Juan-David Nasio
Was ist ein Signifikant?
Cartoon von Roy Delgado, von hier
Was versteht Lacan unter einem Signifikanten?
Als Ergänzung zu meinem letzten Blogeintrag, dem über Lacans Begriff des Signifikanten, bringe ich im Folgenden eine Erläuterung des Signifikantenbegriffs, die ich danach gelesen habe und die mich beeindruckt hat, weil sie die praktische Dimension des Lacanschen Signifikantenbegriffs plastisch herausarbeitet. Sie stammt von Juan-David Nasio, man findet sie in seinem Buch Cinq leçons sur la théorie de Jacques Lacan; die Übersetzung ist von mir.1 RN
Juan-David Nasio: Was ist ein Signifikant? (Übersetzung)
Unser Ausgangspunkt ist der Ausgangspunkt der Psychoanalyse. Er besteht in einer sprachlichen Tatsache, die so ausgedrückt wird: „Ich weiß nicht, was ich sage.“ Wenn das Begehren der Hysterikerin die Grundlage der Übertragung ist, so ist das „Ich weiß nicht, was ich sage“ die Gründungstatsache für den Begriff des Unbewussten bei Freud und, das werden wir zu zeigen versuchen, für den Begriff des Unbewussten als Wissen bei Lacan. Dieses „Ich weiß nicht, was ich sage“ findet sich tatsächlich nicht nur an der Schwelle zur Geschichte der Psychoanalyse, es ist zugleich der Eröffnungszug des gewöhnlichen analytischen Vorgehens. Ausgehend von diesem „Ich weiß nicht, was ich sage“, das vom Analysierenden (analysant) nicht immer formuliert wird, bezieht sich die Analyse auf eine Forderung nach Wissen, die bisweilen explizit vorgebracht wird, die aber unvermeidlich insistiert.
Die Forderung nach Wissen ist eine Eigentümlichkeit der Neurose. Der Neurotiker ist dadurch charakterisiert, dass seine Forderung sich klar und unzweideutig auf ein Wissen bezieht. Er will wissen; er will, dass der Andere mit ihm spricht und ihm etwas beibringt. Er will, dass auf seine Forderung eine andere Forderung antwortet. Mit dieser Konstellation beginnt die Analyse. Lassen wir im Augenblick einen wesentlichen Aspekt beiseite: angesichts welchen Genießens kommt es zu diesem illusorischen Handel, zu Nachfrage und Angebot in Bezug auf das Wissen?
Bleiben wir bei diesem „Ich weiß nicht, was ich sage“. Ich weiß was nicht? Ich weiß nicht, dass das, was ich sage, ein Signifikant ist. Und was ist ein Signifikant? Supereinfach, wie meine Tochter sagen würde. Ein Signifikant ist das, wodurch für einen anderen Signifikanten ein Subjekt repräsentiert wird! Wer von Ihnen kennt diese Formel nicht?2 Die ironische Spitze, Ihnen „supereinfach!“ zuzurufen, hat ihre Bedeutung, denn wir sind an einem Punkt angelangt, an dem der Signifikant nicht mehr in Erstaunen versetzt, an dem er uns nicht mehr überrascht, während wir in der analytischen Theorie den Begriff des Signifikanten paradoxerweise dazu verwenden, um die Verwunderung zu definieren: Ein Subjekt wundert sich genau dann, wenn es den Einschlag eines Signifikanten empfängt. Sich zu wundern, das heißt, die Auswirkung des Signifikanten auszuhalten, ihn nicht unmittelbar als Zeichen zu nehmen, ihn nicht zu begreifen, ihn nicht zu verstehen. Denn wenn Sie ihn verstanden haben, verlieren Sie ihre Verwunderung. Sich nicht zu wundern heißt also, sich seines Wissens allzu sicher zu sein. Und auf gewisse Weise ist es das, was mit der Formel „Was ist der Signifikant?“ geschieht: Man ist sich zu sicher, man hält sich zu sehr an das, was man versteht.
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Noch einmal: Was ist das, ein Signifikant? Es gibt mehrere Weisen, sich ihm anzunähern. Eine davon wird mir als Leitfaden dienen: Der Signifikant ist genau das, was nicht zu verstehen ist, eine unverständliche Vorstellung. Mit Lacan: Er ereignet sich als ein Schnitt, durch den die Erkenntnistheorie auf entscheidende Weise umgestürzt worden ist. Dieser Schnitt besteht darin, dass das Subjekt eine Vorstellung transportiert, ohne dass diese Vorstellung sich an das Subjekt wendet. Diesen Schnitt gab es vorher nicht in der Philosophie – mit einer Ausnahme, wir werden noch sehen, welcher Strömung sie angehört. Klassischerweise bietet sich die Vorstellung den Augen desjenigen an, der sie transportiert; Vorstellung heißt: für jemanden vorstellen. Nun, das Neue bei Lacan besteht darin, zu berücksichtigen, dass die vom Subjekt transportierte Vorstellung vom Subjekt abgeschnitten ist, dass sie sich nicht an das Subjekt wendet. Das Subjekt trägt die Vorstellung, der Adressat jedoch ist ein anderer.
