Wissen, S2: das Unbewusste
Brief von Lacan an Pierre Soury vom 15. Dezember 1977, Rückseite, von hier
Der Text lautet: „Appellez . moi demain matin à 11 h. si vous le pouvez“
„Rufen Sie . mich morgen Vormittag um 11 Uhr an, falls Sie können“
Unter „Wissen“ (savoir) versteht Lacan das Unbewusste – nicht nur, aber vor allem. Dabei wird das Unbewusste als Verknüpfung von Signifikanten aufgefasst. Diese Verknüpfung kann die Form der Metapher (synchron) oder der Metonymie (diachron) annehmen und damit zwei Arten von Signifikatseffekten hervorbringen – Erzeugung von neuem Sinn: Metapher, beständige Verschiebung des Sinns: Metonymie.
In den Seminaren 21 und 22 gibt Lacan zum Wissensbegriff ausführliche Erläuterungen. Ich übersetze die wichtigsten Passagen – chronologisch geordnet, nach der Staferla-Edition – und erläutere sie eng am Text. Den Schluss bildet eine systematisierende Zusammenstellung.
Hintergrund
Eingeführt wird der Begriff des Unbewussten als Wissen in Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse.
„Das Unbewusste ist ein Wissen, von dem das Subjekt unbestimmt bleibt.“1
Warum spricht Lacan statt vom Unbewussten vom Wissen? Negativ formuliert: weil der Begriff des Unbewussten der Bewusstseinsphilosophie verhaftet ist, vermittels der Negation. Positiv: weil der Begriff des Bewusstseins etymologisch auf „wissen“ zurückgeht, nicht nur im Deutschen. Das lateinische Wort conscientia ist das „Mit-Wissen“, eine Übersetzung des griechischen Wortes syneidesis, mit derselben Bedeutung. Außerdem ermöglicht der Begriff des Wissens es Lacan, das Unbewusste mit anderen Wissensformen zu vergleichen.
Für die Psychoanalyse ist das Unbewusste die entscheidende Form des Wissens; die Entdeckung des Unbewussten verändert radikal den Begriff des Wissens. (Offene Frage: Reduziert sich das Unbewusste auf das Wissen, d.h. auf das verdrängte Unbewusste? Freud hatte in Das Ich und das Es davon gesprochen, dass es ein Unbewusstes gibt, das nicht auf die Verdrängung zurückgeht.)
Sinn
Die Signfiikantenverbindung, das Wissen, erzeugt den Sinneffekt, auf den beiden Achsen der Metonymie (synchron) und der Metapher (diachron); in der Metonymie ist der Sinn, das Signifikat, das, was beständig verschoben wird, in der Metapher wird neuer Sinn erzeugt.2
Im Vorwort zur deutschen Ausgabe meiner ausgewählen Schriften schreibt Lacan 1973:
„Rückhalt aber gibt das Unbewusste, die Entdeckung Freuds, dass das Unbewusste arbeitet, ohne hier zu denken oder zu rechnen oder auch zu urteilen, dass aber die Frucht gleichwohl da ist: ein Wissen, bei dem es nur darum geht, es zu entziffern, da es in einer Chiffrierung besteht.“3
Das Unbewusste qua Wissen ist das Ergebnis einer Entzifferung, einer Entzifferung des Sinns, von Metapher und Metonymie.
Wissen ohne Subjekt
Das Unbewusste ist eine Form des Wissens. Das Unbewusste ist nicht das Subjekt. Das Unbewusste als Wissen ist Gegenbegriff zum sujet supposé savoir, zum Subjekt, dem zu wissen unterstellt wird, zu der Illusion, auf der die Übertragung beruht.4
In Lacans Zusammenfassung von Seminar 15 von 1967/68, Der psychoanalytische Akt, heißt es:
„Dass es Unbewusstes gibt, heißt, dass es Wissen ohne Subjekt gibt.“5
Das Unbewusste ist ein Wissen ohne Subjekt, ein subjektloses Wissen.
In Seminar 16 von 1968/69, Von einem Anderen zum anderen, sagt Lacan, das Unbewusste ist
„ein Wissen, von dem das Subjekt nichts weiß (un savoir à l’insu du sujet)“6.
S2
Als Symbol für das Wissen hat Lacan in Seminar 16 die Zeichenfolge S2 eingeführt, S Index zwei (Lacan hatte dieses Symbol bereits früher verwendet, jedoch nicht für das Unbewusste als Wissen). Der Buchstabe S steht für „Signifikant“, die Ziffer zwei meint, dass es um (mindestens) zwei Signifikanten geht. S2 ist die Signifikantenverknüpfung.7
Im Symbol S2 wird die Signifikantenverknüpfung auf die kleinstmögliche Größe reduziert, auf ein Signifikantenpaar. Das unbewusste Wissen beruht insofern letztlich auf der Beziehung von zwei Signifikanten, als bei den Mechanismen des Unbewussten – Verdichtung und Verschiebung bzw. Metapher und Metonymie – mindestens zwei Signifikanten im Spiel sind (in Freuds Terminologie: zwei Vorstellungen), die entweder synchron (Metapher) oder diachron (Metonymie) miteinander verbunden sind.
S1 → S2
Lacan unterscheidet zwei Signifikantenfunktionen, den Herrensignifikanten (S1) und das Wissen (S2), in Freudscher Terminologie: das Ichideal und das Unbewusste.
In Zur Einführung in den Narzissmus (1914) hatte Freud geschrieben:
„Die Idealbildung steigert, wie wir gehört haben, die Anforderungen des Ichs und ist die stärkste Begünstigung der Verdrängung […].“8
Die Beziehung zwischen dem Ichideal (S1) und dem Wissen (S2) ist also die Beziehung der Verdrängung. In der Relation S1 → S2 ist S1 das Verdrängende und S2 das Verdrängte. Besser gesagt, dies ist die Kernbedeutung. Die formale Bezeichnung als S1 und S2 dient nicht zuletzt dazu, die Bindung dieser Signfikantenbeziehung an die Verdrängung zu lockern und sie als allgemeine Struktur des Symbolischen freizusetzen.
Lalangue
In Seminar 20 von 1972/73, Encore, heißt es:
„Dieses Wissen, sofern es im Lager von lalangue ruht, heißt das Unbewußte.“9
Lalange ist die Sprache, sofern sie durch Mehrdeutigkeiten bestimmt ist, die auf dem Klang beruhen, im Gegensatz zu langage, der grammatisch geregelten Sprache. Das Unbewusste qua Wissen beruht auf Lalangue. auf einem ein Netz von Signifikanten, die durch Äquivokationen und Lautähnlichkeiten miteinander verbunden sind.
Ein Wissen, das uns täuscht (13. November 1973)
In der ersten Sitzung von Seminar 21, Les non-dupes errent (1973/74) heißt es:
„Worauf weist Freud uns hin, durch das Auftauchen des Unbewussten?
Dass die Struktur – an welchem Punkt dieser angeblichen Reise man auch sein mag [der Reise von der Geburt zum Tod] (…) –, dass die Struktur, d.h. die Beziehung zu einem bestimmten Wissen, dass die Struktur sich nicht davon abbringen lässt.
Und le désir [das Begehren], wie man unpassend übersetzt, ist ganz streng, während des gesamten Lebens, immer dasselbe.10
Einfach durch Beziehungen eines bestimmten Wesens in seinem Auftauchen, in seinem Auftauchen in einer Welt, wo dieser Diskurs bereits herrscht, hierdurch ist es, was sein Begehren angeht, vollkommen determiniert, von Anfang bis Ende.
Nur deshalb, weil man nicht mehr der von der Struktur Hereingelegte sein will, stellt man sich auf die verrückteste Weise vor, dass das Leben aus irgendwelchen Gegensätzen von Lebenstrieben und Todestrieben gewoben ist. Das heißt aber immerhin, bereits ein ganz klein wenig höher zu schweben als der Begriff, der Alltagsbegriff, der Reise.
Diejenigen, die nicht die vom Unbewussten Hereingelegten sind, d.h. die nicht all ihr Bemühen darauf richten, an ihm zu haften, nicht wahr, sehen das Leben nur vom Standpunkt des viator11 aus.“12
Unter „Wissen“ versteht Lacan das Unbewusste – das Unbewusste als unveränderliche determinierende Struktur. Das Unbewusste ist eine bestimmte Art des Wissens, nicht die einzige, aber diejenige, die für die Psychoanalyse im Mittelpunkt steht.
Es ist unvermeidlich, ein dupe zu sein, ein von einem Diskurs „Hereingelegter“, „Getäuschter“, „Betrogener“. Lacan bezieht sich damit auf den Titel von Seminar 21, Les non-dupes errent, „Die Nicht-Hereingelegten irren“ (lautgleich mit Les noms du père, „Die Namen des Vaters“). Jeder Diskurs beruht auf bestimmten Regeln, die einen zum „Hereingelegten“ dieses Diskurses machen. Wer nicht das Spiel eines bestimmten Diskurses spielt, wer kein vom Diskurs Hereingelegter sein will, wer sich nicht strikt an das hält, was ein bestimmter Diskurs ihm liefert, wer die Wahrheit mehr als nur halbsagen will, wer also ein Weltbild konstruiert, eine Weltanschauung, der geht in die Irre.13
Auch im Diskurs der Psychoanalyse ist man unvermeidlich ein von dieser Struktur Hereingelegter. In diesem Diskurs klebt man am unbewussten Wissen.14
Wir sind die von diesem Wissen Getäuschten – wir sind uns dessen nicht bewusst, dass es dieses Wissen ist, das unsere Handlungen bestimmt.
Aus dem Un-bewussten oder Unbe-Wussten wird bei Lacan das Täusch-Wissen, das Wissen, das uns darüber täuscht, dass es uns bestimmt.
Ein Wissen, das kein Pardon kennt (11. Dezember 1973)
Der Begriff des Wissens steht im Gegensatz zu dem des Nichtwissens.
„Was der analytische Diskurs also antwortet, ist Folgendes: Das, was Sie tun, ist keineswegs das Ergebnis eines Nichtwissens. Es ist immer determiniert, bereits determiniert durch etwas, das ein Wissen ist und das wir als das Unbewusste bezeichnen. Das, was Sie tun, weiß, was Sie sind, es kennt Sie.
Was Sie nicht hinreichend spüren – bei einer so zahlreichen Versammlung kann ich es ja nicht glauben –, ist, inwiefern diese Aussage etwas Neues darstellt. Niemals hat ein Großer Kasper, der sich mit der Frage des Wissens befasst hat – und Gott weiß, dass ich nicht ohne Unbehagen auch Pascal hier einreihe, der der größte Große Kasper ist –, nie hat jemand dieses Urteil gewagt, bei dem ich Sie auf Folgendes hinweise: Die Antwort des Unbewussten ist, dass sie, dass sie das Kein Pardon impliziert, und zwar ohne mildernde Umstände.
