Der Andere als Ort des Sprechens oder Mit wem spricht Jasmine?
Cate Blanchett als Jasmine in Blue Jasmine
Drehbuch und Regie: Woody Allen, USA 2013
Copyright: Perdido Productions 2013
Jasmine, die Heldin in Woody Allens Film Blue Jasmine, ist abgestürzt. Sie hat ihren Mann verloren, ihre soziale Stellung, ihr Geld und ihr Ansehen. Sie reagiert darauf auf eine besondere Weise: sie hält Monologe. Mit wem spricht sie dann?
„Zuerst dachte ich, sie spricht mit mir, aber dann habe ich gemerkt, sie spricht mit sich selbst“, sagt die Frau, die im Flugzeug neben ihr gesessen hatte. Sie irrt sich.
Monologe halten viele, vielleicht alle Menschen, aber für gewöhnlich tun sie es anders als Jasmine. Wenn niemand uns hören kann, murmeln wir bestimmte Worte oder Sätze vor uns hin, z.B. „Aber ich liebe sie doch“ oder „Scheißtyp“.
Jasmine hält ihre Monologe in aller Öffentlichkeit: im Flugzeug, auf der Straße, auf einer Parkbank. Nur deswegen wird sie der „Edison-Therapie“ (mit Elektroschocks) unterworfen – nicht, weil sie monologisiert, sondern weil sie es vor aller Ohren tut, wie auf einer Bühne. Offenbar braucht sie ein Publikum.
Zu wem also spricht sie? Mit Lacan kann man sagen: Sie spricht zum Anderen in einer bestimmten Funktion, zum Anderen als „Ort des Sprechens“.1
„(D)ie Teilnahme des Hörers des Diskurses ist für denjenigen, der dessen Sender ist, permanent, und es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Hören und dem Sprechen, der nicht äußerlich ist, im Sinn von sich sprechen hören, sondern sich auf der Ebene selbst des Phänomens der Sprache situiert. Auf der Ebene, wo der Signifikant die Bedeutung mit sich bringt, und nicht auf der sensoriellen Ebene des Phänomens, sind Hören und Sprechen wie Vorder- und Rückseite.“2
Wir alle sprechen zum Anderen als Ort des Sprechens. Dieser Andere wird in jedem Sprechen ins Spiel gebracht, auch dann, wenn wir heimlich vor uns hin flüstern. Wir wählen ein bestimmtes Vokabular, halten uns an die Regeln der Grammatik und beziehen uns damit auf einen potenziellen Adressaten. Wir passen uns an sein Vokabular und seine Grammatik an und versuchen, seine Antworten zu antizipieren. All das tun wir, damit er versteht und vielleicht sogar akzeptiert, was wir sagen. Dieser unserem Sprechen innewohnende Bezugspunkt des zuhörenden und verstehenden Adressaten ist der Andere als Ort des Sprechens.3
Literaturwissenschaftler sprechen vom „impliziten Leser“4; mit einem Ausdruck, der Musikwissenschaftlern geläufig ist, kann man den Anderen als Ort des Sprechens als „impliziten Hörer“ bezeichnen oder genauer als „impliziten Versteher“. Der im verstehenden Hörer unterstellte Code entscheidet über die Bedeutung des Gesagten. Der Sprecher ist, wenn er verstanden werden will, genötigt, sich an diesen Code anzupassen.
Der implizite Versteher ist insofern ein Ort, als das Sprechen sich an ihn richtet; er ist der Bezugspunkt, der Bezugsort des Sprechens. Er ist aber noch in einem weiteren Sinne ein Ort. Der implizite Versteher repräsentiert für den Sprecher den Code als Bedingung des Verstehens. Der Code ist ein synchrones System, also ein System, in dem die Signifikanten versammelt sind. Ein solches System kann als ein Ort begriffen werden – der Ort ist, wie Heidegger sagt, „das Versammelnde“.5
Der Andere als Ort des Sprechens ist zugleich derjenige, der auf das, was wir sagen, antworten kann. Er kann antworten, indem er das, wir sagen, bestätigt. Er kann antworten, indem er es widerlegt oder zurückweist. Er kann antworten, indem er es ignoriert. Der Andere als Ort des Sprechens ist also für den Sprecher ein gefährlicher Ort, ein in der Sprache strukturell enthaltener Ort der Abhängigkeit.
Der Andere als Ort des Sprechens ist kein lebendiger, kein realer Anderer, sondern der dem Sprechen innewohnende Bezug auf das Verstandenwerden und Akzeptiertwerden.
Die Beziehung zwischen dem Anderen als Ort des Sprechens und dem konkreten Anderen ist prekär. Der konkrete Andere antwortet, und er antwortet aufgrund von Begierden, die für uns (und vielleicht auch für ihn) undurchschaubar sind. Dass wir es mit einem konkreten Anderen zu tun haben, merken wir spätestens daran, dass es uns nicht gelungen ist, seine Spielzüge vorwegzunehmen. Die überraschenden Antworten des konkreten Anderen können traumatischen Charakter haben; sie bilden eine Hauptquelle für die Entstehung des Unbewussten.
