Lacans Schemata
Das optische Modell
M.C. Escher, Hand met spiegelende bol, 1935,
Lithographie, 21 x 32 cm
Im Aufsatz Anmerkung zum Bericht von Daniel Lagache (geschrieben 1960) illustriert Lacan das Verhältnis zwischen dem symbolischen Ichideal (idéal du moi) und dem imaginären Ideal-Ich (moi idéal) in drei aufeinander aufbauenden Abbildungen; die entsprechende Passage habe ich auf dieser Website übersetzt. Zur Orientierung beim Lesen der Übersetzung gebe ich hier eine Beschreibung von Abbildung 2.1
Das Modell der umgekehrten Blumenvase ist Lacans ältestes graphisches Schema; es wird von ihm über viele Jahre hinweg ausgearbeitet. Zuerst verwendet er es in Seminar 1 von 1953/54, Freuds technische Schriften. Die im Lagache-Aufsatz veröffentlichte Version ist nur eine Zwischenstation, auch später wird das Diagramm von ihm weiter modifiziert, vor allem in Seminar 10 über die Angst von 1962/63.2
Die Hauptidee
Die wichtigsten Elemente des Schemas sind
– das Auge mit der Bezeichnung $ (links oben),
– die rechte, aufrechtstehende Vase mit der Bezeichnung i′(a),
– der Punkt I (oben rechts).
$ steht für das sprechende Subjekt, das sich, aufgrund des Sprechens, durch ein Unbewusstes auszeichnet,
i′(a) ist die Abkürzung für das (imaginäre) Ideal-Ich (moi idéal),
I ist das Symbol für das (symbolische) Ichideal (idéal du moi).
Das Schema soll zeigen,
– die Beziehung des Subjekts ($) zum Ideal-Ich (i′(a] ist durch die Beziehung zum Ichideal (I) vermittelt,
– die Veränderung der Beziehung zum Ideal-Ich muss in der psychoanalytischen Kur den Weg über die Rekonstruktion des Ichideals gehen,
– das Imaginäre kann durch Sprechen verändert werden
– es gibt etwas, was auch auf diesem Wege nicht erfasst werden kann: die umgekehrte Position der realen Vase: das Reale.
In Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, wird der Grundgedanke, den das optische Modell in Szene setzt, so formuliert,
„dass ausgehend von dieser kleinen Differenz, insofern sie dieselbe Sache ist wie das große I, das Ichideal, dass sich davon ausgehend, ob das Subjekt als Träger dieses unären Zugs konstituiert ist oder nicht, die gesamte narzisstische Strebung akkommodieren kann.“3
Ausgehend vom Ichideal wird die narzisstische Strebung reorganisiert. Das Symbolische interveniert hier in das Imaginäre.
Der Apparat
Das Modell setzt insgesamt folgende Elemente zueinander in Beziehung:
– Einen sphärischen Spiegel, d.h. einen Hohlspiegel in der Form eines Kugelabschnitts4.
– Einen Planspiegel, also einen flachen oder ebenen Spiegel. Der Planspiegel steht gegenüber dem Hohlspiegel und wird in der Abbildung als „Miroir“ (Spiegel) bezeichnet, zusätzlich trägt er den Buchstaben A.
– Vor dem Hohlspiegel steht ein Kasten (C); der Mittelpunkt seiner Oberseite liegt im Zentrum des Hohlspiegels, zum Hohlspiegel hin ist er offen.
– Im Kasten ist, verkehrt herum, eine Vase angebracht.
– Auf dem Kasten steht ein Blumenstrauß, der mit a bezeichnet ist.
– Schließlich gibt es einen Beobachter; er wird durch ein Auge dargestellt, das mit dem Kürzel $ versehen ist5; seinen Platz hat der Beobachter oben am Rand des Hohlspiegels, und zwar so, dass er auf den Planspiegel schaut.
Der Raum rechts neben dem Flachspiegel hat eine doppelte Funktion. In ihn ist das eingezeichnet, was im Spiegel zu sehen ist. In manchen Kontexten steht er aber auch für den realen Raum hinter dem Spiegel – man kann um den Spiegel herumlaufen.
Die Neigung des Planspiegels ist verstellbar.
Meist wird der Planspiegel von Lacan als gewöhnlicher Spiegel beschrieben, an einer Stelle aber als Einwegspiegel, der, wenn man ihn von hinten betrachtet – im Schema von rechts –, transparent ist, so dass man durch ihn hindurch den Blumenstrauß sieht.
