Sexuelle Jouissance (Lacan 1971/72)
Peter Paul Rubens: Die Kastration des Uranos, Feder und Tinte, 27,6 x 41,1 cm
Was versteht Lacan unter jouissance sexuelle, also unter „sexueller Jouissance“, „sexueller Lust“ (jenseits des Lustprinzuips) oder, wie häufig übersetzt wird, unter „sexuellem Genießen“? In diesem Artikel referiere ich, wie er den Ausdruck jouissance sexuelle in drei Vorträgen verwendet, die er 1971/72 im Sainte-Anne-Krankenhaus in Paris gehalten hat.
An diesem Ort hielt Lacan von November 1971 bis Juni 1972 einmal im Monat einen Vortrag vor Psychiatern. Die Vortragsreihe hatte den Titel Le savoir du psychanalyste, also Das Wissen des Psychoanalytikers, und lief parallel zu Seminar 19 von 1971/72, „… ou pire“ („… oder schlimmer“). Die ersten drei Sainte-Anne-Vorträge wurden 2011 von Jacques-Alain Miller unter dem Titel Je parle aux murs als Buch herausgegeben, der Titel der deutschen Übersetzung von Hans-Dieter Gondek ist Ich spreche zu den Wänden.1 Um diese drei Vorträge geht es im Folgenden. (Die übrigen vier Sainte-Anne-Vorträge wurden von Miller in seine Version von Seminar 19 integriert.2)
Die Passagen, in denen Lacan in den ersten drei Vorträgen der Reihe Das Wissen des Psychoanalytikers von jouissance spricht, ohne den Zusatz sexuelle, fasse ich im Folgenden meist in eigenen Worten zusammen; meine Erläuterungen hierzu stehen in eckigen Klammern. Die Stellen, in denen speziell von jouissance sexuelle die Rede ist, habe ich übersetzt, dabei folge ich der Staferla-Version. In Klammern habe ich bei den Paraphrasen die entsprechenden Seiten der Miller/Gondek-Version angegeben. Die Einteilung in Absätze ist von mir.
Den Abschluss dieses Artikels bildet eine systematisierende Zusammenstellung meiner Paraphrasesn sowie, als Hauptergebnis, eine knappe Antwort auf die Frage „Was versteht Lacan 1971/72 unter jouissance sexuelle?“
Einen Überblick über die Verwendung des Ausdrucks jouissance sexuelle in Seminar 13 von 1965/66, Das Objekt der Psychoanalyse, gibt es hier.
*
Warum beschäftigt mich der Begriff jouissance sexuelle? Weil ich mich seit einiger Zeit bemühe, Lacans Formeln der Sexuierung zu verstehen, die er in den Seminaren 18 (1971) bis 21 (1973/74), in der Vortragsreihe Das Wissen des Psychoanalytikers (1971/72) sowie im Aufsatz L’étourdit (1972) entwickelt. Zu diesem Zweck habe ich Seminar 18 übersetzt, Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre. Ein wichtiger Bestandteil dieser Formeln ist die „phallische Funktion“, die von Lacan so notiert wird: Φx. Was also ist die phallische Funktion? In Seminar 19 heißt es hierzu:
„Bereits im letzten Jahr habe ich geglaubt, das setzen zu können, worum es sich handelt: Φx, und was ich – aus Gründen, die Versuche sind – glaube schreiben zu können wie in der Mathematik, nämlich die Funktion, die dadurch gebildet wird, dass diejenige Jouissance existiert, die als ‚sexuelle Jouissance“ bezeichnet wird und die eben das ist, wodurch das [sexuelle] Verhältnis verhindert wird.
Dass die sexuelle Jouissance dem sprechenden Wesen die Tür zur Jouissance öffnet, und spitzen Sie hier ein wenig die Ohren, achten Sie darauf, dass die Jouissance wenn wir sie kurz so bezeichnen, für einige vielleicht die Jouissance ist, ich schließe das nicht aus, aber das ist wirklich nicht die sexuelle Jouissance. Das ist das Verdienst, den man dem Text von Sade zusprechen kann, dass er die Dinge beim Namen genannt hat: Genießen (jouir), das) heißt, einen Körper genießen, genießen, das heißt, ihn umarmen, ihn auslöschen, das heißt, ihn in Stücke zerlegen. Im Recht meint, die jouissance an etwas haben – den Nießbrauch –, dass man etwas wie einen Körper behandeln kann, das heißt, dass man es zerstören kann, nicht wahr.“3
Das Symbol Φx steht für die phallische Funktion, und diese Funktion bezieht sich auf die jouissance sexuelle, auf die sexuelle Lust jenseits des Lustprinzips. Diese Form der Jouissance ist von einer anderen Jouissance zu zu unterscheiden, von der jouissance ohne weitere Bestimmung. Die jouissance ohne Beiwort ist die von Sade beschriebene Jouissance, nämlich die Jouissance an der Zerstörung eines Körpers; in der Sprache der Juristen ist jouissance ohne Adjektiv der „Nießbrauch“ eines Körpers (Nutzungsrecht ohne Eigentum) – der französische Terminus für Nießbrauch ist jouissance. Die beiden Jouissance-Arten stehen in einem Bedingungsverhältnis: Die jouissance ohne weitere Bestimmung wird durch die jouissance sexuelle ermöglicht.