Sicher, wir kalkulieren seine möglichen Antworten und können uns in Gedanken vielleicht sogar mit ihm unterhalten, und in diesem Sinne ist der unterstellte Andere für uns ein Subjekt – aber eben nur für uns.
Dies war der Einwand von Ernst Tugendhat gegen die Diskursethik von Jürgen Habermas: dass Habermas den Unterschied zwischen dem realen Diskurs mit seinen realen Antworten und dem hypothetischen Diskurs mit seinen unterstellten Antworten verwischt.6 Eine der Quellen dieser Konfusion ist die Erziehung. Im Umgang mit kleinen Kindern sind wir immer wieder genötigt, uns auf die Antworten zu beziehen, die sie uns (unserer Meinung) nach geben würden, wenn sie vernünftig wären, statt auf ihre realen Antworten. Da liegt es nahe, die hypothetische Antwort für die wesentliche zu halten.
Der Andere als Ort des Sprechens ist der in jedem Sprechen unterstellte Adressat, der das, was wir sagen, versteht und der das, was wir sagen, bestätigen oder zurückweisen kann.
Aber das ist noch eine allzu soziologische Fassung dieses Konzepts. Einen Schritt weiter kommt man mit der Unterscheidung zwischen dem Unterbewusstsein und dem Unbewussten von Claude Lévi-Strauss. Das Unterbewusstsein, dass ist einfach der Speicher der Erinnerungen, unter Betonung der Tatsache, dass sie nicht zugleich abrufbar sind.
„Dagegen ist das Unbewusste immer leer; genauer gesagt, es ist den Bildern genauso fremd wie der Magen den Nahrungsmitteln, die durch ihn hindurchgehen. Als Organ einer spezifischen Funktion beschränkt er sich darauf, unartikulierten Elementen, die von außen kommen – wie Antrieben, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen – Strukturgesetze aufzuerlegen, die seine Realität erschöpfen. Man könnte also sagen, dass das Unterbewusstsein das individuelle Lexikon ist, in dem jeder das Vokabular seiner persönlichen Geschichte sammelt, dass aber dieses Vokabular nur insoweit Bedeutung für uns selbst und für andere gewinnt, als das Unbewusste es gemäß seinen Gesetzen formt und eine Rede daraus macht.“7
Der Andere als Ort des Sprechens, das ist das Unbewusste, insofern es ein leerer Ort ist, welcher den Elementen des Sprechens bestimmte Gesetze aufzwingt.
In ihrem Sprechen bezieht Jasmin sich auf den Anderen als Ort des Sprechens. Dabei nimmt sie zwei Operationen vor. Zum einen wird Verstehen auf das Zuhören reduziert; das Sinnverstehen durch den Anderen und das Stellungnehmen wird getilgt.
Außerdem muss der Andere als Ort des Sprechens auf bestimmte Weise verkörpert sein. Das ist nicht zwingend. Es ist möglich, dass der Andere als Ort des Sprechens ausschließlich in unserem Sprechen enthalten ist und sonst keine Existenz hat. Vielleicht schreiben wir und hoffen, dass es irgendwann einmal jemanden gibt, der das Geschriebene lesen wird – dann ist für uns der erhoffte Empfänger unserer Flaschenpost der Andere als Ort des Sprechens, der Andere als Ort des Schreibens.
Der implizite Versteher kann aber auch materielle Gestalt gewinnen. In jedem Gespräch mit einem konkreten Anderen unterstellen wir, dass unser Gegenüber, solange wir sprechen, diese Funktion übernimmt, dass er den verstehenden Hörer für uns zum Leben erweckt. Wenn wir feststellen, dass der andere uns gar nicht erst zu Wort kommen lässt, sagen wir, „Er kann nicht zuhören“, damit meinen wir, in Lacanscher Begrifflichkeit, dass er nicht in der Lage ist, den Ort des Sprechens zu verkörpern und die Funktion dessen zu realisieren, der, was wir sagen, versteht. In einer Psychoanalyse wird der Analytiker zur Inkarnation des Anderen als Ort des Sprechens – sofern ihm unterstellt wird, dass er zuhört, dass er versteht, was ihm gesagt wird und dass er sich dazu äußern könnte.
Der Andere als Ort des Sprechens kann sich auch in einem Gegenstand materialisieren; im Märchen Die Gänsemagd übernimmt ein Eisenofen diese Funktion. Die Heldin verhält sich eigenartig. Sie hat, durch den Bruch eines Treueversprechens, die Zerstörung ihrer (geplanten) Ehe erlebt und, damit verbunden, einen steilen sozialen Absturz erfahren – sie ist in einer ähnlichen Lage wie Jasmine. Der König fragt sie, warum sie sich so aufführe, und als sie ihm antwortet, dass sie das nicht sagen dürfe, spricht er zu ihr:
„‚wenn du mir nichts sagen willst, so klag dem Eisenofen da dein Leid‘, und ging fort. Da kroch sie in den Eisenofen, fing an zu jammern und zu weinen, schüttete ihr Herz aus und sprach, ‚da sitze ich nun von aller Welt verlassen, und bin doch eine Königstochter …‘“
Nachdem ihre Realität zusammengebrochen ist, kann Jasmine es nicht ertragen, weiterhin den unerwarteten Antworten des konkreten Anderen ausgeliefert zu sein. Sie braucht dann den Anderen als bloßen Zuhörer.