Das Modell inszeniert einen technischen Trick. Er beruht darauf, dass der sphärische Spiegel ein reelles Bild des verdeckten realen Gegenstandes erzeugt, also der Vase. Ein Beispiel für ein reelles Bild ist das Bild, das von einer Lochkamera erzeugt wird. Ein solches Bild sendet Lichtstrahlen aus und kann deshalb am Ort, an dem es erscheint, von einem Schirm erfasst werden. Ein reelles Bild ist ein optischer Effekt, der unter bestimmten Umständen vom Betrachter für einen realen Gegenstand gehalten wird; diese Illusion wird von Magiern ausgenutzt, wenn sie einen Tiger auf die Bühne zaubern.
Gegenbegriff zu „reelles Bild“ ist „virtuelles Bild“. Ein Beispiel für ein virtuelles Bild ist das Bild, das von einem ebenen Spiegel erzeugt wird, einem Planspiegel. Ein virtuelles Bild schickt keine Lichtstrahlen aus, es kann deshalb an dem Ort, an dem es erscheint, nicht von einem Schirm erfasst werden. Das virtuelle Bild befindet sich hinter dem Spiegel im gleichen Abstand vom Spiegel wie das Objekt (auch wenn dort eine Wand ist). Dieses Bild wird als „virtuell“ bezeichnet, weil die Strahlen vom Ort des Bildes herzukommen scheinen, obwohl von dort keine Strahlen ausgehen.
Die Zeichnung ist vor allem deshalb schwer verständlich, weil das reelle Bild der Vase nicht eingezeichnet ist.
Eine Darstellung des reellen Bildes findet man in der vorhergehenden und der folgenden Zeichnung, also in den Abbildungen 1 und 3 des Aufsatzes. In Abbildung 3 (siehe oben) trägt das reelle Bild der Vase die Bezeichnung i(a). Die Auslassung in Abbildung 2 soll darauf hinweisen, dass das reelle Bild für den Beobachter durch den Blumenstrauß verdeckt ist.
Die beiden durchgezogenen Linien, die vom Bauch der umgekehrten Vase ausgehen, auf den Hohlspiegel treffen, von dort aus bei den Stängeln des Blumenstraußes zusammenlaufen, geben den Strahlenverlauf an, durch den die Illusion des reellen Bildes erzeugt wird. Das reelle Bild entsteht an dem Punkt, an dem die Strahlen auf der Höhe der Stängel zusammentreffen. Die von den Stängeln ausgehenden Strahlen, die auf den Planspiegel fallen, zeigen an, dass das reelle Bild der Vase im Planspiegel reflektiert wird.
Die Illusion der umgekehrten Vase ist nur in einem bestimmten Bereich sichtbar, in dem Konus, der durch die Linien x-x′ und y-y′ begrenzt wird.
Der Blumenstrauß und der Planspiegel sind dem Blick des Beobachters direkt zugänglich. Der Kasten ist für ihn durch den Blumenstrauß verdeckt, die reale Vase und das reelle Bild der Vase sind für ihn unsichtbar. Auch den Hohlspiegel kann er nicht sehen, da er an dessen Rand platziert ist und von ihm wegschaut.
Reelle Bilder können von Spiegeln reflektiert werden. In Lacans optischem Modell wird das reelle Bild der umgekehrten Vase – also i(a) – vom Flachspiegel A aufgefangen. Bedingung für diese Spiegelung ist, dass der Flachspiegel im Konus x-x′ und y-y′ platziert ist.
Der Beobachter (das Auge) sieht im Flachspiegel das, was in der Abbildung rechts von diesem Spiegel eingezeichnet ist: eine aufrecht stehende Vase, die auf einem Kasten steht und Blumen enthält. Die im Spiegel erblickte Vase trägt die Bezeichnung i′(a), der im Spiegel gesehene Blumenstrauß die Bezeichnung a′; der hochgestellte Strich steht für die Virtualität dieser Entitäten, also dafür, dass es sich um Spiegelbilder handelt.