In der nächsten Sitzung desselben Seminars wird das etwas präzisiert:
„Und wenn ich gesagt habe, dass die sexuelle Jouissance der Dreh- und Angelpunkt jeder Jouissance ist, habe ich damit nicht hinreichend definiert, worum es bei der phallischen Funktion geht. Nehmen wir vorläufig an, das sei dasselbe.“4
Der Begriff jouissance sexuelle ist zwar nicht synonym mit dem der phallischen Funktion, aber er liefert doch einen Zugang zu diesem Konzept.
Drei Vorträge aus Das Wissen des Psychoanalytikers
4. November 1971
In dieser Vorlesung erfährt man über die Jouissance zunächst Folgendes:
In der Psychoanalyse bezieht sich jede Deutung auf die Verbindung zwischen dem, was gesprochen wird, und der Jouissance. (25) Die Deutung hat die Aufgabe, das Subjekt auf das aufmerksam zu machen, was es in der Wiederholung findet, nämlich eine Form der Jouissance jenseits des Lustprinzips. (27 f.)
Im Primärvorgang und im Sekundärvorgang ist der Gewinn immer ein Jouissance-Gewinn. (25)
Für die Jouissance braucht es einen Körper. (28) Das sprechende Wesen unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass es danach strebt, auf den Körper oder auf die Körper einzuwirken – auf seinen eigenen Körper oder auf den von anderen oder von Tieren –, um daraus die Jouissance ausströmen zu lassen. (29)
Das Lustprinzip (principe de plaisir) zielt darauf ab, die Spannung zu senken, die Jouissance zielt darauf ab, die Spannung zu steigern. (28)
Die Jouissance ist für den Körper der Abstieg zum Tod (28) [insofern die unbegrenzte Steigerung der Jouissance tödlich ist]. In der Frage des Todestriebs hat Freud nicht klar genug herausgestellt, dass es dabei um die Jouissance geht. Dabei ist dieser Zusammenhang in der Erotologie leicht zugänglich, etwa in den Schriften von Sade. (30) Der einzige vollendete Akt wäre der Selbstmord. Allerdings gibt es keinen vollendeten Akt; auch der Selbstmord wäre unter dem Aspekt der Jouissance ein misslungener Akt – außer vielleicht die Selbstverbrennungen der Buddhisten [wegen der ins Äußerste gesteigerten Schmerzlust]. (31)
Danach heißt es: In einem bestimmten Bereich des Lebendigen ist die Reproduktion „sexuiert“ [anders gesagt, sie erfolgt auf der Grundlage der biologischen Zweigeschlechtlichkeit]. (33) Und dann weiter:
„Nur hat das absolut nichts mit dem zu tun, worum es beim sexuellen Verhältnis geht, insofern ganz sicher ist, dass es beim sprechenden Wesen um dieses Verhältnis herum, als auf die Jouissance gegründet, einen in seiner Aufspannung wirklich bewundernswerten Fächer gibt, und insofern hierzu zwei Dinge von Freud herausgearbeitet worden sind – von Freud und vom analytischen Diskurs –, nämlich [erstens] die ganze Palette der Jouissance. Ich meine: All das, was man tun kann, um einen Körper und auch seinen Körper ordentlich zu behandeln, all das hat in gewissem Maße Anteil an der sexuellen Jouissance. Nur, die sexuelle Jouissance selbst, wenn Sie die Hand darauf legen wollen – falls ich mich so ausdrücken darf –, ist sie selbst überhaupt nicht sexuell, sie verliert sich.
