Herrensignifikant, S1: das Ichideal
yZwei Jungen ziehen Lose aus Lostrommeln
Aus: Nathan F. White, Alexander Anderson: Doctor Bolus and his patients.
Merriam, Moore & Co., Troy, New York ca. 1851-1856
Was ist ein Herrensignifikant (signifiant maître)?
Der Terminus gehört zum Begriffsapparat des späten Lacan. Eingeführt wird der Ausdruck in Seminar 17 von 1969/70, Die Kehrseite der Psychoanalyse; als Symbol für den Herrensignifikanten dient dort die Zeichenfolge S1 (S Index 1).1 In jedem der folgenden acht Seminare arbeitet Lacan mit diesem Begriff oder diesem Symbol. In den Aufsätzen bezieht er sich auf den Herrensignifikanten in Radiophonie (1970) und L’étourdit (1973).2
Im Folgenden skizziere ich zunächst die Vorgeschichte des Begriffs und kommentiere dann, nach einem knappen Hinweis auf Seminar 17, einige Passagen zum Herrensignifikanten aus den Seminaren 21 von 1973/74, Les non-dupes errent, und 22 von 1974/75, RSI. Den Abschluss bildet eine systematisierende Zusammenfassung.
Vorläufer des Herrensignifikanten
Ichideal
In Seminar 17 spricht Lacan über einen Signifikanten, dessen Sinn (sens) absolut wäre, und fährt dann fort:
„Wo sich dies zeigt, sehr leicht zu erkennen, denn es gibt nur einen Signifikanten, der an diesem Platz antworten könnte: das ist das ‚Ich‘ (Je), das ‚Ich‘, insofern es transzendental ist, aber auch insofern es illusorisch ist. Das ist die letzte, an die Wurzel gehende Operation, diejenige, von der her sich irreduzibel eben das absichert – und das zeigt, dass dies kein Zufall ist –, was ich mit der Artikulation des Universitätsdiskurses bezeichne.
Das transzendentale Ich ist dasjenige, das jeder, um auf bestimmte Weise ein Wissen auszusagen, in sich als Wahrheit verbirgt, der S1, das Ich (Je) des Herrn.
Das mit sich selbst identische Ich (Je), das ist eben genau das, von dem her sich der S1 des reinen Imperativs konstituiert, d.h. genau das, wo das Ich (Je) sich entzieht (dérobe), denn der Imperativ steht immer in Beziehung zur zweiten Person.
Aber der Mythos vom idealen Ich (Je idéal), vom Ich, das beherrscht, vom Ich, durch das zumindest etwas mit sich selbst identisch ist, nämlich der Aussagende, dieser Mythos ist genau das, was der Universitätsdiskurs nicht von dem Platz wegschaffen kann, an dem sich seine Wahrheit befindet.“3
Der Herrensignifikant ist ein Signifikant, der einen absoluten Sinn hat, allerdings auf illusorische Weise, das heißt: letztlich hat er keinen Sinn.
Dieser Signifikant ist das transzendentale Ich (Je) im Sinne von Kant, also das Urprinzip für die Erkenntnis von Gegenständen, das ihrer Mannigfaltigkeit die Einheit sichert. Lacan bezeichnet dieses Ich mit Je, mit dem Signifikanten, mit dem der Aussagende sich selbst bezeichnet.
Das transzendentale Ich ist illusorisch, es unterstellt, dass es mit sich identisch ist und verkennt damit die Spaltung des Subjekts.
Diskurs der Universität
Das transzendentale Ich ist die letzte Absicherung des Universitätsdiskurses; in der Diskursformel wird dies dadurch angezeigt, das man hier den Herrensignifikanten (S1) – also das transzendentale Ich – am Platz unten links findet, am Platz der latenten Wahrheit. Letztlich verbirgt aber jeder, wenn er „auf bestimmte Weise“ ein Wissen (S2) aussagt, in sich als Wahrheit den Herrensignifikanten. In der Formel entspricht dies der Beziehung zwischen den beiden linken Plätzen im Diskurs der Universität: Wissen (S2) links oben am Platz des Agenten, Herrensignifikant (S1) links unten am Platz der latenten Wahrheit. Allerdings stützt sich nicht jede Aussage eines Wissens auf den Herrensignifikanten, dies gilt nur wenn dies „auf bestimmte Weise“ geschieht, dann nämlich, wenn der Adressat in die Position gebracht wird, die durch die rechten beiden Symbole bezeichnet wird, a über $.
Das mit sich selbst identische Ich ist auch die Grundlage des reinen Imperativs, etwa von Kants kategorischem Imperativs. Wenn man näher zusieht, löst sich die Selbstidentität hier jedoch auf, denn ein Imperativ bezieht sich immer auf einen Adressaten, der Befehlende ist vom Befehlsempfänger abhängig, Hegel hat das in seinen Bemerkungen über Herrschaft und Knechtschaft gezeigt.
Der Herrensignifikant ist verbunden mit dem Mythos vom idealen Ich. Darunter versteht Lacan hier den Mythos vom Ich, das den Imperativ erfolgreich gegen sich selbst richtet, sich also selbst beherrscht und dadurch mit sich identisch ist. Dieser Mythos ist die verborgene Wahrheit des Universitätsdiskurses. Ich nehme an, dass Lacan hier auf seine Unterscheidung zwischen dem symbolischen Ichideal (idéal du moi) und imaginären Idealich (moi idéal) anspielt, und dass der Mythos vom sich selbst beherrschenden Ich eine Form des Idealichs darstellt.4
In Zur Einführung in den Narzissmus (1914) hatte Freud geschrieben:
„Die Idealbildung steigert, wie wir gehört haben, die Anforderungen des Ichs und ist die stärkste Begünstigung der Verdrängung […].“5
Das Ichideal hat demnach seinen Gegenpol in dem, was verdrängt ist, im Unbewussten. Lacan bestimmt das Unbewusste als ein Wissen, von dem wir nichts wissen, und symbolisiert es durch S2. Aus der Beziehung zwischen dem Ichideal und dem Unbewussten wird bei Lacan das Verhältnis von S1 und S2.
Polsterstich
Eine frühe Version des Begriffs „Herrensignifikant“ ist das Konzept des point de capition, des Polsterstichs oder Stepppunkts (zur Frage der Übersetzung des Ausdrucks point de capiton vgl. diesen Blogartikel). In der letzten Sitzung von Seminar 17 bezieht Lacan sich auf Balzacs Roman Kehrseite der Geschichte unserer Zeit und fährt dann fort:
„Lesen Sie das, lesen Sie das, und machen Sie eine Hausaufgabe. Exakt dieselbe wie die, die ich vor fast hundert Jahren bereits den Typen aufzugeben versucht habe, zu denen ich in Sainte-Anne gesprochen habe, bezogen auf die erste Szene des ersten Akts von Athalie. Alles was sie da verstanden haben, war der Polsterstich/Stepppunkt. Ich sage nicht, dass das eine hervorragende Metapher war, aber schließlich war das S1, der Herrensignifikant.
Gott weiß, was sie mit diesem Polsterstich gemacht haben, sie haben ihn bis in Les Temps modernes getragen. Ja, das ist Les Temps modernes, das ist nicht Minute.
Es ging um den Herrensignifikanten. Das war eine Weise, sie aufzufordern, sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie etwas, was sich in der Sprache wie ein Lauffeuer ausbreitet, wie das lesbar ist, d.h., dass sich das verklammert, dass das einen Diskurs bildet.“6
Den Begriff des Polsterstichs hatte Lacan in Seminar 3 eingeführt, Die Psychosen (1955/56).7 Dort hieß es:
„Dass es grundlegende Signifikanten gibt, ohne welche die Ordnung der menschlichen Bedeutungen sich nicht herstellen könnte, läßt uns unsere Erfahrung alle Augenblicke spüren.“8
Wenn man die Bedeutung eines Signifikanten klären will, wird man von Signifikant zu Signifikant zu verweisen und damit verschiebt sich die Bedeutung immer aufs Neue; sie verbreitet sich in der Sprache in der Art einer Pulverspur, eines Lauffeuers. „Das Signifikat gleitet unter dem Signifikanten“, hatte Lacan diesen Vorgang genannt.9 Wie kommt es, dass das Gesprochene dennoch „lesbar“ ist, dass einen relativ stabilen Sinn ergibt, dass eine Rede artikuliert wird, die man verstehen kann? Die in Seminar 3 entwickelte These lautet: dies ist die Leistung bestimmter Signifikanten. Sie haben selbst keine Bedeutung und beschränken sich auf die Funktion, die Verweisungsbewegung von Bedeutung zu Bedeutung zu einem Halt zu bringen. Auf diese Weise vernähen sie gewissermaßen die Signifikanten mit den Signifikaten. Signifikanten, die diese Stopp-Funktion realisieren, werden von Lacan als points de capiton bezeichnet, als Polsterstiche – sie verhindern, dass das Signifikat unter dem Signifikanten beständig verrutscht.