Was Sie tun, ist Wissen, völlig determiniert. Wobei die Tatsache, dass dies durch eine Artikulation determiniert ist, die von der vorangegangenen Generation getragen wird, Sie auf keine Weise entschuldigt, weil das Sagen, das Sagen dieses Wissens, es nur zu einem Wissen macht, das noch verhärteter ist, wenn ich so sagen kann, an der Grenze zu einem zeitlosen Wissen.
Diesen Sinn habe ich aus Freud herausgelöst, da er es sagt. Er sagt es mit seinem gesamten Werk.
Wenn ich Sie bitte, mich nicht zu verstehen, dann sehen Sie, dass es etwas gibt. Aber ich kann nichts tun, als dies im Sagen von Freud zu verstehen, weil es nichts gibt, nichts zu tun gibt, als die Folgen gewähren zu lassen.“15
Das unbewusste Wissen ist ein Wissen-über-etwas, ein Wissen über das Subjekt, über sein Begehren.
Wenn Pascal von der „natürlichen Unwissenheit“ spricht, irrt er sich. Das Handeln wird nie durch ein Nichtwissen bestimmt, sondern immer durch ein Wissen.
Dieses Wissen ist von der vorhergehenden Generation überliefert worden. Lacans Formel hierfür ist „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen“ (vgl. diesen Blogartikel).
Das unbewusste Wissen kennt kein Pardon. Zwar ist es uns von unseren Eltern und Großeltern weitergegeben worden und es hat determinierenden Charakter, aber das vermindert keineswegs unser Schuldgefühl. Lacan stützt sich hier auf Freuds Theorem des „unbewussten Schuldgefühls“ bzw. des „moralischen Masochismus“.16
Ein Wissen im Realen (12. Februar 1974)
Das unbewusste Wissen ähnelt der Logik.
„Es wird S2 geben, S Index 2, zwei S, zwei Signifikanten groß S, die sich einprägen werden und die geben werden, auf dem Weg des reinen Zufalls, nämlich dessen, was in den Beziehungen zu denjenigen, die da waren, um das zu beaufsichtigen, was man seine Erziehung nennt, seine Bildung, was in diesen Beziehungen vor allem nicht gestimmt hat. Darin wird sich dieses Wissen bilden, dieses unzerstörbare und zugleich absolut nicht subjektivierte Wissen. Es wird sich dieses reale Wissen bilden, irgendwo da eingeprägt, eingeprägt ganz wie bei Aristoteles das Alpha, das Beta und das Gamma. Und dies ist das, was das Unbewusste sein wird. Und etwas anderes wird es nicht geben, wie das die Person sagte, die durch den Zoll ging und sagte: ‚Das ist Futter für meine Ziege‘, woraufhin der Zöllner ihr sagte: ‚Hören Sie, das ist aber erstaunlich, das sind doch Hosenträger!‘ und diese Person erwiderte: ‚Naja, so ist das halt. Wenn sie das nicht kriegt, hat sie gar nichts.‘ Für das unbewusste Wissen gilt aber dasselbe: Als Wahrheit wird es nichts anderes haben als diese Hosenträger.
Das unbewusste Wissen, darum geht es, um die Verbindung herzustellen, damit dem Wahr-Sagen etwas gelingt, d.h. dass es ihm gelingt, sich irgendwo Gehör zu verschaffen, um für die Abwesenheit jeden Verhältnisses zwischen dem Mann und einer Frau – Frauen, nicht allen Frauen – einen Ersatz zu schaffen.
Da ist der Abstand, der Unterschied zwischen dem Wahr-Sagen und der Wissenschaft des Realen. Deshalb sind wir, was die Behandlung des Unbewussten angeht, sehr viel näher bei den Manipulationen der Logik als bei irgendetwas anderem, denn das gehört zur selben Ordnung. Es gehört zur Ordnung des Geschriebenen, worauf ich Sie an anderer Stelle hingewiesen habe.
Der große Wegbereiter des analytischen Diskurses, Freud selbst, hat das nicht eliminieren können. Denn wenn er seine kleinen Schemata liefert, nicht wahr, in seinem Entwurf, diejenigen, mit denen er zu begreifen versuchte, was das wohl sein mochte, das Wissen der Hysterikerin, nun, was macht er? Er macht genau nichts anderes als dies, nämlich diese kleinen Punkte und diese kleinen Pfeile, diese Formen von Geschriebenem, mit denen er Rechenschaft ablegt, Rechenschaft abzulegen glaubt über etwas, was so alt war wie die Welt, nämlich die Anamnese. Es ist offenkundig, dass man die Anamnese seit langem als eine Markierung auffasst, als eine Einprägung, man muss aber auch sagen, dass das absolut verschwommen ist, ungenügend. Da bekräftigt der liebe Freud in gewisser Weise, dass es das ist, worum es geht, wenn es um das Reale geht, dass es sich um etwas handelt, was geschrieben wird, etwas, was geschrieben wird, und dass es darum geht, es zu lesen, es zu lesen, indem man es entziffert.“17
Das unbewusste Wissen, S2, ist eine Signifikantenverbindung, es wird dargestellt durch S2, die Verbindung zweier Signifikanten.
Das unbewusste Wissen ist nicht subjektiviert und es ist unzerstörbar. Es prägt sich auf dem Weg des reinen Zufalls ein, ausgehend von Unstimmigkeiten in den Beziehungen zu den Eltern, den Erziehern.
Das unbewusste Wissen ist ein „reales Wissen“, das heißt wohl: ein Wissen im Realen. Als Wissen im Realen hat es einen ähnlichen Charakter wie die Buchstabenbeziehungen in der Logik des Aristoteles. (Gemeint ist beispielsweise: Wenn gilt: alle A sind B, und wenn gilt: C ist ein A, dann gilt auch: C ist B.) Letztlich – aber nur letztlich – geht es beim Unbewussten um Beziehungen jenseits des Sinns.
Es gibt hier eine Diskrepanz zwischen der Beziehung zum Wahren und der zum Realen. Das Subjekt sucht das Wahre, es zielt auf das „Wahr-Sagen“, auf das Aufdecken eines verborgenen Sinns, und zwar deshalb, um für die Abwesenheit des sexuellen Verhältnisses einen Ersatz zu schaffen.
Das, was es in einer Psychoanalyse letztlich bekommt, ist etwas anderes, nämlich die „Wissenschaft des Realen“, Beziehungen zwischen „Buchstaben“. Dies ist ein Wissen, das nicht auf der Ebene des Sinns und der Wahrheit subjektiviert werden kann, sondern das nur geschrieben werden kann.
Das zeigt sich bereits bei Freud im Entwurf einer Psychologie (1895) – die Anamnese einer Hysterie wird hier durch Punkte und Pfeile dargestellt, also geschrieben.18 Das Schema stellt übrigens, Freud zufolge, unter anderem einen Schluss dar, eine logische Schlussfolgerung. „Der Schluß, nicht allein im Laden zu bleiben wegen Attentatsgefahr, ist ganz korrekt gebildet, mit Rücksicht auf alle Stücke des Assoziationsvorganges.“ 19
Ein Bezug zum Realen ist möglich, aber nicht auf der Ebene des Sinns (des Wahren), sondern nur durch das Geschriebene, duch das Geschriebene, das man entziffert, durch eine Logik.
Ein Wissen ohne ein ordnendes Subjekt (21. Mai 1974)
„Es geht darum zu wissen, was sind zwei Personen, wie man sagt, d.h. zwei Tiere, die von einer politischen Organisation aus verortet sind, die sehr genau durch das bezeichnet wird, was ich einen Diskurs genannt habe, es geht darum zu wissen, was das Sagen (dire) eines ritualisierten Austauschs von Worten (paroles) ist und das, was man nennt, das, wovon angenommen wird, dass es bei dieser Übung im Spiel ist, nämlich das Unbewusste.
Hier versuche ich Ihnen zu sagen: es gibt Wissen im Realen, welches funktioniert, ohne das wir wissen könnten, wie die Artikulation in dem hergestellt wird, was wir gewöhnt sind, sich realisieren zu sehen.
Ist es das, worum es geht, und dass wir diese Annahme zulassen sollten, nicht wahr, dass es von einem ordnenden Denken abhängig ist? Das ist die Position, die von Religion und Metaphysik bezogen wird, die in dieser Hinsicht auf derselben Seite stehen – bei den Unterstellungen, die sie dem Sein zuordnen, reichen sie sich die Hand.
Ich möchte Folgendes sagen: Das unbewusste Wissen, dasjenige, das Freud annimmt, unterscheidet sich von diesem Wissen im Realen, das so ist, dass, wie auch immer es sein mag, sogar die Wissenschaft dazu gelangt, es, dieses Wissen, vorsehend (providentiel) zu machen, d.h. dass etwas, ein Subjekt, seine Harmonie sichert. Was Freud vorbringt – aber das ist, nebenbei bemerkt, nicht alles –, das ist dies, dass es nicht vorsehend ist, dass es dramatisch ist, aus etwas gemacht, was von einem Fehler im Sein ausgeht, von einer Dysharmonie zwischen Denken und Welt. Und dass dieses Wissen den Kern dessen ausmacht, was wir als Ex-sistenz bezeichnen, da es von außen insistiert, und da es störend ist.
In diesem Sinne zeigt sich das sexuelle Verhältnis – bei dem Wesen, das ich nicht als einziger als Sprechwesen bezeichne, nicht wahr –, zeigt es sich als gestört. Dies im Gegensatz zu all dem, was sich bei den anderen Lebewesen abzuspielen scheint. Von daher kommt sogar die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur. Und diese Natur müssen wir hier sehr genau, wenn ich so sagen kann, als gar nicht so natürlich charakterisieren.