Und da kommt [zweitens] all das ins Spiel, was sich vom Terminus des Phallus her aufbaut, der hier das ist, womit ein bestimmtes Signifikat bezeichnet wird, ein Signifikat eines bestimmten Signifikanten, der vollkommen verschwindet. Denn wenn es darum geht, zu definieren, worum es beim Mann oder bei der Frau geht, zeigt uns die Psychoanalyse gerade dies, dass dies unmöglich ist und dass in gewissem Grade nichts speziell darauf hinweist, dass die Jouissance sich auf den Partner des anderen Geschlechts richten muss, wenn die Jouissance, bezogen auf die Reproduktionsfunktion, auch nur einen Moment lang als Führer aufgefasst wird.
Wir stehen hier vor dem Aufbrechen des, sagen wir, des Begriffs der Sexualität. Gewiss, die Sexualität ist im Zentrum von allem, was im Unbewussten geschieht. Sie ist jedoch insofern im Zentrum, als sie ein Mangel ist. Das heißt, an die Stelle von irgendetwas, das vom sexuellen Verhältnis als solchem geschrieben werden könnte, treten, als Ersatz, die Sackgassen, die durch die Funktion der im präzisen Sinne sexuellen Jouissance erzeugt werden, insofern sie als der Punkt eines Trugbildes erscheint, für das Freud selbst irgendwo den Ton angibt, als absolute Jouissance.“5
Paraphrase
Was erfährt man an der zitierten Stelle speziell über die jouissance sexuelle, über die sexuelle Jouissance, die sexuelle Lust, das sexuelle Genießen?
Das sexuelle Verhältnis gründet sich beim Menschen – bei dem Wesen, das spricht – auf die Jouissance. Es gibt einen beeindruckenden Fächer von Jouissance-Arten; Freud und der psychoanalytische Diskurs haben das Spektrum dieser Jouissance-Arten herausgearbeitet. (33)
Sämtliche Beziehungen zum Körper – zum eigenen Körper und zum Körper von anderen – haben einen Anteil an der sexuellen Jouissance. (33)
Die sexuelle Jouissance ist nicht sexuell, d.h. sie muss sich nicht auf einen Partner des anderen Geschlechts richten. (33 f.)
An die Stelle dessen, was vom sexuellen Verhältnis geschrieben werden kann, treten die Sackgassen der sexuellen Jouissance und tritt damit das Trugbild des Orgasmus als einer absoluten Jouissance. (34)
Und weiter
Nach der zitierten Stelle heißt es über die Jouissance:
Der Orgasmus ist jedoch keine absolute Jouissance, denn erstens ist er ganz unterschiedlichen Fehlschlägen ausgesetzt; für die männliche Jouissance ist das die Kastration, für die weibliche Jouissance ist das die „Teilung“ (division). (34) [Gemeint ist die Teilung in eine „phallische Jouissance“ und eine „weibliche Jouissance“.]
Außerdem hat die Jouissance strenggenommen nichts mit der Kopulation zu tun – mit der Kopulation als dem beim Menschen bislang noch üblichen Weg, die Reproduktion herbeizuführen. (34)
Es gibt keine Synthese [der verschiedenen Jouissance-Arten, auch nicht durch den Phallus], es sei denn, man möchte Synthese dies nennen, dass es Jouissance nur durch Sterben gibt. (35) [Ich nehme an, dass gemeint ist: Sämtliche Jouissance-Arten zielen auf eine Steigerung der Erregung, die tödlich wäre.]
Probleme des Gewissens sind Probleme der Jouissance. (36). [Vgl. die Bemerkung im Encore-Seminar: „Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens – Genieße!“6]
Das Wissen gehört zur Ordnung der Jouissance. (37) [Unter „Wissen“ versteht Lacan häufig das Unbewusste; hier könnte gemeint sein: Das Unbewusste dient der Jouissance-Gewinnung.]
2. Dezember 1971
Lacan spricht über das Mathem, also über die quasi-algebraische Darstellung seiner Theorie, und erläutert die These, dass sich das Mathem auf das Reale bezieht. Danach heißt es:
„Die fragliche Wahrheit in der Psychoanalyse ist das, was sich mithilfe der Sprache – ich meine durch die Funktion des Sprechens – dem [Realen] nähert, jedoch in einem Zugang, der keineswegs derjenige der Erkenntnis ist, sondern bei dem es sich, möchte ich sagen, um eine Art Induktion handelt – in dem Sinn, in dem dieser Terminus in Bezug auf die Konstitution eines Feldes verwendet wird –, Induktion von etwas, das völlig real ist, obgleich wir darüber nur wie über Signifikanten sprechen können, ich meine, etwas, das keine andere Existenz als die von Signifikanten hat.