Beschränkt man sich auf das Funktionieren von Sätzen, wird die Bedeutung – die sich mit jedem hinzugefügten Wort verschiebt – durch das Satzende stabilisiert; der Signifikant in Polsterstichfunktion ist hier gewissermaßen der Punkt.
Im politischen Diskurs haben Signifikanten wie „Freiheit“, „Volk“ oder „Terrorismus“ die Funktion von Herrensignifikanten: sie dienen als letzte Bezugspunkte. Sie haben durchaus Signifikate, wir verbinden sie mit einem Sinn. In dem Maße jedoch, indem sie die Funktion von Herrensignifikanten wahrnehmen, entleert sich ihre Bedeutung; in dem Maße, in dem sie an Bedeutung gewinnen, misslingt es ihnen, die Verweisungsbewegung zu einem Halt zu bringen.
Zur Erläuterung des Polsterstich-Konzepts hatte Lacan sich im Psychose-Seminar auf Racines Tragödie Athalie bezogen.10 Joad, der Hohepriester, plant einen Aufstand gegen die Königin und versucht, den Feldherrn Abner zu gewinnen, der aber ist unentschlossen. Daraufhin sagt Joad, er, Joad, fürchte Gott, sonst niemanden, und damit verändert die Situation sich schlagartig – Abner schließt sich dem Aufstand an. In Lacans Deutung beruht dies darauf, dass der Signifikant „Gottesfurcht“ Ordnung in Abners chaotische Gefühlslage bringt, in seine sich widerstreitenden Signifikate, wie Lacan es auch nennt. Das heißt: der Signifikant „Gottesfurcht“ fungiert in dieser Situation als Polsterstich, als das, was einen Halt gibt (vgl. diesen Blogartikel).
Genau diese Leistung hat der Ödipuskomplex und darauf beruht seine Sonderstellung, so hatte es im Psychosen-Seminar geheißen. Der Begriff des Vaters – der dem der Gottesfurcht sehr nahestehe – liefere für den Polsterstich, welcher Signifikant und Signifikat verknotet, das am deutlichsten wahrnehmbare Element.11
Um zu Seminar 17 zurückzukehren: Lacan erwähnt, dass einige seiner Zuhörer den Begriff point de capiton in einem Aufsatz verwendet hatten, der in der (linken) Zeitschrift Les Temps modernes erschien, nicht in der (rechten) Zeitschrift Minute.12
Bereits beim Polsterstich ging es um den Herrensignifikanten. Demnach ist ein Signifikant dann ein Herrensignifikant, wenn er die Bedeutung fixiert, er wenn Signifikant und Signifikat miteinander verklammert. Er erzeugt nicht das Signifikat, aber er stabilisisert es, indem er die Verweisung von Signifikant zu Signifikant zu einem Halt bringt. Diese Arretierung ist nicht die Leistung eines Signifikats, das von sich aus stabil wäre, sondern eines Signifikanten – bei bestimmten Wörtern hört man auf zu fragen, was das denn nun wieder bedeuten mag, so wie Abner bei dem Wort „Gottesfurcht“.
Den Zusammenhang zwischen dem Polsterstich und dem Ichideal zeigt der Graph des Begehrens.13 Der Polsterstich ist in der unteren Etage verortet, er wird durch die von mir grün gefärbten Linien repräsentiert. Das stabile Signifikat ist der Kreuzungspunkt s(A), für signifié de l’Autre, „das vom Anderen kommende Signifikat“. Das Ichideal ist der Punkt unten links, I(A), für Idéal de l’Autre, „Ideal des Anderen“, im Sinne von „das vom Anderen kommende Ideal“. Der Graph zeigt hier nicht ganz das, was er zeigen soll – es fehlt ein Pfeil, der von I(A) zu s(A) führt und der repräsentiert, dass das Ichideal die Funktion hat, das Signifikat zu stabilisieren.
Fiktion und Wahrheit
Auf den Funktionszusammenhang, durch den eine stabile Bedeutung entsteht, hatte Lacan sich auch mit der folgenden Sentenz bezogen: „Die Wahrheit hat die Struktur einer Fiktion“. In Seminar 7, Die Ethik der Psychoanalyse (1959/60), verweist er hierfür auf die „fiktionalen Entitäten“ von Jeremy Bentham.14 Dies sind nach Bentham Grundbegriffe, die keinen Bezug zu empirischen Gegebenheiten haben, wie „Zeit“, „Bewegung“, „Materie“ usw., die aber dennoch teilweise notwendig sind – nicht nur für theoretische, sondern auch für praktische Aktivitäten; vgl. diesen Blogartikel.
Signifikanten, die die Funktion haben, den Sinn zu fixieren, sind solche, die einen Wahrheitseffekt haben, denn für Lacan ist Wahrheit eine Beziehung zum Sinn – sei es, dass der Sinn aufgedeckt wird und hierdurch eine Täuschung beseitigt wird, sei es, dass etwas geglaubt wird. In Seminar 23 heißt es:
„Wahr ist nur, was einen Sinn hat.“15
Die Identifizierung mit dem einzelnen Zug
Freud schreibt in Massenpsychologie und Ichanalyse (1921):
„Bemerkenswert ist es, dass das Ich bei diesen Identifizierungen das eine Mal die ungeliebte, das andere Mal aber die geliebte Person kopiert. Es muß uns auch auffallen, daß beide Male die Identifizierung eine partielle, höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug von der Objektperson entlehnt.“16
Hieran anknüpfend entwickelt Lacan im Seminar Die Identifizierung (Seminar 9 von 1961/62) das Theorem vom einzelnen Zugs als Grundlage des Ichideals. Er übersetzt hier „einziger Zug“ zunächst mit trait unique („einziger Zug“) und wechselt später zu trait unaire („einzelner Zug“).17 In manchen Zusammenhängen ist wichtig, dass trait auch „Strich“ bedeutet, also eine Art Buchstabe; eine Strichliste besteht aus einer Reihe von traits unaires.
„Was wir hier finden, an der Grenze der cartesischen Erfahrung des verschwindenden Subjekts, ist die Notwendigkeit dieses Garanten, des Zugs (trait) von einfachster Struktur, des einzigen Zugs (trait unique), der, wenn ich so sagen darf, völlig entpersonalisiert ist, nicht nur von jedem subjektiven Inhalt, sondern sogar von allen Variationen, die über diesen einzigen Zug hinausgehen, was wir hier finden, ist die Notwendigkeit dieses Zugs, der insofern Eins ist, als er der einzige Zug ist.
Die Fundierung des Eins, das durch diesen Zug gebildet wird, wird in nichts anderem erfasst als in seiner Einzigkeit.
Über ihn als solchen kann man nichts anderes sagen, als dass er das ist, was allen Signifikanten gemeinsam ist, nämlich vor allem als Zug konstituiert zu sein, diesen Zug als Träger zu haben.
Werden wir in der Lage sein, uns darum herum im Konkreten unserer Erfahrung zu begegnen?
Ich meine das, was Sie bereits angezeigt sehen, nämlich die Ersetzung – in einer Funktion, die dem philosophischen Denken so große Schwierigkeiten bereitet hat, also diese fast notwendigerweise idealistische Neigung, die in der klassischen Tradition die gesamte Artikulation des Subjekts angenommen hat –; sie durch die Funktion der Idealisierung zu ersetzen, insofern auf ihr die strukturelle Notwendigkeit beruht, welche dieselbe ist wie die, die ich vor Ihnen bereits in Gestalt des Ichideals (idéal du moi) artikuliert habe, insofern von hier aus, ausgehend von diesem keineswegs mythischen, sondern vollkommen konkreten Punkt der anfänglichen Identifizierung des Subjekts mit dem radikalen Signifikanten – nicht mit dem Plotin’schen Einen, sondern eben mit dem einzelnen Zug –, insofern von hier aus die gesamte Auffassung des Subjekts als ‚nicht wissend‘ in strenger Weise entwickelt werden kann.“18
Den einzigen Zug findet man an der Grenze der kartesischen Erfahrung, an der Grenze des „Ich denke, also bin ich“. Diese Erfahrung ist eine des schwindenden Subjekts, insofern sie darauf beruht, dass alles, was irgendwie bezweifelt werden kann, zurückgewiesen wird. Offenbar sieht Lacan im einzigen Zug eine Entsprechung zum Cogito und zur Wahrheitsgarantie, das dieses liefern soll.
