Lacans Topologie
Über Knoten
Medaille von Cosimo di Medici (1389-1464) mit borromäischen Ringen
Von hier
Lacan bezieht sich ab Seminar 19 beständig auf die Knotentheorie, ein Teilgebiet der mathematischen Topologie. Hier einige grundlegende Informationen. Sie gehören zum Kommentar „Das Sinthom“ entziffern, sollen also vor allem die Lektüre des Sinthom-Seminars erleichtern (Seminar 23 von 1975/76).
Dies ist die überarbeitete Fassung eines Textes, der zuerst im Kommentar zu Lacans Vorlesung vom 18. November 1975 erschien.
Knoten im Sinne der Mathematik
Die Knotentheorie ist ein Teilgebiet der mathematischen Topologie. Die mathematische Topologie interessiert sich für die Eigenschaften, die bei stetiger Verformung erhalten bleiben. Anders als die euklidische Geometrie kennt sie also keine starren Abstände.
Für Mathematiker ist ein Knoten eine Art Gummiring mit folgenden Eigenschaften:
– Er existiert im dreidimensionalen Raum. Eine Zeichnung auf einem Blatt ist kein Knoten, da zweidimensional.
– Er ist geschlossen, also eine Art Ring. Wenn ich in eine Schnur einen Knoten im Sinne der Alltagssprache mache, ist das kein Knoten im Sinne der Knotentheorie, da die beiden Enden offen sind. Die meisten Seemannsknoten sind also keine Knoten im Sinne der Topologie – sie haben offene Enden; zu Knoten werden sie für Topologen erst dann, wenn man die beiden Enden des Taus miteinander verspleißt. Lacan bezeichnet die Geschlossenheit des Knotens als „Konsistenz“ (consistence).
– Der Ring ist beliebig dehnbar und schrumpfbar, also eine Art Gummiring, der nicht zerreißen kann. Auch das ist mit „Konsistenz“ gemeint.
– Der Ring durchdringt nicht sich selbst, und er durchdringt nicht andere Ringe. Damit ist gemeint: Wenn „Fäden“ sich überkreuzen, verschmelzen sie an dieser Stelle nicht miteinander. Lacan bezeichnet dieses Merkmal, bezogen auf die Beziehung mehrerer Ringe zueinander, als „Ex-sistenz“: die Ringe sind einander äußerlich.
Querschnitt eines Knotens: „Torus“ versus „Kreis“
Topologen nehmen an, dass ein Knoten in der Regel aus unendlich dünnen Linien besteht; er ist für sie also eine Art beliebig verformbarer Kreis im dreidimensionalen Raum. Der Querschnitt kann aber auch eine gewisse Dicke haben, in diesem Fall ist der Knoten ein Torus.1
Lacan kombiniert beide Auffassungen. Meist unterstellt er die Toruskonzeption des Knotens.2 Diese Art des Knotens gilt unter Mathematikern heute als Sonderfall. Außerdem kennt Lacans Knotentheorie ein Gebilde, das aus einer Linie besteht: eine unendliche Gerade, deren Enden sich im Unendlichen treffen und die auf diese Weise eine Art Kreis bildet. Ein Grundgedanke von Lacans Knotenkonzeption in Seminar 23 besteht darin, die beiden Knotenarten miteinander zu kombinieren: Tori, die nicht miteinander verkettet sind, werden durch einen „Kreis“ in Gestalt einer unendlichen Geraden miteinander verkettet.
Zeichnung eines Knotens: Diagramm (Lacan: Plättung)
Vom Knoten ist die Zeichnung eines Knotens zu unterscheiden. Die Zeichnung eines Knotens ist kein Knoten, da sie zweidimensional ist. In der Knotentheorie wird die Zeichnung eines Knotens als „Projektion“ oder als „Diagramm“ bezeichnet, Lacan spricht von „Plättung“ (mise à plat). (Zwischen Projektionen und Diagrammen gibt es feine Unterschiede, für Lacans Anwendungen der Knotentheorie sind sie irrelevant.)
Ein Diagramm oder eine Plättung ist eine Art Schattenriss eines Knotens. Vom Schattenriss unterscheiden sie sich dadurch, dass gezeigt wird, welcher „Faden“ an den Überkreuzungsstellen oben liegt und welcher unten. Dass eine Linie unter einer anderen verläuft, wird dadurch gekennzeichnet, dass man sie kurz vor und nach der Kreuzungsstelle löscht.