Worüber spreche ich? Nun ja, über nichts anderes als über das, was man in der Umgangssprache als Männer und Frauen bezeichnet. Wir wissen nichts Reale als solches über diese Männer und über diese Frauen; denn darum geht es, es geht nicht um Hunde und Hündinnen. Es geht um das, was diejenigen real sind, die zu einem der Geschlechter gehören, ausgehend vom sprechenden Wesen (être parlant). Es gibt hier nicht einen Schatten von Psychologie. Männer und Frauen, das ist real. Wir sind jedoch nicht in der Lage, über sie in Lalangue7 die geringste Sache zu artikulieren, die auch nur das geringste Verhältnis zu diesem Realen hätte.
Wenn die Psychoanalyse uns nicht das lehrt, was sagt sie dann aber? Denn sie tut nichts als ständig zu wiederholen.
Das ist das, was ich behaupte, wenn ich sage, dass es für die Wesen (êtres), die sprechen, kein sexuelles Verhältnis (rapport sexuel) gibt. Denn ihr Sprechen hängt so, wie es funktioniert, als Sprechen davon ab, ist dadurch bedingt, dass es diesem sexuellen Verhältnis als Sprechen gerade untersagt ist, hier auf eine Weise zu funktionieren, die es ermöglicht, darüber Auskunft zu geben.
Ich bin nicht dabei, in dieser Korrelation einer der beiden Seiten den Primat zu erteilen. Ich sage nicht, dass das Sprechen existiert, weil es kein sexuelles Verhältnis gibt, das wäre völlig absurd. Und ich sage auch nicht, dass es kein sexuelles Verhältnis gibt, weil das Sprechen da ist.
Aber es gibt sicherlich deshalb kein sexuelles Verhältnis, weil das Sprechen auf der Ebene funktioniert, die vom psychoanalytischen Diskurs als etwas entdeckt worden ist, wodurch das sprechende Wesen spezifiziert wird, nämlich die Wichtigkeit, die Vorrangstellung in all dem, was – auf ihrer Ebene – aus dem Geschlecht (sexe) den Schein (semblant) machen wird, den Schein der bons-hommes, der Biedermänner, und der bons-femmes, der ‚Guten-Frauen‘, wie man nach dem letzten Krieg sagte; man nannte sie nicht anders: die Guten-Frauen. Derart werde ich jedoch nicht über sie sprechen, da ich bin kein Existenzialist bin.
Wie auch immer, die Konstitution – deshalb, weil das Seiende, von dem wir gerade gesprochen haben, weil dieses Seiende spricht –, die Tatsache, dass nur aus dem Sprechen dieser wesentliche Punkt hervorgeht, ist hierbei klar von dem sexuellen Verhältnis zu unterscheiden, das sich Jouissance nennt, von der Jouissance, die man sexuell nennt, und die allein – beim Seienden, von dem ich spreche – das determiniert, was erlangt werden soll, nämlich die Paarung.8
Die Psychoanalyse konfrontiert uns damit, dass alles von dem Dreh- und Angelpunkt abhängt, der ‚sexuelle Jouissance‘ genannt wird, bei der sich erweist – das sind nur die Behauptungen, die wir in der psychoanalytischen Erfahrung einsammeln und die es uns ermöglichen, das zu bestätigen –, bei der sich erweist, dass sie sich in einer ein wenig fortgesetzten, ja auch in einer flüchtigen Paarung nur so äußern kann, dass hierbei erforderlich ist, dass sie dem begegnet, was nur von lalangue her Dimension hat und Kastration genannt wird.
Die Undurchsichtigkeit dieses Kerns, der sexuelle Jouissance genannt wird – und bei dem ich Sie darauf aufmerksam machen möchte, dass die Artikulation in dem Register, das ‚Kastration‘ genannt wird, auf dem psychoanalytischen Diskurs beruht, dessen Auftauchen historisch nicht weit zurückliegt –, nun, das scheint mir etwas zu sein, was es durchaus verdient, dass man sich bemüht, davon das Mathem zu formulieren, damit sich nämlich etwas auf andere Weise zeigt denn als erlitten, erlitten in einer Art beschämendem Geheimnis, das, obwohl es von der Psychoanalyse offengelegt wurde, weiterhin genauso beschämend bleibt, genauso ausweglos. Das heißt, dass die gesamte Dimension der Jouissance, also das Verhältnis des sprechenden Wesens zu seinem Körper – denn es gibt keine andere mögliche Definition der Jouissance –; niemand scheint bemerkt zu haben, dass die Frage auf dieser Ebene liegt.