Wie das „Ich denke“ hat der einzige Zug keinerlei subjektiven Inhalt und keine Variation.
Der einzige Zug ist eins, er fundiert das Eins und er ist allen Signifikanten gemeinsam. Ich nehme an, dass der einzige Zug insofern allen Signifikanten gemeinsam ist, als sie je eins sind, je ein Signifikant; der einzige Zug verkörpert gewissermaßen das Je-eins-Sein der Signifikanten.
Wo begegnet man dem einzigen Zug in der konkreten Erfahrung der Psychoanalyse? Bei einem Ersetzungsvorgang, sagt Lacan, nämlich dort, wo das Subjekt durch eine Idealisierung ersetzt wird, durch das Ichideal (idéal du moi). Beim Ichideal geht es um die anfängliche Identifizierung des Subjekts mit einem grundlegenden Signifikanten, mit dem einzelnen Zug.
Von hier aus kann die Auffassung des Subjekts als „nicht wissend“ entwickelt werden; das Ichideal ist die Quelle der Verdrängung; durch das Ichideal entsteht das Subjekt als eines, das ein Unbewusstes hat, entsteht also das Subjekt im engeren, Lacan’schen Sinne. Das Ichideal steht in Beziehung zum Ein, nicht im Sinne des Einen von Plotin, also nicht im Sinne der allumfassenden Totalität oder Ganzheit, sondern im Sinne des abzählbar je einen, des einzelnen Zugs.
Der einzige Zug wird hier als „radikaler Signifikant“ bezeichnet. Er gehört demnach zur Ordnung der Signifikanten, also des Symbolischen, hat darin jedoch eine Sonderstellng: er bildet gewissermaßen ihre Wurzel.
Später heißt es im Identifizierungs-Seminar:
„Und dann, wenn wir annehmen, dass das, was wir hier auf numerische Weise zu konnotieren suchen, etwas ist, womit wir so operieren können, dass wir ihm den konventionellen Wert Wurzel aus minus eins verleihen, --. Was heißt ‚konventionell‘? Das heißt, genauso wie wir uns bemüht haben, bei der Bestimmung des idealen Zentrums des Subjekts, welches Ichideal heißt, die Funktion der Einheit als Funktion der radikalen Differenz herauszuarbeiten, genauso werden wir es aus gutem Grund im Folgenden mit dem gleichsetzen, was wir in unserer persönlichen Konnotation bislang als klein phi eingeführt haben [φ], das heißt die imaginäre Funktion des Phallus, und werden wir uns bemühen, aus der Konnotation alles herauszuziehen, worin uns das operativ dienlich sein kann.“19
Ausgehend vom Cogito – vom „Ich denke also bin ich“ – hatte Lacan eine mathematische Formel entwickelt, die zur imaginären Zahl Wurzel aus minus eins führte, ; er kündigt hier an, dass er sie mit klein phi gleichsetzen wird, mit φ, mit dem imaginären Phallus.
In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass er im laufenden Seminar die Funktion der Einheit, das heißt des einzigen Zugs, als Funktion der radikalen Differenz ausgearbeitet hatte und dass diese radikale Differenz die Grundlage des Ichideals bildet. Der einzige Zug ist für Lacan also die radikale Differenz.
Einige Sitzungen darauf heißt es:
„Was die erste Tatsache betrifft, die Verbindung des Subjekts mit diesem einzelnen Zug (trait unaire), werde ich heute – da ich denke, dass der Weg hinreichend artikuliert ist – den Schlusspunkt setzen, indem ich Sie daran erinnere, dass diese Tatsache, die in unserer Erfahrung so wichtig ist und die von Freud herausgestellt wurde, nämlich das, was er als Narzissmus der kleinen Differenzen bezeichnet, dass dies dasselbe ist wie das, was ich die Funktion des einzelnen Zugs nenne, denn das ist nichts anderes als die Tatsache, dass ausgehend von einer kleinen Differenz – und wenn man ‚kleine Differenz‘ sagt, dann sagt man nichts anderes als diese absolute Differenz, über die ich zu Ihnen spreche, diese Differenz, die von jedem möglichen Vergleich abgelöst ist –, dass ausgehend von dieser kleinen Differenz, insofern sie dasselbe ist wie das große I, das Ichideal (idéal du moi), sich die gesamte narzisstische Ausrichtung akkommodieren kann: das Subjekt, das als Träger dieses einzelnen Zugs konstituiert ist oder nicht.“20
Lacan spricht hier nicht mehr von trait unique, sondern vom trait unaire, nicht mehr vom „einzigen Zug“, sondern vom „einzelnen Zug“.
Worin besteht die Verbindung des Subjekts mit dem einzelnen Zug? Der Schlüssel ist Freuds Rede vom „Narzissmus der kleinen Differenzen“.21 Das Ichideal, groß I, wird ausgehend von der „kleinen Differenz“ errichtet. Diese kleine Differenz ist der einzelne Zug: eine absolute Differenz, die außerhalb jeden Vergleichs liegt. Die kleine Differenz ist das große I, das Ichideal – der Buchstabe I symbolisiert den trait unaire im Sinne des Einzelstrichs.
Um die kleine Differenz herum reorganisiert sich die gesamte narzisstische Strebung. Man kann dann zwei Formen der Subjektivität unterscheiden: das Subjekt ist entweder Träger eines einzelnen Zugs oder nicht. Nur im ersten Fall handelt es sich um ein Subjekt in dem Sinne, wie Lacan den Terminus meist gebraucht: der einzelne Zug ist die Grundlage des Ichideals, das Ichideal ist die Quelle des „Nichtwissens“ – der Verdrängung und des Unbewussten –, das Subjekt, so wie Lacan es auffasst, ist ein gespaltenes Subjekt, gespalten zwischen dem Ichideal und dem Unbewussten.
Wenn das Ichideal der Vorläufer des Herrensignifikanten ist, ist zu erwarten, dass auch der Herrensignifikant sich auf die kleine Differenz stützt, auf den einzelnen Zug.
In Seminar 19, … oder schlimmer (1971/72), wird Lacan die These vom einzelnen Zug als Grundlage des Ichideals ausarbeiten und mit der Formel Y a d’l’Un verbinden, ‚S gibt Eins.22)
Zusammen
Lacan fragt, sie die (symbolische) Identifizierung funktioniert, seine Antwort ist: sie beruht auf der Bildung von Herrensignifikanten. Ein Herrensignifikant zeichnet sich durch die folgenden beiden Merkmale aus:
– Er bringt die Verweisungsbewegung von Signifikant zu Signifikant zu einem Halt und damit die beständige Verschiebung der Bedeutung.
– Er arretiert die Bedeutung, hat aber selbst keine Bedeutung.
– Er stützt sich auf den einzigen oder einzelnen Zug, auf die narzisstische Besetzung einer minimalen Differenz.
Der Herrensignifikant in den vier Diskursen (Seminare 17 und 18)
In Seminar 17, Die Kehrseite der Psychoanalyse (1969/70), entwickelt Lacan eine Theorie der vier Diskurse, in der er den Herrensignifikanten in vier unterschiedlichen Funktionen auftreten lässt.
In der Formel für den Diskurs des Herrn ist der Herrensignifikant am Platz des Agenten bzw. des Scheins verortet (oben links). Der Herr beendet die Unklarheit der Situation – die beständige Verschiebung der Bedeutung –, indem er sich auf Leitsignifikanten beruft (Sokrates hat diese Struktur enthüllt), und indem er einen Befehl gibt, eine Entscheidung trifft, ein Gesetz verhängt.
Im Diskurs der Universität findet man am Platz des Agenten das Wissen, d.h. die beständige Differenzierung der Signifikanten und damit die unaufhörliche Verschiebung von Bedeutungen. Dem liegt jedoch eine verdeckte Wahrheit zugrunde – der S1 ist am Platz der Wahrheit (unten links). Es gibt uneingestandene Fixpunkte, die der Wissensdynamik entzogen sind. Im Falle der Universität ist dies der Befehl „weitermachen!“, „fahre damit fort, das Wissen in Umlauf zu bringen“ – dieser Befehl kann nicht relativiert werden. Weitere Herrensignifikanten sind Abschlüsse und Titel, sie verleihen überhaupt erst das Rederecht. Und schließlich fungiert im Diskurs der Universität, wie oben zitiert, das Ich als Herrensignifikant. Das heißt vielleicht. So sehr die Theorien sich unterscheiden, sie haben gemeinsam, dass sie auf der Figur des Ichs beruhen, das an seine Umwelt angepasst ist und diese Umweltanpassung steigert. Und natürlich beruht die Dynamik des Universitätswissens auf dem Narzissmus der kleinen Differenzen.