Von einem Knoten können unendlich viele unterschiedliche Diagramme hergestellt werden. Mathematiker interessieren sich insbesondere für diejenigen Diagramme, die die geringstmögliche Zahl von Überkreuzungen aufweisen.
Physische Knoten
Neben der Ebene des Knotens (im Sinne der Topologie) und der Ebene des Knotendiagramms ist eine dritte Ebene zu unterscheiden, die der physischen Knoten im dreidimensionalen Raum; in der Topologie dienen sie als Hilfsmittel. Für solche Modelle verwendet man beispielsweise Kordeln oder Schnüre oder Schuhbänder, die man an den Enden verbindet. Die Untersuchung von realen Knoten ist Gegenstand der physikalischen Knotentheorie.
Physische Knoten sind nicht einfach Realisierungen von mathematischen Knoten. Ihnen fehlt eine entscheidende topologische Eigenschaft: sie sind nicht beliebig dehnbar. Anders gesagt, sie haben mehr oder weniger starre Abstände und können zerreißen.
Anders als für Mathematiker ist der physische Knoten in Lacans Knotentheore eine relevante Größe, er fordert seine Zuhörer immer wieder auf, aus Schnüren bestimmte Knoten zu erzeugen. Die Erfahrungen, die sie dabei machen, sind, Lacan zufolge, aufschlussreich für die Beziehung zwischen Knotentheorie und Psychoanalyse.
Knotenarten
Triviale Knoten, Unknoten (Lacan: Fadenringe)
Eine Bedingung für einen Knoten im Sinne der mathematischen Topologie ist in der Regel:
– Die geschlossene Linie ist in sich selbst unauflösbar verwunden.
Sind auch geschlossene Linien ohne Selbstverschlingung Knoten? Für Mathematiker stellen sie einen Grenzfall dar; sie bezeichnen diese Gebilde als „Unknoten“ oder als „triviale Knoten“.
Lacan bezeichnet die physischen Realisierungen trivialer Knoten häufig als „Fadenringe“.3
Kleeblattknoten
Wenn man in eine Schnur einen gewöhnlichen Knoten macht, einen Knoten im Sinne der Alltagssprache, und wenn man die beiden Enden verspleißt, so dass nichts überhängt, entsteht die einfachste Form des Knotens (im Sinne der Mathematik) mit Selbstverschlingung. In der Terminologie der Topologen heißt dieses Gebilde Kleeblattknoten (auf Französisch nœud de trefle). Lacan nennt es, außer „Kleeblattknoten“ auch oder Dreierknoten (nœud à trois). Warum Dreierknoten? Weil er mindestens drei Überkreuzungsstellen hat – ein Gebilde mit weniger als drei Überkreuzungsstellen ist ein trivialer Knoten.
Den Kleeblattknoten gibt es in zwei Versionen, rechts- und linksdrehend, auch rechts- und linkshändig genannt (dextrogyre und levogyre). Die beiden Formen sind ohne Zerschneiden und Spleißen nicht ineinander überführbar.
In Seminar 23 sieht man Zeichnungen von Kleeblattknoten mit offenen Enden, wie die Brezel auf dem Bild rechts. Dies ist eine zeichnerische Vereinfachung, in Gedanken muss man die beiden Enden verbinden. Eine Schnur mit offenen Enden ist kein Knoten im Sinne der Knotentheorie und auch nicht im Sinne von Lacan. Lacan ordnet dem Kleeblattknoten die drei Register des Psychischen zu (siehe die farbige Abbildung links).4 Die drei Überkreuzungspunkte teilen den Faden in drei Abschnitte, und diese drei Abschnitte entsprechen dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen.Falscher Kleeblattknoten
Als falschen Kleeblattknoten (noed à trois erroné) bezeichnet Miller in seiner Version von Seminar 23 ein Gebilde, das auf den ersten Blick wie ein Kleeblattknoten aussieht, das man aber durch Manipulation, ohne den Knoten aufzuschneiden, in einen Fadenring ohne Selbstverschlingung verwandeln kann (in der Sprache der Topologen: in einen Unknoten oder trivialen Knoten).5Verkettung
Mehrere Knoten („Knoten“ im Sinne der Topologie) können miteinander verkettet sein. In der Sprache der Topologen heißt die Verbindung mehrerer Knoten im Französischen „entrelacs“, im Englischen „link“, im Deutschen „Verkettung“ oder „Verschlingung“ oder „Link“.