Wer in der tierischen Spezies genießt seinen Körper, und wie? Sicherlich haben wir Spuren davon bei unseren Vettern, den Schimpansen, die sich gegenseitig mit allen Zeichen des stärksten Interesses von Parasiten befreien. Und danach?
Woran liegt es, dass es beim sprechenden Wesen viel stärker ausgearbeitet ist, dieses Verhältnis der Jouissance, dass man nennt – in dessen Namen, was die Entdeckung der Psychoanalyse ist –; dass die sexuelle Jouissance früher auftaucht als die gleichnamige Reife. Das scheint zu genügen, um all das infantil zu machen, worum es bei diesem Spektrum geht, das sicherlich kurz ist, aber nicht ohne Verschiedenheiten, bei diesem Spektrum der Jouissance-Arten, die man als perverse charakterisiert.
Und das steht in enger Beziehung zu diesem eigenartigen Rätsel, das bewirkt, dass man dabei nicht mit dem handeln könnte, was direkt mit der Operation verbunden zu sein scheint, der unterstellt wird, dass sie auf die sexuelle Jouissance abzielt, dass man in keiner Weise den Weg einschlagen könnte, dessen Pfade vom Sprechen gebahnt werden, ohne dass es sich als Kastration artikuliert.
Es ist merkwürdig, dass niemals, nie bevor ich – ich will nicht sagen: einen Versuch [gemacht habe], denn wie Picasso sagte, ‚Ich suche nicht, ich finde. Ich versuche nicht, ich entscheide‘ –, bevor ich entschieden habe, dass der Schlüsselpunkt, der Knotenpunkt lalangue ist und im Feld von lalangue die Operation des Sprechens.9
Es gibt keine analytische Deutung, die nicht dazu da ist, um eine Aussage, auf die man stößt, in Beziehung zu einer Jouissance zu setzen. Zu was? Was bedeutet die Psychoanalyse? Dass diese Beziehung zur Jouissance dasjenige Sprechen ist, das die Dimension der Wahrheit sichert. Allerdings bleibt nicht weniger gesichert, dass das Sprechen sie auf keine Weise vollständig sagen kann. Es kann diese Beziehung, wie ich mich ausdrücke, nur halbsagen und davon den Schein bilden, eben das, was man – ohne groß etwas darüber sagen zu können, macht man etwas daraus, aber man kann nicht viel über den Typus sagen –, den Schein dessen, was sich ein Mann oder eine Frau nennt.“10
(…)
„Das Reale, von dem ich spreche, und dies in Übereinstimmung mit allem, was akzeptiert wird – allerdings so, als würde es von Tauben aufgenommen –, was in der Analyse akzeptiert wird, nämlich dass nichts von dem gesichert ist, was der Zweck, die Zweckbestimmung des sexuellen Genießens zu sein scheint – also die Kopulation –, ohne diese Schritte, die ganz verworren wahrgenommen werden, die jedoch niemals in einer Struktur herausgelöst worden sind, die mit der einer Logik vergleichbar wäre und die Kastration genannt wird.“11
(…)
„Also warum sollten die Analytiker das Privileg haben, dass ihnen das Mathem ihres Diskurses zugänglich ist? Es gibt alle möglichen Gründe, dass sie sich vielmehr in einer Art Status einrichten, dessen Nutzen genau – aber das sind Dinge, die nicht an einem Tag erledigt werden können –, dessen Nutzen tatsächlich darin bestehen könnte, dass er demonstriert, was in diesen unbegreiflichen theoretischen Hirngespinsten daraus hervorgeht, von denen die Zeitschriften der psychoanalytischen Welt voll sind.
Das ist nicht das Wichtige. Das Wichtige besteht darin, sich zu interessieren, und natürlich werde ich versuchen, Ihnen zu sagen, worin das Interesse bestehen kann.
Man muss ihn [den Tetraeder des Diskurses] nach allen Seiten hin ausschöpfen. Ich habe eben einen Hinweis auf das gegeben, was es mit dem Status des Analytikers auf der Ebene des Scheins auf sich haben kann.12 Natürlich ist nicht weniger wichtig, ihn in seinem Verhältnis zur Wahrheit zu artikulieren.13
Und das Interessanteste – das muss man so sagen, das ist eine der wenigen Bedeutungen, die man dem Wort interêt geben kann, ‚Interesse‘, ‚Nutzen‘ – ist die Beziehung dieses Diskurses zur Jouissance, zur Jouissance, die ihn letztlich stützt, die ihn bedingt, die ihn begründet, die ihn genau von daher begründet, dass die sexuelle Jouissance –.