In der Formel für den Diskurs des Analytikers besetzt der Herrensignifikant den Platz der Produktion (unten rechts). Um welchen Herrensignifikanten geht es?
In Seminar 17 heißt es über diesen Diskurs:
„Ich sehe einfach nicht, warum ich vom Namen-des-Vaters sprechen sollte, denn da, wo er sich platziert, d. h. auf der Ebene, auf der das Wissen eine Funktion der Wahrheit ist, sind wir, eigentlich gesagt, in jeder Weise dazu verurteilt, nicht einmal über diesen Punkt, der für uns noch verschwommen ist, nämlich der Beziehung des Wissens zur Wahrheit, irgend etwas bekanntgeben zu können, außer – das sollten wir wissen – durch ein Halbsagen.“23
Demnach ist im Diskurs des Analytikers der Name-des-Vaters am Platz der Wahrheit verortet (unten links), dort, wo das Wissen seinen Platz hat – das Wissen, das der Analytiker durch den Neurotiker hat. Der Name des Vaters gilt hier als ein Element des Wissens, S2.
Eine Sitzung später wird Lacan die Zuordnung ändern und den Diskurs des Analytikers so beschreiben:
„Die wahre Triebfeder ist folgende: das Genießen trennt den Herrensignifikanten, insofern man ihn dem Vater zuschreiben möchte, vom Wissen als Wahrheit.“24
Das Genießen ist hier eine Blockierung zwischen den beiden unteren Termen, zwischen S1 (unten rechts) und S2 (unten links). S1 ist der Herrensignifikant, „insofern man ihn dem Vater zuschreiben möchte“. Jetzt begreift Lacan den Namen-des-Vaters als Herrensignifikanten, der im psychoanalytischen Diskurs zu produzieren ist.
In Seminar 18 von 1971, Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre, sagt er es noch deutlicher. Hier heißt es, die Aufgabe der Psychoanalyse bestehe darin, den Herrensignifikanten des psychoanalytischen Diskurses einzuführen, nämlich den Namen-des-Vaters.25
Möglicherweise sind beide Zuordnungen gemeint. Das würde heißen, dass der Name-des-Vaters eine Schlüsselrolle in dem Wissen spielt, das der Analytiker vom Neurotiker bekommt, und dass der Name-des-Vaters zugleich etwas ist, das durch eine Psychoanalyse produziert werden muss.
Im Diskurs der Hysterikerin findet man den Herrensignifikanten am Platz des Anderen (oben rechts). Damit ist hier die Autorität gemeint, an die der Neurotiker glaubt: ein Anderer, der mit der unaufhörlichen Verschiebung der Bedeutungen Schluss macht, indem er das letzte Wort spricht, der also beispielsweise festlegt, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein.
Die Reduzierbarkeit auf den Signifikanten Ein (Seminar 21)
In Seminar 21, Les non-dupes errent (1973/74), wird der Ausdruck S1 von Lacan so erläutert:
„Die Identifizierung beruht auf einer Vereinheitlichung.
Was habe ich früher für Sie in den Formeln der vier Diskurse geschrieben? Ein S1, der sich in ein S2 einrammt, auf es zeigt.
Was ist das, ein S1? Das ist, wie der Buchstabe anzeigt, ein Signifikant.
Das Spezifische eines Signifikanten besteht darin – das ist eine unabänderliche Sprachtatsache –, dass jeder Signifikant auf die Reichweite des Signifikanten Ein reduziert werden kann. Und als Signifikant Ein – ich denke, dass Sie sich an meine kleinen Klammern von früher erinnern, S1 und in Klammern S2, und dann gab es S1, die sich davordrängelten usw., um etwas auszudrücken, was ich so definiere – um klarzumachen, dass der Signifikant das ist, was bei der Konstituierung des Subjekts dominiert: ein Signifikant ist das, was für einen anderen Signifikanten ein Subjekt repräsentiert.
Also gut, also jeder Buchstabe x, welcher es auch sein mag, bedeutet dieses Ein als unbestimmt. Das ist das, was man bei einer Funktion – einer Funktion im mathematischen Sinne – das Argument nennt.
Von da bin ich ausgegangen, um zu Ihnen über die Identifizierung zu sprechen.“26
Der Herrensignifikant, S1, dient Lacan dazu, um über die Identifizierung zu sprechen.
In S1 bedeutet der Buchstabe S „Signifikant“; die Ziffer Eins meint: unbestimmtes Ein.
Die Eins von „S1“ repräsentiert das unbestimmte Ein, das „irgendein“. Jeder Signifikant kann auf „irgendeiner“ reduziert werden, auf „irgendein Signifikant“. Der Herrensignifikant bezieht sich darauf, dass jeder Signifikant auf das unbestimmte Ein reduziert werden kann, auf den inhaltslosen Unterschied zu allen anderen Signifikanten, mit Freud: auf die kleine Differenz, die den Kern des Ichideals bildet.27 „S1“ meint, ein Signifikant, der auf dem unbestimmten Ein beruht.
Das Ein wird hier als Signifikant bezeichnet, es gehört also zur Ordnung des Symbolischen, hat darin aber eine Sonderstellung, er ist so etwas wie ein Grundsignifikant, ein Elementarsignifikant. Das entspricht dem Verhältnis von Ichideal und einzigem Zug im Seminar über die Identifizierung.
Inwiefern beruht die Identifizierung auf einer Vereinheitlichung? Nicht in dem Sinne, dass der Herrensignifikant alle übrigen Signifikanten unter sich subsumiert. In Seminar 9 hatte es geheißen:
„Die Identifizierung hat nichts mit Vereinheitlichung zu tun.“28
In einer späteren Sitzung von Seminar 9 hatte Lacan angemerkt, der einzelne Zug, der bei der Identifizierung übernommen wird, sei etwas ganz anderes als der Kreis, der versammelt.29 In Seminar 17 hatte er betont, dass es bei der Identifizierung nicht um die All-Einheit geht, nicht darum, die Komplementarität der Geschlechter herzustellen:
„Das ist die geordnete Verkleidung der grundlegenden Tatsache, dass es keinen möglichen Platz in einer mythischen Vereinigung gibt, die als sexuelle zwischen dem Mann und der Frau definiert wäre. Eben da ist, dass das, was wir im psychoanalytischen Diskurs erfassen, das vereinigende Ein, das All-Ein, nicht das ist, worum es bei der Identifizierung geht.“30
Der Satz „Die Identifizierung beruht auf einer Vereinheitlichung“ muss demnach so gelesen werden: Die Identifizierung beruht insofern auf einer Vereinheitlichung, als sie ihre Grundlage darin hat, dass ein Signifikant zu „irgendeinem“ Signifikanten werden kann, zur absoluten Differenz, also darin, dass er auf den Signifikanten Ein reduziert werden kann. Man könnte auch schreiben: „Die Identifizierung beruht auf einer VerEINheitlichung.“ Die Identifizierung stützt sich also keineswegs insofern auf eine Vereinheitlichung, als durch sie eine Ganzheit erzeugt würde, eine Totalität.
Die Beziehung des Herrensignifikanten, S1, zum Wissen, S2, hat etwas Gewaltsames, wie Lacans Metapher andeutet: S1 rammt sich in die Signifikantenbeziehungen ein, in das Wissen, in S2. Das Verhältnis des Herrensignifikanten zum Wissen ist nicht harmonisch, der Herrensignifikant stiftet nicht Ruhe und Ordnung.
Die Beziehung S1 → S2 kann auf verschiedene Weisen gedeutet werden, die Grundbedeutung ist die Verdrängung. Das Ichideal, schreibt Freud, dient zur Verdrängung des Ödipuskomplexes und verdankt diesem Umschwung seine Entstehung.31 S1, der Herrensignifikant, ist der verdrängende Signifikant: das Ichideal, das auf der narzisstisch besetzten kleinen Differenz beruht. S2, das Wissen, ist das verdrängte Signifikantenpaar und damit das Unbewusste.