Denn von da, wo wir leben, nötigt die Natur sich nicht auf; das, was sich uns aufnötigt, ist ein anderer Modus, ein anderer Modus des Wissens, ein Wissen, das auf keine Weise einem Subjekt zugeschrieben werden kann, das die Ordnung überwachen würde, das die Harmonie überwachen würde. Und deshalb gab es anfangs, in meinen ersten Aussagen zur Charakterisierung des Freudschen Unbewussten, eine Formel, die ich vorgebracht habe, auf die ich mehrmals zurückgekommen bin, die ich in Sainte-Anne vorgebracht habe, nämlich folgende: ‚Gott glaubt nicht an Gott‘. Zu sagen ‚Gott glaubt nicht an Gott‘ heißt, exakt dasselbe zu sagen, wie wenn man sagt ‚’s gibt Unbewusstes‘. Natürlich, angesichts der Ordnung der Zuhörerschaft, nicht wahr, die ich damals hatte, nämlich der Psychoanalytiker, wie sie sich damals darstellen konnten, hatte das keinerlei Wirkung. Das hatte keinerlei Wirkung außer der, dass sie mir die Frage stellten, ob ich denn daran glaubte. Seither gibt es jemanden, der mich dadurch definiert hat, dass er sagte, ich sei jemand, der glaubte, er wäre Lacan, nicht wahr, das war die Art, wie ich selbst Napoleon definiert hatte, aber bezogen auf das Ende seines Lebens, in dem Augenblick, in dem er letztlich, mein Gott, verrückt war, nicht wahr. Denn an seinen eigenen Namen zu glauben, naja, das ist eben die Definition davon. Gut. Im Gegensatz zu dem, was besagter Gabriel Marcel sich vorstellte, glaube ich nicht an Lacan. Aber ich stelle die Frage, ob es nicht eine strenge Konsistenz gibt zwischen dem, was Freud vorbringt, darüber, was das Unbewusste ist, und der Tatsache, dass es, was Gott angeht, niemanden gibt, um daran zu glauben, vor allem nicht er selbst, denn eben darin besteht das Wissen des Unbewussten.
Das Wissen des Unbewussten ist das genaue Gegenteil des Instinkts, d.h. dessen, wovon nicht nur die Idee der Natur, sondern jede Idee einer Harmonie gelenkt wird. Insofern gibt es irgendwo diese Kluft, die zur Folge hat, dass uns die natürlichste Sache, wenn man so sagen kann, diejenige, die uns von unseren Gesichtspunkt aus erscheint, wenn wir was betrachten? wenn wir Tiere betrachten, also völlig andere, Gegenstände in der Welt, dass wir darüber all die Extrapolationen vornehmen, die uns möglich sind. Was wir konstatieren, ist etwas, was zwischen zwei Körpern etwas zu machen scheint, was unbestreitbar bei den meisten Arten übrigens völlig anders ist, dass die Beziehung des männlich genannten Körpers zu dem, der als weiblich aufgefasst wird, nämlich dass es insgesamt zwischen diesen beiden Körpern, möchte ich sagen, sehr wenig Ähnlichkeit gibt, während es bei den Tieren erstaunlich ist, bis zu welchem Punkt das Männchen und das Weibchen – sagen wir das Wort, um schnell voranzukommen und um meinen Gedanken anzuzeigen – narzisstisch sind.“20
Worte werden im Rahmen von Diskursen ausgetauscht, wobei unter einem Diskurs hier das soziale Band zu verstehen ist, wie Lacan es in Seminar 17 definiert hatte (Die Kehrseite der Psychoanalyse, 1969/70). Beim Austausch der Worte im Rahmen von Diskursen ist das Unbewusste im Spiel.
Das Unbewusste ist ein Wissen im Realen, d.h. ein Wissen, das funktioniert, ohne dass wir mit unserem gewöhnlichen (sinnorientierten) Wissen erfassen können, wie es funktioniert.
Religion und Metaphysik nehmen an, dass das Wissen im Realen auf einem ordnenden, einem harmonisierenden, einem fürsorglichen, „providentiellen“ Denken beruht. Dies setzt voraus, dass es ein Subjekt gibt, das die Harmonie dieses Wissens sichert.
Das Wissen im Realen, mit dem die Psychoanalyse es zu tun hat, also das Unbewusste, ist von anderer Art. Es ist nicht harmonisch und segensreich, sondern dramatisch und störend. Es beruht auf einem „Fehler im Sein“, auf einer Dysharmonie zwischen Denken und Welt. Es insistiert störend von außen und bildet insofern den Kern der „Ex-sistenz“ – die Existenz ist Ex-sistenz, eine Beziehung, die bestimmt ist durch die Intervention von etwas, was von außen kommt.
Das unbewusste Wissen im Realen geht damit einher, dass beim Sprechwesen – also beim Menschen – das sexuelle Verhältnis grundlegend gestört ist. Das Natürliche – das sexuelle Angezogensein von Männern durch Frauen und von Frauen durch Männer – ist beim Sprechwesen nicht natürlich; darauf beruht die Unterscheidung von Natur und Kultur, wie Lacan hier, auf Lévi-Strauss anspielend, sagt.21
Das Unbewusste ist ein Wissen im Realen, das auf keine Weise einem harmoniesichernden Subjekt zugeschrieben werden kann. Das habe Lacan gemeint, sagt er, als er früher einmal verkündet hatte: „Gott glaubt nicht an Gott.“22 Das unbewusste Wissen zeichnet sich dadurch aus, dass es niemanden gibt, der daran glaubt.
Die Vorstellung von der harmonischen Ordnung des Wissens im Realen liegt dem Instinktbegriff zugrunde. Das unbewusste Wissen ist kein Instinkt, sondern das Gegenteil eines Instinkts. Deswegen ist die Sexualität bei den anderen Tieren völlig anders als beim Menschen. Bei den nicht-menschlichen Tieren basiert das sexuelle Verhältnis zwischen Männchen und Weibchen auf Narzissmus – das Instinktverhalten ist bildgesteuert. Beim Sprechwesen hingegen beruht die Beziehung des männlichen Körpers zum weiblichen Körper keineswegs auf Ähnlichkeit.
Ein Wissen, zu dem die Schrift einen Zugang bahnt (11. Juni 1974)
In der der letzten Sitzung von Seminar 21 erklärt Lacan:
„Also andererseits, raten Sie mal, Sie können sich nicht vorstellen, womit ich meine Zeit verloren habe, letztlich verloren, ja verloren, womit ich teilweise meine Zeit verloren habe, seit ich Sie hier versammelt gesehen habe, raten Sie mal: Ich war in Mailand auf einem Semiotik-Kongress.
Das ist außergewöhnlich, das ist außergewöhnlich, und sicherlich hat mir das ein wenig die Sprache verschlagen. Das hat mir insofern ein wenig die Sprache verschlagen, als es sehr schwierig ist, die Semiotik speziell in universitärer Perspektive anzugehen. Aber schließlich hat mich eben dieses Fehlen, das ich dort, wenn ich so sagen darf, verwirklicht habe, auf mich selbst zurückgeworfen, wenn ich so sagen darf, ich meine, es hat dafür gesorgt, dass mir klargeworden ist, dass es sehr schwierig ist, die Semiotik anzugehen. Natürlich habe ich nicht protestiert, denn ich bin, ebenso wie hier, sehr freundlich aufgenommen worden, und ich sehe nicht, warum ich diesen Kongress dadurch hätte stören sollen, dass ich gesagt hätte, das Sem kann nicht einfach so angegangen werden, ausgehend von einer bestimmten Idee des Wissens, einer bestimmten Idee des Wissens, die alles in allem an der Universität nicht sehr gut verortet ist.
Aber ich habe darüber nachgedacht, und es gibt dafür Gründe, die vielleicht gerade der Tatsache geschuldet sind, dass das Wissen ‚Der Frau‘ – denn so habe ich die Universität verortet –, dass das Wissen ‚Der Frau‘ vielleicht nicht ganz dasselbe ist wie das Wissen, mit dem wir uns hier beschäftigen.
Das Wissen, mit dem wir uns hier beschäftigen, ich glaube, ich habe es Sie spüren lassen, das ist das Wissen, aus dem das Unbewusste besteht, und insgesamt möchte ich damit dieses Jahr schließen. Ich habe insgesamt niemals, ich habe mich niemals mit etwas anderem befasst als damit, was es mit diesem Wissen auf sich hat, das als unbewusst bezeichnet wird.
Wenn ich beispielsweise den Akzent auf das Wissen insofern gesetzt habe, als der Diskurs der Wissenschaft es im Realen verorten kann, dann ist Folgendes einzigartig und etwas, wovon ich glaube, hier in gewisser Weise die Sackgasse artikuliert zu haben, folgende Sackgasse –; wobei man über Newton hergefallen ist, weil er – indem er keine Hypothese aufstellte, keine Hypothese –, weil er die Sache wissenschaftlich artikuliert hat, nun, er war ja unfähig, außer natürlich dazu, dass man es ihm vorwirft, er war ja unfähig zu sagen, wo dieses Wissen zu verorten ist, dieses Wissen, dem es zu verdanken ist, dass der Himmel sich in eben der Ordnung bewegt, die bekannt ist, d.h. auf der Grundlage der Schwerkraft.
Wenn ich dieses Merkmal eines bestimmten Wissens hervorgehoben habe: im Realen, dann kann das als etwas erscheinen, was die Frage verfehlt, in dem Sinne, dass das unbewusste Wissen ein Wissen ist, mit dem wir es zu tun haben. Und in diesem Sinne kann man von ihm sagen, dass es im Realen ist.
Das ist das, womit ich Sie dieses Jahr zu unterstützen versuche, mit dieser Stütze einer Schrift, einer Schrift, die nicht leicht ist, da es ja die ist, mit der Sie mich mehr oder weniger geschickt an der Tafel haben umgehen sehen, in Form des borromäischen Knotens, und damit möchte ich dieses Jahr schließen. Dies, um auf dieses Wissen zurückzukommen und um zu sagen, wie es sich darstellt, ich möchte nicht sagen: ganz im Realen, sondern: auf dem Weg, der uns zum Realen führt.“23
Das Sem – das Bedeutungselement der Semiotik – kann nicht ohne weiteres von einem Wissensbegriff aus angegangen werden, der an die Universität gebunden ist. Das Wissen, um das es im Diskurs der Universität geht, ist das Wissen „Der Frau“, wie Lacan sagt. „Gott“ ist ein anderer Name für „Die Frau“, sagt Lacan, das Wissen „Der Frau“ ist ein göttliches Wissen, ein Wissen, das für eine umfassende Ordnung sorgt.
Das universitäre Wissens ist nicht dasselbe wie das Wissen, auf das sich der Diskurs der Psychoanalyse bezieht, es ist anders verfasst als das Wissen, aus dem das Unbewusste besteht.
Lacan spielt hier auf sein Konzept der vier Diskurse an, das er in Seminar 17 von 1969/70 entwickelt hatte, Die Kehrseite der Psychoanalyse. Im Diskurs der Universität ist das Wissen, S2, links oben verortet, am Platz des Agenten bzw. des Scheins; im Diskurs der Psychoanalyse findet man es links unten, am Platz der Wahrheit.
Dieses unbewusste Wissen, sagt Lacan, sei immer sein einziges Thema gewesen.