Ich möchte nicht damit enden, dass ich Ihnen den Eindruck vermittle, ich wüsste, was der Mensch ist.
Sicherlich gibt es Leute, die es brauchen, dass ich ihnen diesen kleinen Fisch zuwerfe. Und sicherlich kann ich ihnen diesen Fisch zuwerfen, denn ‚… oder schlimmer‘, das konnotiert keinerlei Fortschrittsversprechen. Ich kann ihnen sagen, dass es sehr wahrscheinlich dies ist, was die Besonderheit dieser Tierart ausmacht: ein ganz und gar anomales und bizarres Verhältnis zu ihrer Jouissance.
Das kann auf Seiten der Biologie einige kleine Verlängerungen haben, warum nicht. Ich konstatiere [jedoch] einfach, dass die Analytiker beim biologisierenden Bezug der Analyse nicht die kleinsten Fortschritte gemacht haben; ich habe das oft betont. Sie haben nicht die kleinsten Fortschritte gemacht, aus dem einfachen Grunde, dass es genau der anomale Punkt ist, an dem eine Jouissance, bei der sich unglaublicherweise Biologen gefunden haben, um, in ihrem Namen, im Namen dieser hinkenden und nun wirklich amputierten Jouissance der Kastration selbst, die beim Menschen in einem bestimmten Verhältnis zur Kopulation zu stehen scheint, also zur Vereinigung, zu dem, was biologisch, aber natürlich ohne dass das irgendetwas im Schein bedingt, das, was also beim Menschen zur Vereinigung der Geschlechter führt –. Es haben sich also Biologen gefunden, die dieses ganz und gar problematische Verhältnis auf die Tierarten ausgedehnt haben und das vor uns ausbreiten; man hat einen dicken Wälzer darüber gemacht, der sogleich die glückliche Schirmherrschaft meines lieben Kameraden Henri Ey erhalten hat, über den ich zu Ihnen mit der Sympathie gesprochen habe, die Sie das letzte Mal haben spüren können: Die Perversion bei den Tierarten. Unter Berufung worauf? Dass die Tierarten kopulieren. Doch was beweist uns, dass dies im Namen irgendeiner Jouissnce geschieht, ob sie nun pervers ist oder nicht? Man muss wirklich ein Mensch sein um zu glauben, dass Kopulieren Jouissance bereitet. Nun, es gibt ganze Bände darüber, in denen erklärt wird, dass es Tiere gibt, die das mit Haken machen, mit ihren Pfötchen, und dann gibt es welche, die sich die Sachen, die Dinge, die Spermata ins Innere der zentralen Höhle schicken, wie bei den Wanzen, glaube ich. Und dann wundert man sich: Wie sehr müssen sie doch bei solchen Sachen Jouissance empfinden! Wenn man sich das bei uns mit einer Spritze ins Bauchfell gäbe, wäre das wollüstig! Und damit glaubt man, ordentliche Sachen konstruieren zu können!
Wo doch die erste Sache, die sich mit Händen greifen lässt, gerade die Dissoziation ist, und wo offenkundig ist, dass die Frage, die einzige Frage, die immerhin sehr interessante Frage die ist, wie etwas, wovon wir im Augenblick sagen können, dass es mit dieser Disjunktion der sexuellen Jouissance korreliert, wie etwas, das ich lalangue nenne, offensichtlich ein Verhältnis zu etwas Realem hat.
Ob das jedoch zu Mathemen führen kann, die es uns ermöglichen, Wissenschaft aufzubauen, nun, das ist ganz offensichtlich die Frage.“14
Paraphrase
In der Umgangssprache ist von „Männern“ und „Frauen“ die Rede. Männer und Frauen, das ist real [es gibt eine biologische Zweigeschlechtlichkeit]. Wir sind jedoch in lalangue nicht in der Lage, etwas zu artikulieren, was sich auf dieses Reale bezieht; dies meint die These: „Bei den sprechenden Wesen gibt es kein sexuelles Verhältnis.“ (58 f.)
