewussten Ansprüche, dargestellt durch die Signifikantenlinie im unteren Stockwerk des Graphen, und des unbewussten Liebesanspruchs, durch die Signifikantenlinie im oberen Stockwerk repräsentiert – der Liebesanspruch ist Abwehr gegen das Begehren, gegen die Abhängigkeit des Begehrens vom Begehren des Anderen.50
Im Graphen ist das Begehren deshalb gewissermaßen zwischen diesen beiden Ansprüchen aufgehängt oder eingequetscht; das Begehren (grün markierte Linie) liegt, wie Lacan sich ausdrückt, „jenseits“ der bewussten Ansprüche (untere gelb markierte Linie) und „diesseits“ des unbewussten Liebesanspruchs (obere gelb markierte Linie).
Objekt a
Im Phantasma bezieht sich das ausgesperrte Subjekt ($) – das im Verschwinden begriffene Subjekt, das im Symbolischen nicht repräsentierte Subjekt – auf ein Objekt, in dem sich für es das verkörpert, was es durch den Eintritt in die Welt der Sprache verloren hat; Lacan nennt es das Objekt a. Das Subjekt, das sich in seinem Begehren zu erfassen versucht, kann sich zunächst nur in dem erfassen, was es begehrt.
Worin besteht für McEwan das Objekt a im Phantasma?
Eine Andeutung findet man vielleicht in diesem Satz (ich habe ihn bereits zitiert):
„Notizen hatte ich keine, nur Fetzen“ (I had no notes, only a scrap)
Scrap, das ist ein Fragment, ein Rest, ein Stück Schrott, ein Abfall, also möglicherweise, da es zugleich um Papier geht, ein Verweis auf den Kot als Objekt a.
Einen zweiten, deutlicheren, Hinweis geben die folgenden Bemerkungen:
„Nach einer Stunde begann mich von dem Blatt Papier eine fremde Stimme anzusprechen. Ich ließ sie reden. (…) Andere fremde Stimmen, andere bizarre oder elende Gestalten tauchten in diesem Jahr vor mir auf und schlichen sich in meine Geschichten.“
McEwan lässt unbestimmt, um was für Stimmen es sich handelte, ob sie für ihn bloße Vorstellungen waren oder massive Halluzinationen. Wie auch immer, es waren „fremde Stimmen“, die ihn „ansprachen“. Das entscheidende Objekt von McEwans Phantasmen waren offenbar die fremden, die inneren und dennoch abgetrennten Stimmen, in Lacans Terminologie: die Stimme als Objekt a.
Im Graphen des Begehrens erscheint die Stimme (ab dem Aufsatz Subversion des Subjekts) am Ende der unteren Signifikantenlinie, als Rest der Operation, dass sich die Bedürfnisbefriedigung durch den Engpass hindurchzwängen muss, in Signifikanten artikuliert wird und dabei ein Signifikat erzeugt; die vom inneren Monolog abgetrennte Stimme ist gewissermaßen das Rauschen des Sprechens als Überbleibsel der Erzeugung einer Botschaft. Man kann die abgetrennte Stimme aber auch dem kleinen a in der Formel des Phantasmas zuordnen – der Wahn ist eine der Formen des Objekts a.51
Um was für eine Stimme handelt es sich? Um die des Über-Ichs? Sicherlich nicht. Um eine halluzinierte Stimme, also um ein psychotisches Symptom? Darauf gibt es keinen Hinweis. Um die Stimme, wie sie im sadomasochistischen Phantasma ins Spiel kommt? Das würde zum Inhalt einiger von McEwans Geschichten passen. Aber vielleicht hat die Stimme vor allem die Funktion, dem Schreibenden zu ermöglichen, die Angst vor dem Begehren des Anderen zu überwinden52, die Angst angesichts der Leere, die ihm antwortet, wenn er sich fragt, was es denn genau ist, was Leser und Kritiker und literarische Vorbilder von ihm wollen, die Angst also angesichts des Signifikanten des Mangels im Anderen. Dann wäre es vielleicht eine befehlende Stimme, eine Stimme, die Gehorsam und Glaube verlangt, nicht, indem sie Forderungen artikuliert, sondern als eine Stimme, die sich dem Symbolischen entzieht und die das Subjekt zwingt, zu schreiben und es ihm so ermöglicht, den Sprung zu tun.