Lacan bezeichnet die Verbindung mehrerer Fadenringe manchmal als chaîne, „Verkettung“, manchmal als nœud, „Knoten“. In Seminar 19 sagt er:
„Ich sehe einige, die da sind und die sich vielleicht daran erinnern, dass ich in meinem Seminar das letzte Mal über diese Sache gesprochen habe, die ich im borromäischen Knoten zusammengefasst habe, ich meine eine Verkettung von dreien, und zwar derart, dass, wenn man einen der Ringe von dieser Verkettung löst, die beiden anderen keinen Augenblick lang mehr zusammenhalten können.“6
Die Bezeichnung der Verbindung als „Verkettung“ findet man auch in Seminar 23.7
Mit der Bezeichnung der borromäischen Ringe als „borromäischer Knoten“ weicht Lacan vom Sprachgebrauch der Topologen ab, zumindest vom heute üblichen; für sie ist ein Knoten nicht eine Verkettung, sondern die Komponente einer Verkettung. In der Sprache der Topologen gibt es deshalb (zumindest heute) keinen borromäischen Knoten; die borromäischen Ringe sind für sie eine Verkettung von drei trivialen Knoten (oder von drei Unknoten).
In Seminar 23 macht Lacan am 13. Januar 1976 auch terminologisch klar, dass er unter chaîne den link versteht, also die Verkettung oder Verschlingung; er weist außerdem darauf hin, dass eine Verkettung kein Knoten ist:
„Nur, das ist bereits ein Zeichen dafür, dass ich diesen Knoten nur von einer Verkettung ableiten kann, nämlich von etwas, was keineswegs von derselben Natur ist. Verkettung, im Englischen link, ist nicht dasselbe wie Knoten.“ 8
In der Sitzung vom 17. Februar 1976 weist Lacan ein weiteres Mal darauf hin, dass die Verbindung der borromäischen Ringe kein nœud ist, kein „Knoten“, sondern eine chaîne, eine „Verkettung“.
„Das ist der Kleeblattknoten oder Dreierknoten, der sich herleitet vom borromäischen Knoten, der kein Knoten ist – im Gegensatz zu seinem Namen, der, wie alle Namen, einen Sinn reflektiert –, sondern eine Verkettung (chaîne). Er hat den Sinn, der es gestattet, irgendwo in der borromäischen Verkettung (chaîne borroméenne) den Sinn zu verorten.“9
Ob chaîne der damals der im Französischen übliche Terminus für den Link war, ist mir nicht bekannt; heute wird die Verschlingung nicht als chaîne, sondern als entrelac bezeichnet. Statt von chaîne spricht Lacan in Seminar 23 auch von chaînœud10, von der „Knotenverkettung“ (Kleiner übersetzt mit „Knokette“).
Zugleich behält Lacan in Seminar 23 seine alte Terminologie bei, er spricht also, bezogen auf die borromäischen Ringe, nebeneinander von der „borromäischen Verkettung“ und vom „borromäischen Knoten“.
In früheren Sitzungen hatte Lacan den Ausdruck chaîne noch in zwei weiteren Bedeutungen verwendet. Zum einen für die Verkettung vom Typ der Gliederkette, also die Hopfsche Verschlingung.11 Zum anderen für eine bestimmte Darstellung einer borromäischen Verkettung, bei der die Ringe ähnlich wie die Glieder einer Gliederkette nebeneinanderliegen. In Seminar 22 heißt es:
„In jeder Verkettung, um Ihnen die einfachste zu veranschaulichen:
in jeder borromäischen Verkettung (chaîne borroméenne) gibt es ein Ein und dann ein Zwei. Entsprechend der Form, die ich für Sie eben angezeichnet habe, finden Sie da die Eins und die Zwei, die der Anfang der Verkettung ist, und danach gibt es hier einen dritten Ring, der die Schließung herbeiführt.“12
In Seminar 23 verwendet Lacan den Ausdruck chaîne in beiden Bedeutungen: für die Verkettung ganz allgemein und für eine bestimmte Gestalt der Verschlingung, für eine figure, wie er sagt, für eine Konfiguration.
Verkettung vom Typ der Gliederkette
Die Verkettung kann unterschiedliche Formen annehmen. Eine Art der Verkettung besteht darin, dass die Elemente der Verschlingung wie die Glieder einer Gliederkette ineinandergreifen. Diesen Typ der Verkettung hatte Lacan in Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, untersucht: ein Torus (Ring), in dessen Öffnung ein zweiter Torus eingreift.13
In der Topologie heißt diese Art der Verkettung Hopf-Verschlingung; sind mehrere Elemente auf diese Weise verschlungen, wird dies im Englischen als chain bezeichnet, als Kette.