Sie braucht den Anderen als Ort des Sprechens, der nicht antworte. Sie braucht ihn, um ihn zu belügen. Mit ihren Lügen bringt sie die Dimension der Wahrheit ins Spiel. Dieser Wahrheitsbezug macht es, dass sie sich im Sprechen nicht nur auf denjenigen bezieht, der ihr ähnlich ist, auf le semblable, wie Lacan sagt, auf ihresgleichen, sondern auf den Anderen als Ort des Sprechens.
Dabei genügt es ihr nicht, sich an einen Hörer zu wenden, der einen lediglich virtuellen Charakter hat, anders gesagt: vor sich hin zu sprechen. Ein Eisenofen – oder, moderner, ein digitaler Audiorekorder – ist auch nicht ihre Sache. Auch ein Gott scheint für sie kein Adressat zu sein. Der verstehende Lügen-Hörer muss für sie eine ganz bestimmte Gestalt annehmen. Er muss sich an einem öffentlichen Ort in einem anonymen Nächsten verkörpern, in einem Menschen, der fähig ist, ihr zu antworten, der sie aber mit seiner traumatischen realen Antwort verschont: in der älteren Dame neben ihr im Flugzeug, im Passanten auf der Straße, in der Frau auf der Parkbank.
In Lacans Sprache ist das Gegenüber, mit dem man sich im Gespräch von Angesicht zu Angesicht austauscht, um sich wechselseitig zu bestätigen, der imaginäre andere. Die Besonderheit von Jasmines Sprechen besteht darin, dass sie Situationen aufsucht, die an das Gespräch mit dem imaginären anderen erinnern, dass sie den scheinbar imaginären anderen aber tatsächlich als Anderen braucht, als Ort des Sprechens.
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Anmerkungen
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Der Begriff „der Andere als Ort des Sprechens“ wird von Lacan in La chose freudienne (Die Freudsche Sache) eingeführt, einem Vortrag von 1955, der 1956 veröffentlicht wurde; der entsprechende Abschnitt hat die Überschrift „Der Ort des Sprechens“ (Mager-Übersetzung, S. 62–66).
In Seminar 3 von 1955/56, Die Psychosen, zitiert er aus diesem Abschnitt (Version Miller/Turnheim, S. 322), in Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung, verwendet er den Begriff einmal (Version Miller/Gondek, S. 91).
Ausführlich entwickelt er das Konzept bei der Erläuterung des Grafen des Begehrens in Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, sowie in Seminar 6 von 1958/59, Le désir et son interprétation. Der untere rechte Schnittpunkt des Grafen, A, repräsentiert den Anderen als Ort des Sprechens (Bild zum Vergrößern anklicken); vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 370, 375, 420, 453, 479, 517, 521, 531, 544, 545, 547, 560–562, 566, sowie Seminar 6, Version Miller, S. 34, 252, 256, 353, 435, 439, 441.
In den Seminaren verwendet Lacan den Terminus zum letzten Mal in Seminar 16 von 1968/69, Von einem Anderen zum anderen.
In den Écrits findet man den „Anderen als Ort des Sprechens“ in Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht von 1958 (Schriften I, hg. v. N. Haas, S. 218 f.) sowie in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, einem Vortrag von 1960, der 1966 veröffentlicht wurde (Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 182). In den Autres écrits erscheint er einmal, in La psychanalyse vraie, et la fausse, einem Vortrag von 1958, der 1992 zum ersten Mal gedruckt wurde (Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 167).
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Der Andere mit großem A ist „der Hörende, und zwar der nicht nur aufmerksam Hörende, sondern der verstehende Hörende, im wahren Sinne des Terminus“ (Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 39).
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Vgl. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. UTB, München 1979.
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Vgl. M. Heidegger: Die Sprache im Gedicht. Eine Erörterung von Georg Trakls Gedicht (1953). In: Ders.: Unterwegs zur Sprache. Neske, Stuttgart 1959, S. 35–82, hier: S. 37.- Im Aufsatz Logos (1951) deutet Heidegger das Wort „sagen“ (griechisch legein) als Versammeln, Zusammenbringen, zusammen-ins-Vorliegen-bringen (M. Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Neske, Pfullingen 1954, S. 199–221); Lacans Übersetzung dieses Aufsatzes erschien 1956 in der Zeitschrift La psychanalyse.
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Vgl. Ernst Tugendhat: Drei Vorlesungen über Probleme der Ethik (1981), 3. Moral und Kommunikation. In: Ders.: Probleme der Ethik. Reclam jun., Stuttgart 1984, S. 108–131.
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Claude Lévi-Strauss: Die Wirksamkeit der Symbole (1949). In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Übersetzt von Hans Naumann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967, S. 204–225, hier: S. 223 f.