Er charakterisiert dieses Wissen dadurch, dass es ein Wissen im Realen ist. Dabei bezieht er sich auf die neuzeitliche Wissenschaft. Woher wissen denn die Teilchen, so hatte man Newton gefragt, in welcher Entfernung sie sich von den anderen befinden?24 Die Formeln der Physik beziehen sich auf ein Wissen im Realen, auf eine Art Unbewusstes – ein Wissen, das die Bewegung der Teilchen determiniert, von dem sie aber nichts wissen. Newton hatte diese Frage nicht beantwortet - „Hypotheses non fingo“, lautet sein berühmter Satz, „Ich fingiere keine Hypothesen“.
Lacan folgt der Wissenschaft insofern, als auch er annimmt, dass es ein Wissen im Realen gibt: Das Unbewusste ist ein Wissen im Realen, in etwas, was nicht symbolisiert werden kann.
Auf welche Weise ist eine Beziehung zum Wissen im Realen möglich? Durch die Schrift, jenseits des Sinns. Eben dazu dienen ihm die Zeichnungen des borromäische Knotens, besser gesagt, der borromäischen Verschlingung. Diese Verschlingung ist im dreidimensionalen Raum angesiedelt, sie kann aber auf theoretische Weise nur mithilfe von zweidimensionalen Diagrammen angegangen werden, das heißt vermittels der Schrift. Die Schrift ist der Weg, der zum Realen führt.
Etwas später heißt es:
„Es gibt einen Moment, da überarbeitet Freud seine gesamte Topik, wie man sagt, nicht wahr. Es gibt die berühmte zweite Topik, die einfach eine Schrift ist, die nichts anderes ist als etwas, was die Gestalt von einem Ei hat, die Gestalt eines Eis, die nun wirklich um so erstaunlicher anzusehen ist, diese Gestalt des Eis, als das, was hier als das Ich verortet wird, an den Platz gelangt, an dem auf einem Ei oder genauer auf seinem Dotter, auf dem, was man den Vitellus nennt, der Ort des Embryonalpunkts ist. Das ist offenkundig merkwürdig, das ist offenkundig sehr merkwürdig, und damit wird die Funktion des Ichs an diejenige angenähert, in der sich insgesamt ein Körper entwickelt, ein Körper, bei dem einzig die Entwicklung der Biologie uns gestattet, in den ersten Formen der Morula, in den ersten Gastrulationen usw. die Art und Weise zu verorten, in der er sich formt.
Aber da dieser Körper, und darin besteht sie, diese zweite Topik von Freud, da dieser Körper in einer Beziehung zum Es verortet ist, zum Es, das eine außergewöhnlich konfuse Idee ist –; wie Freud das artikuliert, ist das Es ein Ort, ein Ort der Stille, das ist das, was er hauptsächlich darüber sagt.
Aber wenn er es so artikuliert, bezeichnet er damit nur, dass das, wovon angenommen wird, dass es das Es ist, dass dies das Unbewusste ist, wenn es schweigt. Diese Stille ist ein Schweigen. Und das ist hier keineswegs nichts, das ist sicherlich eine Bemühung, eine Bemühung in dem Sinn, in einem Sinn, der im Verhältnis zu seiner ersten Entdeckung vielleicht ein wenig regressiv ist, in dem Sinn, sagen wir, den Platz des Unbewussten zu markieren. Er sagt übrigens nicht, was das ist, dieses Unbewusste, anders gesagt, wozu es dient. Dort schweigt es, es ist der Platz der Stille.
Es steht außer Zweifel, dass hierdurch der Körper verkompliziert wird, der Körper, insofern er in diesem Schema vom Ich repräsentiert wird, vom Ich, das in dieser Schrift als ein Ei dargestellt wird. Ist das Ich der Körper? Was es schwierig macht, das Ich auf das Funktionieren des Körpers zu reduzieren, ist genau Folgendes, nämlich dass in diesem Schema in Bezug auf das Ich angenommen wird, dass es sich nur auf der Grundlage dieses Wissens entwickelt – des Wissens, insofern es schweigt – und dass es von dort das bezieht, was man wohl seine Nahrung nennen muss.
Ich wiederhole es für Sie. Es ist schwierig, mit dieser zweiten Topik ganz zufrieden zu sein, weil das, was geschieht, womit wir es in der psychoanalytischen Praxis zu tun haben, weil das etwas ist, was sich auf eine völlig andere Weise darzustellen scheint. Das heißt, dass dieses Unbewusste, im Verhältnis zu dem, was das Ich mit der Welt so gut verkoppeln würde – den Körper mit dem, was ihn umgibt, das, was ihn in diese Art Verhältnis einordnen würde, das man hartnäckig als natürlich betrachten will –, im Verhältnis hierzu stellt sich dieses Unbewusste als etwas dar, was von dieser Harmonie wesentlich verschieden ist, disharmonisch, um es klar zu sagen; ich platze sofort damit heraus, und warum nicht, darauf muss man den Akzent setzen.
Das Verhältnis zur Welt ist sicherlich – wenn wir ihm den Sinn geben, diesen effektiven Sinn, den es in der Praxis hat –, ist etwas, bei dem man nicht anders kann als sofort zu spüren, dass – im Verhältnis zu dieser in gewisser Weise ganz einfachen Vorstellung vom Austausch mit der Umwelt –, dass dieses Unbewusste parasitär ist. Es ist ein Parasit, bei dem es scheint, dass eine ganz bestimmte Art sich damit sehr gut arrangiert, allerdings nur in dem Maße, wie sie davon nicht diejenigen Wirkungen verspürt, die man wohl als das benennen muss, bezeichnen muss, was sie sind, nämlich als pathogen. Ich will sagen, dass dieses glückliche Verhältnis, dieses vorgeblich harmonische Verhältnis zwischen dem, was lebt, und dem, wovon es umgeben ist, dass es gestört ist durch das Insistieren dieses Wissens, dieses zweifellos vererbten Wissens, es ist kein Zufall, dass es da ist, es ist kein Zufall, dass es da ist. Und dieses Sprechwesen, um es so zu nennen, wie ich es nenne, dieses Sprechwesen bewohnt das Wissen, aber es bewohnt es nicht ohne allerlei Beschwerlichkeiten.“25
In Das Ich und das Es (1923) stellt Freud seine sogenannte zweite Topik vor. Diese Topik ist eine Zeichnung mit Buchstabenfolgen und insofern eine Schrift - der Terminus „Schrift“ umfasst hier nicht nur die Buchstaben, sondern auch die Zeichnung. Darin ähnelt die zweite Topik Lacans borromäischem Knoten, bei dem es sich ebenfalls um eine Kombination von Zeichnung und Buchstaben handelt.
In der Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933) findet man eine zweite Version dieses Diagramms, in dem auch das Über-Ich seinen Platz gefunden hat.
In der zweiten Topik erscheint das Ich als eine Art Ei, d.h. als eine Art Körper.
Die erste Topik beruhte auf dem Unterschied von Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewussten; Anlass für den Wechsel von der ersten zur zweiten Topik war die Entdeckung, dass das Ich teilweise unbewusst ist. In der ersten zeichnerischen Darstellung der zweiten Topik fehlt der Begriff des Unbewussten, in der zweiten Version ist er eingetragen, zwischen dem Ich und dem Es. Lacan fragt sich, wie der Begriff des Unbewussten auf das Es zu beziehen ist – womit vermutlich gemeint ist: auf das Es im Unterschied zum Ich. Seine Antwort lautet so: das Es ist das Unbewusste, insofern es stumm ist. Das Unbewusste ist demnach teils sprechend, teils stumm, und die stumme Seite des Unbewussten ist das Es.
In Das Ich und das Es ordnet Freud dem Es zwei Triebgruppen zu, die Lebenstriebe, auch Eros genannt, und die Todestriebe. Von den Lebenstriebe geht der „Lärm des Lebens“ aus, sagt Freud, während man den Eindruck gewinnen müsse, „dass die Todestriebe im wesentlichen stumm sind“.26 Lacan reduziert hier also das Es auf den Todestrieb. Er betont, dass die Rede von der „Stummheit“ der Todestriebe nicht als bloße Metapher zurückzuweisen sei; Freud sei hier auf einem Weg, er erkundet das Unbewusste. Allerdings sei dieser Weg etwas regressiv, im Verhältnis zur ersten Entdeckung des Unbewussten – mir ist nicht klar, was hier mit „regressiv“ gemeint ist.
Insgesamt stellt Freuds Schema dar, dass der Ich-Körper sich auf der Grundlage des Es entwickelt, d.h. des Unbewussten-sofern-es-schweigt. Das Ich ernährt sich gewissermaßen vom Unbewussten-sofern-es-schweigt. Das heißt aber, dass das Ich nicht auf den Körper reduziert werden kann.
Das Schema suggeriert, dass der Ich-Körper und das Unbewusste-sofern-es-schweigt harmonisch miteinander verbunden sind. In der psychoanalytischen Praxis stellt sich das anders dar. Das Unbewusste erscheint hier als wesentlich disharmonisch, als das, was die vorgebliche Harmonie zwischen dem Körper (dem Ich?) und seiner Umwelt stört.
In der Beziehung zwischen dem Körper und der Welt ist das Unbewusste ein Parasit. Mit diesem Parasiten kann sich eine bestimmte Tierart – die der Menschen – einigermaßen arrangieren, allerdings nur, solange er nicht pathogen wird.
Auch hier betont Lacan, dass das unbewusste Wissen vererbt ist, d.h. es wird durch die Generationen überliefert, „das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen“.
Und schließlich heißt es in der letzten Sitzung von Seminar 21 über das Wissen:
„Gut, also das, wovon man ausgehen muss – Sie sehen, das zieht sich, es ist spät, gut –, das ist folgende starke Behauptung: dass das Unbewusste keine Erkenntnis (connaissance) ist. Es ist ein Wissen, und zwar insofern ein Wissen, als ich es durch die Signifikantenverbindung definiere. Erster Punkt.
Zweiter Punkt: es ist ein disharmonisches Wissen, das auf keinerlei Weise für eine glückliche Ehe sorgt, für eine Ehe, die glücklich wäre.“27
„Es muss [in der psychoanalytischen Praxis] darum gehen, durchzuarbeiten, es demjenigen, den ich den Analysierenden (l‘analysant) nenne, zu ermöglichen, dieses Wissen durchzuarbeiten, dieses unbewusste Wissen, das in ihm ist wie ein Geschwür – nicht wie eine Tiefe, sondern wie ein Geschwür.
Das ist etwas anderes, sicherlich, das ist etwas anderes als die Erkenntnis.“28
Das Unbewusste ist keine Erkenntnis (connaissance), sondern ein Wissen (savoir). Es ist keine Erkenntnis: Es ermöglicht keine Anpassung des Subjekts an die Welt.
Ein Wissen ist es insofern, als es aus Signifikantenverbindungen besteht; hierauf verweist das Symbol S2, es symbolisiert die Verkopplung von zwei Signifikanten.