Borromäische Verkettung
Eine andere Art der Verkettung findet man bei den borromäischen Ringen. Borromäische Ringe bestehen aus drei Ringen (drei Unknoten oder trivialen Knoten), die nicht wie die Glieder einer Gliederkette ineinandergreifen, sondern so miteinander verbunden sind, dass, wenn ein beliebiger Ring geöffnet wird, die anderen beiden auseinanderfallen.
Die Bezeichnung dieser Verkettung als „borromäisch“ verweist darauf, dass man dieses Gebilde im Wappen der Familie Borromeo gefunden hat.
Die Eigenschaft von drei und mehr trivialen Knoten, auseinanderzufallen, wenn man einen beliebigen aufschneidet, wird von Mathematikern als „Brunn’sche Eigenschaft“ bezeichnet (nach dem Mathematiker Hermann Brunn). Verkettungen aus mehr als drei Unknoten können die Brunn’sche Eigenschaft haben. Die drei borromäischen Ringe sind die einfachste Form einer Verkettung mit Brunn’scher Eigenschaft.
Lacan spricht meist nicht von borromäischen Ringen, sondern, wie bereits erwähnt, vom „borromäischen Knoten“.
Ab Seminar 22 verwendet daneben einen weiteren Ausdruck. Bezogen auf die borromäische Verbindung spricht er dort nicht nur von nœud („Knoten“), sondern auch von chaîne, wie bereits erläutert. Lacan chaîne ist also das Gegenteil einer chain.
Die borromäische Verkettung aus drei Ringen repräsentiert bei Lacan die Verbindung zwischen den drei Ordnungen des Psychischen. Ein Ring steht für das Reale (für das Unmögliche). Ein Ring steht für das Symbolische (Sprache und Sprechen, das Unbewusste). Ein Ring steht für das Imaginäre (die Ordnung der Bilder, beruhend auf der Beziehung zum Bild des eigenen Körpers).
Was ist damit gemeint, dass diese drei Register auf borromäische Weise miteinander verschlungen sind? Die borromäische Verkettung von drei Elementen beantwortet drei Fragen. Erste Frage: Wie hängt das Imaginäre mit dem Symbolischen zusammen? Antwort: Durch das Reale. Zweite Frage: Wie hängt das Symbolische mit dem Realen zusammen? Antwort: Durch das Imaginäre. Dritte Frage: Wie hängt das Reale mit dem Imaginären zusammen? Antwort: Durch das Symbolische. Zwei der Register greifen niemals direkt ineinander, sie bilden untereinander keine Verkettung vom Typ der Gliederkette.
Die Ringe liegen hierbei auf bestimmte Weise übereinander, aber kein Ring geht durch das Loch eines anderen Rings hindurch – das Loch ist „unverletztlich (invioloable)„14.
Über die borromäischen Ringe spricht Lacan erstmals in Seminar 19. In Seminar 20 kommt er darauf zurück. Ausführliche Erörterungen der borromäischen Verkettung von drei Ringen findet man in den Seminaren 21 und 22 sowie in dem Vortrag Die Dritte.
Knoten und Verkettungen können auf ganz unterschiedliche Weise dargestellt werden. Im folgenden sieht man drei Diagramme einer borromäischen Verkettung von drei Ringen:
Färbung
Die Komponenten einer Verkettung können individualisiert werden, z.B. durch Färbung. Lacan arbeitet häufig (wie in der obigen Zeichnung) mit gefärbten Elementen; hierauf beruht seine Unterscheidung zwischen dem Ring des Imaginären, dem des Realen und dem des Symbolischen. Natürlich kann man den Komponenten auch Buchstaben zuordnen, bei Lacan ist das R, S und I. Die Individualisierung durch Färbung ermöglicht es jedoch, die Fadenverläufe an den Überkreuzungsstellen bequem zu beobachten.
Orientierung
Ein einzelner Fadenring – ein einzelner Knoten im Sinne der Topologie – hat keine Orientierung, keine festlegbare Durchlaufrichtung. Im Diagramm lässt sich ihm eine Orientierung zuweisen, „im Uhrzeigersinn“ versus „gegen den Uhrzeigersinn“ bzw. „rechtsdrehend“ versus „linksdrehend“. Ein Knoten (ein Fadenring oder Torus) existiert jedoch im dreidimensionalen Raum; wenn man gewissermaßen um ihn herumgeht und ihn von der gegenüberliegenden Seite aus betrachtet (oder wenn man ihn um sich selbst dreht), verwandelt sich die Orientierung „im Uhrzeigersinn“ in die Orientierung „entgegen dem Uhrzeigersinn“.