Rechts vom Flachspiegel gibt es den Punkt S,I. Er steht für den virtuellen Betrachter, d.h. für den Punkt hinter dem Spiegel, von dem aus sich das Objekt – die Vase mit den Blumen – so darstellen würde, wie es im Spiegel erscheint (abgesehen von der Spiegelverkehrtheit). Angenommen, in einem Flachspiegel wird ein Ball gespiegelt, der halb weiß, halb schwarz ist und der so gedreht ist, dass er im Spiegelbild als vollständig weiß erscheint. Der reale Betrachter, der direkt auf den Ball schaut, sieht ein teils weißes, teils schwarzes Objekt, schaut er in den Spiegel, sieht er ein rein weißes Objekt. Angenommen, der Spiegel ist eine Einwegscheibe, dann gibt es im realen Raum hinter dem Spiegel eine Linie, von der aus ein realer Betrachter durch den Spiegel hindurch den realen Ball als vollständig weißes Objekt wahrnehmen würde, je nach Entfernung in unterschiedlicher Größe. Auf dieser Linie gibt es einen Punkt, von dem aus er den Ball in derselben Größe sieht, wie der Betrachter auf der anderen Seite des Spiegels. Dieser Punkt ist der Punkt des virtuellen Beobachters.
Der Punkt des virtuellen Beobachters kann, von der Position des realen Beobachters aus gesehen, durch den Spiegel verdeckt sein oder außerhalb des Spiegels liegen. Im Modell der umgekehrten Blumenvase liegt der Punkt des virtuellen Beobachters für den realen Betrachter außerhalb des Spiegels. Hierfür steht die gestrichelte horizontale Linie zwischen $ und S: wenn der reale Beobachter (das Auge, $) sich oberhalb dieser Linie positioniert, liegt der Punkt des virtuellen Beobachters (S, I ) außerhalb des vom realen Beobachter gesehenen Spiegels.
Damit der Beobachter die Illusion der umgekehrten Blumenvase im Flachspiegel wahrnehmen kann, muss der Punkt des virtuellen Beobachters in dem Konus liegen, in dem die Illusion sichtbar ist (Linien x-x′ und y-y′). Der reale Beobachter muss sich jedoch nicht in diesem Bereich aufhalten, er kann die Illusion, mithilfe des Flachspiegels, gewissermaßen von der Seite aus einsehen.
Die Neigung des Planspiegels ist verstellbar. Wenn sich die Neigung verschiebt, verändert sich damit der Punkt des virtuellen Beobachters.
Das, was der Beobachter im Spiegel sieht – ob sich die Illusion der umgekehrten Vase für ihn herstellt oder nicht –, hängt also von zwei veränderlichen Größen ab: von der Neigung des Spiegels und von seiner eigenen Position gegenüber dem Spiegel.
Die Entsprechungen
Das Schema kann auf unterschiedliche Weise gelesen werden: als Modell für die Struktur des psychischen Apparats, als Modell für die Entwicklung des Subjekts und schließlich als Modell für die psychoanalytische Behandlung, für die „Kur“, wie die Lacanianer sagen. Diese Mehrdeutigkeit ist beabsichtigt, das Schema soll es ermöglichen, zwischen diesen drei Sichtweisen Verbindungen herzustellen.
Das Auge steht für das „ausgesperrte Subjekt“ (sujet barré), dargestellt durch ein ausgestrichenes S (S barré), ein S mit einem Schrägstrich, also durch das Zeichen $. (Das Auge steht also auf keinen Fall für das Sehen.) Das ausgesperrte Subjekt ist nicht das Individuum, nicht die Person, nicht der Mensch, sondern diejenige Form der Subjektivität, auf deren Rekonstruktion und Annahme eine Psychoanalyse abzielt. Das Subjekt ist von einem konstituierenden Teil von sich ausgeperrt, vom Unbewussten, und dadurch ist es gespalten – während es spricht, sagt es nicht nur das, was es sagen will; es spricht zugleich, in seinen Symptomen, Versprechern, Träumen, Verhaltensmustern usw., auf einer zweiten Ebene und gibt dabei Äußerungen von sich, deren Sinn es nicht versteht.
So wie das bewusste Sprechen sich immer an einen Adressaten als Sprecher/Hörer wendet, bezieht sich auch das unbewusste Sprechen, Lacan zufolge, auf einen Anderen. Das Subjekt des Unbewussten ist eine Frage; mit der Frage reagiert das Subjekt auf die rätselhaften Aufträge und Verbote des Anderen.
Der Kasten repräsentiert den Körper.