Es ist ein disharmonisches Wissen, eines, das keineswegs für die glückliche Verbindung zwischen Männern und Frauen sorgt. Das Unbewusste funktioniert nicht wie ein Instinkt.
Eine Psychoanalyse ermöglicht es dem „Analysierenden“, wie Lacan sagt, also dem Patienten, das unbewusste Wissen durchzuarbeiten.
Dieses unbewusste Wissen ist keine Tiefe – die Psychoanalyse ist keine „Tiefenpsychologie“ –, sondern eine Art Geschwür.
Das unbewusste Wissen der Materie (14. Januar 1975)
In Seminar 22 von 1974/75, RSI, wird der Wissensbegriff weiter erläutert.
„Die Wissenschaft ist sich vielleicht noch nicht ganz darüber im Klaren, dass es, wenn sie die Materie behandelt, dass es dann so ist, als ob besagte Materie ein Unbewusstes hätte, als ob sie irgendwo wüsste, was sie tut.
Natürlich ist das eine Wahrheit, die sehr schnell verloschen ist. Man hat das jedoch wahrgenommen, es gab einen einen Augenblick des Erwachens, im Augenblick von Newton. Man hat zu ihm gesagt: ‚Aber diese Geschichte mit dieser verfluchten Gravitation, die Sie uns da erzählen, also bitte‘ – wie übrigens konnte man sie sich vorher vorstellen, abgesehen vom topos des Aristoteles –, ‚also bitte, das ist für uns undenkbar!‘ Undenkbar, weil – warum? Weil wir die kleinen Formeln von Newton haben, und wir hier nichts verstehen – das ist das, was ihren Wert ausmacht.
Denn als diese Formeln aufgetreten sind, hat man dagegen sofort den folgenden Einwand erhoben: ‚Aber wie kann denn jedes dieser Teilchen wissen, in welchem Abstand es sich von allen anderen befindet?‘ Das heißt, was man evozierte, das ist, das war das Unbewusste, hier natürlich das des Teilchens. All dies, all dies ist erloschen.
Weil – warum? Weil man schlicht aufgehört hat, hier nichts zu verstehen. Und im Übrigen hat man in dem Maße, in dem man darauf zurückgekommen ist, zu komplexeren Formeln kommen können, indem man dabei ein paar Dimensionen mehr verknotet. Eben das ist das Problem.“29
Die moderne Physik unterstellt, ohne dass dies artikuliert wird, dass die Materie ein Wissen hat, von dem sie nichts weiß, ein Wissen im Realen, ein unbewusstes Wissen, ein Unbewusstes.
Zur Erklärung der Körperbewegungen gab es vor Newton nur die aristotelische Lehre von den natürlichen Orten – die nicht-lebendigen Körper streben zu ihrem natürlichen Ort und kommen dort zum Stillstand. Das newtonsche Gravitationsgesetz erklärt die Anziehung zwischen zwei Körpern durch die Gravitationskraft; sie ist proportional zu den Massen und umgekehrt proportional zum Quadrat des Abstands.
Für einen Moment hatte man gesehen, dass damit ein Wissen im Realen unterstellt wird. Nämlich in dem Moment, als man, bezogen auf das Gravitationsgesetz, fragte, woher die Teilchen denn wissen, in welchem Abstand sie sich zu den anderen Teilchen befinden. Damit brachte man die Gravitationsformel in Beziehung zu einem Unbewussten.
Man hatte die Formel nicht verstanden, man sah keinen Sinn in ihr, und deshalb war es möglich, darin den Bezug auf ein Unbewusstes zu erkennen. Inzwischen hat man die Fähigkeit verloren, hier nichts zu verstehen.
Ein Wissen, von dem her das Symptom mit einem Genießen verbunden ist (18. Februar 1975)
In der Sitzung vom 18. Februar 1975 beschreibt Lacan die borromäische Verschlingung mit den Begriffen der Konsistenz, der Ex-sistenz und des Lochs. Mit Konsistenz meint er die Geschlossenheit und Unzerreißbarkeit der Knoten; er ordnet sie dem Imaginären zu. Die Ex-sistenz, ihr Einander-Äußerlich-Sein, entspricht dem Realen. Das Loch korrespondiert dem Symbolischen. Nach einer Bemerkung über den Unterschied zwischen Kierkegaards Existenzbegriff und seinem eigenem Begriff der Ex-sistenz fährt Lacan fort:
„Ich glaube nicht, dass das etwas ist, was mich, wenn ich so sagen darf, in Kontinuität mit einer philosophischen Befragung bringt, sondern vielmehr in einen Modus des Bruchs, der auch das ist, was sich aufnötigt, wenn das Auftauchen des Unbewussten als eines Wissens – eines Wissens, das jedem zu eigen ist, jedem einzelnen –, wenn dieses Auftauchen so ist, dass es die Bedingungen vollständig verändert, unter denen der Begriff des Wissen dominiert hat, seit, sagen wir, seit älteren Zeiten, sagen wir sogar seit der Antike.
Er – dieser Charakter des Wissens – ist auf Wegen zu uns gekommen, die wir befragen müssen, die wir auf eine Weise befragen, durch die seine Substanz auf jeden Fall in Frage gestellt wird. Wenn das Wissen etwas ist, was so abhängig ist von den Beziehungen der Folge der Generationen zum Symbolischen, zu dem Loch, von dem ich eben gesprochen habe, um es deutlich zu sagen, wenn es von dem, was die Folge der Generationen als Wissen ersonnen hat, so abhängig ist, warum könnte man dann umhin kommen, seinen Status neu befragen?
Gibt es Wissen im Realen? Es ist wohl klar, dass die beständige Unterstellung – aber eine Unterstellung, die nicht ausdrücklich vorgenommen wurde, die nicht eingestanden wurde –, dass sie darin besteht, dass es allem Anschein nach so etwas gab, denn das Reale, es funktionierte, es lief rund.
Und eben dies zeigt, dass es für uns eine Veränderung gibt, denn was dieses ‚im Realen‘ angeht, so rühren wir hier an ein Wissen von ganz anderer Gestalt.
Das ist insbesondere – um hier meine Konstruktion wieder aufzunehmen –, das ist insbesondere dies: wenn wir daran festhalten, dass ein Wissen als Stütze nicht, ich sage nicht: das Loch hätte, sondern die Konsistenz des Symbolischen.
Das, was im Realen erscheint, ist recht eigentlich dies, denn vielleicht erinnern Sie sich, dass das Reale, das Symbolische und das Imaginäre so verortet sind. Das ist das, was geplättet – geplättet, weil wir denken –, was geplättet im Realen erscheint, d.h. im Inneren des Bereichs, den einzig die Konsistenz des Fadenrings zu definieren erlaubt, und was sich nicht als das dem Realen innewohnende Wissen darstellt, sondern als ein Wissen, das auf keine andere Weise zu bewältigen ist als so, das es hier bereits in die Gestalt des Nous gebracht wird, in die Gestalt dessen, dass das Reale wüsste, was es zu tun hat, und wenn es nicht der Nous ist, nun, dann ist es die Allmacht und die Weisheit Gottes.
Ich muss nicht auf die Tatsache zurückkommen, die Ihnen bekannt ist, die Ihnen deshalb bekannt ist, weil ich sie Ihnen eingehämmert habe, nämlich dass die Welt ohne Gott nicht denkbar ist, ich spreche von der Newtonschen Welt30, denn ‚wie soll jede der Massen wissen, in welchem Abstand sie sich von allen anderen befindet?‘
Es gibt kein Entrinnen. Voltaire glaubte an das Höchste Wesen. Er hat mich nicht ins Vertrauen gezogen, ich weiß nicht, welche Vorstellung er sich davon gemacht hat, aber das konnte von der Vorstellung des Allwissens wohl kaum weit entfernt sein, also davon, dass dieses Wesen die Maschine am Laufen hält.
Die alte Geschichte vom Wissen im Realen, man weiß, dass sie es ist, die – mein Gott – schließlich all diese alten Metaphern gestützt hat. Diese alten Metaphern – letztlich, das muss man so sagen, war Aristoteles Populist. Es ist der Handwerker, der ihm für all seine Ursachen das Modell liefert, für seine Finalursache, wenn ich mich so ausdrücken darf, für seine Formalursache, für seine Ursache, seine Ursache des Wirkarms, sogar für seine Materialursache, was nur noch hoffnungsloser ist.
Es ist sicher, dass sich, auf der Ebene der Ursache, der physischen Ursache – bei dem, was er in seiner Physik schreibt –, die ganze Pracht, nicht wahr, des Nous, des in der Welt gegenwärtigen Nous auf das reduziert, was ich als das Handwerkliche qualifiziert habe, als das Handwerkliche, was zur Folge hat, dass es mit offenen Armen aufgenommen worden ist, überall dort, wo die Metapher des Töpfers vorherrschend ist und wo der Topf von einer göttlichen Hand hergestellt wurde.
Aber wie kommt es, dass er sich ganz von allein weiterdreht? Genau das ist die Frage, und die Frage, bei der die Raffinesse, ob der Töpfer sich weiterhin darum kümmert, nämlich dafür zu sorgen, dass der Topf sich dreht, oder ob er, nachdem er ihn ausgeworfen hat, ihn sich ganz von allein drehen lässt, wirklich sekundär ist.
Aber die ganze Frage des Wissens ist einzig davon ausgehend aufzugreifen, dass ein Wissen nur von einer Beziehung zum Symbolischen her angenommen wird, d.h. in Bezug auf etwas, was sich von einem Material her als Signifikant verkörpert, was nicht als Einziges eine kleine Frage aufwirft. Denn was ist ein Signifikantenmaterial?
Bei Aristoteles haben wir davon nur die Schnauzenspitze, auf der Ebene, auf der er vom stoicheion spricht, aber es ist sicher, dass gerade die Idee der Materie streng nur denkbar ist, wenn man vom Signifikantenmaterial ausgeht, wo sie ihre ersten Beispiele findet.
Also, um einfach zu versuchen etwas zu notieren, nämlich das, worüber meine Notation sich entwickelt: Es ist sicher, dass das von einer Erfahrung ausgeht, von einer Erfahrung mit der Figuration des Symptoms, als etwas, was im Realen die Tatsache reflektiert, dass es etwas gibt, was nicht läuft.
Und wo? Natürlich nicht im Realen, im Feld des Realen.
