Der Phallus, ein im System des Subjekts fehlender Signifikant
Pferdeungeheuer
Ursprüngliche Zeichnung von Unbekannt
Mit Photoshop bearbeitet und ins Internet gestellt von TickTockMan92, hier
In Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, sagt Lacan,
„es gibt einen Signifikanten, der immer fehlt. Warum? Weil dies der Signifikant ist, der speziell für das Verhältnis des Subjekts zum Signifikanten zuständig ist. Dieser Signifikant hat einen Namen, es ist der Phallus.“1
In Seminar 8 von 1960/61, Die Übertragung, wird diese These bekräftigt: Der Phallus ist ein „fehlender Signifikant“.2
In Seminar 16 von 1968/69, D’un Autre à l’autre, kommt Lacan auf diese These zurück; er erläutert hier ausführlich und, wie ich finde, verständlich, inwiefern der Phallus ein fehlender Signifikant ist.3 Von diesem Seminar gibt es keine deutsche Ausgabe.
Im Folgenden findet man meine Übersetzung dieser Passage, der Umfang beträgt etwa sechs Druckseiten. Es folgt eine Paraphrase mit Ergänzungen sowie eine systematisierende Kurzfassung.
Die Übersetzung beruht auf der Staferla-Version von Seminar 16; ich habe sie mit der von Lacan in Auftrag gegebenen Stenotypie (Version J.L.) verglichen und an einigen wenigen Stellen korrigiert. Zahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf die Seiten der von Jacques-Alain Miller erstellten Version dieses Seminars.4
In den Anmerkungen zur Übersetzung verweise ich auf die Texte, auf die Lacan sich direkt oder indirekt bezieht (von Freud, von Lacan selbst, von Dritten) sowie auf Transkriptionsprobleme.
In der Paraphrase unterscheide ich zwei Textsorten: meine Umformulierung in eigenen Worten (in schwarzer Schrift) und meine erläuternden Ergänzungen (in grüner Schrift). Die Abfolge orientiert sich an Lacans Vortrag, sodass man Original und Umschreibung bequem vergleichen kann.
Der dritte Teil, die kurze Zusammenfassung, ist systematisch, die Reihenfolge ist hier also anders als in Lacans Vorlesung.
Lacans frühere Auffassungen zum Phallus habe ich in den folgenden beiden Artikeln dargestellt: Der imaginäre und der symbolische Phallus (1957–1959), und: Der Phallus als Signifikant der (gopferten) Jouissance (1962).
Einen guten Überblick über die Entwicklung des Begriffs des Phallus bei Lacan geben: Pierre Bruno, Fabienne Guillen: Phallus et fonction phallique. Érès, Toulouse 2012.5 Cormac Gallagher hat Seminar 16 ins Englische übersetzt; man findet die Übersetzung hier.
Herzlichen Dank an Eckhard Bär und Steffen Dietz für jede Menge Korrekturhinweise, an Gerhard Herrgott fürs Durchsehen der Übersetzung und an Daniel Mirbeth für den Nachweis eines Freud-Zitats!
Zur Übersetzung
Im französischen Original sind mehrere Sätze grammatisch unvollständig; ich habe nicht versucht, das auszubessern.
Wörter mit Sternchen* sind im Original deutsch.
Einschübe in [eckigen Klammern] sind von mir.
Jacques Lacan: Der Phallus als fehlender Signifikant
[319] „Wie kommt es, dass es nicht spürbar ist, wie kommt es, dass es nicht Allgemeingut geworden ist, und wie kommt es, dass es bei der Erneuerung der Institutionen noch in keiner Form wirksam geworden ist, nämlich dass die Tatsache, dass die Bilder vom Spiel des Signifikanten erfasst werden, da ist, um für uns spürbar zu machen – das bezeugt die gesamte psychoanalytische Erfahrung –, dass das, was dabei verloren geht, die imaginäre Funktion ist, als das, was für die Passung zwischen dem Männchen und dem Weibchen verantwortlich ist –?
Wenn es etwas gibt, was die Analyse uns demonstriert, dann ist es dies, dass aufgrund dessen, dass das Subjekt hiervon erfasst ist, nicht nur alles, was als männlich bezeichnet werden kann, ganz und gar mehrdeutig ist, ja bei näherer Kritik widerrufen werden kann. Dass das für den anderen Teil ebenso gilt.6 Und dass dies durch eine ganz bestimmte Erfahrungstatsache bestimmt wird, nämlich dadurch, dass es auf der Ebene des Subjekts keine Erkenntnis des Männchens durch das Weibchen und des Weibchens durch das Männchen gibt. Und dass alles, was eine etwas gründlichere Erkundung uns von der Geschichte eines Paares zeigt, eben dies ist, dass die Identifizierungen hier vielfältig gewesen sind, dass sie sich überlappen und letztlich immer eine zusammengesetzte Gesamtheit bilden.
Die Mehrdeutigkeit, die in Bezug auf alles bestehen bleibt, wodurch auf der Ebene des Signifikanten das eingeschrieben werden könnte, was es mit dem auf sich hat, was sich, wie wir durchaus wissen, auf der biologischen Ebene radikal unterscheidet – wenn ich radikal sage, übergehe ich natürlich, auf der Ebene der Säugetiere, die sogenannten sekundären Geschlechtsmerkmale und die mögliche Unterscheidung des auf das Gewebe bezogenen Geschlechts im Verhältnis zum phanerogamen Geschlecht, aber lassen wir beiseite, was es damit auf sich haben mag.7 Halten wir fest, dass die analytische Erfahrung genau dies bezeichnet, dass es auf dieser Ebene keine Signifikantenkopplung gibt, dass in der Theorie, auch wenn die Gegensätze aktiv-passiv8, Sehender-Gesehener9 usw. gebildet worden sind, nichts jemals als grundlegend auf den Weg gebracht worden ist, was den Gegensatz männlich-weiblich bezeichnet.10
Das Wichtige, und das Wichtige, das in gewisser Weise vorgängig ist im Verhältnis zu der Frage, die darüber aufgeworfen wird, was es im Signifikantensystem mit der sogenannten Funktion des Phallus auf sich hat, insofern diese es ist, die effektiv interveniert und auf eine Weise, von der ganz sicher ist, dass es sich keinesfalls nur um eine drittrangige Funktion handelt11, sei es, dass sie zunächst als das definiert wird, was fehlt, d..h. dass der Typ der Kastration als das begründet wird, was die der Frau herbeiführt, oder als das, was im Gegensatz hierzu auf der Seite des männlichen Wesens auf eine Weise, die in vieler Hinsicht problematisch ist, das anzeigt, was man das Rätsel der absoluten Jouissance |[320] nennen könnte.12 Auf jeden Fall handelt es sich dabei nicht um korrelative Bezüge, nicht um distinktive Bezüge: Ein und derselbe Bezugspunkt beherrscht das gesamte Register dessen, worum es in der Beziehung derjenigen geht, die geschlechtlich differenziert sind [la relation du sexué].
Dieser privilegierte Signifikant, ich will hier unterstreichen, inwiefern es gerechtfertigt ist, dass ich in einer langen Konstruktion – die ganz im Kontakt mit der artikulierten Analyse vorgenommen worden ist, mit dem, was geschrieben worden ist, mit dem, was Zeugnis unserer Neurosenerfahrung geblieben ist –, dass ich ihn als fehlenden Signifikanten habe charakterisieren können.13 Die Frage ist wichtig, denn, wenn sicherlich –. Was die Artikulation der Funktion des Subjekts angeht, sehen Sie gut, dass, so weit die Artikulation des Wissens auch getrieben worden sein mag, das Subjekt hier den Riss zeigt. Zu sagen, dass der Phallus der fehlende Signifikant ist, auf der Ebene, auf der ich es habe aussagen können, ich glaube, dass an dem Punkt meines Diskurses, an dem ich, sagen wir, den ersten Vorstoß riskiert habe, dass hier etwas, was den Kontext bildet, noch nicht hinreichend artikuliert war, um das sagen zu können, was ich jetzt präzisiere.
Kommen wir – und das ist der Zweck unseres heutigen Bezugspunktes – auf unseren Ausgangpunkt zurück, auf die Spur [über die Lacan früher in dieser Sitzung gesprochen hatte]. Gehen wir von diesem Stützpunkt aus und erinnern wir uns an das arabische Sprichwort, das ich in meinen Schriften vor langer Zeit irgendwo zitiert habe.14 Es gibt vier Dinge – ich weiß nicht mehr welche, ich muss sagen, dass ich das vierte vergessen habe oder dass ich mich nicht bemühe, mich unmittelbar daran zu erinnern –, die keine Spur hinterlassen, das, was ich an diesem Wendepunkt in Erinnerung rief. Der Fuß der Gazelle auf dem Felsen, es gibt auch den Fisch im Wasser, und das, was uns mehr interessiert, der Mann in der Frau, so sagt das Sprichwort, hinterlassen keine Spur.
Dagegen kann gelegentlich etwas eingewendet werden, in der folgenden Form, deren Bedeutung in den Phantasmen der Neurotiker bekannt ist: von Zeit zu Zeit eine kleine Krankheit.15 Aber gerade das ist instruktiv, die Rolle der Geschlechtskrankheiten in der Struktur ist keineswegs ein Zufall.
Wir können von keiner Spur ausgehen, um den Signifikanten des sexuellen Verhältnisses zu fundieren.
Alles reduziert sich auf diesen Signifikanten, nämlich auf den Phallus, der nicht im System des Subjekts ist, weil er nicht das Subjekt repräsentiert, sondern, wenn man so sagen kann, die sexuelle Jouissance, insofern sie außerhalb des Systems ist, d..h. insofern sie absolut ist.16 Die sexuelle Jouissance, insofern sie, verglichen mit allen anderen Formen der Jouissance, die Sonderstellung hat, die darin besteht, dass etwas im Lustprinzip – das bekanntlich gegenüber der Jouissance eine Barriere bildet –, dass etwas im Lustprinzip ihm gleichwohl einen Zugang ermöglicht.17 Geben Sie zu, dass, wenn man sogar aus der Feder von Freud liest, dass dies die Jouissance schlechthin ist, und wahr ist es außerdem, aber wenn man das aus der Feder eines Weisen liest, der diesen Titel so verdient wie unser Freud, dann hat das gleichwohl etwas, was uns zum Träumen bringen kann.18 Aber es | [321] ist nicht im System des Subjekts. Es gibt kein Subjekt der sexuellen Jouissance.
Und diese Bemerkungen zielen auf nichts anderes ab als darauf, uns zu ermöglichen, den Sinn des Phallus als fehlendem Signifikanten zu präzisieren.
Er ist der Signifikant außerhalb des Systems, und, um es klar zu sagen, derjenige, der üblich [conventionnel] ist, um die sexuelle Jouissance zu bezeichnen, die radikal verworfen ist.19 Wenn ich mit Recht von der Verwerfung [forclusion] gesprochen habe, um bestimmte Wirkungen des symbolischen Verhältnisses zu bezeichnen, so muss man hier den Punkt sehen, so muss man hier den Punkt bezeichnen, wo sie nicht revidierbar ist.20 Und wenn ich hinzufüge, dass all das, was im Symbolischen verdrängt ist, im Realen wiedererscheint21, dann eben insofern, als die Jouissance völlig real ist. Das heißt, dass es im System des Subjekts nirgendwo symbolisiert ist und auch nicht symbolisiert werden kann.
Und darum ist diese Ungeheuerlichkeit notwendig, in der Aussage, die auf der Ebene der Behauptung von Freud liegt, diese Ungeheuerlichkeit, die niemanden zu beunruhigen scheint, dass das ein Mythos ist, der ganz streng keinem Mythos ähnelt, der von der Mythologie her bekannt ist.22 Außer natürlich einige Personen, der alte Kröber und Lévi-Strauss, sie sehen sehr gut, dass das nicht Teil ihres Universums ist, und sie sagen es. Aber das ist so, als ob sie nichts sagen würden, da ja alle weiterhin glauben, der Ödipuskomplex sei ein zulässiger Mythos.23 In gewissem Sinne ist er das auch. Aber beachten Sie, dass das nichts anderes bedeutet als den Platz, an dem man die Jouissnace verorten muss, die ich eben als absolut definiert habe.24 Der Mythos vom Urvater, er ist tatsächlich derjenige, der in seiner Jouissance alle Frauen vermengt.25 Allein schon die Form des Mythos sagt genug darüber, das heißt, dass man nicht weiß, um welche Jouissance es sich handelt, um das seine oder um das aller Frauen?26 Abgesehen davon, dass die weibliche Jouissance – darauf habe ich Sie bereits aufmerksam gemacht – in der analytischen Theorie ebenfalls immer den Status eines Rätsels behalten hat.