An der eingangs zitierten Stelle bezieht Lacan sich auf eine Formel, die er in Seminar 20 vorgestellt hatte, Encore (1972/73).32 Sie hat folgende Gestalt:
S1(S1(S1(S1 → S2)))
S1 → S2 meint: die Verdrängung besteht darin, dass Signifikanten, die die Funktion S1 haben, sich verdrängend auf Signifikanten beziehen, die als S2 fungieren. S1, der Herrensignifikant (das Ichideal) bringt die Bedeutungsverweisung zu einem Halt; er kann auf den einzelnen Zug reduziert werden, auf die narzisstische Differenz, auf das Ein. S2 steht für das unbewusste Wissen, für das Unbewusste als Wissen; hier geht es um die Beziehungen der Verdichtung und der Verschiebung, von Metapher und Metonymie, das Unbewusste kann deshalb auf die Beziehungen zwischen zwei Signifikanten reduziert werden.33
Die verschachtelten Klammern deuten an, dass Identifizierungen aufeinander aufbauen. Beispielsweise kann die Identifizierung mit dem Vater durch die mit der Lehrerin ersetzt werden, dabei ist die erste Identifizierung jedoch weiterhin wirksam – hinter der Identifizierung mit Frau Müller versteckt sich die mit Papa. In der Formel steht das rechte S1 für die erste Identifizierung, das linke S1 für die letzte. Lacan nennt die verschachtelten Identifizierungen essaim, „Schwarm“, im Sinne von „Schwarm der Identifizierungen“. Essaim ist lautgleich mit S un, „S Eins“, also mit S1, wenn man es französisch ausspricht.34
Mithilfe der Beziehung zwischen S1 und S2 lässt sich eine von Lacans Sentenzen deuten: „Ein Signifikant ist, was für einen anderen Signifikanten das Subjekt repräsentiert.“35 Zu diesem Zweck muss man zu den Symbolen S1 und S2 ein drittes hinzufügen, das durchgestrichene S, also $, als Symbol für das ausgestrichene oder gespaltene Subjekt. Der Aphorismus kann dann so gelesen werden: S1 repräsentiert für S2 das $; die Identifizierung in Gestalt des Ichideals, die sich auf den Signifikanten Ein stützt, repräsentiert für das Unbewusste das ausgestrichene Subjekt. Anders gesagt: Das Subjekt ist der Effekt einer Beziehung zwischen zwei Funktionsweisen von Signifikanten: zwischen den verdrängenden Signifikanten S1 (dem Schwarm der Herrensignifikanten als Ichideal) und den verdrängten Signifikanten S2 (dem unbewussten Wissen). Das Subjekt wird weder durch das eine noch durch das repräsentiert (die Formel ist irreführend), es ist vielmehr die Spaltung zwischen diesen beiden Funktionsweisen von Signifikanten.
An der eingangs zitierten Stelle erläutert Lacan den Signifikanten Ein durch die Begriffe Funktion und Argument, wie sie in der Mathematik verwendet werden. Eine Funktion ist eine Zuordnungsvorschrift zwischen zwei Mengen; durch sie wird jedem Element der einen Menge genau ein Element der anderen zugewiesen. Beispielsweise ordnet die Funktion f(x) = x2 jedem Wert x das Quadrat dieses Wertes zu; der 1 wird die 1 zugewiesen und sonst nichts, der 2 die 4, der 3 die 9 usw. Der Ausdruck x wird in einer Funktion als „Argument“ bezeichnet. Das x, das Argument, ist irgendein Element der einen Menge, anders gesagt: eine Variable. In Lacans Terminologie: das x, das Argument, ist das unbestimmte Ein. Der Ausdruck S1 kann demnach so gelesen werden: „irgendein Element einer Menge von Signifikanten“ im Sinne von: ein Signifikant, der sich darauf reduzieren lässt, sich von den anderen Signifikanten zu unterscheiden, auf den auf das pure Unterschiedensein reduzierten Unterschied.
Von dort sei er ausgegangen, als er über die Identifizierung sprach, sagt Lacan. Damit bezieht er sich auf Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62). Hier hatte er nicht mit der Terminologie von Funktion und Argument operiert; der Schlüsselbegriff war der trait unaire, der einzige Zug, der Einzelstrich – die Identifizierung besteht in der Übernahme eines „einzigen Zugs“, wie es bei Freud heißt.36 Eine Grundlage für das Funktionieren des Herrensignifikanten ist die Identifizierung mit dem „einzigen Zug“, heißt es in Seminar 17, Die Kehrseite der Psychoanalyse (1969/70).37 Der Signifikant Ein ist der Erbe des „einzigen Zugs“.
Der einzige Zug hat also eine verzweigte Geschichte: aus ihm wird einerseits, im Aufsatz Lituraterre (1971), der Buchstabe und andererseits der Signifikant Ein. Buchstabe und Signifikant werden in Lituraterre scharf unterschieden: der Buchstabe gehört zum Realen, der Signifikant zum Symbolischen.
Drei Formen der Identifizierung (Seminar 22)
Die Identifizierung mit dem einzigen Zug ist die Schlüsselidentifizierung, sagt Lacan in Seminar 17. Es gibt also mehrere Formen der Identifizierung; die mit dem einzigen Zug ist eine von ihnen. Welche anderen Formen der Identifizierung gibt es und wie unterscheidet sich von ihnen die Identifizierung mit dem einzigen Zug?
In Seminar 22, RSI (1974/75), heißt es:
„Die Identifizierung, die dreifache Identifizierung, wie er [Freud] sie vorbringt, ich formuliere für Sie die Art und Weise, wie sie von mir definiert wird. Wenn es einen realen Anderen gibt, ist er nirgendwo anders als eben im Knoten, und insofern gibt es keinen Anderen des Anderen.
Dieser reale Andere, wenn Sie sich mit seinem Imaginären identifizieren, dann haben Sie die Identifizierung des Hysterikers mit dem Begehren des Anderen, diejenige, die sich hier an diesem zentralen Punkt ereignet.
Identifizieren Sie sich mit dem Symbolischen des realen Anderen, dann haben Sie diese Identifizierung, die ich als die mit dem einzigen Zug*, mit dem trait unaire, spezifiziert habe.
Identifizieren Sie sich mit dem Realen des realen Anderen, dann erhalten Sie das, worauf ich mit dem Namen-des-Vaters verwiesen habe, und da bezeichnet Freud das, was die Identifizierung mit der Liebe zu tun hat.“38
Gemeinsam ist den drei Formen der Identifizierung, dass sie sich, wie Lacan sagt, auf den „realen Anderen“ beziehen. Wer ist der „reale Andere“? Ich habe die Verwendung des Ausdrucks für die Seminare 16 bis einschließlich 23 überprüft, die Rede vom „realen Anderen“ findet man außer an der zitierten Stelle nur noch einmal. In Seminar 23 heißt es:
„Der Andere des realen, d.h. unmöglichen Anderen, das ist die Idee, die wir vom Kunstwerk haben, insofern es ein Tun ist, das uns entgeht, d.h. das bei weitem das Genießen übersteigt, das wir davon haben können.“39
Der reale Andere ist der unmögliche Andere. Man darf vermuten, dass in Seminar 22 dasselbe gemeint ist: der reale Andere ist der Andere, insofern er uns letztlich unzugänglich ist, insofern er weder symbolisiert noch imaginiert werden kann.
Der reale Andere, sagt Lacan, ist nur im Knoten. In Seminar 21 hatte es, nach einem Hinweis auf Freuds Unterscheidung von Identifizierungsarten, geheißen:
„So dargestellt, ist das nur ein Knoten von Rätseln, ich möchte sagen: ein weiterer Grund, um zu arbeiten, d.h. um zu versuchen, dem eine Form zu geben, die mit einem strengeren Algorithmus ausgestattet ist. Dieser Algorithmus ist genau das, was ich mit der Drei selbst zu liefern versuche, insofern diese Drei als solche einen Knoten bildet.“40
Die Beziehung zum realen Anderen kann nur dadurch präzisiert werden, dass man sich auf die Knotentheorie bezieht; die Dreizahl der Identifizierungen, die man bei Freud findet, ist von der Dreigliedrigkeit der borromäischen Verschlingung her theoretisch zu rekonstruieren. Einen Zugang zum realen Anderen gibt es auf dem Weg über das Imaginäre, über das Symbolische und über das Reale. „Es gibt keinen Anderen des Andern“ bedeutet dann, eine andere Beziehung zum Anderen als die über das Imaginäre, das Symbolische oder das Reale ist unmöglich; diese Zugänge verfehlen aber den Anderen.
Die Identifizierung mit dem realen Anderen kann, wie es an der zitierten Stelle aus Seminar 22 heißt, drei Formen annehmen, die Identifizierung kann mit dem Imaginären des realen Anderen erfolgen, mit seinem Symbolischen und mit seinem Realen.