Die borromäischen Ringe können jedoch orientiert sein, vorausgesetzt sie sind gefärbt. Lacan entwickelt dieses Konzept in Seminar 21 von 1973/74, Les non-dupes errent. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Argumentation, die er am 13. November 1973 und am 8. Januar 1974 vorträgt (soweit ich sie verstanden habe); weitere Erläuterungen findet man in den Sitzungen vom 14. Mai und 21. Mai 1974 sowie in Seminar 22 in den Sitzungen vom 14. Januar, 11. März, 18. März und 8. April 1975.
Es gibt zwei Arten von borromäischen Knoten. Anders gesagt, in einer borromäischen Verschlingung können die Ringe in zwei Anordnungen gebracht werden, die ohne Aufschneiden eines Rings nicht ineinander überführt werden können.
Die oben dargestellten beiden Formen der borromäischen Ringe verhalten sich spiegelbildlich zueinander; es ist nicht möglich, sie ineinander zu überführen, ohne einen Ring zu öffnen. Wenn man die beiden Ringe gewissermaßen von der Rückseite betrachtet, haben sie dieselbe Struktur wie von der Vorderseite aus gesehen, von hinten betrachtet zeigen sie also nicht ihr Spiegelbild.
Die Unterscheidung dieser beiden Formen hat zur Voraussetzung, dass man die Ringe voneinander unterscheidet, dass man ihnen eine Identität zuweist. Das geschieht durch Färben, etwa wie hier, rot, gelb, blau, oder indem man die Ringe mit Buchstaben bezeichnet, etwa a, b, c.
Dass es zwei verschiedene borromäische Verkettungsformen gibt, meint, man kann die Ringe in die Reihenfolge rot, gelb, blau oder in die Reihenfolge rot, blau, gelb bringen, in die Reihenfolge abc oder in die Reihenfolge acb. Dabei gehen die Anordnungen gewissermaßen im Kreis, abc ist äquivalent mit bca und mit cab; acb ist äquivalent mit cba und mit bac.
Wie kann man den beiden Verkettungsformen Orientierungen zuweisen? Ich vermute an, dass Lacan sagt, dies auf folgende Weise möglich ist:
Man betrachtet die Über- und Unterkreuzungen im inneren „Dreieck“, also in dem Bereich, der im nachstehenden Diagramm farbig hervorgezogen ist.
Das, was interessiert, ist der Wechsel von Überführung und Unterführung. Um ihn beschreiben zu können, legt man fest, ob man den Wechsel von Unterführung zur Überführung betrachten will oder den von Überführung zu Unterführung. Die Entscheidung ist willkürlich. Beispielsweise soll der Wechsel von der Unterführung zur Überführung verfolgt werden, „von unten nach oben“.
Um von unten nach oben zu wechseln, muss ich im linken „inneren Dreieck“ die Kreuzungspunkte entgegen dem Uhrzeigersinn durchlaufen. Die mathematische Ameise beginnt beispielsweise bei 12 Uhr, läuft ein Stück den gelben Ring entlang, hüpft an der nächsten Kreuzungsstelle auf den roten Ring hinunter und schließlich auf den blauen Ring. Sie bewegt sich dabei entgegen dem Uhrzeigersinn.
Im rechten „inneren Dreieck“ läuft die Ameise, wenn sie dem Programm „von unten nach oben folgt“ in der umgekehrten Richtung, d.h. gemäß dem Uhrzeigersinn, und auch hier ist die Orientierung stabil, d.h. sie ändert sich nicht, wenn ich die Verschlingung von der anderen Seite betrachte.
Also sage ich, im der links dargestellten Form der borromäischen Ringe haben die Ringe eine linksdrehende Orientierung, in der rechts dargestellten Form sind sie rechtsdrehend.
Wenn man sich entscheidet, den umgekehrten Positionswechsel betrachte, nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten, kommt man zum entgegengesetzten Resultat: die links dargestellten Ringe sind dann rechtsdrehend und die rechts dargestellten linksdrehend. Dabei bleibt jedoch ein Merkmal erhalten: die Gegensätzlichkeit der Orientierung.
Also kann ich sagen: Unter der Voraussetzung, dass die Ringe gefärbt sind, gibt es zwei Arten von borromäischen Knoten, die sich durch gegensätzliche Orientierung der Ringe auszeichnen.