Und die umgekehrte reale Vase, die mit der Öffnung nach unten zeigt? Dazu äußerst Lacan sich nicht, man kann es aber erschließen. Die umgekehrte Position der realen Vase ist das, was im Spiegel nicht erscheint, also das, was weder im Symbolischen repräsentiert wird (im Spiegel, A) noch im Imaginären (als Bild des anderen, i‘(a]. Also ist die reale Vase, insofern sie mit der Öffnung nach unten zeigt, das Reale. Das Reale ist das, was der Symbolisierung absolut widersteht und was auch imaginär nicht repräsentiert werden kann.6
Das reelle Bild der Vase würde, wenn es eingezeichnet wäre, die Bezeichnung i(a) tragen (vgl. Abbildung 3). Die Kleinschreibung verweist darauf, dass diese Formation zum Imaginären gehört. Die Abkürzung i(a) steht im optischen Modell für das Ideal-Ich (moi idéal). Die Zeichenfolge i(a) verweist auf image de l′autre, Bild des anderen, und damit auf die Entstehung des Ideal-Ichs durch die Identifizierung mit dem Bild des Mitmenschen, das uns unser eigenes Bild als Gestalt, als Ganzheit, präsentiert; diese Identifizierung geht zurück auf der Identifizierung mit dem eigenen Spiegelbild als der archaischen Form des Ideal-Ichs. Lacan rekonstruiert hier Freuds Behauptung, das Ich sei die Projektion einer Oberfläche7: das Ideal-Ich, die Grundlage des Ichs, entsteht durch die Projektion der Oberfläche eines Körpers, so wie das reelle Bild der Vase durch die Projektion der Oberfläche der Vase mithilfe eines Hohlspiegels erzeugt wird.
Das reelle Bild der Vase ist umgekehrt. In der imaginären Repräsentation wird das Reale verkannt.
Der Hohlspiegel steht für eine Funktion des Cortex, also der Großhirnrinde. Sie ist, so vermutet Lacan, der Sitz der Funktion, Wahrnehmungsreize zu Bildern der Ganzheit zu organisieren und sie affektiv zu besetzen.8
Der Blumenstrauß steht für Objekte, Begierden, Triebe und Strebungen: für das Reale.9 Der Blumenstrauß hat das Symbol a, und die Bedeutung dieses Symbols ist in den Jahren, in denen das optische Modell entwickelt wird, in Entwicklung begriffen. Der Lagache-Aufsatz wurde 1960 geschrieben. In Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, ist das Objekt des Begehrens das Objekt im Phantasma; es bildet einen Ersatz für das, dessen das Subjekt durch seinen Bezug zur Sprache beraubt ist10; zu diesem Zeitpunkt gibt es für Lacan drei Arten von Objekten des Begehrens: die prägenitalen Objekte, den Phallus und den Wahn11. Nach der Abfassung des Aufsatzes wird das Objekt des Begehrens neu gedeutet, als Partialobjekt und als Ursache des Begehrens. Einen ersten Anlauf in dieser Richtung gibt es 1961 im Seminar Die Übertragung12, ausgebaut wird dieses Konzept zwei Jahre später, in Seminar 10 von 1962/63, Die Angst. Wenn man im Diagramm das Symbol a mit dem Theoriestand von 1960 aufschlüsselt, entspricht das a den Objekten des Begehrens, nämlich den präödipalen Objekten Brust und Kot, dem Phallus und dem Wahn.
Das Ideal-Ich (i(a] wird durch eine Vase repräsentiert, einen Behälter, das Objekt (a) durch einen Blumenstrauß. Damit soll vielleicht angedeutet werden, dass die Unterscheidung zwischen dem Ich und den realen Objekten auf dem Schema von Innen und Außen beruht.
Das (nicht eingezeichnete) reelle Bild der Vase umfasst den realen Blumenstrauß. Das Ideal-Ich (das letztlich auf das Spiegelbild zurückgeht) bildet den Rahmen, innerhalb dessen die Objekte wahrgenommen und angegangen werden. Die äußeren realen Objekte werden von den inneren imaginären Bildern überlagert und erst hierdurch gewinnen sie für das begehrende Individuum ihre aggressive oder sexuelle Attraktivität. Wenn das reale Objekt – ein bestimmtes Individuum – das innere Bild sättigt, erfüllt, entsteht die Verliebtheit. Wenn das Objekt als derjenige erscheint, der das Subjekt um sein eigenes Bild betrügt, entsteht der Hass. Das gilt ebenso für die Partialobjekte, die reale Brust beispielsweise wird mit dem Bild der Brust vermischt und hierdurch zu einem erotischen oder aggressiven Objekt.