Dieses etwas, das nicht läuft, woran, woran hängt es? Es hängt nur an dem, was ich in meiner Sprache durch das parlêtre stütze, das Sprechwesen, durch etwas, was nur Sprechwesen ist, denn wenn es nicht spräche, gäbe es nicht das Wort être, Sein oder (Lebe-)Wesen, und dass es für dieses Sprechwesen ein Feld gibt, ein Feld, ein mit dem Loch zusammenhängendes Feld, das ich hier darstellen möchte; ich bitte Sie um Entschuldigung, es kommt mir nicht darauf an, dass meine Figuren besonder elegant wären oder symmetrisch.31
In dem Maße, in dem es eine mögliche Öffnung gibt, einen Bruch, eine Konsistenz, die von diesem Loch ausgeht, dem Ort der Ex-sistenz, dem Realen, ist das Unbewusste da, und ist das, was hier, was hier bewirkt, dass nichts, was hinter dem Loch des Realen durchgeht – in dieser Figur hinter ihm, denn wenn Sie sie umdrehen, ist es davor –, und gibt es Kohärenz, gibt es Konsistenz zwischen dem Symptom und dem Unbewussten.
Bis auf dies, dass das Symptom nur definiert werden kann durch die Art, wie jeder vom Unbewussten her genießt, insofern das Unbewusste es determiniert.“32
Unter „Ex-sistenz“ versteht Lacan, dass die Ringe der borromäischen Verschlingung einander äußerlich sind, dass sie gegeneinanderstoßen, nicht miteinander verschmelzen und sich nicht durchdringen. Er ordnet die Ex-sistenz dem Realen zu.
Lacans Begriff der Ex-sistenz liegt nicht auf der Linie des philosophischen Existenzbegriffs, wie er von Kierkegaard entwickelt worden ist, er vollzieht damit vielmehr einen Bruch.
Dieser Bruch wird durch das Auftauchen des Unbewussten nötig, des Unbewussten als eines Wissens. Dieses Wissen ist kein sozial geteiltes Wissen, sondern ein Wissen, das jedem einzelnen zugehört; es gibt kein kollektives Unbewusstes.
Diese Form des Wissens macht es nötig, neu zu fassen, was unter „Wissen“ zu verstehen ist.
Das unbewusste Wissen – das Unbewusste als Wissen – ist ein Wissen, dass durch die Generationen hindurch überliefert worden ist; es ist gewissermaßen vererbt. Diese Überlieferung beruht auf dem Verhältnis der Generationenfolge zum Symbolischen.
Lacan hatte das Symbolische, bezogen auf die borromäische Verschlingung, dem Loch zugeordnet. Das Loch im Symbolischen, so erläutert er in einer Sitzung des Sinthom-Seminars, ist die Urverdrängung33, und das, was urverdrängt ist, ist das Inzestverbot.34 Das unbewusste Wissen ist also um ein Loch herum organisiert, um das Inzestverbot als dem Urverdrängten, und diese Struktur nötigt dazu, den Status des Wissens neu zu befragen.
Die Frage war, ob es Wissen im Realen gibt. Die überlieferte Antwort lautet Ja. Alledings wurde diese Antwort nicht explizit gegeben, sie wurde stillschweigend vorausgesetzt. Das Reale wird hier als etwas aufgefasst, was gut funktioniert, und dieses Gut-Funktionieren wird implizit darauf zurückgeführt, dass es im Realen ein Wissen gibt. Die überlieferte Konzeption des Wissens begreift das Symbolische also nicht vom Loch her, nicht von einer Störung her, sondern ausgehend vom Funktionieren.
Das Wissen im Realen, mit dem die Psychoanalyse es zu tun hat, ist von anderer Gestalt.
Wenn man sich auf die borromäischen Ringe bezieht, kann man sagen, die überlieferte Konzeption des Wissens im Realen begreift das Wissen von der Konsistenz des Symbolischen her. Der Wechsel in der Auffassung des Wissens im Realen besteht darin, dass die Psychoanalyse das Wissen nicht mehr von der Konsistenz her angeht, sondern vom Loch.
Die mit dem unbewussten Wissen verbundene Beziehung des Symbolischen zum Imaginären und zum Realen wird von Lacan durch die borromäischen Ringe dargestellt, wobei einer der Ringe das Symbolische repräsentiert, einer das Imaginäre und einer das Reale. Genau gesagt: die Beziehung zwischen den drei Registern wird nicht durch die Ringe dargestellt, sondern durch die Zeichnung der Ringe. Die borromäische Verschlingung existiert nur im dreidimensionalen Raum, theoretisch bearbeitbar ist sie aber nur, wenn man eine „Plättung“ vornimmt, eine Projektion in den zweidimensionalen Raum. Dies ist deshalb notwendig, weil wir „denken“, weil wir gezwungen sind, das Symbolische vom Imaginären aus anzugehen.
Der traditionellen Auffassung vom Wissen im Realen entspricht das Innere im Bereich des Fadenrings des Realen, nicht als Loch aufgefasst, sondern als Bereich, der durch die Konsistenz des Rings definiert ist.
In der antiken griechischen Philosophie wird das im Realen enthaltene Wissen nicht als „Wissen im Realen“ bezeichnet, sondern als Nous – als Geist, Verstand, Vernunft –, in der christlichen Theologie als Allmacht und Weisheit Gottes.
Von Gott her wird anfangs auch die moderne Physik aufgefasst. Damit die Massepunkte dem newtonschen Gravitationsgesetz folgen können, benötigen sie ein Wissen darüber – so hieß es damals –, in welchem Abstand sie sich zu den anderen Massepunkten befinden; Gott galt als diejenige Instanz, die dafür sorgt, dass sie über dieses Wissen verfügen. Dieser Konzeption konnte man sich nicht entziehen – noch Voltaire, der einflussreichste Autor der europäischen Aufklärung, glaubte an ein Höchstes Wesen, und er scheint darunter eine Art Allwissen verstanden zu haben, dass die Weltmaschine am Laufen hält.
Die überlieferte Konzeption vom Wissen im Realen beruht letztlich auf der Metapher des Handwerkers. Aristoteles’ Unterscheidung der vier Ursachenarten beruht auf der Töpfer-Metapher: die Ziel-Ursache ist das Benutzen des Topfes, die Form-Ursache seine Gestalt, die Beweg-Ursache der eingreifende Arm des Handwerkers, die Material-Ursache der Ton. Dass der aristotelische Nous-Begriff auf der Handwerkermetapher beruht, erklärt seinen Erfolg. Deshalb konnte er von einer Religion adaptiert werden, in der Gott als eine Art Töpfer erscheint, als Schöpfergott, nämlich von der christlichen Religion – Thomas von Aquin entwickelt eine christliche Theologie auf der Basis der aristotelischen Metaphysik.
Wie kommt es, dass die Weltmaschine sich von allein weiterdreht? Das war damals die Frage. Die Streitfrage, ob dies daran liegt, dass der Schöpfer von Zeit zu Zeit eingreift (Wunder, Deus ex machina, Okkasionalismus) oder er sich nach dem Schöpfungsakt ein für allemal heraushält, ist demgegenüber sekundär.
Aufgrund der Entdeckung des Unbewussten ist die Frage des Wissens neu aufzurollen. Ausgangspunkt ist hierbei, dass das Wissen in einer Beziehung zum Symbolischen steht, d.h. zu etwas, was sich in einem Signifikantenmaterial verkörpert. Wie also hat man das Signifikantenmaterial aufzufassen? Bei Aristoteles gibt es hierzu einen frühen Hinweis, nämlich den Begriff stoicheion, der „Element“ im Sinne der Physik bedeutet, aber auch „Buchstabe“ – die Materie besteht aus Buchstaben, der Buchstabe ist ein Element des Realen.
Die Psychoanalyse setzt bei etwas anderem an als beim Handwerker. Ihr Ausgangspunkt ist das Symptom. Beim Symptom geht es darum, dass etwas nicht läuft. Genauer: das Symptom reflektiert im Realen, dass etwas auf einer bestimmten Ebene nicht läuft. Wo ist dieses Nicht-Funktionieren zu verorten? Nicht im Feld des Realen. Ich vermute, dass positiv gemeint ist: Das Nicht-Funktionieren ist im Feld des Symbolischen zu verorten. Das hieße: das Symptom reflektiert im Realen, das etwas auf der Ebene des Symbolischen nicht läuft. Was meint also, dass das Symptom dies „im Realen reflektiert“? Und was, dass etwas im Symbolischen nicht läuft?
Das etwas nicht läuft – also das Symptom – beruht darauf, dass das Menschenwesen ein Sprechwesen ist.
Für dieses Wesen gibt es ein mit dem Loch zusammenhängendes Feld. Lacan verweist an dieser Stelle auf das folgende Schema.
Das Unbewusste ist mit dem Symptom verbunden, dies soll vom Diagramm dargestellt werden. Das Unbewusste erscheint hier als eine Art Schatten, den der Ring des Symbolischen wirft (die graue Fläche rechts), als eine Randzone, die sich mit dem Imaginären und dem Realen nicht überschneidet. Man muss sich daran erinnern, dass im dreidimensionalen Raum das Loch des Symbolischen sowohl innerhalb als auch außerhalb der „Konsistenz“ des Symbolischen verortet ist, sowohl innerhalb wie außerhalb des Fadenrings, der Kreislinie. Das Symptom (die keilförmige graue Fläche unten in der Mitte) bildet ein weiteres Randgebiet des Symbolischen, es ragt in das Reale hinein und ein wenig auch in das Imaginäre, d.h. bei der Symptombildung kommen alle drei Register ins Spiel.
Lacan bezieht sich so auf das Diagramm: Von einem Loch, nämlich vom Realen als dem Ort der Ex-sistenz, geht eine mögliche Öffnung aus, ein Bruch, eine Konsistenz. Das Loch im Realen besteht für ihn in dem Trauma, dass es kein sexuelles Verhältnis gibt.35 Was ist damit gemeint, dass von diesem Loch eine mögliche Öffnung ausgeht, und das dies zugleich ein Bruch ist und eine Konsistenz? Das ist mir nicht klar.
In dem Maße, in dem es diese Öffnung gibt, ist das Unbewusste da. Das Unbewusste steht also in Verbindung zum Loch im Realen, zum Inzestverbot als dem Urverdrängten.
Hinter dem Loch des Realen geht etwas durch (was?).
Das, was hier durchgeht, sorgt dafür, dass es zwischen dem Symptom und dem Unbewussten Konsistenz gibt. Die Passage insgesamt ist unklar, aber diese These ist deutlich: Das Symptom und das Unbewusste sind nicht voneinander abgekoppelt; zwischen dem Symptom und dem Unbewussten gibt es eine durchgehende Verbindung.
Exkurs: Wissen jenseits des Unbewussten
Das Unbewusste ist eine bestimmmte Form des Wissens, das unbewusste Wissen über das Symptom. Der Begriff des Wissens hat die Funktion, das Unbewusste mit anderen Wissensformen und anderen Diskursarten vergleichen zu können.
In Seminar 17, Die Kehrseite der Psychoanalyse, Lacan verwendet den Begriff des Wissens, um die Struktur von vier Diskursen darzustellen: Diskurs des Herrn, Diskurs der Universität, Diskurs des Analytikers und Diskurs der Hysterikerin.