Man kann das obere Stockwerk des Graphen so lesen, dass die Formel für das Phantasma ($◊a) gewissermaßen auf die Formeln für den Code des Unbewussten ($◊D) und für den Signifikanten des Mangels im Anderen S(Ⱥ) antwortet: das Phantasma versucht die Probleme zu lösen, die der Code des Unbewussten und der Mangel im Anderen aufwerfen. Im Code des Unbewussten ($◊D) wird das Subjekt durch die Beziehung zum Symbolischen, zum Anspruch (D), zum Verschwinden gebracht ($), sein Begehren ist jenseits der oralen, analen usw. Ansprüche. Das Subjekt ist hier eine symbolische Leerstelle: das, was in den Ansprüchen nicht artikuliert werden kann. Beim Signifikanten des Mangels im Anderen, S(Ⱥ), geht es darum, dass das Subjekt mit dem unergründlichen Begehren des Anderen konfrontiert ist, wodurch verhindert wird, dass es sich in dem, was gesagt wird, stabil verorten kann, dass es darin einen sichern Halt findet. Im Phantasma ($◊a) bezieht sich das vom Verschwinden bedrohte Subjekt ($) auf etwas, das es ihm ermöglicht, sein Begehren jenseits des Anspruchs zu stabilisieren und jenseits des Abgrunds des Begehrens des Anderen.
Das Begehren des Anderen und das Begehren des Subjekts
McEwan schreibt nicht nur Geschichten, er veröffentlicht sie auch. Er richtet seine Phantasmen an ein anonymes Publikum, an den Anderen. Er stellt sich die Frage, was dieser Andere begehrt und er gibt sich darauf die Antwort: Dein Begehren stützt sich auf solche Phantasmen. Das Begehren von McEwan ist das Begehren nach Anerkennung seines Begehrens durch das Publikum, durch den Anderen.
Kastration
Unter den Objekten von McEwans Phantasmen verdient der eingeweckte Penis besonderes Interesse, zumindest in psychoanalytischer Perspektive. Er hat seinen Auftritt in der Erzählung, die den Band eröffnet; im Englischen heißt sie Solid Geometry („Festkörper-Geometrie“, d.h. Geometrie des dreidimensionalen Raumes), der deutsche Titel ist (leider) „Geometrie der räumlichen Gebilde“. Ich habe die Geschichte nachgelesen und argumentiere ein weiteres Mal unsauber: ich wechsle von der extradiegetischen zur intradiegetischen Ebene.
Der eingelegte Penis, wunderbar erhalten, hatte einst einem Captain Nicholls gehört. Vom Urgroßvater des Erzählers war das konservierte Organ bei einer Auktion ersteigert worden; auf ein weibliches Gegenstück, das ebenfalls zum Verkauf stand – und das einst das Kleinod einer Lady Barrymore war –, hatte der Urgroßvater auf Anraten seines Freundes verzichtet. Während der Erzähler die Tagebücher seines Urgroßvaters für eine Veröffentlichung vorbereitet, steht das Glas mit dem konservierten Organ auf seinem Schreibtisch. Seit sechs Jahren ist er verheiratet und das sexuelle Begehren hat ihn verlassen. An dessen Stelle ist ein anderer Wunsch getreten: er will ein Rätsel in den Tagebüchern seines Urgroßvaters lösen, die Fundierung einer Absoluten Mathematik; sie würde es ermöglichen, Objekte zum Verschwinden zu bringen (das „Schreibbegehren“ des Anderen, seine Suche nach einer Formel, ist pure Negativität, mit Freud: „Todestrieb“). Seine Gattin allerdings ist weiterhin scharf auf ihn. Das stört ihn bei der Arbeit, er weist sie zurück, und bei dem Streit, der sich daraus ergibt, schmettert sie das Glas gegen die Wand. Aus einer wertvollen Kuriosität verwandelt sich das ausgemusterte Organ in eine schreckliche Obszönität. Voller Ekel wickelt der Erzähler den Penisabfall in ein Stück Zeitung und vergräbt ihn unter den Geranien. Anschließend bringt er, mithilfe der Absoluten Mathematik, ein weiteres Objekt zum Verschwinden: die lüsterne und hocherregte Ehefrau (und realisiert damit das über die Generationen hinweg überlieferte „Schreibbegehren“ des Anderen, das Begehren des Urgroßvaters).