Lacan bezieht sich hier auf Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). Im siebten Abschnitt, „Die Identifizierung“, unterscheidet Freud drei Formen der Identifizierung:
– Eine Form der Identifizierung besteht darin, dass das Begehren eines anderen kopiert wird – eines anderen, der kein Liebesobjekt ist.
– Eine weitere Form der Identifizierung ist die neurotische Identifizierung im Rahmen des Ödipuskomplexes, sie tritt an die Stelle der Objektliebe, und sie vollzieht sich dadurch, dass ein Symptom des Liebesobjekts imitiert wird.
– Schließlich gibt es die präödipale Identifizierung mit dem idealisierten und zum Vorbild genommenen Vater.41
Hysterische Identifizierung
Die hysterische Identifizierung besteht darin, dass ich mich mit dem Begehren eines anderen identifiziere – ich finde mein Begehren dadurch, dass ich das Begehren eines anderen imitiere.
Freud erläutert diesen Typ der Identifizierung so: In einem Pensionat bekommt ein Mädchen einen Brief ihres geheim Geliebten, das Schreiben erregt ihre Eifersucht, auf diese Eifersucht reagiert sie mit einem hysterischen Anfall. Andere Mädchen kopieren den Anfall, und damit bekunden sie, dass sie sich ebenfalls ein geheimes Liebesverhältnis wünschen. Für diesen Identifizierungstyp ist charakteristisch, sagt Freud, dass die Briefempfängerin für die anderen Mädchen kein Liebesobjekt ist. Sie identifizieren sich mit ihr auch nicht aufgrund eines Mitgefühls, vielmehr entsteht das Mitgefühl durch die Identifizierung.42
Die identifizierende Spiegelbeziehung zum Begehren eines Anderen ist, in Lacans Sicht, keineswegs eine Projektion; die Mädchen schreiben der Briefempfängerin nicht etwa ein Begehren zu, das sie selbst bereits haben. Die Beziehung verläuft umgekehrt: die Mädchen übernehmen das Begehren ihres Spiegelbildes und verwandeln sich auf diese Weise in begehrende Subjekte.
Die hysterische Form der Identifizierung ist, wie Lacan in der zitierten Passage sagt, eine Identifizierung mit dem Imaginären des realen Anderen. Der Mechanismus dieser Identifizierungsart hat imaginären Charakter, anders gesagt, die Mädchen des Pensionats verwenden die Briefempfängerin als ihr Spiegelbild. Freud beschreibt diesen Vorgang so:
„Der Mechanismus ist der der Identifizierung auf Grund des sich in dieselbe Lage Versetzenkönnens und Versetzenwollens.“43
Diese Bestimmung ist zu schwach. Für jede der drei Identifizierungsformen muss man sich in die Lage des Anderen versetzen können. Worin besteht der Unterschied der hysterischen Identifizierung?
Das Begehren des Anderen, sagt Lacan an der zitierten Stelle aus Seminar 22, ereignet sich „an diesem zentralen Punkt“. Er zeigt dabei auf ein Diagramm der borromäischen Ringe (siehe Abbildung rechts) und darin auf das a im Zentrum des Schemas. Die hysterische Form der Identifizierung, so hatte er in Seminar 9 ausgeführt, stützt sich auf das Phantasma und damit auf das Objekt a.44 In einer späteren Sitzung von Seminar 22 heißt es:
„Und wo habe ich für Sie markiert, dass das Begehren bereits verortet ist, das Begehren, das ebenfalls eine Möglichkeit der Identifizierung ist? Das ist hier [Lacan zeigt auf ein Diagramm der borromäischen Ringe], nämlich da, wo ich für Sie den Platz des Objekts a lokalisiert habe.“45
Die hysterische Identifizierung hat insofern imaginären Charakter, als sie im Phantasma ihre Grundlage hat.
Identifizierung mit einem einzigen Zug
Der zweite Typ der Identifizierung in Lacans Liste ist die Identifizierung mit dem Symbolischen des realen Anderen. Ihr entspricht bei Freud (im Identifizierungskapitel von Massenpsychologie und Ich-Analyse) die Identifizierung mit dem Liebes- und Hassobjekt im Rahmen des Ödipuskomplexes. Freud zufolge ist diese Form der Identifizierung dadurch gekennzeichnet, dass ein Symptom des geliebten Objekts oder des Rivalen übernommen wird, zum Beispiel ein quälender Husten. Danach heißt es bei Freud:
„Es muß uns auch auffallen, dass beide Male [beim geliebten und beim ungeliebten Objekt] die Identifizierung eine partielle, höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug von der Objektperson übernimmt.“46
Ausgehend von dieser Bemerkung hatte Lacan in Seminar 9 eine Theorie des „einzigen Zugs“ ausgearbeitet. Der einzige Zug wird dort von ihm als absolute Differenz bestimmt, d.h. als eine Differenz, die auf das nahezu inhaltslose pure Verschiedensein reduziert ist, anknüpfend an Freuds Theorem vom „Narzissmus der kleinen Differenzen“ (vgl. diesen Blogartikel).
Durch die Übernahme eines „einzigen Zugs“ – durch die narzisstische Besetzung einer kleinen Differenz – entsteht, Lacan zufolge, das Ichideal.47 Die Identifizierung mit dem „einzigen Zug“ hat zum Ergebnis, dass sich das Subjekt unheilbar gespalten findet, zwischen seinem Begehren und seinem Ideal.48
Die Identifizierung mit dem einzelnen Zug hat das Ichideal zur Folge, sie entspricht dem Herrensignifikanten, der sich auf den Signifikanten Ein reduzieren lässt.
Im Überblick über die drei Identifizierungsformen in Seminar 22 sagt Lacan, die Identifizierung mit dem einzigen Zug sei eine Identifizierung mit dem Symbolischen des realen Anderen. Inwiefern bezieht sie sich auf das Symbolische? Insofern, als bei dieser Identifizierungsform letztlich um den Signifikanten Ein geht, um die pure Differenz als Grundlage des Symbolischen.
Freud hatte die hysterische Identifizierung von der Identifizierung mit dem einzigen Zug dadurch unterschieden, dass im ersten Fall die Objektbeziehung – Liebe oder Hass – keine Rolle spielt, wohingegen die Identifizierung mit dem einzigen Zug sich als Umwandlung einer Objektbesetzung vollzieht.
Anders als die hysterische Identifizierung geht die symbolische Form der Identifizierung mit Verdrängung einher, mit der Verdrängung der Liebes- und Hassbeziehungen zu den Eltern. Eben das meint die Beziehung zwischen S1 und S2: die Idealbildung durch Identifizierung mit dem einzelnen Zug (S1) führt zur Verdrängung, d.h. zur Entstehung des unbewussten Wissens (S2).
Identifizierung mit dem Namen-des-Vaters
In Lacans Liste der Identifizierungsarten in Seminar 22 ist die dritte Form der Identifizierung diejenige, auf die er sich mit dem Begriff „Name-des-Vaters“ bezieht. In Freuds Darstellung der drei Identifizierungsformen in Massenpsychologie und Ich-Analyse ist dies die vorödipale Identifizierung mit dem idealisierten Vater.
Diese Form der Identifizierung, sagt Lacan, bezieht sich auf das Reale des realen Anderen. Ich vermute, dass er damit auf die folgende Bemerkung von Freud anspielt:
„Sie [die vorödipale Identifizierung mit dem Vater] benimmt sich wie ein Abkömmling der ersten oralen Phase der Liebesorganisation, in welcher man sich das begehrte und geschätzte Objekt durch Essen einverleibte und es dabei als solches vernichtete. Der Kannibale bleibt bekanntlich auf diesem Standpunkt stehen; er hat seine Feinde zum Fressen lieb, und er frißt die nicht, die er nicht irgendwie liebhaben kann.“49
Falls Lacan tatsächlich indirekt auf diese Passage verweist, besteht das Reale der mit dem Namen-des-Vaters verbundenen Identifizierung darin, dass sie auf einer „Einverleibung“ beruht; in Totem und Tabu ist dies das Verzehren des ermordeten Vaters durch die Brüderhorde.50 In Seminar 9 hatte es zu Freuds Konzept der präödipalen Identifizierung mit dem Vater geheißen, hier gehe es um „Einverleibung“, und „Einverleibung“ besage, dass sich hier etwas auf der Ebene des Körpers herstellt.51 Was stellt sich auf der Ebene des Körpers her? Das ist mir nicht klar.
