Der Signifikant
Grafik: BELROC-alphabet-grafitti
Was versteht Jacques Lacan unter einem Signifikanten? Dem Lacan-Wörterbuch von Evans kann man entnehmen1:
– Der Signifikant ist gegenüber dem Signifikat primär.
– Der Signifikant produziert das Signifikat.
– Ein Signifikant hat keine feste Bedeutung.
– Es gibt Signifikanten, die kein Signifikat haben, „reine Signifikanten“.
Alles richtig & wichtig, aber das sind Bestimmungen, die Lacan von Lévi-Strauss übernommen hat (vgl. diesen früheren Blogeintrag). Es fehlt das, was von Lacan hinzugefügt wird. Es fehlt die Psychoanalyse.
Über das Lacan-Spezifikum informiert die Konkurrenz. Im Lacan-Wörterbuch von Chemama und Vandermersch heißt es im Artikel „Signifikant“ etwas gewunden, aber präzise:
„Der Lacansche Algorithmus ermöglicht es, die Existenz einer Barre zu schreiben, von der das menschliche Subjekt aufgrund der Existenz der Sprache geschlagen wird, und die bewirkt, dass es, wenn es spricht, nicht weiß, was er sagt. (…) Die Möglichkeit des Unbewussten ist im Grenzfall dadurch bedingt, dass im Diskurs eines Subjekts ein Signifikant insistieren kann, ohne mit der Bedeutung verbunden zu sein, die für das Subjekt relevant ist.“2
Unter einem Algorithmus verstehen die Autoren, wie Lacan, eine Formel. Das große S steht für signifiant, also für den Signifikanten, das kleine s für signifié, für das Signifikat, die Bedeutung, den Sinn. Mit der „Barre“ (la barre), der Sperre, dem Querstrich, ist der waagerechte Strich zwischen dem großen S und dem kleinen s gemeint, der an einen Bruchstrich erinnert.
Der Signifikant ist mit einer „Barre“ verbunden, mit einer Barriere. Diese Absperrung sorgt dafür, dass dem sprechenden Subjekt die Bedeutung dessen, was es sagt oder tut – also das Signifikat -, nicht bewusst wird. Die Signifikatssperre ist nichts, was zum Signifikanten äußerlich hinzukommt; ein Signifikant ist ein Element, das von einem Signifikat durch eine Barriere getrennt ist. Dieser Gedanken findet sich nicht bei Lévi-Strauss.
Chemama erläutert das mit einem Detail aus Freuds Studie über den „Rattenmann“. Dieser Patient kam in den Ferien plötzlich auf die Idee, abzumagern; er schob das Essen von sich und unterwarf sich sich schweißtreibenden Wander-Exerzitien. Dieses Element, das zwanghafte Abmagern, ist ein Signifikant: ein Element, dessen Bedeutung – dessen Signifikat – der Patient sucht, dessen Bedeutung ihm aber nicht zugänglich ist, versperrt ist. Den Sinn der Zwangshandlung begreift der Patient, als ihm in einer Analysesitzung einfällt, dass am Ferienort auch die von ihm geliebte Dame ihren Aufenthalt genommen hatte, aber leider in Begleitung eines englischen Vetters, der sich sehr um sie bemühte und auf den er eifersüchtig war. Der Vetter hieß Richard und wurde „Dick“ gerufen. Das Signifikat des Signifikanten „Abmagern“ ist „Dick töten“.3
Die Elementarform, in der ein Psychoanalytiker sich auf Signifikanten bezieht, ist die Aufmerksamkeit auf Mehrdeutigkeiten. Die Signifikantenkette „nicht dick sein“ präsentiert sich in der gewöhnlichen Einstellung mit dem Signifikat „abmagern“. Achtet der Analytiker nur auf den intendierten Sinn, auf das sich aufdrängende Signifikat, bekommt er keinen Zugang zum zweiten, versteckten Signifikat. Um ihm auf die Spur zu kommen, muss er einen Einstellungswechsel vornehmen. Er muss sich auf „nicht dick sein“ nicht als Signifikat beziehen, sondern als Signifikantenkette, nur dann kann das versperrte Signifikat sich einstellen. Mit Freud bezeichnet Lacan die Einstellung, in der der Analytiker Zugang zum Signifikanten gewinnt, als „schwebende Aufmerksamkeit“.4
In Seminar 3 von 1955/56, Die Psychosen, wird das Verhältnis zwischen Signifikant und Signifikat von Lacan so beschrieben:
„der Signifikant ist das Instrument, mittels dessen sich das verschwundene Signifikat ausdrückt. Das ist der Grund warum wir, wenn wir die Aufmerksamkeit auf den Signifikanten lenken, nichts anders tun, als zum Ausgangspunkt der Freudschen Entdeckung zurückzukehren.“5
Ein Signifikant ist ein Element, in dem sich ein Signifikat ausdrückt, das verschwunden ist; Psychoanalytiker schicken ihre Patienten auf die Suche nach dem verschwundenen Signifikat.
Lacan hat die oben zitierte einfache Formel der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat in eine komplexere Formel umgewandelt, die den Zusammenhang auf prozesshafte Weise zum Ausdruck bringt.6 Sie sieht so aus: . Das kleine f steht für „Funktion“, das große S in Klammern für „Signifikant im allgemeinen“, die 1 für ein vereinzeltes Element, der Bruchstrich für die Barre und das kleine s für „Signifikat“.