Die Geschichte erzählt von der Umwandlung des imaginären Phallus in den symbolischen Phallus auf dem Weg über die Kastration. Der Penis von Captain Nicholls ist sehr, sehr haltbar – wir sind im Reich der (ironischen) Potenzphantasien. Aus der Perspektive des Captains ist der Penis abwesend, für den Erzählers ist er anwesend; es lässt sich nicht fixieren, ob er abwesend oder anwesend ist. Mit diesen Merkmalen fungiert der Einweck-Penis als imaginärer Phallus (klein phi, φ): Bild der Dauerpotenz, unentschieden zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, das, was dem Anderen die Allmacht sichert. Während der Erzähler an den Tagebüchern des Urgroßvaters arbeitet, steht die Peniskonserve auf seinem Schreibtisch: er ist dieser Penis, er ist derjenige, der dem Urgroßvater das kleine Stück liefert, was ihm, dem Urgroßvater, zu seiner Vollkommenheit fehlt, die Veröffentlichung des Tagebuchs. Im Graphen des Begehrens ist der imaginäre Phallus nicht direkt vertreten.
Als Strafe für das sexuelle Fehlverhalten des Erzählers schleudert seine Ehefrau die Peniskonserve gegen die Wand. Dies entspricht der Kastration. Die Kastration ist eine symbolische Aktion: Strafe für die Übertretung des Gesetzes, in diesem Fall für die Verletzung der ehelichen Pflichten. Sie wird vollzogen an einem imaginären Objekt, am imaginären Phallus (vgl. diesen Blogbeitrag).
Im Graphen des Begehrens ist die Kastration oben rechts verortet, am Ende der oberen Signifikantenlinie. Die Kastration besteht darin, dass der imaginären Phallus negativiert wird; Lacans Symbol für die Kastration ist deshalb „minus klein phi“ (−φ), negativierter imaginärer Phallus.53 Statt „Kastration“ könnte man hier auch (−φ) schreiben, damit fände der imaginäre Phallus im Graphen seinen Platz. Die Kastration steht am Ende der Linie des unbewussten Liebesanspruchs, sie sorgt, in Freuds Begrifflichkeit, für den Untergang des Ödipuskomplexes. (Die Kastration bildet aber auch die Grundlage des Phantasmas, man kann (–φ) also auch der Formel des Phantasmas zuordnen.)
Genießen, symbolischer Phallus (Φ)
Auf die Penis-Beerdigung folgt das Zum-Verschwinden-Bringen der Ehefrau. Sie ist sexuell äußerst erregt und verkörpert damit la jouissance sexuelle, das sexuelle Genießen, speziell das für den Erzähler unerträgliche weibliche Genießen.
Im Graphen hat das Genießen oben links seinen Platz, am Beginn der unbewussten Signifikantenlinie.
Die erregte Ehefrau wird vom Erzähler definitiv zum Verschwinden gebracht, damit verkörpert sie das Genießen, insofern es irreversibel unzugänglich ist.