Was also besagt diese phallische Funktion, die zwar nicht das Subjekt repräsentiert, die aber dennoch einen Punkt seiner Determination zu markieren scheint, als ein Feld, das durch eine Beziehung zu dem begrenzt wird, was als der Andere strukturiert ist –?27
Wenn wir das genauer abhorchen, wenn wir von diesen radikalen Perspektiven wieder zu unserer Erfahrung zurückkehren, dann werden wir sofort sehen, wie die Dinge sich kundtun.
Der Wendepunkt, von dem das Ausbrechen einer Neurose ausgeht, was ist das? Das ist das positive Eindringen einer autoerotischen Jouuissance, die vollständig typisiert ist, in das, was man die ersten Empfindungen nennt, die beim Kind mehr oder weniger mit der Onanie verbunden sind, wie immer Sie das nennen wollen.
Das Wichtige ist, dass an diesem Punkt, bei den Fällen, die unserer Jurisdiktion | [322] unterstehen, d..h. bei denjenigen, die eine Neurose hervorrufen, dass sich an genau diesem Punkt, in eben dem Moment, in dem sich diese Positivierung der erotischen Jouissance herstellt, dass sich korrelativ zugleich die Positivierung des Subjekts als Abhängigkeit vom Begehren des Anderen herstellt – Anaklitismus, habe ich das letztes Mal gesagt.28 Eben dies bezeichnet den Eintrittspunkt, durch den die Struktur des Subjekts zum Drama wird.
Die gesamte Erfahrung verdient es, artikuliert zu werden, die bestätigen wird, an welchen Grenzen, an welchen Verbindungspunkten dieses Drama ausbrechen wird. Ich denke, dass ich das letzte Mal bereits hinreichend das Gewicht herausgestellt habe, das hierbei das Objekt a annimmt. Nicht so sehr, insofern es vergegenwärtigt wird, als vielmehr insofern, als es rückwirkend demonstriert, dass es das ist, was zuvor die gesamte Struktur des Subjekts ausgemacht hatte.
Wir werden sehen, an welchen anderen Grenzen das Drama ausbricht. Bereits jetzt können wir jedoch wissen, aufgrund der Wiederkehr dieser Wirkungen, dass die positive Beziehung zur sogenannten sexuellen Jouissance dahin führt – aber ohne dass dadurch auf irgendeine Weise die sexuelle Vereinigung gesichert würde –, dass sich für die Position des Subjekts etwas als wesentlich abzeichnet, nämlich die Wissbegierde.29 Der entscheidende Schritt, den Freud getan hat, bezogen auf das Verhältnis der sexuellen Neugierde zur gesamten Ordnung des Wissen, das ist der wesentliche Punkt der psychoanalytischen Entdeckung. Und bei der Verbindung von [einerseits] dem, worum es bei a geht, nämlich um das, wo das Subjekt sein reales Wesen wiederfinden kann, im Wesentlichen als Genussmangel und sonst nichts – mit welchem Repräsentanten dieses Mangels es sich in der Folge auch immer zu bezeichnen hat –, und andererseits dem Feld des Anderen, insofern sich hier das Wissen ordnet, bei dieser Verbindung also ist am Horizont dieser verbotene Bereich seiner Natur, nämlich der der Jouissance, und mit dem die Frage der sexuellen Jouissance dieses Minimum an diplomatischen Beziehungen herstellt, von denen ich sagen möchte, dass sie wirklich schwer aufrechtzuerhalten sind.
Insofern sich etwas herstellt, was ich ‚das Drama‘ genannt habe, ist die Signifikanz30 des Anderen, insofern er strukturiert und gelocht ist31, etwas anderes als das, was wir metaphorisch den Signifikanten, der ihn locht, nennen können, d..h. den Phallus. Insofern das etwas anderes ist, sehen wir, was geschieht, wenn das junge Subjekt auf das antworten muss, was durch das Eindringen der sexuellen Funktion in sein subjektives Feld herbeigeführt wird.
Ich habe hervorgehoben, und diejenigen, die dabei waren, erinnern sich noch, bezogen auf den kleinen Hans32 – den kleinen Hans, was die exemplarische Fallstudie einer ersten, völlig ungeordneten Erkundung ist, die sich im Kreise dreht, die bis zu einem bestimmten Punkt nicht angeleitet ist, zunächst jedoch mit der imperialistischen Ausrichtung des Bezugs | [323] auf den Vater, der eine Rolle spielt, deren Ausfälle ich hervorgehoben habe und die von Freud nicht verhehlt werden33, in der Freud selbst aber ebenfalls der letzte Bezugspunkt ist, nämlich der eines vorgeblich absoluten Wissens34.
Ich habe mich damals, wie gesagt, bemüht, all das, was sich in dieser Unordnung abzeichnen kann, ausführlich aufzugreifen, um die Schichten, aus denen sie besteht, aufzuzeigen. Aber eine von ihnen ist nichts anderes als dieses Spiel, dem der kleine Hans sich widmet, nämlich das der Konfrontation der großen Giraffe und der kleinen Giraffe.35 Ich habe die Wichtigkeit dieses Spiels hervorheben können, indem ich gezeigt habe, was als Grund der Phobie enthüllt wird, nämlich die Unmöglichkeit, die Männin [hommelle]36 – diese phallisierte Mutter, nämlich die Beziehung, die Hans mit der großen Giraffe ausdrückt – mit irgendetwas koexistieren zu lassen, was ihre Reduktion ist.
Wenn er die kleine Giraffe zeichnet, dann nicht, um zu zeigen, dass das ein Bild ist, das mit dem anderen Bild vergleichbar ist, sondern dass es eine Schrift auf einem Papier ist.37 Und dafür zerwutzelt* er es, wie es im Text heißt38 – er zerknüllt es –, und er setzt sich drauf.39 Das Wichtige ist hier nicht die imaginäre oder identifikatorische Funktion von Hans im Verhältnis zu diesem Komplement seiner Mutter, welches im Grunde sein großer Rivale ist, der Phallus. Es ist dies, dass er ihn, diesen Phallus, ins Symbolische übergehen lässt. Denn da wird er seine Wirksamkeit haben, und jeder weiß, von welcher Art die Wirksamkeit der Phobien ist.40
Wenn es etwas gibt, was, nicht ohne Grund, im politischen Vokabular an der Verbindung von Wissen und Macht nützlich ist, dann ist es dies, dass an einem bestimmten Punkt der Welt – auf den ich mich vorhin, hinsichtlich der Sprache, bereits bezogen habe – die Vokabel des ‚Papiertigers‘ in Umlauf gesetzt worden ist.41 Was ist mehr Papiertiger als eine Phobie, da die Phobie sehr häufig eine solche ist, die ein Kind gegenüber Tigern in seinem Bilderbuch hat, gegenüber Tigern, die tatsächlich aus Papier sind –?42
Allerdings, wenn die Politiker alle Mühe haben, die Massen davon zu überzeugen, die Papiertiger an ihren Platz zu stellen, dann ist die Funktion oder genauer die Indikation, die hier zu geben ist, genau die Entgegengesetzte, nämlich der Tatsache ihr ganzes Gewicht zu verleihen, dass das Subjekt, um einer Sache abzuhelfen, einer Sache, die auf der Ebene des Subjekts nicht bewältigt werden kann, auf der Ebene der unerträglichen Angst, dass das Subjekt dafür kein anderes Mittel hat als dies, dass es seine Angst vor einem Papiertiger schürt.
Das ist jedoch instruktiv, da er [Hans] außerdem natürlich nicht ein Subjekt von der Art ist, wie Psychoanalytiker sie sich vorstellen43, nämlich dass das, wie er [Freud] sich ausdrückt44, eine Leichtigkeit des Stils ist.45 Er [Hans] macht all das, indem er es so arrangiert, wie es für ihn das Beste ist.
Der Papiertiger, das ist in einem Augenblick, in dem Augenblick, in dem es um das geht, was eben die Person des kleinen Hans ist; sie ist ganz und gar ein Symptom. In diesem Augenblick verwandelt sich die Welt ganz von selbst oder zumindest | [324] das, was ihre Grundlage ist: Die Männin, mit der er konfrontiert ist, verwandelt sich ganz von selbst in einen Papiertiger. Es gibt eine sehr enge Verbindung zwischen der Struktur des Subjekts und der Tatsache, dass die Frage sich so stellt, dass die Männin plötzlich etwas ist, das Grimassen schneidet und Angst macht – ob es sich dabei um einen Tiger handelt oder um ein kleineres Tier, eine Katze, hat keinerlei Gewicht. Kein Analytiker täuscht sich über seine wahre Funktion.
Wenn wir also am Ende dazu gebracht worden sind, die Wichtigkeit des Mangels zu sehen, bezogen auf dieses völlig reale Objekt, nämlich den Penis, bei all dem, was die Determination dessen betrifft, was man als geschlechtlich verfasste Beziehung [rapport sexué] bezeichnen kann, dann deshalb, weil der Weg uns vom Neurotiker zugänglich gemacht worden ist sowie durch den Kastrationskomplex, insofern er im Felde des Signifikanten effektiv den Platz eines Mangels verwirklicht. Das ist nur das Ergebnis des Diskurses, durch den wir den Fragen, die vom Neurotiker aufgeworfen werden, begegnen müssen.
Erst am Ende einer Psychoanalyse muss das, was durchaus, wie der kleine Hans sagt, ‚angewachsen‘ ist und bleibt46 – und Gott sei Dank, man wünscht es zumindest den meisten, in einem brauchbaren Zustand –, muss das auf einer bestimmten Ebene zerwutzelt* worden sein, muss man eben zeigen, dass es sich nur um ein Symbol handelt.
Von daher natürlich das, worüber ich bereits gesagt habe, dass es am Ende der Kur des kleinen Hans ein Problem darstellt.
Wenn es sicherlich nötig ist, dass er am Ende wie jeder Neurotiker zu der Formel gelangt, ‚um ein Mann zu werden, habe ich nicht den Penis als Symbol‘, weil das der Kastrationskomplex ist –. Man muss jedoch beachten, dass das auf zwei Weisen geschnitten werden kann. [Einerseits] das ‚ich habe nicht den Penis‘, was genau das ist, was man sagen will, wenn man sagt, das Ende der Analyse bestehe in der Realisierung des Kastrationskomplexes. Womit natürlich die Funktion, die schlicht und einfach die des Penis ist, so wie er funktioniert, anderswohin verwiesen wird, d..h. außerhalb des symbolisierten Registers.
Aber das kann auch anders geschnitten werden, nämlich: ‚Ich habe den Penis nicht als Symbol, es ist nicht der Penis, der mich als Signifikant meiner Männlichkeit qualifiziert.‘ Und das hat man vom kleinen Hans nicht erhalten, denn das ist das, was durch die Maschen des Netzes gefallen ist.
Der kleine Hans, der die ganze Zeit über nicht aufgehört hat, mit kleinen Mädchen die Rolle desjenigen zu spielen, der ihn hat, bewahrt, wie ich damals als Vorbehalt geäußert habe, er bewahrt, was die sexuellen Beziehungen angeht, etwas, was den Penis in seiner imaginären Funktion auf die erste Ebene bringt, d..h. dass er das ist, was er als männlich definiert. Das heißt, so heterosexuell er sich auch darstellen mag, ist er damit doch an genau demselben Punkt, an dem die Homosexuellen sind – ich meine diejenigen, die sich als solche anerkennen, denn im Felde der Erscheinungen von normalen Verhältnissen kann man, was die Geschlechtsbeziehungen angeht, | [325] das Feld dessen, was strukturell eigentlich auf die Homosexualität antwortet, gar nicht weit genug ausdehnen.47
Von daher die Wichtigkeit, diese Verknüpfungsstelle zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen zu sondieren und zu erörtern, durch die die Funktion an ihren richtigen Platz gebracht wird48, oder genauer; diejenigen Aspekte der Funktion, die wir als Kastrationskomplex definieren.