Die Formel ist so zu lesen: „Die Funktion des Signifikanten besteht darin, einen Term auf eine Barre zu stellen, die sich dem Auftauchen der Bedeutung widersetzt.“
Die Signifikantenfunktion ist diejenige Operation, die bewirkt, dass etwas zu einem Signifikanten wird. Ausgangspunkt ist ein isoliertes, vereinzeltes Element (in der Formel durch 1 dargestellt), ein sprachlicher Ausdruck oder ein Verhalten, die sich abgrenzen lassen. Dieses Element steht in Beziehung zu einem Signifikat, einer Bedeutung (dies ist das s der Formel). Die Signifikantenfunktion besteht darin, dass die Verbindung zwischen dem einzelnen Element und dem Signifikat mit einer hartnäckigen Sperre versehen wird, einer Barre (dies ist der Bruchstrich der Formel), anders gesagt: die Signifikantenfunktion besteht darin, dass die Bedeutung des Elements unverständlich wird, dass sie nicht gewusst wird. Durch das Aussperren der Bedeutung verwandelt sich das, was zunächst nur ein vereinzeltes Element war, in einen Signifikanten (in der Formel durch (S) dargestellt).
Der Signifikant „abmagern“ hat nicht unmittelbar die Bedeutung „Dick töten“. Die Verbindung zwischen dem Signifikanten „abmagern“ und dem Signifikat „Dick töten“ wird durch eine Signifikantenkette hergestellt, durch die Verbindung zwischen dem Signifikanten „abmagern“, dem Signifikanten „dick“ und dem gleichlautenden Signifikanten „Dick“. Die Beziehungen zwischen dem Signifikanten und dem Signifikat besteht immer in solchen sinnfreien Signifikantenverbindungen.
Damit lässt sich vielleicht aufklären, was in der Formel mit der 1 über dem Bruchstrich gemeint ist. Die Beziehung zwischen dem Signifikanten (S), z. B. „abmagern“ und dem Signifikat (s) (z.B. „Dick töten“) ist über eine Signifikantenkette vermittelt („abmagern“ – „dick“ – „Dick“). Deren Elemente stehen nicht nur in semantischen Beziehungen zueinander (wie in der Opposition von „abmagern“ und „dick“); die Verbindungen werden primär durch lautliche Beziehungen hergestellt, durch Lautähnlichkeiten und durch Homonymien (wie „dick“ – „Dick“). Für solche Signifikantenketten steht in der Formel vermutlich die Beziehung zwischen dem S und der 1.
In Die Stellung des Unbewussten heißt es:
„Ein Subjekt taucht erst dann zwingend auf, wenn es in der Welt Signifikanten gibt, die nichts sagen wollen und die entziffert werden müssen.“7
Signifikanten müssen entziffert werden. Signifikanten stellen den Patienten und den Psychoanalytiker vor ein Rätsel, das sie lösen müssen. Bei dieser Entzifferung spielen Homophonien und Homonymien die Schlüsselrolle.
Mein Vorschlag zur Definition des Signifikanten:
Lacan verwendet den Ausdruck „Signifikant“ in zwei Bedeutungen.
a) Unter dem Signifikanten versteht Lacan zum einen die Sprache, insofern sie aus Signifikanten im Sinne der Linguistik besteht, aus einem differentiellen System von Lauten.
b) Ein Signifikant im Sinne von Lacan ist zweitens ein isolierbares Element: ein sprachlicher Ausdruck, ein Bild, ein Verhalten. Dieses Element kann anwesend oder abwesend sein und steht zu anderen Elementen in Beziehungen der Kombination und der Substitution sowie in Beziehungen der Homomphonie.
Die Bedeutungen – die Signifikate – dieses Elements werden gesucht, sind aber zunächst unzugänglich; das Element präsentiert sich als ein Rätsel. Das Element ist mit seinen Signifikaten durch Kombinationen und Substitutionen verbunden sowie durch Assoziationsketten, in denen Lautähnlichkeiten und Mehrdeutigkeiten die entscheidende Rolle spielen. Die zu einem Signifikanten gehörenden Signifikate sind in der Regel heterogen. Der Signifikant greift in das Feld der Signifikate organisierend ein, was von Lacan mit den Konzepten der Metonymie und der Metapher erklärt wird sowie durch die Topik des point de capiton, des „Polsterstichs“ oder „Stepppunkts“.
c) Unter „Signifikant“ versteht Lacan letztlich die Beziehung zwischen diesen beiden Signifikantenbegriffen.
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Anmerkungen
- Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse (1996). Turia + Kant, Wien 2002, Artikel „Signifikant“, S. 269-271.
- Roland Chemama: Artikel „Signifiant“. In: Ders., Bernard Vandermersch (Hg.): Dictionnaire de la psychanalyse. Larousse, Paris 2009, S. 530-534, hier: S. 532, meine Übersetzung.
- Vgl. S. Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 31-103, hier: S. 59.
- Die Verbindung zwischen dem Begriff des Signifikanten, der Mehrdeutigkeit und der schwebenden Aufmerksamkeit wird von Lacan hergestellt in Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Seminar 3, 2. Mai 1956, Version Miller/Turnheim, S. 261.
- Die zweite Formel findet sich, wie die erste, in dem Aufsatz Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten von 1957. In: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, S. 15-59, hier: S. 40.
- Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 218. Der Vortrag stammt von 1960, er wurde 1964 überarbeitet und 1966 veröffentlicht.