Der Erzähler annihiliert die wollüstige Ehefrau nicht mithilfe von Pistole und Säge, sondern durch Anwendung einer mathematischen Formel. Sie verkörpert dasjenige Genießen, das durch das Operieren des Symbolischen unerreichbar ist.
Die Ehefrau ist nach dieser Operation verschwunden, sie fehlt danach im System des Subjekts.
Und damit ist sie der symbolische Phallus. Der symbolische Phallus ist ein im symbolischen System des Subjekt fehlender Signifikant; er bezeichnet das sexuelle Genießen, das durch das Operieren des Symbolischen irreversibel unzugänglich ist (vgl. diesen Blogartikel).
Lacans Kürzel für den symbolischen Phallus ist groß Phi, Φ. In einer früheren Version des Graphen stand dieses Symbol oben links, am Anfang der oberen Signifikantenlinie.
Zu diesem Zeitpunkt (Seminar 5 von 1957/58) begriff Lacan den symbolischen Phallus bzw. Φ als Signifikanten für das Begehren des Anderen. Das ändert er in Seminar 8; dort bestimmt er den symbolischen Phallus als im Unbewussten irreversibel fehlenden Signifikanten des Genießens, woran er von da an festhält. Das Genießen kann vom Unbewussten des Subjekts nicht symbolisiert werden; das Genießen ist etwas Reales, etwas Nicht-Symbolisierbares.
In der endgültigen Fassung des Graphen des Begehens wird „Φ“ durch „Genießen“ ersetzt. Die Pointe der Endfassung des Graphen besteht an dieser Stelle also darin, dass der Signifikant für das Genießen, Φ, gerade fehlt. Das Fehlen von Φ am Platz des Genießens besagt: Das Genießen ist etwas Reales.
Der symbolische Phallus trat in der Erzählung bereits vor der Annihilation der Ehefrau in Erscheinung. Der Erzähler wickelt den konservierten Penis in ein Stück Zeitungspapier und begräbt ihn unter den Geranien. Damit verwandelt er den imaginären Phallus in den symbolischen Phallus. Die Szene erinnert an die Giraffenepisode in Freuds Fallstudie zum Kleinen Hans (Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben) und an Lacans Kommentar hierzu in den Seminaren 4 und 16. Hans phantasiert von zwei Giraffen, einer großen und einer kleinen. Die kleine repräsentiert den imaginären Phallus, den Phallus der phallischen Mutter. Im Gespräch mit dem Vater repräsentiert Hans die kleine Giraffe durch ein Blatt Papier und bezieht sich damit auf eine Giraffenzeichnung, die der Vater angefertigt hatte. Hans zerknüllt dieses Papier (er „zerwuzelt“ es, wie er auf Wienerisch sagt), und er setzt sich darauf. In Lacans Deutung: Hans verwandelt den imaginären Phallus (die kleine Giraffe) in einen symbolischen Phallus (qua Zeichnung auf Papier), in einen Signifikanten außerhalb des Systems des Subjekts (Zerknüllen und Daraufsetzen). Dem Papier und der Giraffenzeichnung entspricht in McEwans Erzählung das Einwickeln in Zeitungspapier, dem Zerknüllen und Daraufsetzen das Begraben unter den Geranien.
Übrigens erscheint auch in der Erzählung Solid Geometry die Stimme als Objekt a. Nachdem der Erzähler seine Ehefrau mithilfe der Mathematik seines Urgroßvaters in Nichts aufgelöst hat, endet die Geschichte so:
„Dann war sie verschwunden – und nicht verschwunden. Ihre Stimme war ziemlich dünn, ‚Was ist los?‘, und alles, was blieb, war das Echo ihrer Frage über den tiefblauen Laken.“54
Das genau ist die Struktur des Phantasmas: das durch das Symbolische verschwindende Subjekt ($) (der Erzähler, der sich in den Papieren des Großvaters nicht wiederfinden kann), findet seinen Repräsentanten im Objekt a (in einem abgetrennten Stimmrest). Dieses Objekt a tritt an die Stelle des Anderen, dessen Begehren unerträglich ist (an die Stelle der lüsternen Ehefrau).