Wie dem neue Nahrung gegeben wird, durch die Erfahrung, die wir bei den anderen Formen der Neurose mit der Verbindung des Anderen zur Jouissance haben, das ist das, womit ich später fortfahren werde. [Ende der Sitzung]“49
Paraphrase mit Ergänzungen
Die Koordinierung der Geschlechter durch das Imaginäre wird von der Sprache zerstört
Bei nicht-menschlichen Tieren erfolgt die Koordinierung zwischen dem Männchen und dem Weibchen durch Bilder, d..h. durch das Imaginäre.
Beim Menschen werden die Bilder vom Operieren der Sprache erfasst, vom „Spiel der Signifikanten“.
Dies hat zur Folge, dass die Koordinierung zwischen Männchen und Weibchen verlorengeht.
Von daher ist alles, was beim Menschen als „männlich“ und als „weiblich“ bezeichnet wird, mehrdeutig und kann in Frage gestellt werden. [Als männlich gilt vor allem die Aktivität, als weiblich die Passivität, aber das lässt sich nicht halten, wie Freud immer wieder betont hat.] Für beide biologischen Geschlechter gilt hier, dass sie vielfältige Identifizierungen haben und dass diese sich überlappen. [In Freudscher Terminologie: Im Verlauf des Ödipuskomplexes identifizieren Kinder sich nicht nur mit dem Elternteil des eigenen Geschlechts, sondern auch mit dem des Gegengeschlechts.] Dies zeigt die psychoanalytische Erfahrung, speziell bezogen auf die Geschichte von Paaren. [? Was ist mit psychoanalytischer Erfahrung mit der Geschichte von Paaren konkret gemeint?]
Man muss also zwei Ebenen unterscheiden: die biologische Zweigeschlechtlichkeit einerseits und die Ebene der Identifizierungen und des Unbewussten andererseits, d..h. die Ebene der [unbewussten] Signifikanten. Auf der Ebene der [unbewussten] Signifikanten gibt es – was die Grundlagen angeht – keine polare Kopplung der menschlichen Männchen und der menschlichen Weibchen. Das ist eine empirische Tatsache: Die Psychoanalyse hat alle möglichen polaren Kopplungen entdeckt, etwa aktiv-passiv, Sehender-Gesehener [beim Schautrieb] usw., aber keine polare Kopplung von männlich und weiblich.
[Eine erste Bedeutung von „Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ ist demnach: Der Phallus ist ein Signifikant, dessen Schlüsselstellung darauf beruht, dass es im Unbewussten keine Signifikanten der Geschlechtsdifferenz gibt, er ist ein Signifikant, der auf das Fehlen von Signifikanten verweist.]
Der Phallus-Signifikant bei Männern und Frauen
Wenn man klären will, was es mit der Funktion des Phallus auf sich hat, muss man sich zunächst den Zusammenhang zwischen dem Phallus und der Kastration klarmachen.
Beim Menschen beruht die Beziehung zwischen den biologisch zweigeschlechtlichen Wesen (la relation du sexué) auf dem Phallus-Signifikanten.
Bei Frauen [oder besser gesagt: bei Wesen, die psychisch gesehen der weiblichen Seite zuzuordnen sind, und dies sind überwiegend biologische Frauen] fungiert der Phallus als Signifikant für das, was ihnen fehlt. [Für diejenigen, die auf der weibliche Seite verortet sind, ist er der Signifikant für das, was ihnen fehlt, gewissermaßen das Ausdrucksmittel, um umbewusst zu sagen, „mir fehlt was“.]
Beim Mann [bei den Wesen, die, psychisch gesehen, auf der männlichen Seite ihren Platz haben, und dies sind überwiegend biologische Männer] bezieht sich der Phallus-Signifikant auf eine rätselhafte absolute Jouissance. [In Freuds Konstruktion des Urvatermordes repräsentiert der Urvater die freie, völlig uneingeschränkte sexuelle Jouissance. Lacan deutet hier an, dass auf der Seite des Mannes die Kastration auf der unbewussten Beziehung zu dieser mythischen Figur beruht, zum Vater als demjenigen, der grenzenlos sexuell genießt. Falls ich den Hinweis auf die absolute Jouissnace des Urvaters richtig verstehe, funktioniert der Phallus auf der männlichen Seite so: Der Phallus ist hier der Signifikant für die gesetzlose sexuelle Jouissance, und diese ungehinderte Jouissance wird von männlichen Wesen unbewusst dem Vater zugeschrieben.]
Diese beiden Bezüge zum Phallus, diese beiden Formen der Kastration führen nicht dazu, dass es zwischen den beiden Seiten eine polare Beziehung gibt.
Diese Beziehung zwischen dem Phallus und den beiden Formen der Kastration ist vorgängig, bezogen auf die Frage nach dem [fehlenden] Phallus vorgängig. [Inwiefern, wird in der übersetzten Passage nicht geklärt.]
[„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint demnach: Der Phallus ist ein Signifikant,
(a) dessen Schlüsselstellung darauf beruht, dass es im Unbewussten keine Signifikanten der Geschlechtsdifferenz gibt
(b) und der die fehlenden Signifikanten der Geschlechtsdifferenz durch den Signifikant eines Fehlens ersetzt.]
Der Phallus: der verworfene Signifikant der Jouissance
Lacan hatte [in Seminar 8, Die Übertragung] den Phallus als „fehlenden Signifikanten“ bezeichnet. Das will er jetzt präzisieren.
[Aus den vorangegangen Bemerkungen ergeben sich bereits zwei mögliche Deutungen. (1) Der Phallus ist insofern der fehlende Signifikant, als er bei beiden Geschlechtern das Symbol für das ist, was ihnen fehlt. (2) Der Phallus ist insofern ein fehlender Signifikant, als im Unbewussten eine polare Zuordnung der beiden Geschlechter fehlt; dieses Fehlen ist mit dem Phallus verbunden – auf welche Weise, ist mir nicht klar. Diese beiden Bedeutungen sind jedoch nicht gemeint, wie im Folgenden ausgeführt wird.]
Der Phallus ist ein fehlender Signifikant, das heißt, dass das Unbewusste – das [unbewuste] „Wissen“ – einen Riss zeigt, wie weit auch immer eine Analyse vorangetrieben worden sein mag. [Der Phallus ist ein im Unbewussten fehlender Signifikant. Das ist bereits bei Freud ein großes Thema: Im Unbewussten fehlen bestimmte Vorstellungen, sagt Freud, etwa für die Geschlechtsdifferenz und für den eigenen Tod.]
Der Mann in der Frau hinterlässt keine Spur, sagt ein arabisches Sprichwort. [Nach dem Vorangehenden bedeutet das: Im Unbewussten gibt es keine Signifikanten für die Geschlechterpolarität.] Manche Neurotiker haben eine durch bestimmte Phantasien gestützte Beziehung zu Geschlechtskrankheiten: „hin und wieder eine kleine Krankheit“, und das gehört in diesen Zusammenhang. [Es ist nicht zu erkennen, ob Lacan hier nur auf eine überstarke Angst vor Geschlechtskrankheiten anspielt oder ob er auch eine durch Phantasien gestützte Anfälligkeit für Geschlechtskrankheiten meint. Im Falle einer Geschlechtskrankheit hinterlässt der Mann in der Frau eine Spur, und umgekehrt. Offenbar will Lacan andeuten, dass bei manchen Subjekten die Geschlechtskrankheit als Wunscherfüllung funktioniert, als Ersatz für die fehlende Signifikantenverkopplung der Geschlechter.]
Der Phallus ist ein fehlender Signifikant, das heißt: Der Phallus-Signifikant ist nicht im System des Subjekts. [„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint also: im Unbewussten des Subjekts gibt es nicht den Phallus-Signifikanten.]
Der Phallus-Signifikant ist deshalb nicht im System des Subjekts [er ist deshalb nicht im Unbewussten], weil er nicht das Subjekt repräsentiert, sondern etwas anderes, nämlich die sexuelle Jouissance [jouissance sexuelle, „sexuelles Genießen“, „sexuelle Lust“, meint auch den Orgasmus]. [Lacan hatte den Phallus zunächst, in Seminar 5 von 1957/58, als Signifikanten des Begehrens bezeichnet. Ab dem Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens (geschrieben 1962) definiert er ihn als Signifikanten der Jouissance. „Der Mann in der Frau hinterlässt keine Spur“ hat also noch eine zweite Bedeutung: Es gibt keinen Signifikanten der sexuellen Jouissance.]
Dass die sexuelle Jouissance [also der Orgasmus] außerhalb des Systems des Subjekts ist, heißt, dass diese Jouissance absolut ist [uneingeschränkt].
Unter allen Formen der Jouissance [der Erregung, würde Freud sagen] hat die sexuelle Jouissance [der Orgasmus] eine Sonderstellung. Es ist jenseits des Lustprinzips. [Es beruht nicht auf der Konstanthaltung oder Verminderung der Spannung (= Lustprinzip), sondern geht mit einer Erhöhung der Spannung einher (= jenseits des Lustprinzips)]. Normalerweise wirkt das Lustprinzip als Barriere gegen Spannungserhöhung. Die sexuelle Jouissance bildet jedoch eine Ausnahme, sie wird vom Lustprinzip gewissermaßen durchgelassen [die sexuelle Erregung zielt auf Spannungserhöhung, auf den „Höhepunkt“ – vor dem Spannungsabfall].
Freud sagt [in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Teil III], das sexuelle Genießen [im Sinne des Orgasmus] sei das Genießen par excellence; Lacan deutet an, dass er diese Behauptung problematisch findet. [? Was ist sein Einwand?] [Mit „sexuellem Genießen“ ist bei Freud der Orgasmus gemeint.]
Wenn die sexuelle Jouissance nicht im [unbewussten] System des Subjekts ist, dann heißt das: Es gibt kein Subjekt der sexuellen Jouissance. [Es gibt insofern kein Subjekt der sexuellen Jouissance, als für Lacan das Subjekt immer das von der Sprache geprägte Subjekt ist. In der sexuellen Jouissance bzw. im Orgasmus ist ein Mensch unter bestimmtem Aspekt für kurze Zeit jenseits der Prägung durch die Sprache, also kein Subjekt.]
Diese Hinweise sollen es ermöglichen, zu präzisieren, inwiefern der Phallus ein fehlender Signifikant ist. Er ist ein fehlender Signifikant, das soll heißen: Er ist außerhalb des Systems des Subjekts, er ist kein Signifikant im Unbewussten. [Ich nehme an, dass gemeint ist: dieser Signifikant ist urverdrängt - im Aufsatz Die Bedeutung des Phallus hatte Lacan den Phallus auf die Urverdrängung bezogen.]
Positiv formuliert: Der Phallus ist der übliche Signifikant für diejenige sexuelle Jouissance, die radikal verworfen ist. [Auffällig ist, dass Lacan den Begriff der Verwerfung hier nicht auf Signifikanten bezieht, sondern auf eine Jouissance.]
Das, was im Symbolischen verworfen ist, kehrt im Realen wieder [hatte Lacan im Psychose-Seminar gesagt]. Für die sexuelle Jouissance heißt das: Da die sexuelle Jouissance im Symbolischen verworfen ist [da es hierfür im Unbewussten keinen Signifikanten gibt und auch keinen geben kann], erscheint es im Realen wieder. Anders gesagt: die sexuelle Jouissance ist real. [Wenn Lacan immer wieder vom „Realen der Jouissance“ spricht, ist damit also gemeint: Im Unbewussten eines Subjekts gibt es keinen Signifikanten, der die sexuelle Jouissance repräsentiert, und ein solcher Signifikant kann im Unbewussten auch nicht gebildet werden – möglicherweise deswegen nicht, weil die sexuelle Jouiussance jenseits des Lustprinzips funktioniert.]
Der Phallus bezeichnet konventionell das, was von der sexuellen Jouissance verworfen ist. [Der Phallus ist nicht ein Symbol im Unbewusten des Subjekts, sondern ein konventionelles Symbol. Er ist ein konventionelles Symbol für die absolute, für die uneingeschränkte Jouissance.]
[„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint demnach: Der Phallus ist ein Signifikant,
(a) dessen Schlüsselstellung darauf beruht, dass es im Unbewussten keine Signifikanten der Geschlechtsdifferenz gibt
(b) und der die fehlenden Signifikanten der Geschlechtsdifferenz durch den Signifikant eines Fehlens ersetzt.
(c) Das, was fehlt, ist eine bestimmte Jouissance.
(d) Der Signifikant dieser Jouissance fehlt, er ist nicht im System des Subjekt, es ist (so nehme ich an) urverdrängt.]