Die Diskursformeln bestehen aus vier Plätzen, auf denen vier Symbole verortet sind. Die Symbole haben eine feste Anordnung und drehen sich, was vier Permutationen ergibt. Die vier Plätze heißen:
– oben links: Agent (in Seminar 18 wird dieser Platz als der des Scheins bezeichnet)
– oben rechts: Arbeit
– unten rechts: Produktion
– unten links: Wahrheit.36
Im Diskurs des Herrn findet man das Wissen, S2, am Platz der Arbeit (oben rechts). Das Wissen ist hier das Savoir-faire des Knechts, das er auf den Befehl des Herrn hin ans Werk setzt.
Im Diskurs der Universität besetzt das Wissen den Platz des Agenten bzw des Scheins (oben links). An der Universität geht es auf der manifesten Ebene darum, einen bestimmten Typ des Wissens zu vermitteln.
Im Diskurs des Analytikers ist das Wissen am Platz der Wahrheit (unten links). Am Platz der Wahrheit ist in der Analyse nichts als ein Wissen, d.h. keine verstehbare Deutung, kein Sinn (der Sinn wird durch S1 ermöglicht), sondern eine Struktur, die nicht subjektiviert werden kann. „Buchstaben“ wird Lacan das in den späteren Seminaren nennen, beginnend mit der Unterscheidung von „Buchstabe“ und „Signifikant“ im Vortrag Lituraterre von 1971 (Übersetzung und Erläuterungen von Lituraterre findet man hier). Die Symbolisierung durch S2, insofern sie sich auf Signifikanten bezieht, wird damit unpassend.
Der Diskurs des Herrn kann statt intersubjektiv auch intrasubjektiv gedeutet werden, statt als Beziehung zwischen Herr und Knecht auch als Verhältnis zwischen Bewusstem (besser: von Identifizierung) und Unbewusstem. Das Ich operiert von Herrensignifikanten aus, von Leitbegriffen, die eine Sinnstabilisierung ermöglichen. Von hier aus bezieht es sich auf den Anderen im Sinne des Unbewussten, und damit auf S2, auf das unbewusste Wissen. Das Unbewusste hat die Funktion, ein Genießen zu produzieren, als Kompensation für das verlorene Genießen, für die „Mehrlust“, wie Lacan es nennt.
In dreien der vier Diskurse kann man S2 als das Unbewusste deuten. So gesehen, konfrontieren die Diskursformeln nicht nur das unbewusste Wissen mit anderen Wissensformen, sie unterscheiden auch drei verschiedene Funktionsweisen des unbewussten Wissens. Im Diskurs des Herrn funktioniert das Unbewusste gewissermaßen auf alltägliche Weise, als das Andere des Ichideals (S1). Im Diskurs des Hysterikers ist es das zu entziffernde Wissen, der aufzudeckende Sinn. Und im Diskurs der Psychoanalyse besteht es, in der späteren Deutung, aus Buchstaben jenseits des Sinns.
Systematisierende Zusammenstellung
Und jetzt das Ganze noch einmal, gerafft und systematisiert.
Das unbewusste Wissen ist eine determinierende, nicht subjektivierte Struktur aus Signifikantenbeziehungen
Das Unbewusste ist für Lacan eine bestimmte Form des Wissens. Es gibt für ihn auch andere Formen des Wissens, in vielen Kontexten meinte Lacan mit Wissen aber einfach das Unbewusste.37
Ein Wissen ist das Unbewusste insofern, als es aus Signifikantenverbindungen besteht. Hierauf verweist das Symbol S2, es stellt die Verkoppelung von zwei Signifikanten dar.38
Das unbewusste Wissen – oder das Wissen vom Typ des Unbewussten – ist eine determinierende Struktur.39 Wenn Pascal von der „natürlichen Unwissenheit“ spricht, irrt er sich – das Handeln wird nie durch ein Nichtwissen bestimmt, sondern immer durch ein Wissen.40
Das unbewusste Wissen ist nicht subjektiviert.41
Das unbewusste Wissen ist unzerstörbar.42
Das unbewusste Wissen ist ein Wissen über das Begehren des Subjekts.43
Das unbewusste Wissen ist vererbt, es wurde von der vorangehenden Generation überliefert.44 Lacans Formel hierfür lautet: „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen.“
Das unbewusste Wissen prägt sich auf dem Weg des reinen Zufalls ein, ausgehend von Unstimmigkeiten im Verhältnis zu den Erziehern.45
Das Wissen, um das es im Diskurs der Psychoanalyse geht – das unbewusste Wissen –, ist anders als das Wissen, auf das sich der Diskurs der Universität bezieht.46
Eine Psychoanalyse ermöglicht es dem „Analysierenden“, wie Lacan sagt (l’analysant), also dem Patienten, das unbewusste Wissen durchzuarbeiten.47
Wir sind immer die von einem Diskurs Getäuschten (dupes). Im Diskurs der Psychoanalyse klebt man am unbewussten Wissen.48
Das unbewusste Wissen, sagt Lacan, sei immer sein einziges Thema gewesen.49
Das unbewusste Wissen kennt kein Pardon
Das unbewusste Wissen kennt kein Pardon.50 Zwar ist es uns von unseren Eltern und Großeltern weitergegeben worden und es hat determinierenden Charakter, aber das vermindert keineswegs unser Schuldgefühl.
Das unbewusste Wissen ist ein Wissen im Realen
Das unbewusste Wissen ist ein „reales Wissen“, ein Wissen im Realen.51
Es ist insofern ein Wissen im Realen, als es funktioniert, ohne dass wir mit unserem gewöhnlichen (sinnorientierten) Wissen erfassen könnten, wie es funktioniert.52
Zu Beginn der neuzeitlichen Wissenschaft dämmerte die Einsicht auf, dass es ein unbewusstes Wissen im Realen gibt. Woher wissen denn die Teilchen, so hatte man Newton gefragt, in welcher Entfernung sie sich von den anderen Teilchen befinden? Demnach beziehen sich die Formeln der Physik auf ein Wissen im Realen, auf eine Art Unbewusstes – ein Wissen der Teilchen, das ihre Bewegung determiniert, von dem sie aber nichts wissen.53
Die traditionelle Konzeption des Wissen im Realen: das, was ein Funktionieren sichert
Die Vorstellung, dass es ein Wissen im Realen gibt, ist alt. Traditionell wird das Reale als etwas aufgefasst, was gut funktioniert, und dieses Funktionieren wird darauf zurückgeführt, dass es im Realen ein Wissen gibt.54
Von Religion und Metaphysik wird angenommen, dass das Wissen im Realen auf einem ordnenden, einem harmonisierenden, einem fürsorglichen, „providentiellen“ Denken beruht. Dies setzt voraus, dass es ein Subjekt gibt, das die Harmonie dieses Wissens sichert.55
Von der antiken griechischen Philosophie wird das im Realen enthaltene Wissen als Nous aufgefasst – als Geist, Verstand, Vernunft.56
Der aristotelische Nous-Begriff beruht letztlich auf der Handwerkermetapher. Aristoteles’ Unterscheidung der vier Ursachen orientiert sich am Modell des Töpfers: Zweck-Ursache ist das Benutzen des Topfes, Form-Ursache seine Gestalt, Beweg-Ursache der eingreifende Arm des Handwerkers, Material-Ursache der Ton. Dies erklärt den Erfolg der Nous-Konzeption, und darum konnte sie von einer Religion adaptiert werden, in der Gott als eine Art Töpfer erscheint, als Schöpfergott.57
Die christliche Theologie begreift das Wissen im Realen als Allmacht und Weisheit Gottes.58
Von Gott her wird anfangs auch die klassische moderne Physik aufgefasst. Damit die Massepunkte dem newtonschen Gravitationsgesetz folgen können, benötigen sie ein Wissen darüber (so wurde gesagt), in welchem Abstand sie sich zu den anderen Massepunkten befinden, und Gott galt als diejenige Instanz, die dafür sorgt, dass sie über dieses Wissen verfügen. Noch Voltaire glaubte an ein Höchstes Wesen, und er scheint darunter eine Art Allwissen verstanden zu haben, dass die Weltmaschine am Laufen hält.59
Auch der Instinktbegriff beruht auf der Vorstellung von der harmonischen Ordnung des Wissens im Realen.60
Die überlieferte Konzeption des Wissens begreift das Symbolische also von der Konsistenz her, als Ganzheit.61
Das Unbewusste als Wissen im Realen ist dysfunktional
Durch das Auftauchen des Unbewussten wird es nötig, den Begriff des Wissens neu zu fassen.62
Das Wissen im Realen, mit dem die Psychoanalyse es zu tun hat, also das Unbewusste, ist von anderer Art als das Wissen in der traditionellen Konzeption. Es ist nicht harmonisch und nicht segensreich, sondern dramatisch und störend. Es beruht auf einem „Fehler im Sein“, auf einer Dysharmonie zwischen Denken und Welt. Es insistiert von außen und bildet insofern den Kern der „Ex-sistenz“.63
Das Unbewusste ist keine Erkenntnis (connaissance), sondern ein Wissen (savoir).64 Es ist keine Erkenntnis: es ermöglicht keine Anpassung des Subjekts an die Welt.