Ein solcher Schnitt hat als Vorläufer einen ziemlich alten Begriff, den der „unverständlichen Vorstellung“. Woher kommt er? Die Lektüre von zwei schönen Büchern über die Skeptiker, die ich Ihnen empfehle – Le scepticisme et le phénomène von Jean-Pierre Dumont3, und Les sceptiques grecs, von Brochard4, ein Klassiker –, hat uns auf den Weg gebracht5. Nicht zu vergessen die klassischen Arbeiten von Sextus Empiricus, der, selbst ein Skeptiker, einer der besten Historiker dieser Strömung der griechischen Philosophie gewesen ist. Von dieser Richtung der Philosophie wurde die Vorstellung als etwas Unverständliches aufgefasst. Sicher, die Skeptiker haben nicht, wie ich es gerade getan habe, behauptet, dass die Vorstellung sich nicht an das Subjekt wendet, sie sind jedoch ziemlich weit gegangen. Einer von ihnen, Karneades, hat folgende Aussage gemacht: „Die unverständliche Vorstellung ist unvermeidlicherweise mit anderen unverständlichen Vorstellungen verbunden und bildet mit ihnen eine Kette.“
Als ich das las, war es mir natürlich nicht möglich, nicht an unsere Signifikantenkette zu denken. Aber ich werde mich nicht weiter dabei aufhalten.
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„Ich weiß nicht, was ich sage“ – warum nicht? Weil dieses Gesagte ein Signifikant ist und sich als solcher nicht an den Sprechenden wendet, sondern an einen anderen Signifikanten. Er wendet sich an den Anderen. Ich spreche, ich gebe Laute von mir, ich konstruiere Bedeutungen, aber das Gesagte entgeht mir. Es entgeht mir, weil es nicht in der Macht des Subjekts steht, zu wissen, mit welchem anderem Gesagten dieses Gesagte sich verbinden wird. „Der Signifikant wendet sich an den Anderen“ soll heißen, dass er sich mit einem anderen Signifikanten verbinden wird, anderswo, daneben, danach. Also, was weiß ich nicht? Die Auswirkung meines Sprechens auf Sie. Auf den Anderen. Und da ich nicht weiß, was ich sage, sage ich mehr, als ich sagen möchte.
Ich möchte an dieser Stelle anmerken, obwohl das nicht unser Thema ist, dass dann, wenn ich nicht weiß, was ich sage, die Frage erscheint. Welche Frage? Die drängendste: „Was geschieht mit mir?“ Und, in analytischen Termini formuliert: „Was ist dieser fehlende Signifikant des Anderen in mir? Wo wird sich mein Gesagtes verketten, und woher kommt es?“ Allein schon dadurch, dass das Subjekt diese Frage stellt, entwirft es, installiert es den Anderen als Begehrenden. Wenn Sie sich fragen: „Was ist mein Traum, was bedeutet er?“ Wenn Sie sich fragen: „Warum leide ich an diesem Symptom?“ Wenn Sie sich fragen: „Warum vergesse ich?“ Wenn Sie das tun, bringen Sie den Anderen in die Position des Begehrenden.
Mit einem Wort, ich weiß nicht, was ich sage, weil mein Gesagtes anderswohin geht, ohne mein Wissen richtet es sich an den Anderen, und ohne mein Wissen kommt es vom Anderen zu mir. Es kommt vom Anderen und es wendet sich an den Anderen, es geht vom Anderen aus und es kehrt zum Anderen zurück.
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Anmerkungen
- Éditions Rivage, Paris 1992, nicht ins Deutsche übersetzt. Die Passage ist dem letzten Teil des Buchs entnommen, Le concept de sujet de l’inconscient, S. 223-252. Dieser Teil ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den Nasio am 15. März 1979 auf Einladung von Lacan in dessen Seminar gehalten hat. Übersetzt habe ich die Seiten 226 bis 230; die Sternchen findet man so im Original, die Überschrift habe ich hinzugefügt.
- Anmerkung des Übersetzers: Die Formel findet sich u. a. in Seminar 11 (1964), Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Version Miller/Haas S. 165.
- A. d. Ü.: Le scepticisme et le phénomène. Essai sur la signification et l’origine du pyrrhonisme. Vrin, Paris 1972.
- A. d. Ü.: Victor Brochard: Les sceptique grecs. Paris 1887, 2. Aufl. 1923, Nachdruck der 2. Aufl.: Vrin, Paris 1959.
- Ich beschränke mich auf den Hinweis, dass der Skeptizismus zwei Dreh- und Angelpunkte hat, die für die Psychoanalyse von Interesse sind, der eine bezieht sich auf die Ethik, der andere wird durch den Begriff der unverständlichen Vorstellung gebildet. Beide sind miteinander verknüpft, denn bei den Skeptikern gründet sich die Ethik auf eben diesen Typ von Vorstellungen. Es ist üblich, eine Generalisierung vorzunehmen und den Skeptiker als einen Nihilisten darzustellen, der nichts wissen will. Tatsächlich aber muss man zwei Schulen unterscheiden, die der Akademiker und die Pyrrhonische Schule. Die letztere ist für uns interessant, weil sie als einzig mögliche Angleichung an die unverständliche Vorstellung die Methode der Urteilsenthaltung empfiehlt. Das hat sie dazu gebracht, jedes Dogma, jede Weltanschauung zurückzuweisen. Darüber hinaus ist für uns ihr Wahrheitsverhältnis von Bedeutung. Für die Skeptiker der Pyrrhonischen Strömung ist die Wahrheit etwas, was nicht erkannt werden kann und was auch nicht zurückzuweisen ist; die Wahrheit ist vielmehr etwas, was in der Schwebe gehalten werden muss, und man muss sich an ihre Wirkungen anpassen. Auch auf die Gefahr hin, dies später entwickeln zu müssen, möchte ich behaupten, dass dies ein Echo erzeugt zu Lacans Bezugnahme auf die Wahrheit als Ursache. Einer dieser Wahrheitseffekte ist das Schweigen. Für die Skeptiker wie für uns gibt es davon zwei Arten: das Stillsein (se taire) als Zurückhaltung gegenüber dem, was man nicht versteht, und das Schweigen, lat. sileo, als Wahrheitseffekt.