Ödipusmythos und Urvatermord: die absolute Jouissance des Urvaters
Da es im System des Subjekts keinen Signifikanten der absoluten Jouissance gibt, kann diese Jouissance nur durch einen Mythos dargestellt werden [der diese Jouissance mit der Aggression, dem Schuldgefühl und dem Gesetz verbindet].
Freud zufolge ist der Ödipusmythos [den Lacan an dieser Stelle mit Freuds Konzeption des Urvatermords zusammenwirft] ein Mythos, der anders ist als alle anderen. [? Wo sagt Freud das und worin besteht die Andersheit des Ödipusmythos?] Der Hinweis auf die abweichende Stellung des Ödipusmythos ist jedoch nicht rezipiert worden, außer von einigen Spezialisten. Der Freudsche [Mythos vom] Urvatermord hat die Funktion, den Platz einer absoluten Jouissance zu verorten. [Freud schreibt dem Urvater den „freien Sexualgenuss“ zu, die „Triebfreiheit“. Die absolute Jouissance ist hier demnach die uneingeschränkte sexuelle Jouissance. In der Urvater-Erzählung wird die Triebfreiheit als Jouissance aller Frauen gedeutet. Also muss man die gewöhnliche sexuelle Jouissance, den Orgasmus, beim Mann durch den Bezug auf die mythische Figur der absoluten Triebfreiheit verorten, verkörpert durch den Urvater.] Dabei bleibt [aufgrund der Mehrdeutigkeit des Genitivs] unbestimmt, ob es [bei der „Jouissance aller Frauen“] um die Jouissance auf der Seite des Urvaters geht oder um die Jouissance auf der Seite aller Frauen. Hinzukommt, dass auch die Jouissance auf der Seite der Frauen für die psychoanalytische Theorie ein Rätsel geblieben ist.
[„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint demnach: Der Phallus ist ein Signifikant,
(a) dessen Schlüsselstellung darauf beruht, dass es im Unbewussten keine Signifikanten der Geschlechtsdifferenz gibt
(b) und der die fehlenden Signifikanten der Geschlechtsdifferenz durch den Signifikant eines Fehlens ersetzt.
(c) Das, was fehlt, ist eine bestimmte Jouissance.
(d) Der Signifikant dieser Jouissance fehlt, er ist nicht im System des Subjekt, es ist (so nehme ich an) urverdrängt,
(e) und kann deshalb nur durch einen Mythos dargestellt werden, den des Urvaters der alle Frauen genießt.]
Ursprung der Neurose: die Beziehung zwischen der sexuellen Jouissance des Subjekts und dem Begehren des Anderen
Wir sind hier also bei der phallischen Funktion. [In Seminar 14, Die Logik des Phantasmas, wurde der Begriff „phallische Funktion“ auf die Kastration bezogen; Lacans Symbol für die Kastration ist minus klein phi, −φ. Die phallische Funktion besteht darin, so hieß es dort, dass die Kastration anzeigt, dass es im Unbewussten des Subjekts keinen Signifikanten für das sexuelle Verhältnis gibt. Hier jedoch, an dieser Stelle von Seminar 16, geht es um eine andere „phallische Funktion“, um eine andere Funktion des Phallus: um den symbolischen Phallus (Φ) als Signifikant der Jouissance und darum, dass er als Signifikant der Jouissance nicht im Unbewussten ist.] Die phallische Funktion repräsentiert nicht das Subjekt [das dürfte nach dem vorangehenden heißen: der Phallus repräsentiert nicht das Subjekt, insofern er die sexuelle Jouissance repräsentiert und die sexuelle Jouissance nicht vom unbewussten System des Subjekts repräsentiert wird]. Gleichwohl bezieht sich die phallische Funktion auf die Determination des Subjekts, auf einen bestimmten Punkt dessen, wodurch das Subjekt determiniert wird [sie bezieht sich auf die sexuelle Jouissance]. Die phallische Funktion kennzeichnet ein bestimmtes Feld [das der sexuellen Jouissance], und zwar insofern als dieses Feld [der sexuellen Jouissance] durch die Beziehung zum Anderen begrenzt wird, zu dem, „was als der Andere strukturiert ist“ [zum Begehren des Anderen]. [Die phallische Funktion bezieht sich also auf das Verhältnis zwischen der sexuellen Jouissance und dem Begehren des Anderen.]
Dieser Zusammenhang ist klar erkennbar, wenn man sich der Frage zuwendet, wodurch eine Neurose ausgelöst wird. Eine Neurose bricht dann aus, wenn zwei Faktoren zusammenkommen. Das ist zum einen das Eindringen einer autoerotischen Jouissance, also erster sexueller Empfindungen, die mit Masturbation verbunden sind [Freuds „phallische Stufe“]. Der andere Faktor ist die Abhängigkeit des Subjekts vom Begehren des Anderen [bei Freud: Ödipuskomplex und Schlüsselrolle des Masturbationsverbots]. Wenn diese beiden Faktoren zusammenkommen, wird die Struktur des Subjekts zum Drama. [? Worauf spielt Lacan mit „Drama“ an, außer auf die Ödipus-Tragödie?]
Die Details dieser Konstellation sind noch zu bestimmen. Eine wichtige Rolle spielt hierbei jedenfalls das Objekt a; es demonstriert rückwirkend, dass es die Struktur des Subjekts zuvor bestimmt hatte. [Das könnte heißen: Die Objekte a (Brust, Kot, Blick, Stimme) erhalten rückwirkend, durch den Kastrationskomplex, ihre Funktion, d..h. sie fungieren als Phallus-Symbole.] Das Objekt a repräsentiert den Genussmangel und damit das reale Wesen des Subjekts, es repräsentiert den verbotenen Bereich der Jouissance. [Die Objekte a (Brust, Kot, Stimme, Blick) repräsentieren die Jouissance, die das Subjekt unwiederbringlich verloren hat, mit Freud: durch ein Verbot. Das Subjekt ist seinem Wesen nach eine negative Größe: der durch die Sprache herbeigeführte Jouissance-Verlust.]
Dieser Jouissancemangel steht in Verbindung zum Feld des Anderen als dem Ort, an dem das Wissen geordnet ist. [Eine der Beziehungen zwischen der sexuellen Jouissance und dem Anderen ist also das Verhältnis zwischen den Objekten a als Repräsentanten des Jouissancemangels und dem Anderen als Ort des Wissens.] Die Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen – dem Jouissancemangel und dem Anderen – wird durch die sexuelle Wissbegierde hergestellt. Die sexuelle Neugier ist grundlegend für die gesamte Ordnung des Wissens, also für das Feld des Anderen, insofern hier das Wissen geordnet wird. Die Einsicht, dass die sexuelle Neugierde die Verbindung zwischen der sexuellen Jouissance und dem Wissen herstellt, ist eine der großen psychoanalytischen Entdeckungen. [? Will Lacan hier andeuten, dass die sexuelle Neugierde darauf abzielt, den fehlenden Signifikanten der Jouissance zu finden?]
[Man muss die sexuelle Jouissance, die durch den Phallus-Signifikanten repräsentiert wird, also auf den Anderen beziehen.] Der Phallus ist ein fehlender Signifikant. Der Andere ist strukturiert und [deshalb] gelocht. [Eine Struktur ist für Lacan immer eine Struktur mit einem Loch. Im Felde des Anderen fehlt ein Signifikant; Lacans Symbol hierfür ist S(Ⱥ), „Signifikant des Mangels im Anderen“.] Metaphorisch kann man den Phallus als denjenigen Signifikanten bezeichnen, der den Anderen locht. [? Was ist damit gemeint?] Jedoch muss man diese beiden Konzepte unterscheiden, der Mangel im Anderen ist nicht der Phallus als fehlender Signifikant [S(Ⱥ) ≠ Φ]. [„Signifikant eines Mangels im Anderen“ meint: es gibt keinen Signifikanten, der die Wahrheit garantiert. Beim „Signifikanten des Mangels im Anderen“ geht es um die Dimension der Wahrheit und damit des (verborgenen und aufzudeckenden) Sinns, nicht um die Dimension der Jouissance.]
[? Was meint dieser Satz: „Insofern das etwas anderes ist, sehen wir, was geschieht, wenn das junge Subjekt auf das antworten muss, was durch das Eindringen der sexuellen Funktion in sein subjektives Feld herbeigeführt wird.“ Will Lacan sagen: Den Unterschied zwischen dem Signifikanten des Mangels im Anderen und dem symbolischen Phallus sieht man dann, wenn man beobachtet, was geschieht, wenn das Subjekt auf das Eindringen der sexuellen Funktion in sein subjektives Feld antworten muss – ?]
[„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint demnach: Der Phallus ist ein Signifikant,
(a) dessen Schlüsselstellung darauf beruht, dass es im Unbewussten keine Signifikanten der Geschlechtsdifferenz gibt
(b) und der die fehlenden Signifikanten der Geschlechtsdifferenz durch den Signifikant eines Fehlens ersetzt.
(c) Das, was fehlt, ist eine bestimmte Jouissance.
(d) Der Signifikant dieser Jouissance fehlt, er ist nicht im System des Subjekt, es ist (so nehme ich an) urverdrängt,
(e) und kann deshalb nur durch einen Mythos dargestellt werden, den des Urvaters der alle Frauen genießt.
(f) Der Sigifikant der Jouissance fehlt im System des Subjekts, das heißt: er fehlt im Anderen.]
Die Neurose des kleinen Hans: der symbolische Phallus als Papiertiger
Lacan wendet sich nun Freuds Fallstudie über den kleinen Hans zu [Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben] und er rekapituliert Teile des Kommentars, den er hierzu in Seminar 4, Die Objektbeziehung, vorgetragen hatte.
Im Zusammenhang der Frage nach dem Phallus als einem fehlenden Signifikanten ist von besonderem Interesse das Spiel, in dem Hans die große Giraffe mit der kleinen Giraffe konfrontiert. [Lacan bezieht sich hier auf das Gespräch von Hans mit seinem Vater über eine Giraffen-Phantasie von Hans; in diesem Gespräch symbolisiert Hans die kleine Giraffe durch ein Stück Papier, das er zerknüllt und auf das er sich setzt.]
Der Grund für die Phobie ist der, dass es für Hans unmöglich ist, die phallisierte Mutter [die phallische Mutter], d..h. die Männin (hommelle) [dargestellt durch die große Giraffe], mit etwas koexistieren zu lassen, was ihre Reduktion ist [mit der kleinen Giraffe].
An der kleinen Giraffe ist nicht entscheidend, dass sie ein Bild ist, das dem Bild der großen Giraffe ähnlich ist [wichtig ist also nicht die Beziehung der Ähnlichkeit zwischen der kleinen und der großen Giraffe, nicht die imaginäre Beziehung]. Entscheidend ist vielmehr, dass die kleine Giraffe für Hans eine Schrift auf einem Papier ist, dass er dieses Papier zerknüllt und dass er sich daraufsetzt. Entscheidend an der Giraffenphantasie ist nicht, dass Hans sich mit dem Komplement seiner Mutter identifiziert, mit dem [imaginären] Phallus [der Mutter], mit seinem [Hansens] Rivalen [mit der kleinen Giraffe in dieser imaginären Funktion]. [Diese Dimension gibt es, aber sie ist nicht das, worauf es hier ankommt.] Entscheidend ist vielmehr, dass Hans den [imaginären] Phallus [die kleine Giraffe] ins Symbolische übergehen lässt [indem er sie durch ein Papier darstellt, das er zerknüllt und auf das er sich setzt].
[Der imaginäre Phallus ist der der Mutter zugeschriebene Phallus, zu dem das Kind in eine Rivalitätsposition geht; es will dieser Phallus sein. Der imaginäre Phallus wird durch die kleine Giraffe dargestellt. Der symbolische Phallus entsteht dadurch, dass diese Position überwunden wird, und zwar dadurch, dass der imaginäre Phallus erstens zu einem Signifikanten gemacht wird (zu Schrift auf Papier) und indem er zweitens gewissermaßen abgestoßen wird, zurückgewiesen wird (Zerknüllen und Daraufsetzen), zu einem Signifikanten außerhalb des Systems des Subjekts. Der symbolische Phallus existiert also in einer Dynamik, die durch zwei Merkmale charakterisiert ist: Er entsteht erstens aus dem imaginären Phallus durch dessen Umwandlung in einen Signifikanten, und dieser Signifikant wird, zweitens, einer Zurückweisung unterworfen, einer Abstoßung oder Ausstoßung.]