Da die Stimme bei McEwan sowohl extradiegetisch wie intradiegetisch eine Schlüsselrolle spielt, liegt die Vermutung nicht fern, dass sich sein „Schreibbegehren“ – sein mit dem Schreiben verbundenes Begehren – auf dieses Objekt stützt: auf die Stimme als Objekt a im Phantasma.
Kurz
Das „Schreibbegehren“ ist dasjenige Begehren, das von der Metonymie der Schreibansprüche eingekreist wird, das Begehren, das von ihnen angezielt und verfehlt wird. Dieses Begehren bezieht sich auf das Begehren des Anderen – der Kritiker, der Leser –, das unergründlich und bedrohlich ist. Die Phantasmen, die im Falle von McEwan an den Akt des Schreibens gebunden zu sein scheinen, dienen nicht nur dazu, das eigene Begehren zu stützen, sondern auch dazu, die Konfrontation mit dem Begehren des Anderen abzuwehren. Das Objekt dieser Phantasmen ist bei McEwan die Stimme – eine Stimme in seinem Inneren, die ihm fremd ist: die Stimme als Objekt a. Dieses Objekt steht in einer von McEwans Geschichten in Beziehung zum Phallus, genauer: zu einer Krise, durch die der imaginäre in den symbolischen Phallus umgewandelt wird.
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Anmerkungen
- Corinna Sigmund: Schreibbegehren. Begehrenssubjekte, Begehrenstexte und skripturale Lebensform. Parodos, Berlin 2014.
- Ian McEwan: Literatur als gutartige Explosion. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Oktober 2015. Die Neuausgabe mit dem neuen Vorwort erschien 2015 bei Vintage Books, New York, einem Imprint der Knopf-Gruppe, die wiederum zu Random House gehört.
- Lacan entwickelt diesen Graphen in den Seminaren 5 und 6 sowie im Aufsatz Subversion des Subjekts:
J. Lacan: Die Bildungen des Unbewussten. Seminar 5 von 1957/58. Texterstellung von Jacques-Alain Miller, übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2006.
J. Lacan: Le désir et son interprétation. Seminar 6 von 1958/59. Texterstellung von Jacques-Alain Miller. Martinique, Paris 2013. Eine Übersetzung der sieben Hamlet-Vorlesungen aus diesem Seminar findet man im Internet hier.
J. Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Ders.: Schriften II. Hg. v. Norbert Haas. Walter-Verlag, Olten und Freiburg i. Br. 1975, S. 165–204; dieser Text beruht auf einem Vortrag von 1960, wurde 1962 geschrieben und 1966 veröffentlicht (zur Datierung auf das Jahr 1962 vgl. den Hinweis von Jacques-Alain Miller in seiner Ausgabe von Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, Version Miller/Gondek, S. 602).
Die ersten veröffentlichten Versionen des Graphen findet man in:
J.-B. Pontalis: Zusammenfassende Wiedergaben der Seminare IV–VI von Jacques Lacan. Übers. von Johanna Drobnig, unter Mitarbeit von Hans Naumann und Max Kleiner. Turia und Kant, Wien, 2., durchgesehene Auflage 1999.
Das im folgenden verwendete Diagramm des Graphen ist aus Subversion des Subjekts, a.a.O., S. 193. - Seminar 6, Sitzung vom 19. November 1958; Version Miller, S. 39, meine Übersetzung.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 26. November 1958; Version Miller, S. 76.
- Bezüge auf den Graphen findet man in den von Lacan veröffentlichten Texten zuletzt in L’étourdit von 1973 (J. Lacan: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 468), in den Seminaren zum letzten Mal am 19. März 1974 (Seminar 21, Les non-dupes errent).
Hilfreiche Sekundärliteratur zum Graphen:
Marc Darmon: Essais sur la topologie lacanienne. Éditions de l’Association Freudienne, Paris 1990, chapitre V, „Le graphe“, S. 147–165.