Die Identifizierung, die sich auf den Namen-des-Vaters bezieht, hat mit der Liebe zu tun, sagt Lacan in seinem Überblick über die drei Identifizierungsformen im RSI-Seminar. Bereits in Seminar 8 hatte es über die präödipale Identifizierung mit dem Vater geheißen, dass sie sich auf den Vater insofern bezieht, als im Liebesanspruch etwas von ihm gefordert wird52; in Seminar 17 hatte Lacan erklärt, der Vater sei ursprünglich derjenige, der die Liebe verdient und der selbst Liebe ist53. In Seminar 22 heißt es, bezogen auf die borromäische Verschlingung aus vier Ringen, Freud habe obenan gesetzt,
„dass es Liebe, möchte ich sagen, nur von dem her gibt, was vom Namen-des-Vaters zwischen den dreien eine Verschlingung herstellt, aus dreien eine Verschlingung bildet“54.
Demnach ist die Identifizierung mit dem einzelnen Zug, die zur Herausbildung des Ichideals führt, keineswegs identisch mit der Identifizierung mit dem Namen-des-Vaters. In Seminar 9 hatte es hingegen geheißen, der Begriff des Vaters liefere für den Polsterstich – also für den späteren Herrensignifikanten – das am deutlichsten wahrnehmbare Element; ich habe das oben referiert.55
Man kann die drei Formen der Identifizierung so unterscheiden:
– Die vorödipale Identifizierung mit dem Vater bezieht sich auf den Vater als Adressaten des Liebesanspruchs, also der Forderung, geliebt zu werden; sie vollzieht sich durch „Einverleibung“, durch eine Veränderung auf der Ebene des Körpers.
– Die Identifizierung mit dem einzigen Zug dient der Unterdrückung einer Liebes- und Hassbeziehung. Sie besteht in der Übernahme eines Merkmals, mit dem eine minimale Differenz narzisstisch besetzt wird.
– Die hysterische Identifizierung besteht darin, dass das Begehren eines Anderen übernommen wird, sie bezieht sich auf das Objekt a; durch diesen Typ der Identifizierung wird das Subjekt zu einem begehrenden Subjekt.
Muss man also zwei Formen der Identifizierung mit dem Namen-des-Vaters unterscheiden? Die eine wäre die primäre Identifizierung, bei der es um Liebe geht, bei der anderen ginge es um die ödipale Identifizierung mit dem einzelnen Zug, bei der der Name-des-Vaters als Herrensignifikant fungiert und die Verdrängung in Gang setzt? Spielt hierauf der Plural im Titel des abgebrochenen Seminars 11 von 1963 an, „Namen des Vaters“? Erfüllt der Name des Vaters also zwei unterschiedliche Funktionen, einerseits als Signifikant auf der Ebene des Verdrängten, des unbewussten Wissens, die verdrängte Beziehung zur Vaterliebe, andererseits als (verdrängender) Herrensignifikant?
Zusammenfassung
Der Begriff des Herrensignifikanten (signifiant maître) wird von Lacan in Seminar 17 eingeführt, Die Kehrseite der Psychoanalyse (1969/70).
Beim Herrensignifikanten geht es um die Identifizierung, genauer: um eine bestimmte Form der Identifizierung, um diejenige Identifizierung, deren Resultat Lacan in früheren Seminaren als Ichideal bezeichnet hatte (idéal du moi).
Das Symbol für den Herrensignifikanten ist S1. Der Buchstabe S steht für „Signifikant“, die Ziffer 1 für das unbestimmte Ein. S1 spielt darauf an, dass jeder Signifikant darauf reduziert werden kann, „irgendein“ Signifikant zu sein, d.h. ein Signifikant, dessen einziges Merkmal darin besteht, dass er sich von allen anderen Signifikanten unterscheidet.
Mit der Eins im Symbol S1 ist also nicht gemeint, dass der Herrensignifikant alle anderen Signifikanten unter sich subsumiert. Anders gesagt: Beim Herrensignifikanten geht es nicht um das vereinigende Ein, nicht um das All-Ein, nicht um die Bildung einer Totalität oder Ganzheit.
Eine frühere Version des Begriffs des Herrensignifikanten ist, wie Lacan in Seminar 17 ausdrücklich festhält, der Begriff point de capiton, „Polsterstich“ oder „Stepppunkt“, den er im Psychose-Seminar eingeführt hatte (Seminar 3 von 1955/56). Bei der Bestimmung einer Beeutung wird man von Signifikant zu Signifikant geschickt, damit verschiebt sich die Bedeutung beständig und damit entsteht das Problem, wie überhaupt halbwegs stabiler Sinn entsteht, wie also die Verweisung zu einem Halt kommt. Eben diese ist die Leistung bestimmter Signifikanten. Einen Signifikanten dieses Typs bezeichnet Lacan als „Polsterstich“, da er gewissermaßen den Signifikanten mit dem Signifikat vernäht. Bezieht man sich auf die Verkettung von Wörtern zu einem Satz, ist es das Satzende, das dafür sorgt, dass die beständige Verschiebung der Bedeutung durch jedes hinzugefügte Wort zu einem Halt kommt; also fungiert das Satzende – gewissermaßen der Punkt – als Polsterstich. In größeren sprachlichen Einheiten wird die Stabilisierung der Bedeutung durch Leitsignifikanten realisiert. Lacans Beispiel im Psychose-Seminar ist der Ausdruck „Gottesfurcht“, so wie er in einem Drama von Racine verwendet wird. Dort bringt dieses Wort das Chaos der Gefühle – der widerstreitenden Signifikanten – in eine Ordnung; es stabilisiert also die Bedeutung und erfüllt damit die Funktion des Polsterstichs. Auf der Polsterstichfunktion beruht auch die Sonderstellung des Ödipuskomplexes, heißt es im Psychose-Seminar; der Begriff des Vaters liefere für den Polsterstich, welcher Signifikant und Signifikat verknüpft, das am deutlichsten wahrnehmbare Element.
Jeremy Bentham bezeichnet Signifikanten in bedeutungsstabilisierender Funktion als „fiktionale Entitäten“. In Seminar 7 hatte Lacan sich zustimmend hierauf bezogen (Die Ethik der Psychoanalyse, 1959/60). Auch diese „Fiktionen“ können als Vorläufer des Konzepts des Herrensignifikanten angesehen werden.
In Seminar 9 führt Lacan aus, dass das Ichideal auf dem einzelnen Zug beruht, auf dem trait unaire (Die Identifizierung, 1961/62). Die Identifizierung mit dem Liebes- und Hassobjekt im Ödipuskomplex ist, wie Freud sagt, die Identifizierung mit einem „einzigen Zug“. Für Lacan ist die letzte Grundlage des Ersetzungsvorgangs, durch den das Ichideal sich bildet, die Identifizierung mit einem „einzelnen Zug“. Er versteht darunter eine absolute Differenz, eine Differenz, die jeden konkreten Inhalts beraubt ist, und verarbeitet damit Freuds Rede vom „Narzissmus der kleinen Differenzen“. Der Bezug auf die kleine Differenz, auf den einzelnen Zug, hat zur Folge, dass sich die gesamte narzisstische Strebung reorganisiert.
Die Herrensignifikanten, S1, bilden einen essaim, wie Lacan mit einem unübersetzbaren Wortspiel sagt, einen Schwarm; S1 und essaim sind im Französischen lautgleich (Seminar 20 von 1972/73, Encore). Das Ichideal besteht aus einer Serie von Identifizierungen.
Der Herrensignifikant, S1, bezieht sich auf das Wissen, S2, was man so schreiben kann: S1 → S2. Diese Beziehung hat etwas Gewaltsames: durch die Einsetzung des Ichideals bzw. des Herrensignifikanten kommt es dazu, dass das Subjekt „nicht wissend“ ist, dass es ein Unbewusstes hat. Auch hierfür stützt Lacan sich auf Freud, demzufolge das Ichideal die Funktion hat, den Ödipuskomplex zu verdrängen. Der Herrensignifikant, S1, ist das Verdrängende, das unbewusste Wissen, S2, ist das Verdrängte.
Die Identifizierung mit dem „einzelnen Zug“ ist eine von drei Arten der Identifizierung nämlich die symbolische Form der Identifizierung (Seminar 22 von 1974/75, RSI). Lacan rekonstruiert hier Freuds Triade der Identifizierungsarten in Massenpsychologie und Ich-Analyse. Die Identifizierung mit dem „einzigen Zug“ ist insofern symbolisch, als sie sich auf die Grundlage des Symbolischen stützt, auf die Differenz. Sie ist zu unterscheiden von der präödipalen Identifizierung mit dem Vater als Adressaten des Liebesanspruchs, also des Anspruchs, geliebt zu werden; Lacan nennt dies die reale Identifizierung. Sie ist aber auch etwas anderes als die hysterische Identifizierung, die darin besteht, dass das Begehren eines anderen kopiert wird – für Lacan ist dies die imaginäre Identifizierung.