Bezogen auf die Psychoanalyse heißt das, so erläutert Lacan in der hier referierten Sitzung von Seminar 21, dass man die borromäischen Ringe in zwei Anordnungen bringen kann: RIS (bzw. ISR bzw. SRI) und RSI (bzw. SIR bzw. IRS).
Die RIS-Anordnung bezeichnet er als rechtsdrehend, die RSI-Anordnung als linksdrehend (was, wie wir wissen, eine willkürliche Zuordnung ist).
Die Psychoanalyse, so sagt er, sei auf der Seite der linksdrehenden Anordnung, zu ihr gehört also die Abfolge RSI (bzw. SIR bzw. IRS), nicht aber die Abfolge RIS (bzw. ISR bzw. SRI).
Warum ist die Reihenfolge RSI für die Psychoanalyse die richtige? Die Antwort ist rätselhaft, sie lautet (die Fettschreibung von Initialen im Folgenden ist von mir):
„Es ist zulässig, dass Sie imaginieren, denn es ist das große I [von „das Imaginäre“], das ich mit dem kleinen c [von „a, b, c“] bezeichnet habe, dass Sie was imaginieren? die Realität des Symbolischen. Es ist hinreichend, dass das Reale vor ihm bleibt.
Glauben Sie übrigens nicht, dass dieses ‚vor‘ des Realen im Verhältnis zum Symbolischen allein von sich aus eine Garantie für was auch immer wäre, denn wenn Sie das a, b, c der ersten Formel umschreiben, erhalten Sie RSI, nämlich die Realisierung des Symbolischen des Imaginären.
Was aber realisiert das Symbolische des Imaginären anderes als die Religion? Rata (?) für mich. Was realisiert in geeigneten Termini das Symbolische des Imaginären? Eben das, was dafür sorgt, dass die Religion nicht zu Ende geht.
Und das bringt uns Analytiker auf dieselbe Seite, die linksdrehende Seite, wodurch, wenn wir imaginieren, was zu tun ist, wenn wir was imaginieren? das Reale des Symbolischen, unser erster Schritt, der vor langem gegangen wurde, ist die Mathematik und der letzte ist das, wozu uns die Erwägung des Unbewussten führt, insofern von da, ich bringe das immer schon vor, von da die Linguistik sich einen Weg bahnt.“15
Die Übersetzung bewahrt die Reihenfolge der Termini Reales (bzw. Realisieren), Symbolisches und Imaginieren, wie man sie im Französischen findet.
Lacan unterscheidet hier das Realisieren des Symbolischen des Imaginären (RSI) vom Imaginieren des Realen des Symbolischen (IRS) als zwei Permutationen der linksdrehenden Verschlingung.
Unendliche Gerade in der borromäischen Verschlingung
In Seminar 22 weist Lacan darauf hin, dass die Bauteile einer borromäischen Verkettung keineswegs Schnurschlingen oder Tori sein müssen, es kann sich auch um unendliche Geraden handeln. Warum? Weil eine unendliche Gerade einem Kreis homolog ist.16 Lacan beruft sich hierfür auf Gérard Desargues (1591-1661), einen der Begründer der projektiven Geometrie.17 Auf Desargues und die Homologie von unendlicher Gerader und Kreis hatte Lacan sich bereits früher bezogen: in Seminar 13 von 1965/66, Das Objekt der Psychoanalyse, bei seiner Deutung von Velázquez’ Bild Las Meninas18; in Seminar 22 erinnert er daran19. Ich vermute, dass das Argument so lautet: Eine unendliche Gerade hat nur einen einzigen Punkt im Unendlichen (per definitionem); also berühren sich gewissermaßendie beiden Enden einer unendlichen Geraden; also hat eine unendliche Gerade eine ähnliche Struktur wie ein Kreis.
Dass eine Gerade, wenn man sie ins Unendliche ausdehnt, zu einem Kreis wird, ist, so behauptet Lacan, im borromäischen Knoten impliziert20, die Äquivalenz von Gerader und Kreis sei eine Konsequenz des Knotens, sie sei der Wirksamkeit des Knotens äquivalent 21. Was damit gemeint ist, ist mir nicht klar. Ein borromäischer Knoten kann auch zwei unendliche Geraden enthalten, vorausgesetzt, dass diese Geraden nicht wie die Glieder einer Gliederkette miteinander verschlungen sind und dass der Punkt im Unendlichen nicht etwa, wie Riemann annimmt, für beide Geraden ein und derselbe ist.22
In Lacans Topologie besteht eine borromäische Verschlingung also nicht nur aus Knoten im Sinne der Topologie, sondern außerdem aus unendlichen Geraden.