Das Sprechen bewirkt, dass auf der Ebene des Geschlechts der Schein wichtig ist [das Sprechen führt dazu, dass Männer-Rollen und Frauen-Rollen gespielt werden]. (59)
Die Tatsache, dass aus dem Sprechen dieser wesentliche Punkt [des Scheins] hervorgeht, ist von dem sexuellen Verhältnis zu unterscheiden, welches sich Jouissance nennt, von der sexuellen Jouissance. [Männer und Frauen beziehen sich auf zwei ganz verschiedenen Ebenen aufeinander: auf der Ebene des Scheins (sie inszenieren sich als Männer und Frauen), und auf der Ebene der Jouissance.] (59 f.; Miller ändert dies zu: Nur aus dem Sprechen kann die jouissance hervorgehen.)
[Festzuhalten ist, dass Lacan hier die sexuelle Jouissance als „sexuelles Verhältnis“ bezeichnet; Miller hat das in seiner Version geändert. Die sexuelle Jouissance ist insofern ein Verhältnis, als Lacan hier nach dem Verhältnis zwischen der Jouissnce des Mannes und der Jouissance der Frau fragt, eine Beziehung, die hergestellt werden muss, damit eine Kopulation zustande kommt und damit die Reproduktion.]
Die sexuelle Jouissance kann bei Menschen – beim sprechenden Wesen – nur dann zu einer Paarung führen, wenn die Kastration ins Spiel kommt. Das ist eine Entdeckung der Psychoanalyse. (59 f.) [Nur durch die Kastration werden die Lüste von Männern und Frauen in ein Verhältnis zueinander gebracht.]
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Die Dimension der Jouissance ist das Verhältnis des Menschen – des sprechenden Wesens – zu seinem Körper. (60 f.)
Beim Menschen ist das Verhältnis zur Jouissance stärker entwickelt als bei seinen tierischen Verwandten. (61)
Beim Menschen taucht die sexuelle Jouissance früher auf als die sexuelle Reife. Das scheint zu genügen, um das Spektrum der Jouissance-Arten, die man als pervers bezeichnet, als infantil zu charakterisieren. (61)
Das steht in Beziehung dazu, dass die sexuelle Jouissance sich nur dann mit der Kopulation verbindet, wenn die Kastration ins Spiel kommt. (61)
Der Zweck der sexuellen Jouissance scheint die Kopulation zu sein; für die Kopulation muss jedoch die Kastration ins Spiel kommen. Die Logik dieser Struktur ist noch nie ausgearbeitet worden. (66) [Diese Logik entwickelt Lacan in den Seminaren 18 bis 21 und in L’étourdit in den sogenannten Formeln der Sexuierung.]
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Jede psychoanalytische Deutung hat die Aufgabe, eine Aussage [eines Analysanten] in Beziehung zu einer Jouissance zu setzen. Dadurch, dass das Sprechen [des Analysanten] in Beziehung zur Jouissance gesetzt wird, wird die Dimension der Wahrheit gesichert. Allerdings lässt sich die Wahrheit nur halbsagen. (62)
Im Diskurs des Analytikers ist das Verhältnis zur Jouissance das Interessanteste, die Jouissance stützt diesen Diskurs, sie bedingt ihn. (69)
*
Was den Menschen von den anderen Tieren unterscheidet, ist das bizarre Verhältnis zur Jouissance. (69)
Es gibt Autoren, die sich für die Perversion bei den Tieren interessieren. Sie setzen dabei voraus, dass die Tiere bei der Kopulation Jouissance haben. Woher wollen sie das wissen? (69 f.)
Es gibt eine Disjunktion der sexuellen Jouissance. (71) [Möglicherweise ist gemeint: eine Disjunktion von sexueller Jouissance und Kopulation, die durch die Kastration überbrückt wird.]
Die Disjunktion der sexuellen Jouissance korreliert mit lalangue, und lalangue steht in einem Verhältnis zum Realen. (71)
6. Januar 1972
Nach einer Erläuterung der in Seminar 17, Die Kehrseite der Psychoanalyse, entwickelten vier Diskurse heißt es:
„Das ist merkwürdig, als ich diese vier Diskurse definiert habe, von denen ich eben gesprochen habe, und die so wesentlich sind, um das zu verorten, wovon Sie, was immer Sie tun mögen, auf irgendeine Weise immer die Subjekte sind, und zwar, möchte sagen, unterstellte Subjekte, Subjekte, die dem unterstellt sind, was von einem Signifikanten her – bei dem klar ist, dass er der Herr im Spiel ist und dass nicht Sie es sind –, was von einem Signifikanten her in Bezug auf etwas geschieht, was anders ist, um nicht zu sagen der Andere, dass sie nur das Unterstellte sind.