Das vom Hohlspiegel erzeugte reelle Bild ist für den Beobachter durch den Blumenstrauß verdeckt, das reelle Bild der Vase ist nicht eingezeichnet. Die Vase steht für das Ideal-Ich, das dem Subjekt nicht zugänglich ist, es besteht aus den „Verhaftungen an imaginäre Fixierungen, die der symbolischen Entwicklung seiner Geschichte nicht anverwandelt werden konnten – das bedeutet, daß das traumatisch war„13.
Der Planspiegel vertritt den symbolischen Anderen oder „groß Anderen“, den mit einem großen A geschriebenen Anderen (A). Der Andere ist der Adressat des sprechenden Subjekts in einer bestimmten Funktion, nämlich als Ort, an dem das Subjekt auf das bereits existierende Sprachsystem und auf die darauf gegründete symbolische Ordnung trifft. Dieses System wird in jedem Sprechen ins Spiel gebracht und die Bedeutungseffekte dieses Systems können von der Intention des Sprechers oder des Adressaten nicht kontrolliert werden.
In der therapeutischen Deutung des Schemas steht Planspiegel vor allem für den Analytiker in seiner Funktion, für den Patienten „der Andere als Ort des Sprechens“ zu sein, d.h. derjenige, an den er sich in seinem Sprechen wendet – der Zuhörer – und der gelegentlich antwortet.
Der Planspiegel repräsentiert im optischen Modell also keineswegs das Imaginäre, wie Lacans Konzeption des Spiegelstadiums es nahelegen könnte, genauso wenig wie das Auge für das Sehen steht.
Die Position des Auges im Verhältnis zum Planspiegel steht für die Position des sprechenden Subjekts im Verhältnis zum Anderen, dafür, welchen Platz das sprechende Subjekt im Verhältnis zur symbolischen Ordnung einnimmt und damit für das Verhältnis des Sprechens zum bereits existierenden Sprachsystem.
Unter dem Subjekt (dem Auge) kann man sich eine Subjektivität vorstellen, die darin besteht, bestimmte Forderungen vom Anderen zu empfangen und selbst bestimmte Forderungen zu artikulieren, die hier aber nur insofern von Interesse ist, als durch die Forderungen bestimmte Begierden abgespalten werden, eben solche, die nicht beansprucht werden können.
In einer Psychoanalyse richtet der Patient an den Analytiker den Anspruch, gesund zu werden oder auch Wissen zu erwerben; durch solche Ansprüche wird der Analytiker in die Position des Anderen gebracht, d.h. er wird für den Patienten zum Sitz sprachlicher und kultureller Codes, etwa der Vorstellungen darüber, wie zu sprechen ist oder was normal und was pathologisch oder welche Meinung als Wissen zu gelten hat. Der Patient (vorausgesetzt, er ist kein PsychotikeFr) richtet an den Analytiker außerdem seinen Liebesanspruch, beispielsweise in Gestalt der Forderung, jederzeit erreichbar zu sein; als Adressat des Liebesanspruchs ist der Analytiker das Objekt der Übertragung.
Die Neigung des Spiegels wird von der Stimme des anderen kommandiert.14 Damit ist hier nicht die Stimme als Partialobjekt gemeint, dieses Konzept wird von Lacan erst später entwickelt, in Seminar 10 von 1962/63, Die Angst. Ich vermute, dass Lacan sich hier auf das Sprechen des Anderen bezieht, auf die Art beispielsweise zu antworten oder Fragen zu stellen. Der Analytiker hat die Aufgabe, sich den Ansprüchen des Patienten zu entziehen, er soll ein Spiegel ohne Oberfläche sein, in dem sich nichts reflektiert, und dies wird im Schema durch den Wechsel in der Neigung des Spiegels repräsentiert.
Wenn der Spiegel sich auch nur ein wenig neigt, kommt es nicht zur Illusion der umgekehrten Vase, wird also beispielsweise der reale andere nicht zu einem sexuell attraktiven Objekt.