Borromäische Verkettung von vier Elementen
Eines der Hauptobjekte in Seminar 23 ist ein Gebilde, das in der Terminologie der Mathematiker eine Verkettung von vier trivialen Knoten ist, wobei die Verkettung die Brunn’sche Eigenschaft hat. In Lacans Terminologie handelt es sich um einen borromäischen Knoten aus vier Ringen bzw. um einen borromäischen Viererknoten bzw. um eine borromäische Verkettung von vier Ringen.
Der vierte Ring steht bei Lacan für das Symptom bzw. für das Sinthom.
Die borromäische Verkettung von vier Ringen hatte Lacan erstmals in Seminar 22, RSI, vorgestellt, in den Sitzungen vom 14. Januar 1975 und vom 13. Mai 1975.23
Lacans dynamische Deutung der Verschlingung
Charakteristisch für Lacans Deutung der Verschlingung ist, dass er eine bestimmte Dynamik ins Spiel bringt: etwas funktioniert nicht, und ein bestimmter Ring übernimmt die Aufgabe, das Funktionieren zu sichern.
Reparatur des falschen Kleeblattknotens
Ein falscher Kleeblattknoten kann dadurch ausgebessert werden, dass an einer Kreuzungsstelle mit falscher Über- und Unterführung ein Ring hinzugefügt wird, der den Schaden ausbessert (siehe rechts). Dies ist an zwei der drei Überkreuzungsstellen möglich.
Reparatur des falschen Lochs zweier Ringe
Zwei Ringe können zusammen ein „falsches Loch“ bilden, ein Loch dass sich durch Auseinanderziehen der Ringe zum Verschwinden bringen lässt.
Dieses falsche Loch kann in ein echtes Loch verwandelt werden, dadurch, dass ein drittes Objekt hinzugefügt wird. Denkbar wäre ein dritter Ring; Lacan bezieht sich in diesem Zusammenhang aber immer auf eine unendliche Gerade, deren Enden sich im Unendlichen treffen und die so eine Art Kreis bildet. In der Zeichnung rechts repräsentiert die Gerade eine unendliche Gerade.
Reparatur von drei auseinanderfallenden Ringen
Die Elemente können auseinanderfallen, anders gesagt: es ist möglich, dass sie nicht auf borromäische oder Hopfsche Weise verschlungen sind. Dies kann dadurch repariert werden, dass ein viertes Element hinzugefügt wird, der auf bestimmte Weise in die anderen drei eingefädelt wird.
Der vierte (schwarze) Ring ist der des Symptoms oder des Sinthoms.
Transformation von Knoten und Verkettungen: Spleiß
Gegenstand der mathematischen Knotentheorie ist unter anderem die Umwandlung von Knoten. Auch in Seminar 23 ist dies ein zentrales Thema. Lacan fragt sich hier, wie ein Kleeblattknoten in eine borromäische Verkettung von drei Ringen umgeformt werden kann und umgekehrt. Um diese Transformation vorzunehmen, wird der Kleeblattknoten aufgeschnitten und neu zusammengesetzt. Mathematiker bezeichnen die Stelle, an der die neue Verbindung hergestellt wird, als Spleiß (engl. splice, frz. epissure).
Wie man sich eine borromäische Verkettung bastelt
Wenn man die Argumentation in Seminar 23 nachvollziehen will, ist es hilfreich, die beschriebenen Verkettungen nachzubasteln. Hierzu benötigt man vier Schnüre in vier verschiedenen Farben, die sich leicht öffnen und schließen lassen.
Hier die Bastelanleitung für meine eigene borromäische Verkettung.
Material
- 4 Kordeln in vier verschiedenen Farben, zwischen 50 und 80 cm.
- 4 Verschlüsse. Verschlüsse gibt es mit Karabinerhaken, zum Verschrauben und mit Magneten; ich habe Magnetverschlüsse gewählt, weil sie sich am bequemsten öffnen und schließen lassen,
- (bei Magnetverschlüssen:) Schmuckkleber
Das Material habe ich in einem Kurzwarenladen bekommen, Kosten (bei einer Kordellänge von je 80 cm): ca. 20 €.