Im Symbolischen wird der Phallus seine Wirksamkeit haben, nämlich im Zusammenhang der Phobie. Die Wirkungsweise von Phobien wird von Lacan bei den Zuhörern als bekannt voraussetzt, wie er an dieser Stelle betont. [Freud zufolge wird bei der Phobie eine von innen kommende überwältigende Angst, der das Subjekt sich nicht entziehen kann, durch eine Angst vor etwas Äußerem ersetzt, vor dem das Subjekt fliehen kann, z..B. durch die Angst vor bestimmten Tieren. Diese Umwandlung wird durch die Kastrationsangst ermöglicht; die Angst, vom Vater kastriert zu werden, wird im Falle des kleinen Hans durch die Angst ersetzt, von Pferden gebissen zu werden.] Bei der Phobie geht der Phallus ins Symbolische über. Er nimmt beispielsweise die Gestalt eines „Papiertigers“ an; das phobische Tier ist oft ein Tier aus einem Bilderbuch [etwa im Falle des „Wolfsmannes“]. [Die Entstehung der Tierphobie sollte also nicht von der Wahrnehmung lebendiger Tiere her rekonstruiert werden, sondern ausgehend von der Funktion dieser Tiere im Sprechen und im Schreiben, etwa als Bild in einem Bilderbuch. Hierbei deutet Lacan die Zeichnung – Linien auf Papier – als eine Form der Schrift.] Der „Papiertiger“ – das Tier, das die Angst auslöst – ermöglicht es dem Kind, der unerträglichen Angst zu entkommen [der Angst, die dadurch entsteht, dass seine sexuelle Jouissance mit dem Begehren des Anderen, der phallischen Mutter, konfrontiert wird]; der „Papiertiger“ sorgt dafür, dass diese Angst durch eine Angst ersetzt wird, die das Kind einigermaßen bewältigen kann [da sie jetzt eine von außen hervorgerufene Angst ist, der es sich entziehen kann, indem es nicht mehr auf die Straße geht].
[Eine der Erscheinungsformen des symbolischen Phallus ist also ein Tier als Gegenstand einer Tierphobie. Der phallische Charakter dieses Tieres besteht, nach Freud, in der mit ihm verbundenen Kastrationsvorstellung. Der symbolische Charakter des Tieres kann für Lacan u.a. darin bestehen, dass es eine Zeichnung ist und für Lacan heißt das: etwas Geschriebenes.]
In einem bestimmten Moment wird die Männin [die phallische Mutter] für Hans zu einem Wesen, das Grimassen schneidet und einem Angst einjagt [zu einem angstauslösenden Tier]. Damit verwandelt sich die Welt des Kindes, denn die Beziehung zur Mutter ist die Grundlage seiner Welt. [Die radikale Veränderung besteht darin, dass Hans nicht mehr die Position einnimmt, das Objekt des Begehrens der Mutter sein zu wollen. Damit eröffnet sich für ihn die Welt anderer möglicher Objekte.] In einem bestimmten Augenblick [dem der Konfrontation der sexuellen Jouissance des Subjekts mit dem Begehren der Mutter und dem Überschwemmtwerden durch die Angst] ist die Person von Hans ganz und gar ein Symptom, wobei das Symptom darin besteht, dass sich die Männin, mit der er konfrontiert ist, für ihn in einen Papiertiger verwandelt [dass die Pferdephobie entsteht]. Die [durch Vermeiden bewältigbare] Angst vor dem „Papiertiger“ [die Pferdephobie] hilft ihm, die unerträgliche Angst zu bewältigen [die hervorgerufen wird durch die Verbindung zwischen seiner sexuellen Jouissance und dem Begehren der Mutter]. Um welches Tier es sich dabei handelt, ist nicht wichtig. Diese Umwandlung vollzieht sich wie von selbst. [Dies ist offenbar die Leichtigkeit des Stils von Hans.]
[Inwiefern ist das Tier, dem die Phobie gilt, ein im symbolischen System des Subjekts fehlender Signifikant? In der übersetzten Passage äußert Lacan sich hierzu nicht. Möglicherweise orientiert er sich an Freuds These, dass die Phobie eine innere Gefahr (Triebgefahr), die zu völliger Hilflosigkeit führt, in eine traktable äußere Gefahr verwandelt, in eine Gefahr, vor der man fliehen kann. Das Tier, dem die Phobie gilt, wäre demnach insofern ein im Unbewussten des Subjekts fehlender Signifikant, als der Tier-Signifikant für Hans tatsächlich außerhalb von ihm ist, etwa ein Pferd auf der Straße – was im Symbolischen verworfen ist, erscheint im Realen.]
[„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint demnach: Der Phallus ist ein Signifikant,
(a) dessen Schlüsselstellung darauf beruht, dass es im Unbewussten keine Signifikanten der Geschlechtsdifferenz gibt
(b) und der die fehlenden Signifikanten der Geschlechtsdifferenz durch den Signifikant eines Fehlens ersetzt.
(c) Das, was fehlt, ist eine bestimmte Jouissance.
(d) Der Signifikant dieser Jouissance fehlt, er ist nicht im System des Subjekt, es ist (so nehme ich an) urverdrängt,
(e) und kann deshalb nur durch einen Mythos dargestellt werden, den des Urvaters der alle Frauen genießt.
(f) Der Sigifikant der Jouissance fehlt im System des Subjekts, das heißt: er fehlt im Anderen.
(g) In der Phobie erscheint dieser verworfene Signifikant „im Realen“, etwa als Tier, und die Analyse zielt darauf ab, ihn in einen Signifikanten zurückzuverwandeln.]
Der symbolische Phallus in der psychoanalytischen Kur
Bezogen auf die geschlechtlich verfasste Beziehung (le rapport sexué) sind die Psychoanalytiker dazu gebracht worden, die Wichtigkeit des Mangels zu sehen. Der Mangel bezieht sich hierbei auf ein reales Objekt, auf den Penis. Die Einsicht in die entscheidende Funktion des Mangels ist durch den Neurotiker ermöglicht worden, nämlich durch den Kastrationskomplex. [Das unvollständige Durchlaufen des Kastrationskomplexes ist die letzte Ursache der Neurose.] Die Funktion des Kastrationskomplexes besteht darin, dass im Felde der Signifikanten der Platz eines Mangels hergestellt wird. Das ist das Ergebnis, zu dem die Psychoanalytiker gekommen sind, um die Fragen beantworten zu können, die die Neurose aufwirft. [Der Phallus ist ein im symbolischen System des Subjekts fehlender Signifikant, und der Weg, auf dem er zum fehlenden Signifikanten wird, ist der Kastrationskomplex.]
Am Ende einer Psychoanalyse muss der reale, der „angewachsene“ Penis (wie Hans sagt) auf einer bestimmten Ebene „zerwutzelt“ werden: dem Patienten muss gezeigt werden, dass es sich nur um ein Symbol handelt [der imaginäre Phallus muss in den symbolischen Phallus umgewandelt werden].
Von hier aus gesehen gibt es im Falle des kleinen Hans am Ende der Kur ein Problem.
Am Ende einer Analyse muss der [männliche] Neurotiker zu der Formel gelangen: „um ein Mann zu werden, habe ich nicht den Penis als Symbol“. Eben darin besteht der Kastrationskomplex; und am Ende der Analyse muss der Kastrationskomplex realisiert werden.
Der Satz „ich habe nicht den Penis als Symbol“ kann aber auf zwei Weisen „geschnitten“ werden, interpunktiert werden, akzentuiert werden [Lacan wählt die Metapher des Schneidens, um den Kastrationskomplex zu evozieren]. [Erste Möglichkeit:] „Ich habe nicht den Penis.“ Genau das meint es, wenn man sagt, das Ende der Analyse bestehe darin, dass der Kastrationskomplex realisiert wird. Damit wird der Penis in seinem Funktionieren nach außerhalb verwiesen, außerhalb des symbolischen Registers des Subjekts. [? Ist gemeint: „Der Penis ist kein Symbol, sein Funktionieren wird nicht im Symbolischen repräsentiert.“ – ?]
Die zweite Interpunktion ist: Nicht der Penis ist es, der mich als Signifikant meiner Männlichkeit qualifiziert. [Die Negation bezieht sich auf den Männlichkeits-Signifikanten. Nicht der Penis ist es, der mich als männlich charakterisiert. Der Patient gibt die Vorstellung auf, dass sein Penis (das Organ) seine Männlichkeit repräsentiert.]
Von dieser zweiten Deutung aus sieht man, dass bei der Analyse des kleinen Hans ein Problem ungelöst geblieben ist. Hans spielt den Mädchen gegenüber weiterhin die Rolle desjenigen, der den Penis hat. Für ihn ist der reale Penis in seiner imaginären [narzisstischen] Funktion das, was ihn als männlich definiert. Und das heißt, dass er letztlich dieselbe Position einnimmt, wie ein männlicher Homosexueller, für den beim Partner das Vorhandensein eines realen Penis in seiner imaginären Funktion ja ebenfalls die Bedingung dafür ist, dass den Partner sexuell begehren kann.
Der Phallus ist deshalb wichtig, weil er ein Gelenk zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen bildet. Beim Kastrationskomplex geht es darum, zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen die richtige Beziehung herzustellen [dadurch, dass das imaginäre Funktionieren des Phallus durch sein symbolisches Funktionieren ersetzt wird].
Kürzer
Diese systematisierende Zusammenfassung konzentriert sich auf die Frage, in welchem Sinne der Phallus ein fehlender Signifikant ist
Der Phallus ist ein Signifikant, der gewissermaßen für ein Fehlen einspringt: für die fehlenden Signifikanten der Geschlechtsdifferenz – die biologische Zweigeschlechtlichkeit ist im Unbewussten nicht repräsentiert.
Der Phallus repräsentiert die sexuelle Jouissance – an dieser These aus Subversion des Subjekts hält Lacan in Seminar 16 fest.
Unter der sexuellen Jouissance versteht Lacan in der übersetzten Passage die „absolute“ Jouissance, d..h. die uneingeschränkte Jouissance.
Der Phallus repräsentiert „konventionell“ die uneingeschränkte Jouissance.
Der Phallus, als Signifikant der absoluten sexuellen Jouissance, ist ein fehlender Signifikant.
Er ist insofern ein fehlender Signifikant, als er im symbolischen System des Subjekts fehlt - im Unbewussten qua Signifikantenapparat ist er nicht enthalten.
„Der Phallus ist ein fehlender Signifikant“ meint also: Der Phallus, der Signifikant der absoluten sexuellen Jouissance, ist ein im unbewussten symbolischen System des Subjekts fehlender Signifikant.
Die absolute Jouissance ist verworfen, das heißt: Sie ist real. Die verworfene absolute sexuelle Jouissance ist insofern real, als sie vom symbolischen System des Subjekts nicht symbolisiert wird und nicht symbolisiert werden kann.
Warum fehlt der Phallus als Signifikant der sexuellen Jouissance im unbewussten symbolischen System des Subjekts?
Da es im System des Subjekts keinen Signifikanten für die absolute Jouissance gibt, kann diese Jouissance nur durch einen Mythos dargestellt werden. Der Ödipuskomplex und der von Freud erfundene Mythos vom Urvatermord sind Darstellungen dieser Jouissance.
Der Phallus als fehlender Signifikant der sexuellen Jouissance funktioniert vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es im Unbewussten keinen Signifikanten gibt, der männliche Menschen und weibliche Menschen polar einander zuordnet. Bezogen auf das sexuelle Verhältnis gibt es also zwei im Unbewussten fehlende Signifikanten: Es gibt keinen Signifikanten der sexuellen Jouissance, und es gibt keinen Signifikanten der Geschlechtsdifferenz. Das Fehlen eines Signifikanten der sexuellen Jouissance ist mit dem symbolischen Phallus (Φ) verbunden. Auf das Fehlen eines Signifikanten der Geschlechtsdifferenz bezieht sich – falls ich die in den Anmerkungen zur Übersetzung zitierte Passage aus Seminar 14 recht verstanden habe – die Kastration (– φ).
Bei Frauen fungiert der Phallus als Signifikant für das, was fehlt. Wie das mit dem Phallus als dem fehlenden Signifikanten desrsexuellen Jouissance zusammenhängt, wird in der übersetzen Passage nicht erläutert.