Die Veränderung der Neigung des Spiegels durch die „Stimme“ führt dazu, dass unterschiedliche Objekte in ihm sichtbar werden. Dies steht dafür, dass im Verlauf einer psychoanalytischen Kur die unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Libido ins Spiel kommen und damit deren Objekte: das Begehren kann in Form polymorph-perverser Partialtriebe erscheinen, die sich auf die sogenannten Partialobjekte richten, sowie in seinem Verhältnis zum Phallus.
Das (rechts eingezeichnete) Bild, das für den Beobachter im Planspiegel sichtbar ist – für das Subjekt durch die Vermittlung der Sprache –, besteht aus einer Kombination von zwei virtuellen Bildern, von zwei Spiegelbildern. Das Bild setzt sich zusammen aus a′ als dem virtuellen Bild des realen Objekts, also dem Spiegelbild des realen Blumenstraußes, und aus i′(a) als dem virtuellen Bilddes Ideal-Ichs, also aus dem Spiegelbild des reellen Bildes der Vase.
Der Strich nach dem a bzw. dem i, wodurch diese zu a′ bzw. i′ werden, verweist auf den virtuellen Charakter dieser Größen, anders gesagt darauf, dass es sich um Spiegelbilder handelt, also um Größen, die durch den Anderen, durch das Sprachsystem vermittelt sind. Mit dem „virtuellen Bild“ ist hier die Verbalisierung gemeint. In einer Analyse geht es u.a. darum, dass das Subjekt einen Zugang zu den traumatischen imaginären Fixierungen gewinnt (zu i(a] und zu den dadurch geprägten Objektbeziehungen (zu a). Dieser Zugang wird durch das Sprechen ermöglicht, und dieses Sprechen vollzieht sich durch die Vermittlung des Analytikers, der hier in der Position des Anderen ist (des Spiegels). „Durch die gesprochene Aufnahme seiner Geschichte begibt sich das Subjekt auf den Weg der Realisierung seines verstümmelten Imaginären“15, wobei „es seine Geschichte in der ersten Person einbekennt“16.
Das Symbolische (der Planspiegel) steht in Beziehung zum Imaginären (zum Blumenstrauß und zum Bild des Blumenstraußes in der Vase) und zum Realen (zur realen Vase, die mit der Öffnung nach unten zeigt) – das optische Modell ist ein früher Versuch, die Beziehung zwischen dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen durch eine Topik darzustellen.17
Die Buchstaben S und I (oben rechts) beziehen sich auf denselben Punkt. Sie stehen für das Bild des Beobachters im Planspiegel, also dafür, wie das Subjekt für sich selbst im Anderen, in der Sprache erscheint.
Der Buchstabe S repräsentiert das virtuelle Subjekt, also das Subjekt, so wie es im Spiegel des Anderen erscheint, im Spiegel der Sprache. Das I steht für das Ichideal; die Großschreibung verweist darauf, dass es zum Symbolischen gehört. Zur Begründung dieser Zuordnung von S und I vgl. diesen Blogeintrag. Die Nebeneinanderstellung besagt: Das Subjekt ist als Träger des Ichideals konstituiert.
S steht für das Subjekt, soweit es in der Sprache erscheint. Das Subjekt ist für Lacan keineswegs mit seinen sprachlichen Manifestationen identisch. In der Sprache hat das Subjekt einen Zugang nur zu seinen Ansprüchen (seinen Forderungen), nicht direkt zu seinem Begehren. Der Zugang zum Subjekt über die Sprache ist also problematisch, aber es ist der Weg, auf dem die Psychoanalyse beruht.
Das Ichideal ist der Punkt, von dem aus das Subjekt spricht. Das Ichideal entsteht dadurch, dass das Subjekt Vater oder Mutter begehrt und dass dieses Begehren, als Anspruch artikuliert, zurückgewiesen wird. Das Subjekt verarbeitet die Zurückweisung durch Identifizierung: dadurch, dass es vom Objekt des Begehrens einen Signifikanten übernimmt, den es an seine Stelle setzt: das Ichideal. Das Ichideal sagt ihm, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein.
Die Verwandlung des Anderen in einen Signifikanten besteht darin, dass das Subjekt von ihm Insignien seiner Allmacht übernimmt, dass es einen „einzigen Zug“ von ihm kopiert.18 „Wie er räuspert und wie er spuckt, das habt ihr ihm glücklich abgeguckt“, heißt es bei Schiller in Wallensteins Lager. Das Ichideal beruht auf einer Illusion, es geht damit einher, dass verkannt wird, dass der Andere keineswegs allmächtig ist, sondern selbst ein „versperrtes Subjekt“, ein Subjekt, das der Verdrängung und der Wiederkehr des Verdrängten unterliegt, das also etwas „sagt“ – in Symptomen, Fehlhandlungen, Ticks usw. –, wovon er nichts weiß.