Meine Kordeln sind mit 5 mm Durchmesser etwas dicker als die Öffnungen der Magnetverschlüsse, in die man die Kordelenden schieben muss. So hat’s funktioniert:
- Kordeln an den Enden aufdröseln, etwas beschneiden, so dass der Kordeldurchmesser an den Enden geringer ist als in der übrigen Kordel, wieder zusammenfriemeln und die Enden mit Schmuckkleber bestreichen. Die zusammengedrehten Enden müssen mit dem Kleber getränkt sein.
- Kleber aushärten lassen.
- Die hart gewordenen Enden so zurechtschnitzen, dass sie in die Öffnungen der Magnetverschlüsse passen.
- Die Öffnungen der Magnetverschlüsse mit Schmuckkleber füllen, die Kordelenden hineindrücken und trocknen lassen.
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Anmerkungen
- Eine Erläuterung des Torus-Knotens findet man hier: Gerhard Burde, Heiner Zieschang: Knots. Zweite überarbeite und erweiterte Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 2003, Kapitel 3.4 „Torus Knots“, S. 46-48.
- Vgl. Seminar 22, etwa Sitzung vom 11. Februar 1975; Kleiner-Übersetzung S. 31.
- Vgl. Seminar 22, RSI, Sitzung vom 21. Januar 1975.
- Die Zeichnung ist aus Seminar 23, Version Miller, S. 108.
- Vgl. Seminar 23, Version Miller, S. 92.
- Seminar 19, Sitzung vom 3. März 1972; Version Miller, S. 93.
- Vgl. etwa Sitzung vom 18. November 1975, Version Miller 2005, S. 19.
- Sitzung vom 13. Januar 1976, Version Miller 2005, S. 64.
- Seminar 23, Version Miller 2005, S. 91 f.
- Sitzung vom 9. März 1976; Version Miller 2005, S. 111.
- So z.B. in Seminar 21 in der Sitzung vom 8. Januar 1974.
- Sitzung vom 13. Mai 1975, übersetzt nach Version Staferla.
- Seminar 9, zuerst in der Sitzung vom 14. März 1962.
- Seminar 21, Sitzung vom 11. März 1975.
- Sitzung vom 13. November 1973; Version Staferla, meine Übersetzung.
- Sitzungen vom 10. Dezember 1975 und vom 18. Februar 1975; Kleiner-Übersetzung S. 6, 34.
- Sitzung vom 10. Dezember 1975 und öfter; Kleiner-Übersetzung S. 6 und öfter.
- Zu Desargues äußert sich Lacan in Seminar 13 am 15. Dezember 1965 und 18. Mai 1966; zu Velázquez’ Bild Las Meninas vor allem am 4., 11., 18. und 25. Mai 1966; vgl. die Übersetzungen hier, hier, hier, hier und hier.
- Sitzung vom 8. April 1975; Kleiner-Übersetzung S. 59.
- Sitzung vom 18. Februar 1975; Kleiner-Übersetzung S. 34.
- Sitzung vom 8. April 1975; Kleiner-Übersetzung S. 59.
- Sitzungen vom 10. Dezember 1974, 11. März 1975 und 13. Mai 1975; Kleiner-Übersetzung S. 6, 42, 75.
- Vgl. die Zusammenfassung von Geneviève Morel, Wie Seminar 23 an Seminar 22 anschließt, in diesem Kommentar hier.
Ja, Sie haben recht, danke für den Hinweis. Die Zeichnungen sind aus der Staferla-Version.
Ich werde sie austauschen.
Rolf Nemitz
Bonjour,
Plusieurs de vos dessins de nœuds „borroméens“ ne sont pas „borroméens“ ! Par exemple :
„“„In jeder Verkettung, um Ihnen die einfachste zu veranschaulichen:
Borromäische Verschlingung aus drei Ringen, als „Kette“ angeeordnet (zu: Knotentheorie von Jacques Lacan)in jeder borromäischen Verkettung (chaîne borroméenne) gibt es ein Ein und „“
et
„„Knoten und Verkettungen können auf ganz unterschiedliche Weise dargestellt werden. Im folgenden sieht man drei Diagramme einer borromäischen Verkettung von drei Ringen: Borromäische Dreier-Verschlingung (zu: Knotentheorie von Jacques Lacan)Borromäische Dreierverschlingung (zu: Knotentheorie von Jacques Lacan)Borromäische Dreierverschlingung (zu: Knotentheorie von Jacques Lacan)
Färbung…““
Est-ce une erreur de copie ou de transcription ou ces dessins sont-ils tels quels dans les éditions de Miller ?
Michel Thomé