Das unbewusste Wissen kann keinem harmoniesichernden Subjekt zugeschrieben werden. Dies hatte Lacan gemeint (so sagt er), als er früher einmal verkündet habe: „Gott glaubt nicht an Gott.“65
Metaphern für den störenden Charakter des unbewussten Wissen: Parasit, Geschwür
In der psychoanalytischen Praxis erscheint das Unbewusste wesentlich als disharmonisch, als das, was die vorgebliche Harmonie zwischen dem Körper und seiner Umwelt stört. In der Beziehung zwischen Körper und Welt ist das Unbewusste ein Parasit. Mit diesem Parasiten kann sich eine bestimmte Tierart – die der Menschen – einigermaßen arrangieren, allerdings nur, solange er nicht pathogen wird.66
Das unbewusste Wissen ist keine Tiefe – die Psychoanalyse ist keine „Tiefenpsychologie“ –, sondern eine Art Geschwür.67
Einen Zugang zum Wissen im Realen ermöglicht die Schrift
Beim Wissen im Realen geht es um Beziehungen jenseits des Sinns.68
Aufgrund der Entdeckung des Unbewussten ist die Frage des Wissens neu aufzurollen. Ausgangspunkt ist hierbei, dass das Wissen in einer Beziehung zum Symbolischen steht, d.h. zu etwas, was sich in einem Signifikantenmaterial verkörpert. Wie also hat man das Signifikantenmaterial aufzufassen? Bei Aristoteles gibt es hierzu einen frühen Hinweis, nämlich den Begriff stoicheion, der „Element“ bedeutet, aber auch „Buchstabe“ – das Wissen im Realen besteht aus „Buchstaben“.69
Als Wissen im Realen hat das Unbewusste einen ähnlichen Charakter wie die Buchstabenbeziehungen in der Logik des Aristoteles. Es handelt sich um ein Wissen, das nicht auf der Ebene des Sinns subjektiviert werden kann, vielmehr kann es nur geschrieben werden.70 Vom Symbolischen aus ist ein Bezug zum Realen möglich, aber nicht auf der Ebene des Sinns (des Wahren), sondern nur auf der des Geschriebenen, eines Geschriebenen, das man entziffert.71
Das zeigt sich bereits bei Freud im Entwurf einer Psychologie (1895) – die Anamnese einer Hysterie wird hier durch Punkte und Pfeile dargestellt, also durch Geschriebenes jenseits des Sinns.72
Zwischen der Beziehung zum Wahren und der zum Realen gibt es eine Diskrepanz: Das Subjekt sucht das Wahre, es zielt auf das „Wahr-Sagen“, auf das Aufdecken eines verborgenen Sinns. In einer Psychoanalyse bekommt es letztlich etwas anderes, nämlich die „Wissenschaft des Realen“, das Wissen im Realen, Beziehungen zwischen „Buchstaben“.73
Position des unbewussten Wissen in der borromäischen Verschlingung: das Loch des Symbolischen
Wo in den borromäischen Ringen ist das Nicht-Funktionieren zu verorten? Nicht im Feld des Realen, sondern in dem des Symbolischen.74
Der Wissensbegriff der Psychoanalyse beruht auf der Beziehung zum Loch75, anders gesagt: das unbewusste Wissen ist wesentlich durch ein Fehlen charakterisiert, durch das Inzestverbot, insofern es urverdrängt ist.
Das Unbewusste gehört zum Symbolischen, zu einem Symbolischen, dem im borromäischen Knoten nicht, wie beim überlieferten Wissensbegriff, die Konsistenz entspricht, sondern das Loch76 – das Unbewusste ist ein Wissen, das durch etwas bestimmt wird, was fehlt.
Lacan folgt, so sagt er, dem Weg der Wissenschaft: Mithilfe der Schrift jenseits des Sinns soll ein Weg zum Wissen im Realen gefunden werden. Eben dazu dient ihm der borromäische Knoten oder besser die borromäische Verschlingung. Diese Verschlingung ist im dreidimensionalen Raum angesiedelt, sie kann aber auf theoretische Weise nur mithilfe von Diagrammen angegangen werden, im zweidimensionalen Raum, also vermittels der Schrift.77 Unter „Schrift“ wird hier die Zeichnung verstanden.
Vom Loch des Realen aus (dem Trauma der Nicht-Existenz des sexuellen Verhältnisses) gibt es eine Öffnung, einen Bruch, eine Konsistenz, und insofern es diese Öffnung gibt, gibt es das Unbewusste. Dadurch gibt es zwischen dem Symptom und dem Unbewussten Konsistenz.78 Der Sinn dieser Formulierungen ist mir nicht klar.
Das unbewusste Wissen determiniert das mit dem Symptom verbundene Genießen
Ausgangspunkt der Psychoanalyse ist nicht der Handwerker und nicht das Funktionieren, sondern das Symptom und damit das Nicht-Funktionieren – beim Symptom geht es darum, dass etwas nicht läuft.79
Das Symptom ist mit dem Unbewussten verbunden, dies soll von dem oben wiedergegebenen Diagramm dargestellt werden. Das Unbewusste erscheint hier als eine Art Schatten, den der Ring des Symbolischen wirft (die graue Fläche rechts), als eine Randzone, die sich mit den Registern des Imaginären und des Realen nicht überschneidet. Das Symptom (die keilförmige graue Fläche unten in der Mitte) bildet ein weiteres Randgebiet des Symbolischen, es ragt in das Reale hinein und ein wenig auch in das Imaginäre. Die Beziehung zwischen dem Symptom und dem Unbewussten besteht darin, dass das Unbewusste determiniert, auf welche Weise das mit dem Symptom verbundene Genießen zustande kommt.80
Das unbewusste Wissen im Realen determiniert das Symptom, es sorgt also nicht dafür, dass etwas glatt läuft.81
Das unbewusste Wissen liefert einen Ersatz für die Inexistenz des sexuellen Verhältnisses
Das unbewusste Wissen ist kein Instinkt, es ist das Gegenteil eines Instinkts. Deswegen hat bei den nicht-menschlichen Tieren die Sexualität einen völlig anderen Charakter als beim Menschen. Bei den anderen Tieren basiert das sexuelle Verhältnis zwischen Männchen und Weibchen auf Narzissmus [auf Bildern]. Beim Sprechwesen hingegen beruht die Beziehung des männlichen Körpers zum weiblichen Körper nicht auf Ähnlichkeit.82
Das unbewusste Wissen ist ein disharmonisches Wissen, eines, das keineswegs für die glückliche Verbindung zwischen Männern und Frauen sorgt.83
Das unbewusste Wissen im Realen geht damit einher, dass beim Sprechwesen – also beim Menschen – das sexuelle Verhältnis grundlegend gestört ist. Das Natürliche – das sexuelle Angezogensein von Männern durch Frauen und von Frauen durch Männer – ist beim Sprechwesen nicht natürlich; darauf beruht die Unterscheidung von Natur und Kultur.84
Das unbewusste Wissen liefert einen Ersatz für die Inexistenz des sexuellen Verhältnisses.85
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- „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache.“
- „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen.“
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- Über Knoten
Anmerkungen
- Sitzung vom 19. Mai 1965, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Vgl. J. Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewusstne oder die Vernunft seit Freud. Übersetzt von Norbert Haas. In: J.L.: Schriften II. Hg. v. Norbert Haas. Walter-Verlag, Olten u.a. 1975, S. 15–55.
- J. Lacan: Vorwort zur deutschen Ausgabe meiner ausgewählten Schriften (geschrieben 7. 10. 1973). In: Ders.: Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 7-14, hier: S. 10, Übersetzung geändert.
- Den Begriff sujet supposé savoir führt Lacan in Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, ein, in der Sitzung vom 15. November 1961.
- J. Lacan.: L’acte psychanalytique. Compte rendu du séminaire 1967–1968 (veröffentlicht 1969). In: Ders.: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 375–383, hier: S. 376, meine Übersetzung.
- Sitzung vom 25. Juni 1969, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Die Zeichenfolge S2 als Symbol für das Wissen wird von Lacan erstmals in der Sitzung vom 27. November 1968 verwendet; vgl. Version Miller, S. 55.
- In: S. Freud: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 37–68, hier: S. 62.
- Seminar 20, Sitzung vom 26. Juni 1973, Version Miller/Haas u.a., S. 154.
- Mit désir wird Freuds „Wunsch“ übersetzt. Lacan bezieht sich auf den letzten Satz der Traumdeutung. „Indem uns der Traum einen Wunsch als erfüllt vorstellt, führt er uns allerdings in die Zukunft; aber diese vom Träumer für gegenwärtig genommene Zukunft ist durch den unzerstörbaren Wunsch zum Ebenbild jener Vergangenheit gestaltet.“ S. Freud: Die Traumdeutung. In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 588.
- Das lateinische Wort viator meint „Wandernder“, „Reisender“.
- Seminar 21, Sitzung vom 13. November 1973.
- Vgl. Seminar 22 von 1974/75, RSI, Sitzungen vom 19. November 1974 und vom 10. Dezember 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 15. Januar 1974.
- Seminar 21, Sitzung vom 11. Dezember 1974.
- Vgl. etwa S. Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus (1924). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 339 bis 354, v.a. S. 349 ff.
- Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Abbildung aus: S. Freud: Entwurf einer Psychologie (1895). In: Ders.: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887-1902. S. Fischer, Frankfurt am Main 1975, S. 297-384, hier: S. 355.
- Freud, Entwurf, a.a.O., S. 355)
- Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Claude Lévi-Strauss zufolge beruht die Unterscheidung von Natur und Kultur auf dem Inzesttabu; so zuerst in: Ders.: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1949). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981.
- Die Formel „Gott glaubt nicht an Gott“ habe ich in früheren Seminaren und Aufsätzen nicht gefunden. Vielleicht ist die Formel „Gott ist unbewusst“ gemeint, die Lacan allerdings erst in Seminar 11 vorgebracht hat, also nicht im Sainte-Anne-Krankenhaus, sondern in der École normale supérieur (vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 58).
- Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Ähnlich in: J. Lacan: Radiophonie (1970). Übersetzt von Hans-Joachim Metzger. In: J. Lacan: Radiophonie. Television. Quadriga, Weinheim u.a. 1988, S. 5-54, hier: S. 25. Außerdem in J. Lacan: Television (1973). Übersetzt von Jutta Prasse und Hinrich Lühmann. A.a.O., S. 55-95, hier: S. 87.
- Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- S. Freud: Das Ich und das Es (1923). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 273-330, hier: S. 313. In Das Unbehagen in der Kultur wiederholt er diesen Gedanken: „Die Äußerungen des Eros waren auffällig und geräuschvoll genug; man konnte annehmen, dass der Todestrieb stumm im Inneren des Lebewesens an dessen Auflösung arbeite, aber das war natürlich kein Nachweis.“ (Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191-270, hier: S. 246.
- Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Seminar 22, Sitzung vom 14. Januar 1975.
- Das dritte Buch von Newtons Philosophiae naturalis principia mathematica (1686) trägt den Titel „Über das Weltsystem“.
- Abbildung aus: Semianr 22, Version Staferla, Sitzung vom 18. Februar 1975, von mir überarbeitet.
- Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Sitzung vom 9. Dezember 1975, Version Miller, S. 41.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 15. April 1975.
- In Seminar 21 heißt es: „Aber wir wissen alles, weil alles – wir erfinden ein Dingsda, einen Trick, um das Loch im Realen zu stopfen. Da, wo es keine sexuelle Beziehung gibt, ruft das ein Trauma hervor. Man erfindet. Man erfindet natürlich, was man kann.“ (Seminar 21 von 1973/74, Les non-dupes errent, Sitzung vom 19. Februar 1974, meine Übersetzung nach Version Staferla.)
- Vgl. Seminar 17, Version Miller, S. 196
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 13. November 1973.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 13. November 1973 und 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Dezember 1973.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Dezember 1974.
- Vgl. Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Dezember 1973 und vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 15. Januar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Dezember 1973.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974, Seminar 22, Sitzung vom 14. Januar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 22, Sitzung vom 18. Februar 1975.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974.
- Vgl. Seminar 21, Sitzung vom 12. Februar 1974.