Lacans Sentenzen
„Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache.“
Zeichnung von Maurice Henry in La Quinzaine Littéraire, 1. Juli 1967.
Von links nach rechts: Foucault, Lacan, Lévi-Srauss, Barthes
„L’inconscient est structuré comme un langage“ – von allen Lacan-Aphorismen dürfte dies der bekannteste sein. Die These über die Sprachförmigkeit des Unbewussten stammt allerdings nicht von Lacan, sondern von Claude Lévi-Strauss, und die wörtliche Formulierung der Sentenz findet sich bei Lacan erst lange nachdem er damit berühmt geworden war.
Die These von Lévi-Strauss: Homologie zwischen der Sprache und dem Unbewussten
Lacan übernimmt die These vom Unbewussten, das wie eine Sprache strukturiert ist, von Levi-Strauss, aus dessen Artikel Die Wirksamkeit der Symbole von 1949.1
Lévi-Strauss stellt sich die Frage, wie die verändernde Kraft des therapeutischen Sprechens erklärt werden kann, sei es das Sprechen des Schamanen in der Magie oder das des Patienten in der Psychoanalyse. Seine Antwort lautet: Das Sprechen ist deshalb wirksam, weil es zwischen der Sprache und dem Unbewussten eine strukturelle Homologie gibt. In beiden Wirklichkeitsbereichen – in der Sprache und im Unbewussten – kommt ein und dieselbe Funktion zum Ausdruck, die symbolische Funktion; diese Funktion realisiert sich in in Strukturgesetzen, die beiden Bereiche gemeinsam sind.
Lévi-Strauss’ These, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, wird von Lacan im sogenannten Rom-Vortrag von 1953 aufgenommen und ausgearbeitet.2 Im Teil Symbol und Sprache als Struktur und Grenzbestimmung des psychoanalytischen Feldes erklärt er, dass der Traum die Struktur eines Satzes hat und dass das Symptom eben deshalb durch eine Sprachanalyse aufgelöst werden kann, weil es selbst wie eine Sprache strukturiert ist.
Lévi-Strauss erklärt die Wirksamkeit des therapeutischen Sprechens also durch die „symbolische Funktion“, die „Funktion des Symbolischen“. Was versteht er darunter?
Der Begriff „Funktion“, so erläutert er in der Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, soll in dieser Formulierung im mathematischen Sinne verstanden werden, nach dem Vorbild der Algebra.3 Der Ausdruck y = f(x), „y ist eine Funktion von x“, meint, dass es zwischen zwei Wertebereichen, dem der x-Werte und dem der y-Werte, eine bestimmte konstante Beziehung gibt. Die symbolische Funktion besteht demnach darin, dass zwischen verschiedenen Bereichen, etwa zwischen den Verwandtschaftsverhältnissen und den Wohnweisen, eine konstante Relation bestimmter Art herrscht und dass diese Beziehung durch das Symbolische hergestellt wird.
Die symbolische Funktion erfüllt sich durch „Strukturgesetze“ oder „Strukturen“, sagt Lévi-Strauss.4 Das Musterbild solcher Strukturgesetze sind für ihn die von Roman Jakobson entdeckten universalen Lautgesetze. (Dazu gehört beispielsweise das Gesetz, dass es in einer Sprache Engelaute, wie w, f, ch, sch, nur dann gibt, wenn es auch Verschlusslaute, wie b, p, k, g, gibt, und dass ein Kind die Engelaute nur dann erlernen kann, wenn es die Verschlusslaute bereits erworben hat.5)
Häufig begreift Lévi-Strauss unter Strukturgesetzen Proportionen vom Typ A:B :: C:D – „die Beziehung von A zu B entspricht der Beziehung von C zu D“. Auf soziale Zusammenhänge angewandt heißt das: Gruppe A bezieht sich auf Gruppe B auf dieselbe Weise wie Gruppe C sich zur Gruppe D verhält. Um es durch ein fiktives Beispiel zu erläutern: Die Struktur A:B :: C:D wäre dann erfüllt, wenn gälte: Wenn die Beziehung der Männer zu den Frauen autoritär ist, dann ist auch das Verhältnis der Väter zu den Söhnen autoritär.6
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen unterscheidet Lévi-Strauss das Unterbewusstsein und das Unbewusste. Das Unterbewusstsein ist für ihn derjenige Teil des Gedächtnisses, der nur schwer abrufbar ist. Das Unbewusste hingegen – der Gegenstand der Psychoanalyse – ist eine Struktur, die diesem Gedächtnis aufgeprägt wird.