Bei Männern ist der Phallus der Signifikant für die mythische absolute Jouissance des Urvaters, für die Triebbefriedigung ohne Einschränkung. Wie das mit dem Phallus als dem Signifikanten der sexuellen Jouissance zusammenhängt, erfährt man ebenfalls nicht; offenbar stellt sich Lacan vor, dass sich bei Männern die sexuelle Jouissance im Sinne des Orgasmus auf die mythische unbegrenzte Jouissance des Urvaters bezieht, aber Näheres erfährt man hier nicht.
Bezogen auf die Frage des fehlenden Phallus – des Phallus als im Unbewussten fehlender Signifikant der sexuellen Jouissance – ist die Funktion des Phallus bei den beiden Formen der Kastration vorgängig. Inwiefern, wird in der übersetzten Passage nicht geklärt.
Am Beispiel des „kleinen Hans“ (Freuds Fallstudie) zeigt Lacan, wie der Phallus als fehlender Signifikant funktioniert, wie er hergestellt wird. Hans phantasiert von zwei Giraffen, die große repräsentiert die Mutter, die kleine zunächst Hans in einer imaginären Beziehung zur Mutter, als Rivale zum Objekt des Begehrens der phallischen Mutter, als Rivale zum Phallus der Mutter. Entscheidend ist jedoch, dass Hans im Gespräch mit dem Vater die kleine Giraffe durch ein Stück Papier symbolisiert, das auf eine Giraffenzeichnung verweist, die der Vater früher einmal angefertigt hatte, und dass Hans dieses Stück Papier zerknüllt und sich daraufsetzt. Damit verwandelt er den imaginären Phallus in den symbolischen Phallus: in einen Signifikanten (eine Zeichnung, eine Schrift), der zurückgewiesen wird (Zerknüllen und Draufsetzen).
Eine zweite Form, in der beim kleinen Hans der symbolische Phallus ins Spiel kommt, ist die Phobie. Die Phobie bezieht sich auf „Papiertiger“, wie Lacan sagt; das Tier, das die Angst hervorruft, ist ein symbolisches Element, z..B. ein Tier in einem Bilderbuch, wie bei der Phobie des Wolfsmanns. Die Phobie – die Angst vor dem Papiertiger – wird in dem Moment erzeugt, in dem die sexuelle Jouissance von Hans mit dem Begehren der phallischen Mutter konfrontiert ist und unerträgliche Angst in ihm aufsteigt. An die Stelle dieser Angst tritt die relativ harmlose phobische Angst.
Das Tier, auf das die Phobie sich bezieht, ist also ein symbolischer Phallus. Symbolisch ist es insofern, als es in Zusammenhänge des Sprechens und Schreibens eingebettet ist, etwa, indem es ein gezeichnetes Tier ist.
Inwiefern ist das Tier, dem die Phobie gilt, ein im symbolischen System des Subjekts fehlender Signifikant? In der übersetzten Passage äußert Lacan sich dazu nicht. Möglicherweise ist das Tier insofern nicht im System des Subjekts, als es außen ist, etwa ein Pferd auf der Straße oder ein Bild in einem Bilderbuch.
Der Weg, auf dem der Phallus zu einem im symbolischen System des Subjekts fehlenden Signifikanten wird, ist der Kastrationskomplex. Der Kastrationskomplex besteht eben in der Umwandlung des imaginären Phallus in einen symbolischen Phallus, in einen Signifikanten, der außerhalb des symbolischen Systems des Subjekts funktioniert. Die Neurose beruht auf der unvollständigen Realisierung des Kastrationskomplexes; am Ende einer Analyse muss ein Neurotiker den Kastrationskomplex durchlaufen, und das heißt, sagt Lacan, der Psychoanalytiker muss ihm zeigen, dass der Phallus nur ein Symbol ist.
Im Falle des kleinen Hans ist das nicht gelungen, auch noch am Schluss glaubt er, dass es der Penis ist, der ihn in seiner Männlichkeit auszeichnet, der reale Penis in einer imaginären Funktion.
Ausblick: Seminar 18
In Seminar 18, Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre, wird Lacan sagen:
„Der Phallus, jemand hat mal geschrieben, das sei derjenige Signifikant, der das Fehlen des Signifikanten bezeichnen würde. Das ist absurd, etwas Derartiges habe ich niemals artikuliert. Der Phallus ist ganz streng die sexuelle Jouissance, insofern es koordiniert ist, insofern es fest verbunden ist mit einem Schein.“50
Der erste Satz ist rätselhaft – Lacan hat den Phallus immer wieder als fehlenden Signifikanten bezeichnet. Geht es ihm um den Unterschied zwischen einem fehlenden Signifikanten und einem Signifikanten, der das Fehlen des Signifikanten bezeichnet?
Was könnte es heißen, dass die sexuelle Jouissance mit einem Schein verbunden ist? Ich nehme an, dass dies gemeint ist: Das sexuelle Jouissance (die sexuelle Erregung einschließlich des Orgasmus) ist insofern mit dem Schein verbunden, als an Phantasmen gebunden (und nicht an das Bild eines Partners des anderen Geschlechts). Diese Phantasmen sind mit dem Phallus verbunden, denn das Objekt a im Phantasma ist eine Phallus-Metapher, ein Symbol für den imaginären Phallus, insofern er fehlt, also ein Symbol für die Kastration (minus klein phi, -φ).
Später heißt es in Seminar 18: Der Phallus ist nicht dadurch gekennzeichnet,
„der Signifikant des Mangels zu sein […], sondern dadurch, auf jeden Fall sicherlich das zu sein, wovon keinerlei Sprechen ausgeht„51.
Hier wird die Formulierung vom Phallus als „Signifikant des Mangels“ zurückgewiesen. Geht es um den Unterschied zwischen einem „Signifikanten des Mangels“ und einem „mangelnden Signifikanten“?
Das, wovon kein Sprechen ausgeht, ist, so nehme ich an, das Urverdrängte. Vom Urverdrängten geht insofern kein Sprechen aus, als das Verdrängte in diesem Fall bei „freier Assoziation“ nicht danach strebt, zur Sprache gebracht zu werden. Falls dies gemeint ist, würde Lacan hier auf Die Bedeutung des Phallus zurückkommen (einen Vortrag von 1958, der 1966 veröffentlicht wurde). Der Phallus, so hieß es dort, ist der urverdrängte Signifikant. Dies ist, so vermute ich, der symbolische Phallus, groß Phi, Φ.
Sekundärliteratur
Fabienne Guillen versucht das Problem so zu lösen:
„Lacan verwendet hier [in Seminar 14] einen Ausdruck, der bei seinen Schülern ein Missverständnis hervorrufen wird, denn er wird später mehrfach sagen, dass er das niemals gesagt hat. Ich zitiere: ‚Und diese Bemerkungen zielen auf nichts anderes ab als darauf, uns zu ermöglichen, den Sinn des Phallus als fehlendem Signifikanten zu präzisieren.‘ 52 Es scheint, dass das Missverständnis sich darauf bezieht, dass Lacan, als er den Ausdruck ‚fehlender Signifikant‘ verwendete, damit nicht sagen wollte, dass der Phallus einen Signifikanten bezeichnet, der fehlen würde, sondern dass der Phallus ein ganz spezieller, ja paradoxer Signifikant ist, da er kein Signifikat hat, wie er es im Encore-Seminar präzisieren wird, da er die Jouissance bezeichnet, die per definitionem dem Signifikanten entgeht. Insofern er dieser ausgeschlossene Signifikant ist, hat der Phallus die Funktion, den Anderen zu lochen und dem Subjekt seinen Platz zu geben.„53
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- Phallisches Genießen (II): Seminare 19 und 20
- Strandabphall
Anmerkungen
- Seminar 6, Sitzung vom 12. November 1958; Version Miller, S. 34, meine Übersetzung.
- Der Andere ist dadurch konstituiert, dass es irgendwo einen fehlenden Signifikanten gibt, und der Phallus ist das Zeichen der Abwesenheit (Seminar 8, 12. April 1961; Version Miller/Gondek, S. 289); groß Phi, also Φ für den symbolischen Phallus, kommt an den Platz des fehlenden Signifikanten (19. April 1961; Version Miller/Gondek S. 297); in Φ muss das Subjekt den fehlenden Signifikanten erkennen können (3. Mai 1961; Version Miller/Gondek, S. 333).
- Seminar 16, Sitzung vom 14. Mai 1969, letztes Drittel; Version Miller, S. 319–325.
- Jacques Lacan: Le séminaire, livre XVI. D’un Autre à l’autre. 1968–1969. Le Seuil, Paris 2006.
- Zum Konzept des Phallus als fehlendem Signifikanten in Seminar 16 vgl. Bruno/Guillen, S. 60–62.
- Vgl. S. Freud: „Die Geschlechtlichkeit ist eine biologische Tatsache, die, obwohl von außerordentlicher Bedeutung für das Seelenleben, psychologisch schwer zu erfassen ist.“ (Das Unbehagen in der Kultur (1930). In Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191–270, hier: S. 235 Fn. 2)
- Phanerogame sind Blütenpflanzen. Mir ist nicht klar, was Lacan hier meint.
- In Triebe und Triebschicksale schreibt Freud:
„Vielleicht kommt man dem Verständnis der mehrfachen Gegenteile des Liebens näher, wenn man sich besinnt, daß das seelische Leben überhaupt von drei Polaritäten beherrscht wird: den Gegensätzen von
Subjekt (Ich) – Objekt (Außenwelt).
Lust – Unlust.
Aktiv – Passiv.“
(Triebe und Triebschicksale (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. S 75–102, hier: S. 96.) - Vgl. Freud, Triebe und Triebschicksale, a.a.O. S. 92 f.