S und I beziehen sich auf den selben Punkt. Das Ichideal ist eine Metapher, eine Ersetzung. Es ersetzt den Signifikanten des Subjekts. Man könnte diesen Punkt auch so bezeichnen: I/S, wobei der Querstrich als eine Art Bruchstrich zu lesen wäre: I über S.
Der Punkt S,I liegt innerhalb des durch die Linien x-x′ und y-y′ angezeigten Kegels. D. h. das in der Sprache erscheinende Subjekt ist an dem Ort, von dem aus sich für es – vermittelt durch die Sprache (den Flachspiegel) – die Illusion herstellt: die Überlagerung des realen Objekts (a′) mit dem imaginären Bild (i′(a], also beispielsweise die aggressive Faszination durch einen Rivalen.
Die Pointe des Modells besteht darin, dass die Beziehung zwischen dem Ideal-Ich und dem Objekt des Begehrens durch die Position des Ichideals reguliert wird; die imaginäre Identifizierung (und damit die Objektbeziehung) wird von der symbolischen Identifizierung aus bestimmt. Der Zugang zum Ichideal wiederum wird durch durch das Sprachsystem reguliert, also durch A, also beispielsweise durch das erworbene Vokabular, sowie durch die Position des Subjekts.
Wenn der Beobachter sich selbst im Spiegel wahrnehmen will – wenn das Subjekt durch das Sprechen einen Zugang zu seinen symbolischen Identifizierungen finden will, um die Abhängigkeit von der verinnerlichten Autorität zu verringern, plump gesagt, um herauszufinden, was es selbst eigentlich will –, dann muss er seine Position verändern oder der Planspiegel muss gedreht werden. Eben das geschieht in einer Psychoanalyse.
Das Ziel der psychoanalytischen Kur besteht darin, dass das Subjekt die Einwirkung des Ichideals auf das Subjekt rekonstruiert; hierzu ist es notwendig, dass es das Ichideal (das der Übertragung zugrunde liegt) als das seine annimmt, es in sein Sprechen aufnimmt, also gewissermaßen auf die Seite des I hinüberwandert. Von dieser Position aus kann der Beobachter, wenn der Spiegel gedreht wird, sehen, dass die Vase nur ein Reflex eines realen Bildes ist; von dieser Position aus hat das Subjekt einen Zugang dazu, dass die Einheitlichkeit des Ichs ein Trugbild ist und dass es die Beziehungen zu den Objekten von diesem Trugbild aus organisiert. Diese Position kann es nur in dem Maße einnehmen, wie der Analytiker aufhört, für ihn der die Wahrheit garantierende Andere zu sein (wenn sich der Planspiegel dreht), indem es akzeptiert, dass der Andere selbst ein „versperrtes Subjekt“ ist (vgl. Abbildung 3).
Freuds optisches Modell
Im letzten Kapitel der Traumdeutung vergleicht Freud den seelischen Apparat mit einem Mikroskop oder Fernrohr, und vermutlich hat Lacan sich hierdurch zu seinem eigenen optischen Modell anregen lassen.
Freud illustriert in dieser Passage den seelischen Apparat durch das folgende Diagramm:
sowie durch einige Modifikationen dieses Schemas.19
Er reduziert den optischen Apparat hier ausdrücklich darauf, dass seine Bestandteile (seine „Linsensysteme“ und seine „ideellen Örtlichkeiten“) eine Reihenfolge haben und dass sie vom Licht in bestimmter Richtung durchlaufen werden. Dem Licht entspricht im seelischen Apparat die Erregung, den Systemen des optischen Apparats korrespondieren die seelischen „Instanzen“ oder „Systeme“.
Das Diagramm ist demnach so zu lesen:
– Die Pfeile repräsentieren die Erregung und ihre Richtung, analog zum Licht, das eine Richtung durchläuft.
– Die senkrechten Striche stehen für die psychischen Systeme des seelischen Apparats, analog zu den Linsensystemen und ideellen Örtlichkeiten des optischen Apparats.