Es „muß wahrscheinlich zwischen dem Unbewußten und dem Unterbewußtsein eine Unterscheidung getroffen werden, die schärfer ist, als wir sie von der zeitgenössischen Psychologie gewohnt sind. Denn das Unterbewußtsein – der Speicher von Erinnerungen und Bildern, die sich im Laufe jedes Lebens ansammeln – wird zum einfachen Aspekt des Gedächtnisses; die Bestätigung seines immerwährenden Fortbestandes enthält gleichzeitig seine Grenzen, denn der Ausdruck Unterbewußtsein rührt von der Tatsache her, daß die Erinnerungen, obwohl immer vorhanden, doch nicht jederzeit greifbar sind. Dagegen ist das Unbewußte immer leer; genauer gesagt, es ist den Bildern ebenso fremd wie der Magen den Nahrungsmitteln, die durch ihn hindurchgehen. Als Organ einer spezifischen Funktion beschränkt es sich darauf, unartikulierten Elementen, die von außen kommen – wie Antrieben, Emotionen, Vorstellungen, Erinnerungen – Strukturgesetze aufzuerlegen, die seine Realität erschöpfen. Man könnte also sagen, daß das Unterbewußtsein das individuelle Lexikon ist, in dem jeder das Vokabular seiner persönlichen Geschichte sammelt, daß aber dieses Vokabular nur insoweit Bedeutung für uns selbst und für die anderen gewinnt, als das Unbewußte es gemäß seinen Gesetzen formt und eine Rede (discours) daraus macht. (…) Das Vokabular ist weniger wichtig als die Struktur. Ob der Mythos vom Patienten neu geschaffen oder der Tradition entlehnt wird, in beiden Fällen entnimmt er seinen individuellen und kollektiven Quellen (zwischen denen ein ständiger Austausch und fortwährend Wechselwirkungen stattfinden) nur das Bildmaterial, das er verarbeitet; die Struktur aber bleibt dieselbe, und durch sie erfüllt sich die symbolische Funktion.“7
Die Formulierung „Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ bei Lacan
Die wörtliche Formulierung „L’inconscient est structuré comme un langage“ – in Lacanscher Terminologie: die Signifikantenkette „l’inconscient est structuré comme un langage“ – wird von Lacan im Rom-Vortrag nicht verwendet. Eine Annäherung an die klassisch gewordene Formulierung vollzieht er erst in Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, einem Vortrag von 1958, der 1961 veröffentlicht wurde. Dort schreibt er,
„que l’inconscient ait la structure radicale du langage“,
in der deutschen Übersetzung:
„daß das Unbewusste radikal die Struktur von Sprache hat“8,
oder besser, „dass das Unbewusste die radikale“ – also grundlegende, fundierende – „Struktur der Sprache hat“.
Das ist jedoch nicht die Signifikantenkette „L’inconscient est structuré comme un langage“. Sie erscheint in Lacans Veröffentlichungen erst sehr viel später. Als abhängigen Satz findet man die Formulierung in Seminar 11 von 1964, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, das 1973 veröffentlicht wurde. Hier heißt es:
„Soll die Psychoanalyse sich als Wissenschaft vom Unbewußten konstituieren, ist davon auszugehen, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert ist.“9
Im Französischen ist die Wortstellung anders – „que l’inconscient est structuré comme un langage“ –, so dass man, ohne in philologische Bedrängnis zu geraten, behaupten darf, dass die Formulierung „das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache“ in Seminar 11 zu finden ist.
Als isolierten ganzen Satz kann man die Formel in La méprise du sujet supposé savoir lesen („Das Missverständnis des Subjekts, dem unterstellt wird, zu wissen“), einem Text, der 1967 geschrieben und 1968 veröffentlich wurde und der bislang nicht ins Deutsche übersetzt wurde. Lacan spricht hier von sich selbst in der dritten Person:
„D’où les aphorismes de Lacan : ‚L’inconscient est structuré comme un langage‘, ou bien encore: ‚L’inconscient, c’est le discours de l’Autre‘.“10
also
„Von daher Lacans Aphorismen ‚Das Unbewusste ist strukturiert wie eine Sprache‘ oder auch ‚Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen‘.“
Der Gedanke, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, stammt also nicht von Lacan. Und der Satz „L’inconscient est structuré comme un langage“ ist von Lacan erst dann geschrieben worden, als es ihm möglich war, sie als eine Äußerung zu zitieren, die einem gewissen Lacan zugeschrieben wird. Auch für diese Struktur gibt es den passenden Lacan-Aphorismus: Das Subjekt empfängt seine eigene Botschaft vom Anderen.
Verwandte Beiträge
- Wissen, S2: das Unbewusste
- „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen.“
- „Der Sender erhält vom Empfänger seine eigene Botschaft in umgekehrter Form.“
- „Das Begehren ist das Begehren des Anderen.“
Anmerkungen
- Claude Lévi-Strauss: Die Wirksamkeit der Symbole (1949). In: Ders.: Strukturale Anthropologie (1958). Übersetzt von Hans Naumann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967, S. 204–225.
- Jacques Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse (Vortrag von 1953, zuerst veröffentlicht 1956). Übersetzt von Klaus Laermann. In: Ders.: Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 71–169.
- Claude Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (1950). In: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie, Bd. 1. Übersetzt von Henning Ritter. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1978, S. 7–41, hier: 29.
- Die Wirksamkeit der Symbole, a. a. O., S. 223 f.
- Vgl. Roman Jakobson: Kindersprache, Aphasie und allgemeine Lautgesetze (1941). Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969, S. 66 f.
- Vgl. Claude Lévi-Strauss: Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der Anthropologie (1945). In: Ders.: Strukturale Anthropologie, a.a.O., S. 43–67.
- Die Wirksamkeit der Symbole, a.a.O., S. 223 f.
- Jacques Lacan: La direction de la cure et les principes de son pouvoir (Vortrag von 1958, zuerst veröffentlicht 1961). In: Ders.: Ecrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 585–646, hier: 594; dt.: Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht. Übersetzt von Norbert Haas. In: Schriften I. Ausgewählt und herausgegeben von Norbert Haas. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 171–239, hier: 182.
- Jacques Lacan, Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 213.
- Jacques Lacan: La méprise du sujet supposé savoir (geschrieben 1967, veröffentlicht 1968). In: Ders.: Autres écrits. Editions du Seuil, Paris 2001, S. 329–339, hier: 333.