- Zum Verhältnis von Aktivität-Passivität und Männlichkeit-Weiblichkeit schreibt Freud in den Drei Abhandlungen:
„Es ist unerläßlich, sich klar zu machen, daß die Begriffe ‚männlich‘ und ‚weiblich‘, deren Inhalt der gewöhnlichen Meinung so unzweideutig erscheint, in der Wissenschaft zu den verworrensten gehören und nach mindestens drei Richtungen zu zerlegen sind. Man gebraucht männlich und weiblich bald im Sinne von Aktivität und Passivität, bald im biologischen und dann auch im soziologischen Sinne. Die erste dieser drei Bedeutungen ist die wesentliche und die in der Psychoanalyse zumeist verwertbare. Ihr entspricht es, wenn die Libido oben im Text als männlich bezeichnet wird, denn der Trieb ist immer aktiv, auch wo er sich ein passives Ziel gesetzt hat. Die zweite, biologische Bedeutung von männlich und weiblich ist die, welche die klarste Bestimmung zuläßt. Männlich und weiblich sind hier durch die Anwesenheit der Samen-, respektive Eizelle und durch die von ihnen ausgehenden Funktionen charakterisiert. Die Aktivität und ihre Nebenäußerungen, stärkere Muskelentwicklung, Aggression, größere Intensität der Libido, sind in der Regel mit der biologischen Männlichkeit verlötet, aber nicht notwendigerweise verknüpft, denn es gibt Tiergattungen, bei denen diese Eigenschaften vielmehr dem Weibchen zugeteilt sind. Die dritte, soziologische Bedeutung erhält ihren Inhalt durch die Beobachtung der wirklich existierenden männlichen und weiblichen Individuen. Diese ergibt für den Menschen, daß weder im psychologischen noch im biologischen Sinne eine reine Männlichkeit oder Weiblichkeit gefunden wird. Jede Einzelperson weist vielmehr eine Vermengung ihres biologischen Geschlechtscharakters mit biologischen Zügen des anderen Geschlechts und eine Vereinigung von Aktivität und Passivität auf, sowohl insofern diese psychischen Charakterzüge von den biologischen abhängen als auch insoweit sie unabhängig von ihnen sind.“
(Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 37-145, hier: S. 123 (Zusatz von 1915))
Im Unbehagen in der Kultur kommt Freud auf die Frage von Aktivität und Passivität zurück:
„Wir sind gewohnt zu sagen: jeder Mensch zeige sowohl männliche als weibliche Triebregungen, Bedürfnisse, Eigenschaften, aber den Charakter des Männlichen und Weiblichen kann zwar die Anatomie, nicht aber die Psychologie aufzeigen. Für sie verblaßt der geschlechtliche Gegensatz zu dem von Aktivität und Passivität, wobei wir allzu unbedenklich die Aktivität mit der Männlichkeit, die Passivität mit der Weiblichkeit zusammenfallen lassen, was sich in der Tierreihe keineswegs ausnahmslos bestätigt.“
(A.a.O., S. 235 Fn. 2)
Und in der Neuen Folge der Vorlesungen heißt es:
„Wir sind gewohnt, männlich und weiblich auch als seelische Qualitäten zu gebrauchen, und haben ebenso den Gesichtspunkt der Bisexualität auf das Seelenleben übertragen. Wir sprechen also davon, daß ein Mensch, ob Männchen oder Weibchen, sich in diesem Punkt männlich, in jenem weiblich benehme. Aber Sie werden bald einsehen, das ist bloß Gefügigkeit gegen die Anatomie und gegen die Konvention. Sie können den Begriffen männlich und weiblich keinen neuen Inhalt geben. Die Unterscheidung ist keine psychologische; wenn Sie männlich sagen, meinen Sie in der Regel ‚aktiv‘, und wenn Sie weiblich sagen, ‚passiv‘. Nun ist es richtig, daß eine solche Beziehung besteht. Die männliche Geschlechtszelle ist aktiv beweglich, sucht die weibliche auf, und diese, das Ei, ist unbeweglich, passiv erwartend. Dies Verhalten der geschlechtlichen Elementarorganismen ist sogar vorbildlich für das Benehmen der Geschlechtsindividuen beim Sexualverkehr. Das Männchen verfolgt das Weibchen zum Zweck der sexuellen Vereinigung, greift es an, dringt in dasselbe ein. Aber damit haben Sie eben für die Psychologie den Charakter des Männlichen auf das Moment der Aggression reduziert. Sie werden zweifeln, ob Sie damit etwas Wesentliches getroffen haben, wenn Sie erwägen, daß in manchen Tierklassen die Weibchen die stärkeren und aggressiven sind, die Männchen nur aktiv bei dem einen Akt der geschlechtlichen Vereinigung. (…) Selbst auf dem Gebiet des menschlichen Sexuallebens merken Sie bald, wie unzureichend es ist, das männliche Benehmen durch Aktivität, das weibliche durch Passivität zu decken. Die Mutter ist in jedem Sinn aktiv gegen das Kind, selbst vom Saugakt können Sie ebensowohl sagen, sie säugt das Kind als sie läßt sich vom Kinde säugen. Je weiter Sie sich dann vom engeren sexuellen Gebiet entfernen, desto deutlicher wird jener ‚Überdeckungsfehler‘. Frauen können große Aktivität nach verschiedenen Richtungen entfalten, Männer können nicht mit ihresgleichen zusammenleben, wenn sie nicht ein hohes Maß von passiver Gefügigkeit entwickeln. Wenn Sie jetzt sagen, diese Tatsachen enthielten eben den Beweis, daß Männer wie Weiber im psychologischen Sinn bisexuell sind, so entnehme ich daraus, daß Sie bei sich beschlossen haben, ‚aktiv‘ mit ‚männlich‘, ‚passiv‘ mit ‚weiblich‘ zusammenfallen zu lassen. Aber ich rate Ihnen davon ab. Es erscheint mir unzweckmäßig und es bringt keine neue Erkenntnis.“
(S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933). In: Ders: Studienausgabe, Bd. 1. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 488–608, hier: 33. Vorlesung, „Die Weiblichkeit“, S. 546 f. - In Version J.L.: „qu’elle n’est en aucun cas qu’une fonction tierce“.
Nach „en aucun cas“ schiebt Miller „autre chose“ ein; das ergibt das Gegenteil (Version Miller, S. 319). Diese Änderung ergibt einen guten Sinn – der Phallus hat in der Paarbeziehung die Funktion des Dritten. - Lacan bezieht sich auf Freuds Auffassung, dass die Triebverdrängung dadurch ermöglicht wird, dass die uneingeschränkte Triebbefriedigung den Göttern bzw. dem Urvater zugeschrieben wird.
„Ein Stück dieser Triebverdrängung wird von den Religionen geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen lassen. ‚Die Rache ist mein‘, spricht der Herr. An der Entwicklung der alten Religionen glaubt man zu erkennen, daß vieles, worauf der Mensch als ‚Frevel‘ verzichtet hatte, dem Gotte abgetreten und noch im Namen des Gottes erlaubt war, so daß die Überlassung an die Gottheit der Weg war, auf welchem sich der Mensch von der Herrschaft böser, sozialschädlicher Triebe befreite.“ (S. Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 11–21, hier: S. 21)
„Den Göttern teilt der Mythos bekanntlich die Befriedigung aller Gelüste zu, auf die das Menschenkind verzichten muß, wie wir es vom Inzest her kennen.“ (S. Freud: Zur Gewinnung des Feuers (1933). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 445–454, hier: 450)
Über den „Urvater“ schreibt Freud, dass er „sich selbst freien Sexualgenuß vorbehält und somit ungebunden bleibt“ (S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main 2000, S. 61–134, hier: S. 130), dass der Urmensch „keine Triebeinschränkungen kannte“, wobei allerdings nur das Oberhaupt der Urfamilie „sich solcher Triebfreiheit erfreute“ (Das Unbehagen in der Kultur, a.a.O., S. 243 f.). - Von Φ (groß Phi) als „fehlendem Signifikanten“ spricht Lacan in Seminar 8 von 1960/61, Die Übertragung. Der Andere ist dadurch konstituiert, dass es irgendwo einen fehlenden Signifikanten gibt (siehe S(Ⱥ)), und der Phallus ist das Zeichen der Abwesenheit (12. April 1961; Version Miller/Gondek, S. 289); Φ kommt an den Platz des fehlenden Signifikanten (19. April 1961; Version Miller/Gondek, S. 297); in Φ muss das Subjekt den fehlenden Signifikanten erkennen können (3. Mai 1961; Version Miller/Gondek, S. 333).
Im Sprachsytem fehlt kein Signifikant, ein Signifikant kann nur fehlen, wenn es eine Frage gibt, einen fehlenden Signifikanten kann es nur für ein Subjekt geben (19. April 1961; Version Miller/Gondek, S. 297 f.).
Zum Phallus als fehlendem Signifikanten vgl. auch Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse, Sitzungen vom 12. Mai 1965 und 16. Juni 1965. - „Unerreichbarer unseren für die Zeichen des Wechslers gemachten Augen als dasjenige, dessen kaum wahrnehmbare Spur der Jäger der Einöde zu erkennen weiß: der Tritt der Gazelle auf dem Felsen, werden sich eines Tages die Aspekte der Imago enthüllen.“ (Vortrag über die psychische Kausalität. Übersetzt von Hans-Joachim Metzger. In: J.L.: Schriften III. Hg. v. Norbert Haas. Walter, Olten u.a. 1980, S. 123–171, hier: S. 171; Écrits, S. 193) Lacan kommentiert das Sprichwort in Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, in der Sitzung vom 13. Dezember 1961 und in Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse, Sitzung vom 2. Dezember 1964).
- Miller schiebt vor „von Zeit zu Zeit“ das Wort „si“ ein: „Si, une petite maladie“. Nicht in Version J.L.
- Lacan hatte den symbolischen Phallus zunächst als Signifikanten des Begehrens bezeichnet, später als Signifikanten der Jouissance.
In Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, erscheint der Phallus als „Signifikant des Begehrens“, genauer: als „Signifikant des Begehrens des Anderen“ (Sitzung vom 23. April 1958, Version Miller/Gondek, S. 413, vgl. auch Sitzung vom 7. Mai 1958, Version Miller/Gondek, S. 440). Gemeint ist der Signifikant dessen, was vom Anderen – von der Mutter – begehrt wird. Dem Phallus als Signifikanten des Begehrens wird hier von Lacan das Symbol Φ zugeordnet (Sitzung vom 14. Mai 1958, Version Miller/Gondek, S. 462), anders gesagt: der symbolische Phallus ist der Signifikant des Begehrens des Anderen.
Im Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten (geschrieben 1962) heißt es, „… es [das männliche Organ] wird darin zum Φ (groß Phi), dem unmöglich zu negativierenden symbolischen Phallus, Signifikant der Jouissance.“ (J. Lacan: Schriften, Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien u.a. 2015, S. 362, Übersetzung geändert, RN (Écrits, S. 823). Zur Datierung des Aufsatzes vgl. den Hinweis von Jacques-Alain Miller in seiner Ausgabe von Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, Version Miller/Gondek, S. 602. - Jouissance meint sowohl „Lust“, „Genießen“ als auch „Orgasmus“.
- In der dritten der Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) schreibt Freud:
„Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte; es ist dem früheren, der Erreichung von Lust, keineswegs fremd, vielmehr ist der höchste Betrag von Lust an diesen Endakt des Sexualvorganges geknüpft.“
(In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 37–145, hier: S. 112)
Und:
„Diese letzte Lust ist ihrer Intensität nach die höchste, in ihrem Mechanismus von der früheren verschieden.“ (A.a.O., S. 115)
An dieser Einschätzung des Orgasmus wird Freud festhalten. In Das Unbehagen in der Kultur (1930) schreibt er,
„eine der Erscheinungsformen der Liebe, die geschlechtliche Liebe, hat uns die stärkste Erfahrung einer überwältigenden Lustempfindung vermittelt und so das Vorbild für unser Glücksstreben gegeben“
(in: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191–270, hier: S. 213). - Im Original: „ce qui est, de la jouissance sexuelle, radicalement forclos“ (in Version J.L. mit Kommata, in Version Staferla mit Gedankenstrichen): der Anteil der sexuellen Jouissance, der verworfen ist.
- Den Begriff der Verwerfung (forclusion) hatte Lacan in Seminar 3 von 1955/56 eingeführt, Die Psychosen, Sitzung vom 16. November 1955; Version Miller/Turnheim, S. 19. Verwerfung steht im Gegensatz zu Verdrängung; dass ein Signifikant verworfen wurde, meint, dass ein Signifikant, der für das Funktionieren des symbolischen Systems erforderlich ist, nie in es aufgenommen wurde.
- Für gewöhnlich sagt Lacan: Das, was im Symbolischen verworfen wurde, kehrt im Realen wieder. Vgl. etwa Seminar 3, Sitzung vom 11. Januar 1956; Version Miller/Turnheim, S. 104.
- Wo sagt Freud das?
- Alfred Kroeber: Totem and taboo: An ethnologic psychoanalysis. in: American Anthropologist, Band 22, Nr. 1, 1920, S. 48–55; im Internet hier.– Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen (1955). In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969, S. 226–254.
Lacan wirft hier den Ödipusmythos mit Freuds Konstruktion eines Urvatermords zusammen. Lévi-Strauss untersucht den Ödipuskomplex, Kroeber jedoch schreibt über Totem und Tabu; den Ödipuskomplex erwähnt er nur kurz zu Beginn seines Aufsatzes. - Damit ist Lacan wieder beim Urvatermord.
Freud schreibt: „Vom Vater der Urhorde haben wir angenommen, daß er durch seine sexuelle Intoleranz alle Söhne zur Abstinenz nötigt und sie so in zielgehemmte Bindungen drängt, während er sich selbst freien Sexualgenuß vorbehält und somit ungebunden bleibt.“ (Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 61–134, hier: S. 130)
Und: „Wir wollen aber nicht vergessen, dass in der Urfamilie nur das Oberhaupt sich solcher Triebfreiheit erfreute, die anderen lebten in sklavischer Unterdrückung.“ (Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191–270, hier: S. 243 f.) - Freuds Mythos vom Urvater findet man v.a. in: S. Freud: Totem und Tabu (1912–1913). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 287–444, darin v.a. S. 425–427.
- Lacan spielt auf den mehrdeutigen Genitiv „Jouissance aller Frauen“ an. Von Freud wird er nicht verwendet. Bei ihm liest man: „Die Darwinsche Urhorde hat natürlich keinen Raum für die Anfänge des Totemismus. Ein gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt, nichts weiter.“ (Totem und Tabu, a.a.O., S. 425). Und, bezogen auf die Zeit nach dem Vatermord: „Somit blieb den Brüdern, wenn sie miteinander leben wollten, nichts übrig, als – vielleicht nach Überwindung schwerer Zwischenfälle – das Inzestverbot aufzurichten, mit welchem sie alle zugleich auf die von ihnen begehrten Frauen verzichteten, um derentwegen sie doch in erster Linie den Vater beseitigt hatten.“ (A.a.O., S. 428)
- Den Ausdruck „phallische Funktion“ verwendet Lacan bis einschließlich Seminar 17 nur selten und mit wechselnden Bedeutungen. In Seminar 14 von 1966/67, Die Logik des Phantasmas, hatte er den Terminus einmal näher erläutert, jedoch anders als hier. Erst in Seminar 19 wird der Ausdruck „phallische Funktion“ zu einem regelrechten Begriff ausgearbeitet, im Zusammenhang der sogenannten Formeln der Sexuierung.