In welchem Verhältnis steht die präödipale Identifizierung mit dem Vater (Freuds erste Form der Identifizierung) zur ödipalen Identifizierung mit dem „einzigen Zug“ (Freuds zweite Form der Identifizierung)? Hat der Name des Vaters zwei unterschiedliche Funktionen, zum einen im Zusammenhang des ursprünglichen Liebesanspruchs (reale Identifizierung), zum anderen als Signifikant der Idealbildung auf der Grundlage des „einzigen Zugs“ (symbolische Identifizierung)?
In der Theorie der vier Diskurse (Seminar 17) weist Lacan dem Herrensignifikanten vier Plätze zu, vier unterschiedliche Funktionen in Abhängigkeit von der jeweiligen Diskursart.
– Im Diskurs des Herrn ist der Herrensignifikant am Platz des Agenten (oben links); in Seminar 18 bezeichnet Lacan diesen Platz als den des Scheins. Der Herr agiert als derjenige, der durch Signifikanten den Sinn fixiert, sei es durch Bezug auf Leitsignifikanten, sei es, indem er das Ende der Debatte verkündet.
– Im Diskurs der Universität findet man den Herrensignifikanten am Platz der verborgenen Wahrheit (unten links). Am Platz des Agenten ist hier das Wissen, S2, und damit die beständige Veränderung der Bedeutung durch neue Differenzen. Es gibt jedoch Fixpunkte, die allerdings verdeckt sind. Dazu gehört der Befehl „mach weiter so“, fahre fort mit der Wissensverbreitung; dazu gehören Abschlüsse und Titel als Bedingungen dafür, autorisiert sprechen zu können; dazu gehört der Mythos vom idealen Ich.
– Im Diskurs des Analytikers besetzt der Herrensignifikant den Platz der Produktion (unten rechts). Der entscheidende Herrensignifikant ist hier der Name-des-Vaters; die psychoanalytische Kur zielt darauf ab, diesen Herrensignifikanten zu produzieren.
– Im Diskurs des Hysterikers ist der Herrensignifikant am Platz der Arbeit bzw. des Anderen (oben rechts). Der Neurotiker wendet sich an den idealisierten Herrn, an einen Anderen, der das letzte Wort spricht, das die beständige Verschiebung der Bedeutungen zu einem Halt bringt.
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Anmerkungen
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Zuerst in der Sitzung vom 18. Februar 1970; vgl. Seminar 17, Version Miller, S. 101.
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Das Symbol S1 hatte Lacan, in ähnlicher Funktion wie ab Seminar 17, bereits im vorangegangenen Seminar verwendet, Von einem Anderen zum anderen (Seminar 16 von 1968/69), nicht jedoch den Terminus „Herrensignifikant“. Auch davor hatte Lacan mit den Symbolen S1 und S2 operiert – etwa im Seminar über die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (Seminar 11 von 1964) –, dort jedoch in anderer Bedeutung.
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Seminar 17, Sitzung vom 21. Januar 1970, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller, S. 70 f.– Miller transkribiert „développe“ (entwickelt) statt „dérobe“ (entzieht).
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Die Unterscheidung zwischen dem Ichideal (idéal du moi) und dem Ideal-Ich (moi idéal) wird von Lacan in Seminar 1 eingeführt, in der Sitzung vom 31. März 1954.
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In: S. Freud: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 37–68, hier: S. 62.
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Seminar 17, Sitzung vom 17. Juni 1970, meine Übersetzung nach Version Staferla; Version Miller, S. 219.
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Vom point de capiton spricht Lacan erstmals in der Sitzung vom 18. April 1956.
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Sitzung vom 18. April 1956; Version Miller/Turnheim, S. 236.
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Die Formulierung, „dass das Signifikat unaufhörlich unter dem Signifikanten gleitet“, findet sich in Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957), Schriften II, S. 27.
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Vgl. Seminar 3, Sitzung vom 6. Juni 1956; Version Miller/Turnheim, S. 310-317.
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Vgl. Seminar 3, Sitzung vom 6. Juni 1956; Version Miller/Turnheim, S. 317.
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Lacan bezieht sich auf einen Vortrag, den Jean Laplanche und Serge Leclaire 1960 beim sechsten Colloquium von Bonneval gehalten hatten: L’inconscient, une étude psychanalytique; er wurde zuerst veröffentlicht in: Les Temps modernes, 17. Jg. (1961), Nr. 183, S. 81-99. Eine ausführlichere Version enthält: Jean Laplanche, Serge Leclaire: L’inconscient, une étude psychanalytique. In: Henri Ey (Hg.): L’Inconscient. VIe Colloque de Bonneval. Desclée, De Brouwer, Paris 1966, S. 95-130. In dem Buch Psychanalyser (1968) hat Leclaire seinen Teil weiter ausgearbeitet: S. Leclaire: Der psychoanalytische Prozess. Übersetzt von Norbert Haas. Walter-Verlag, Olten u.a. 1971, Kapitel V-VII.
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Vgl. Lacan, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, in: Schriften II, hg. v . N. Haas, S. 165-204, hier: S. 193
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Seminar 23, Sitzung vom 9. März 1976; Version Miller, S. 116; Übersetzung von Max Kleiner, S. 118.
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Die Formulierung trait unaire findet man zuerst in der Sitzung vom 6. Dezember 1961.
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Seminar 9, Sitzung vom 22. November 1961, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Seminar 9, Sitzung vom 10. Januar 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Seminar 9, Sitzung vom 28. Februar 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191-270, hier: S. 242 f.
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Zuerst in der Sitzung vom 15. März 1972, Version Miller S. 127. Einen Hinweis auf das Identifizierungsseminar und den trait unaire findet man auf S. 126.
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Seminar 17, Sitzung vom 11. März 1970; Version Miller, S. 125, meine Übersetzung.
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Seminar 17, Sitzung vom 18. März 1970; Version Miller, S. 151, meine Übersetzung.
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Vgl. Seminar 18, Sitzung vom 16. Juni 1971; Version Miller S. 172 f.
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Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974, meine Übersetzung nach Version Staferla.
-
Vgl. Seminar 17, Sitzung vom 18. Februar 1970; Version Miller, S. 100.
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Seminar 17, Sitzung vom 20. Mai 1970; Version Miller, S. 180, meine Übersetzung.
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Vgl. S. Freud: Das Ich und das Es (1923). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 273-330, hier: 302.
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Vgl. Seminar 20, Sitzung vom 26. Juni 1973; Version Miller/Haas u.a., S. 156.
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Eine erste Version der Formel vom Schwarm der Identifizierungen hatte Lacan in Seminar 16 vorgestellt, Von einem Anderen zum anderen (1968/69). Vgl. die nebenstehenden Abbildung aus der Sitzung vom 27. November 1968, Version Miller, S. 59.
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Man findet das Diktum zuerst in dem Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten (Vortrag von 1960, veröffentlicht 1966) sowie in Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62).
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Vgl. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1920). In: Ders: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 61-134, hier: S. 100.
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Vgl. Seminar 17, Sitzung vom 17. Juni 1970; Version Miller, S. 218.
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Seminar 22, Sitzung vom 18. März 1975, Schluss; meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Seminar 23, Sitzung vom 13. Januar 1976; Version Miller, S. 64, meine Übersetzung.
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Seminar 21, Sitzung vom 12. März 1974, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Zu dieser Zuordnung von Lacans Dreigliederung zu Freuds Dreigliederung vgl. Lacan, Seminar 9, Sitzung vom 13. Dezember 1961.
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Vgl. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 100.
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Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 100.
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Seminar 22, Sitzung vom 15. April 1975, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 100.
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Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 98, Hervorhebung von Freud. Diesen Gedanken artikuliert Freud zuerst in Trauer und Melancholie (1917).
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Vgl. S. Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (1912-13). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 287-444, hier: S. 426.
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Vgl. Seminar 8, Sitzung vom 1. Februar 1961; Version Miller/Gondek, S. 189.
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Vgl. Seminar 17, Sitzung vom 18. Februar 1970; Version Miller, S. 100, 114 f.
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Seminar 22, Sitzung vom 15. April 1975, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Vgl. Seminar 3, Sitzung vom 6. Juni 1956; Version Miller/Turnheim, S. 317.