Lacan wird Freuds optisches Modell später (nämlich 1966) mit den topologischen Flächen vergleichen, die er selbst ab Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, für die Psychoanalyse fruchtbar zu machen versucht, sowie mit der projektiven Geometrie, auf die er sich in Seminar 13 von 1965/66 bezieht, Das Objekt der Psychoanalyse:
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Anmerkungen
- Diagramm aus: J. Lacan: Anmerkung zum Bericht von Daniel Lagache „Psychoanalyse und Struktur der Persönlichkeit“. In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 146–191, her: S. 179.
- Lacans Konzeption des optischen Schemas entwickelt sich in drei Phasen. Die erste Phase beginnt mit Seminar 1, in dem das Schema eingeführt wird:
– Seminar 1, 1953/54, S. 102-107, 115 f., 119, 136, 160-164, 176-194, 200 f., 205 f., 211 f., 232-240, 246-249, 253 f., 354-357.
Dieses Seminar wurde 1975 veröffentlicht, also nach dem Lagache-Aufsatz. Wie weit die Zeichnungen in dieser Edition des Seminars den Originalzeichnungen an der Tafel entsprechen, ist schwer zu sagen.
Ohne größere Änderungen vorzunehmen, kommt Lacan an folgenden Stellen auf das optische Modell zurück:
– Seminar 2, 1954/55, S. 142;
– Seminar 5, 1957/58, S. 146;
– Seminar 6, 1958/59, 12.11.1958, 7.1.1959, 11.2.1959; 18.3.1959.
Die zweite Phase in der Entwicklung des Modells beginnt mit dem Lagache-Vortrag, in dem es zum ersten Mal öffentlich vorgestellt wird. Der Vortrag wurde 1958 gehalten, die Endredaktion des Textes erfolgte 1960, die Veröffentlichung lag im Jahr 1961. Diese Version des Schemas wird kommentiert in
– Seminar 8, 1960/61, S. 290 f., 422-24, 428-34, 454-457.
Die dritte Phase ist der Kommentar in
– Seminar 10, 1962/63, S. 54 f., 63-65, 120 f., 131 f., 148-151, 172. Das Schema wird hier mit dem Konzept des Objekts a und der imaginären Kastration verbunden.
– Vgl. auch Seminar 11, 1964, S. 151; Seminar 13, Sitzung vom 25. Mai 1966
Die Seitenangaben zu den Seminaren beziehen sich auf die Übersetzungen der Miller-Edition, bei Seminar 6 auf die Miller-Ausgabe. - Seminar 9, Sitzung vom 28. Februar 1962.
- Der sphärische Spiegel wird im Schema als Teil eines Ovals dargestellt, statt, wie es richtig wäre, als Kreisabschnitt.
- In der Abbildung wird das S von einem Schrägstrich durchgestrichen, nicht wie hier im Text aus technischen Gründen von einem senkrechten Strich.
- Vgl. Seminar 1, Version Miller/Hamacher, S. 80; Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 225. Vgl. hierzu diesen Blogartikel.
- Vgl. S. Freud: Das Ich und das Es (1923). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. S. Fischer, Frankfurt am Main 2000, S. 294.
- Vgl. Seminar 1, S. 106, und Lacan: Some reflections on the Ego. In: International Journal of Psycho-Analysis, 34. Jg. (1953), S. 11-17, hier: 13.
- Vgl. Seminar 1, S. 105 f.
- vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 366.
- Seminar 6, Version Miller, S. 452 f.
- Vgl. Seminar 8 von 1960/61, Die Übertragung, Version Miller/Gondek, S. 290.
- Seminar 1, S. 355 f.
- Seminar 1, S. 181.
- Seminar 1, S. 356
- Seminar 1, S. 356
- Vgl. Sebastian Leikert: Lacan und die Oberfläche. Zu einem Spiegelstadium ohne Spiegel. In: Claudia Blümle, Anne von der Heiden (Hg.): Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie. Diaphanes, Zürich 2005, S. 91-102, hier: S. 99.
- Vgl. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. S. Fischer, Frankfurt am Main 2000, S. 100.
- S. Freud: Die Traumdeutung. Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 512 ff.
- J. Lacan: L’objet de la psychanalyse. Compte rendu du séminaire 1965–1966. In: Ders.: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 219 f.; vorgelesen in Seminar 13 von 1965/66, Das Objekt der Psychoanalyse, Sitzung vom 25. Mai 1966, meine Übersetzung hier.