Über dem Paar, heißt es in Seminar 14, schwebt der Schatten der Einheit, der sexuellen Vereinigung. Das sexuelle Verhältnis wird jedoch subjektiv nicht realisiert, anders gesagt, unter den Signifikanten, die im Unbewussten für den sexuellen Akt grundlegend sind, gibt es keinen Signifikanten des sexuellen Verhältnisses (ich ergänze: sondern stattdessen, beispielsweise, die Aktiv-Passiv-Opposition). Dieses Fehlen wird wiederum angezeigt, und zwar durch die Kastration, minus klein phi (−φ). Die Kastration hat also nicht nur eine imaginäre Seite, sondern auch eine signifikantenbezogene Funktion, und die besteht darin, dass sie das Fehlen eines Signifikanten für das sexuelle Verhältnis anzeigt.– Dieses Anzeigen des Fehlens eines Signifikanten für das sexuelle Verhältnis ist die phallische Funktion – falls ich die Stelle richtig verstehe. Sie lautet so:
„Das heißt [= eine bestimmte Formel besagt]: die bedeutsame Beziehung der phallischen Funktion als wesentliches Fehlen einer Verbindung des sexuellen Verhältnisses mit seiner subjektiven Realisierung, die Bezeichnung dessen, unter den Signifikanten, die für den sexuellen Akt grundlegend sind, dass – obwohl über dem Paar, überall angerufen, aber sich entziehend, der Schatten der Einheit schwebt –, dass hier dennoch notwendigerweise die Markierung erscheint, und dies aufgrund eben seiner Einführung in die subjektive Funktion, minus klein phi (−φ), die Markierung von etwas, was hier ein grundlegendes Fehlen repräsentieren muss. Dies wird genannt: die Funktion der Kastration, insofern sie signifikant ist.“ (Seminar 14, Sitzung vom 22. Februar 1967, meine Übersetzung nach Version Staferla) - Lacan bezieht sich auf die vorangegangene Sitzung (7. Mai 1969); vgl. Version Miller, S. 302.
Lacan spielt dort auf Freuds Unterscheidung von zwei Typen der Objektwahl an, narzisstischer Typ der Objektwahl und Objektwahl nach dem Anlehnungstypus, im Sinne von Anlehnung der Sexualtriebe an die Ichtriebe (vgl. S. Freud: Zur Einführung des Narzißmus (1914). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 37–68, hier: S. 54–56). Bei der Übersetzung des Begriffs „Objektwahl nach dem Anlehnungstypus“ wird in englischen und französischen Übersetzungen das Adjektiv anaclitic bzw. anaclitique verwendet, was auf das griechische Wort anaklinein zurückgeht, „sich anlehnen“ (vgl. Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Artikel „Anaklitisch (= Anlehnungs-)“, in: Dies.: Wörterbuch der Psychoanalyse. Übersetzt von Emma Moersch. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 60 f.) - Vgl. S. Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 8. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 9–123, hier: S. 16, 92 f.
- In Millers Version findet man hier „signifiant“ statt „signifiance“; nicht in Version J.L.
- Man könnte auch sagen „strukturiert und deshalb gelocht ist – eine Struktur ist für Lacan immer eine Struktur mit einem Loch, mit einem Fehlen; vgl. hierzu seinen Baltimore-Vortrag Über Struktur als Einmischung einer Andersheit in welches Subjekts auch immer (1966); einen Kommentar zu diesem Text findet man in diesem Blog hier.
- S. Freud: Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 8. Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 9–123.
Lacans Analyse von Freuds Fallstudie des kleinen Hans findet man in Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung, zweite Hälfte, ab der Sitzung vom 6. März 1957. - Vgl. Freud: „Der Vater fragt zu viel und forscht nach eigenen Vorsätzen, anstatt den Kleinen sich äußern zu lassen.“ (Analyse der Phobie, a.a.O., S. 59)
- Freud berichtet, dass er zu Hans gesagt hatte: „Lange, ehe er [Hans] auf der Welt war, hätte ich [Freud] schon gewußt, daß ein kleiner Hans kommen werde, der seine Mutter so lieb hätte, daß er sich darum vor dem Vater fürchten müßte, und hätte es seinem Vater erzählt. (…) Auf dem Heimgange fragte Hans den Vater: ‚Spricht denn der Professor mit dem lieben Gott, daß er das alles vorher wissen kann?‘ Ich wäre auf diese Anerkennung aus Kindermund außerordentlich stolz, wenn ich sie nicht durch meine scherzhaften Prahlereien selbst provoziert hätte.“ (Analyse der Phobie, a.a.O., S. 41 f.)
Lacan kommentiert dies in Seminar 4 in der Sitzung vom 15. Mai 1957 (Version Miller/Gondek, S. 381) sowie in der Sitzung vom 5. Juni 1957 (Version Miller/Gondek, S. 429). - Vgl. Freud, Analyse der Phobie, a.a.O., S. 19, 37–40, 104 f..
Lacan hierzu: Seminar 4, Sitzung vom 27. Februar 1957; Version Miller/Gondek, S. 231; Sitzung vom 6. März 1957; Version Miller/Gondek, S. 250 f.; Sitzung vom 13. März 1957; Version Miller/Gondek, S. 270 f.; Sitzung vom 27. März 1957; Version Miller/Gondek, S. 311–314; Sitzung vom 3. April 1957; Version Miller/Gondek, S. 323 f.; Sitzung vom 10. April 1957; Version Miller/Gondek, S. 345 f.; Sitzung vom 22. Mai 1957; Version Miller/Gondek, S. 402; Sitzung vom 26. Juni 1957; Version Miller/Gondek, S. 477. - Ich weiß nicht, ob Lacan auf das Wortspiel in Genesis 2 anspielt, aber es passt: “Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist.“ (1. Mose 2, 23, Lutherbibel 1984, dort mit der Erläuterung: „Luther versucht, mit ‚Männin‘ und ‚Mann‘ ein hebräisches Wortspiel wiederzugeben.“ Das Wortspiel ist „isha“ und „ish“.)
- Nicht Hans zeichnet eine Giraffe, sondern sein Vater; vgl. Freud, Analyse der Phobie, a.a.O., S. 19. Hans trägt, nach einer Aufforderung durch den Vater, in dessen Zeichnung nur den „Wiwimacher“ der Giraffe ein, ihren Penis, und zwar durch einen Strich (ebd.). Im Gespräch mit dem Vater spricht Hans über eine kleine Giraffe und er symbolisiert sie durch ein Stück Papier, aber er zeichnet keine Giraffe darauf.
In Seminar 4 stellt Lacan den Zusammenhang richtig dar; vgl. Sitzung vom 27. März 1957; Version Miller/Gondek, S. 313. - “Zerwutzeln“, heutige Schreibung „zerwuzeln“, ist österreichisch und bairisch für „zerknittern“, „zerknüllen“.
- Hans erzählt seinem Vater von seiner Phantasie über eine zerwutzelte Giraffe und als der nachfragt, was das ist, holt Hans ein Stück Papier, zerknüllt es und sagt: „So war sie zerwutzelt.“ Als der Vater weiter nachfragt, wie er sich auf die zerwutzelte Giraffe draufgesetzt hat, macht Hans es vor und setzt sich auf die Erde.
- Freud zufolge besteht der Mechanismus der Phobien darin, dass eine von Innen kommende Triebgefahr, der man nicht entrinnen kann, durch eine von außen kommende Gefahr ersetzt wird, der man sich durch Flucht entziehen kann (vgl. S. Freud: Das Unbewußte (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 119–173, hier: S. 142 f.)
Im Falle der Tierphobien wird diese Verwandlung durch Kastrationsangst ermöglicht. Bei Hans beruht die Angst vor Pferden auf der bewussten Vorstellung, von Pferden gebissen zu werden, für Freud heißt das: auf unbewusster Kastrationsangst. Die Vorstellung, vom Vater kastriert zu werden, wird ersetzt durch die Vorstellung, von Pferden gebissen zu werden. Diese Kastrationsangst ermöglicht die Triebverdrängung. (Vgl. S. Freud: Hemmung, Symptom und Angst (1926). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 6. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 227–308, hier: S. 252 f.) - Gemeint ist Mao Zedong, der diesen Ausdruck häufig verwendete, etwa indem er sagte, der amerikanische Imperialismus sei nur ein Papiertiger; dabei bediente Mao sich einer Metapher, die im Chinesischen üblich ist. Lacan hatte sich früher in dieser Sitzung auf das Chinesische bezogen; vgl. Version Miller S. 317.
- Lacan spielt darauf an, dass die Tierphobie des „Wolfsmanns“ sich auf einen Wolf in einem Bilderbuch bezog. Vgl. S. Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 8. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 125–232, hier: S. 136 f.
Eine ähnliche Bemerkung macht Lacan in Seminar 4 in der Sitzung vom 27. März 1957, Version Miller/Gondek, S. 314; außerdem in der Sitzung vom 26. Juni 1957; Version Miller/Gondek, S. 472.
Freud hatte die Phobie auf den Totemismus bezogen, in beiden Fällen werde die Angst vor dem Vater auf das Tier verschoben (vgl. Totem und Tabu, a.a.O., S. 412–417); offenbar wird bei Lacan aus dem Totemtier der Papiertiger. - Vgl. Freud, Analyse der Phobie, a.a.O., S. 118 f.
- Staferla hat hier im Plural „comme ils s’expriment“, korrigiert nach Version J.L. Gemeint ist vermutlich Freud über Hans.
- Vgl. Lacan zum Stil des kleinen Hans: Seminar 4, Sitzung vom 3. Juli 1957, Version Miller/Gondek, S. 489.
- Vgl. Freud, Analyse der Phobie, a.a.O., S. 35.
- Zur Homosexualität des kleinen Hans vgl. Freud, Analyse der Phobie, a.a.O., S. 20 f., 22, 95 f.
Am Ende der Analyse identifiziert Hans sich mit dem imaginären Phallus der Mutter, mit dem Ideal der Mutter, sagt Lacan in Seminar 4 (vgl. Sitzung vom 5. Juli 1957; Version Miller/Gondek, S. 489–491).
Lacan bildet hier den Gegensatz zwischen denjenigen Homosexuellen, die sich als solche anerkennen, und denjenigen, die als „normal“ erscheinen – als heterosexuell –, die aber, strukturell gesehen, homosexuell sind.
Vgl. Freud: „Ja, die Bindungen libidinöser Gefühle an Personen des gleichen Geschlechtes spielen als Faktoren im normalen Seelenleben keine geringere und als Motoren der Erkrankung eine größere Rolle als die, welche dem entgegengesetzten Geschlecht gelten. Der Psychoanalyse erscheint vielmehr die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht des Objektes, die gleich freie Verfügung über männliche und weibliche Objekte, wie sie im Kindesalter, in primitiven Zuständen und frühhistorischen Zeiten zu beobachten ist, als das Ursprüngliche, aus dem sich durch Einschränkung nach der einen oder der anderen Seite der normale wie der Inversionstypus entwickeln.“ (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 37-145, hier: S. 56, Zusatz von 1915) - Ich folge hier Version J.L. („qui … met“), ebenso in Version Miller; in Version Staferla findet man „qui … est“.
- Seminar 16, Sitzung vom 14. Mai 1969, letztes Drittel, meine Übersetzung nach Version Staferla.
- Seminar 18, Sitzung vom 20. Januar 1971, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller, S. 34 (J.L.: Le séminaire, livre XVIII. D’un discours qui ne sarait pas du semblant. 1971. Textherstellung von Jacques-Alain Miller. Le Seuil, Paris 2007).
- Seminar 18, Sitzung vom 16. Juni 1971; vgl. Version Miller, S. 170.
- Sitzung vom 14. Mai 1969; Version Miller, S. 321.
- Fabienne Guillen: Phallus et fonction phallique chez Lacan (II). In: Pierre Bruno, Fabienne Guillen: Phallus et fonction phallique. Érès, Toulouse 2012, S. 55–84, hier: S. 61.