Joël Dor: Introduction to the reading of Lacan. The unconscious structured like a language. Other Press, New York 1998 (zuerst auf Französisch 1985), darin zum Graphen: Teil III, “Desire – Language – The Unconscous”, S. 181–254.
Alfredo Eidelsztein: The graph of desire. Using the work of Jacques Lacan. Karnac, London 2009 (Vorlesung von 1993, zuerst auf Spanisch veröffentlicht 1995).
Erik Porge: Jacques Lacan, un psychanalyste. Érès, Ramonville Sainte-Ange 2004, zum Graphen: S. 88–98.
Marcel Ritter: L’inconscient a la lumière du graphe. In: J.-P. Dreyfuss, J.-M. Jadin, M. Ritter (Hg.): Quest-ce que l’inconscient ? 2, L’inconscient structuré comme un langage. Arcanes, Strasbourg 1999, S. 159–198.
Slavoj Žižek: Psychoanalyse und Philosophie des deutschen Idealismus. Turia und Kant, Wien 2008, darin: „Der Graph des Begehrens: eine politische Lektüre“, S. 233–270. - Seminar 6, Sitzung vom 8. April 1959; Version Miller, S. 345.
- Die Bezeichnung der Pfeillinien als „Vektoren“ ist irreführend, da unter Vektoren für gewöhnlich Linien verstanden werden, die nicht nur eine Richtung haben, sondern außerdem durch einen Betrag charakterisiert sind, der durch die Länge dargestellt wird. Im Graphen des Begehrens hat die Länge der Linien jedoch keine Bedeutung.
- Seminar 5, Sitzung vom 27. November 1957; Version Miller/Gondek, S. 79.
- Vgl. S. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 75–102, hier: S. 82.
- Vgl. Freud, Triebe und Triebschicksale, a.a.O., S. 85 f.
- Seminar 6, Sitzung vom 27. Mai 1959; Version Miller, S. 463.)
- Vgl. S. Freud: Das Ich und das Es (1923). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 273–330.
- Seminar 6, Sitzung vom 12. November 1958; Version Miller, S. 23, meine Übersetzung.
- Seminar 6, Sitzung vom 7. Januar 1959; Version Miller, S. 14o, meine Übersetzung.
- Vgl. S. Freud: Die Traumdeutung (1900). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 517.
- Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. von Charles Bally und Albert Sechehaye. Übersetzt von Herman Lommel. De Gruyter, Berlin 1967, Zweiter Teil, Kapitel V, „Syntagmatische und assoziative Beziehungen“, S. 147–152.
- Vgl. etwa S. Freud: Das Unbewußte (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 119–173, hier: 159–162.
- Seminar 6, Sitzung vom 27. Mai 1959; Version Miller, S. 464.
- Vgl. etwa S. Freud: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1904). In: Ders.: Gesammelte Werke. Bd. 4. Hg. v. Anna Freud u.a. Imago, London 1947, S. 213 und öfter.
- A.a.O., S. 279.
- Ich habe die Symbole M und C in die endgültige Fassung des Graphen eingetragen; eine Zeichnung mit M und C an allen vier Überschneidungsspunkten findet man nicht in den Lacan-Ausgaben. Die Zuordnung von M und C zu den vier Überkreuzungsstellen ergibt sich aus Lacans Erläuterungen in den Seminaren 5 und 6 sowie aus den veröffentlichten Zeichnungen.
In Seminar 5 wird der linke Knotenpunkt häufig mit „M“ bezeichnet, der rechte jedoch nie mit „C“, stattdessen meist mit „A“ (im Folgenden verwende ich die Unterscheidung von vier Konstruktionsstufen des Graphen aus Subversion des Subjekts). Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 105 (zweite Konstruktionsstufe = einstöckiger Graph), 111 (zweite Konstruktionsstufe), 179 (zweite Konstruktionsstufe), 224 (vierte Konstruktionsstufe = zweistöckiger Graph, im unteren Stockwerk), 235 (vierte Konstruktionsstufe, im unteren Stockwerk), 237 (vierte Konstruktionsstufe, im oberen Stockwerk), 261 (erste Konstruktionsstufe = Polsterstich), 393 (vierte Konstruktionsstufe, unten), 608 (zweite Konstruktionsstufe).
In Seminar 6 findet man die Bezeichnung der beiden Kreuzungspunkte mit M und C, dort sowohl für den elementaren, einstöckigen Graphen (vgl. Version Miller, S. 21), als auch bei der dritten Konstruktionsstufe des Graphen (dem mit dem Fragezeichen) (vgl. Version Miller, S. 163). - Vgl. Roman Jakobson: Shifters, verbal categories, and the Russian verb (1957). In: Ders.: Selected Writings, Vol. II: Word and Language. Den Haag: Mouton 1972. S. 130–147.– Dt.: Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb. In: Ders.: Form und Sinn: Sprachwissenschaftliche Betrachtungen. Fink, München 1974, S. 35–54; im Internet hier.
- Vgl. etwa das Kapitel „Der Sinn der Symptome“ in: S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 1. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 34–445, hier: S. 258–272.
- Seminar 5, Sitzung vom 14. Mai 1958; Version Miller/Gondek, S. 462.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 19. Dezember 1958; Version Miller, S. 50, 54.– Miller bezieht das auf den unteren Kreislauf zwischen den oberen beiden Schnittpunkten, Staferla auf den oberen.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 27. Mai 1959; Version Miller, S. 466.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 19. Dezember 1958; Version Miller, S. 54.
- Vgl. etwa Seminar 6, Sitzung vom 28. Januar 1959; Version Miller, S. 208.
- Lacans Terminus demande wird meist mit „Anspruch“ übersetzt, von Lacan selbst aber mit dem deutschen Wort „Forderung“ (vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 455).
- Von der Insignie (insigne) spricht Lacan zuerst in Seminar 5, in der Sitzung vom 19. März 1958 (Version Miller/Gondek, S. 349); vgl. auch Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, Schriften I, S. 220.
- Den Terminus trait unaire (als Übersetzung von Freuds „einziger Zug“, aber mit der Bedeutung „einzelner Zug“) verwendet Lacan zuerst in Seminar 9, in der Sitzung vom 6. Dezember 1961.
Die Gleichsetzung von „Insignie“ und „einziger Zug“ wird von Lacan vorgenommen in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 192 f.; in der deutschen Übersetzung (von Creusot und Haas) ist das nicht zu erkennen, da dort insigne falsch mit „Zeichen“ übersetzt wird. - Im Identifizierungsseminar sagt Lacan:
„Bezogen auf die erste Tatsache, die Verbindung des Subjekts mit diesem einzelnen Zug (trait unaire), werde ich heute – da ich denke, dass der Weg hinreichend artikuliert ist – den Endpunkt setzen, indem ich Sie daran erinnere, dass diese Tatsache, die in unserer Erfahrung so wichtig ist und die von Freud herausgestellt wurde, in Bezug auf das, was er als Narzissmus der kleinen Differenzen bezeichnet, dass dies dasselbe ist wie das, was ich die Funktion des einzelnen Zugs nenne, denn das ist nichts anderes als die Tatsache, dass ausgehend von einer kleinen Differenz – und ‚kleine Differenz‘ zu sagen, bedeutet nichts anderes als diese absolute Differenz, über die ich zu Ihnen spreche, diese Differenz, die von jedem möglichen Vergleich abgelöst ist –, dass ausgehend von dieser kleinen Differenz, insofern sie dieselbe Sache ist wie das große I, das Ichideal, dass sich ausgehend davon, ob das Subjekt als Träger dieses einzigen Zugs konstituiert ist oder nicht, die gesamte narzisstische Strebung akkommodieren kann.“ (Seminar 9, von 1961/62, Die Identifizierung, Sitzung vom 28. Februar 1962; meine Übersetzung nach Version Staferla. - Zu Tag/Nacht als elementarer Signifikantenopposition vgl. Seminar 3, Sitzung vom 15. Februar 1956; Version Miller/Thurnheim, S. 177 f.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 27. Mai 1959; Version Miller, S. 465.
- Vgl. Thesen über Feuerbach, 6. These.
- Vgl. Jacques Cazotte: Der verliebte Teufel. Aus dem Französischen von Franz Kaltenbeck. Insel, Frankfurt am Main 1982.
- Durchgestrichenes S (S barré), $: ausgesperrtes Subjekt (sujet barré), Subjekt im Fading; Raute ◊: „im Verhältnis zu“ oder „Schnitt“; a: Objekt a.
- Vgl. die Beschreibung des Kreislaufes des Unbewussten in Seminar 6, Sitzung vom 18. März 1959; Version Miller, S. 337 f.– In dieser Sitzung steht am Beginn der oberen Signifikantenlinie noch nicht „Genießen“, sondern nur das Delta, mit dem die Pfeillinie beginnt. Der Begriff „Genießen“ wird erst im Aufsatz Subversion des Subjekts hinzugefügt.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 15. April 1959; Version Miller, S. 366.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 15. April 1959; Version Miller, S. 366.
- Vgl. S. Freud: Charakter und Analerotik (1908). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 23–30.
- S. Freud: Die Verneinung (1925). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 371–377, hier: S. 374.
- S. Freud: “Die erste unserer Fragen hat gelautet: ‚Ist es möglich, einen Konflikt des Triebs mit dem Ich oder einen pathogenen Triebanspruch an das Ich durch analytische Therapie dauernd und endgültig zu erledigen?‘ Es ist wahrscheinlich zur Vermeidung von Mißverständnis nicht unnötig, näher auszuführen, was mit der Wortfügung: dauernde Erledigung eines Triebanspruchs gemeint ist.“ In: Ders.: Die endliche und die unendliche Analyse (1937). In: Ders.: Studienausgabe, Ergänzungsband. Schriften zur Behandlungstechnik. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 351–392, hier: S. 365, vgl. auch S. 366.
- Vgl. Seminar 5, Sitzung vom 30. April 1958; Version Miller/Gondek, S. 431; Sitzung vom 14. Mai 1958, S. 463. Seminar 6, Sitzung vom 27. Mai 1959; Version Miller, S. 467.
- Vgl. J. Lacan: Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht. In: Ders.: Schriften I. Hg. v. Norbert Haas. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000, S. 171–239, hier: S. 227 Fn. 31.
- Die Kritik am Codebegriff findet man in Subversion des Subjekts , a.a.O., S. 180. Zur Datierung dieses Aufsatzes auf das Jahr 1962 vgl. den Hinweis von Jacques-Alain Miller in seiner Ausgabe von Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, Version Miller/Gondek, S. 602.
- Vgl. Sören Kierkegaard (Johannes Climacus): Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Erster Teil. Gesammelte Werke, hg. v. E. Hirsch u.a. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1994, S. 96–98.
- Vgl. Sören Kierkegaard (Vigilius Haufniensis): Der Begriff Angst. Eine schlichte psychologisch-andeutende Überlegung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde. Gesammelte Werke, hg. v. E. Hirsch u.a. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1991, S. 60.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 266 f.
- Vgl. Seminar 6, Sitzungen vom 20. und vom 27. Mai 1959.
- Vgl. Seminar 10, Sitzung vom 5. Juni 1963.
- Diese Definition der Kastration wird in Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung, entwickelt, dort werden auch die Symbole φ, klein phi, für den imaginären Phallus und Φ, groß Phi, für den symbolischen Phallus eingeführt. Das Symbol für die Kastration (−φ) wird in Seminar 6 vorgestellt.
- Meine Übersetzung.