Sie geben ihm keinen Sinn. Dafür haben Sie selbst nicht genug davon. Aber Sie geben ihm, dem Signifikanten, der sie repräsentiert, dem Herrnsignifikanten, einen Körper. Nun gut.
Was Sie darin sind, Schatten eines Schattens, sie sollten nicht denken, dass die Substanz, die Ihnen zuzuschreiben immer schon der Traum war, etwas anderes wäre als diese Lust (jouissance), von der Sie abgeschnitten sind.
Wie nicht sehen, was es Ähnliches gibt in dieser substantiellen Anrufung und diesem unglaublichen Mythos der sexuellen Lust, zu dessen Reflex sich Freud selbst gemacht hat, und das eben das Objekt ist, das läuft, das läuft, wie im Spiel vom Wiesel15, wobei jedoch niemand in der Lage ist, seinen Status auszusagen, außer genau als den höchsten Status. Es ist der Höhepunkt einer Kurve, der es seinen Sinn gibt, und sehr genau auch: dessen höchster entgeht.
Und von daher, dass sie den Fächer der – in Anführungszeichen – ‚sexuellen‘ Lüste artikulieren kann, macht die Psychoanalyse ihren entscheidenden Schritt.
Sie beweist eben dies, dass die Jouissance, die man als sexuell bezeichnen könnte – die nicht zum Schein des Sexuellen gehören würde –, durch das Kennzeichen dessen geprägt ist – nichts mehr bis auf Weiteres –, was nur geäußert wird, was nur angekündigt wird vom Kennzeichen der Kastration her.
Bevor diese Wände einen Status erhalten, Gestalt annehmen, rekonstruiere ich sie auf logische Weise.
Diese ausgestrichene S [$], diese S1 und S2 und dieses a, mit denen ich einige Monate lang für Sie herumgespielt habe, das ist dennoch dies: die Mauer16, hinter der sie natürlich den Sinn dessen ansetzen können, was uns betrifft, dessen, wovon wir glauben, dass wir wissen, was das bedeutet: die Wahrheit und der Schein, die Jouissance , die Mehrlust.“17
Paraphrase
Über die Jouissance und die sexuelle Jouissance erfährt man hier:
Die Substanz des Subjekts ist nichts anderes als die Jouissance, von der das Subjekt abgeschnitten ist. (97) Das hat Ähnlichkeit mit Freuds Mythos von der sexuellen Jouissance [des Urvaters]. (97) [Die Söhne sind von der Jouissance an „allen Frauen“ ausgeschlossen.]
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Die Psychoanalyse macht ihren entscheidenden Schritt von daher, dass sie den Fächer der sogenannten sexuellen Jouissance-Arten artikulieren kann, dabei ist „sexuell“ in Anführungszeichen zu setzen. (98)
Die Psychoanalyse beweist, dass die Jouissance, die nicht nur zum Schein sexuelle Jouissance ist [dass die Jouissance, die sich tatsächlich auf einen Partner des anderen Geschlechts bezieht], durch die Kastration geprägt ist. (98)
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In den Diskursmathemen ist nicht nur den Größen $, S1, S2 und Mehrlust ein Platz zu geben, sondern auch der Jouissance. (98)
Systematisierende Zusammenstellung
Im Folgenden bringe ich meine Paraphrasen wörtlich noch einmal, diesmal jedoch nach Themen angeordnet.
Subjekt
Die Substanz des Subjekts ist nichts anderes als die Jouissance, von der es abgeschnitten ist. (97) Das hat Ähnlichkeit mit Freuds Mythos von der sexuellen Jouissance [des Urvaters]. (97) [Die Söhne sind von der Jouissance an „allen Frauen“ ausgeschlossen.]
Was den Menschen von den anderen Tieren unterscheidet, ist das bizarre Verhältnis zur Jouissance. (69)
Körper
Für die Jouissance braucht es einen Körper. (28) Die Dimension der Jouissance ist das Verhältnis des Menschen – des sprechenden Wesens – zu seinem Körper. (60 f.) Das sprechende Wesen unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass es danach strebt, auf den Körper oder auf die Körper einzuwirke – auf seinen eigenen Körper oder auf den von anderen oder von Tieren –, um daraus die Jouissance ausströmen zu lassen. (29)
Jouissance und principe de plaisir
Das Lustprinzip (principe de plaisir) zielt darauf ab, die Spannung zu senken; die Jouissance zielt darauf ab, die Spannung zu steigern. (28)
Lustarten
Es gibt einen beeindruckenden Fächer von Jouissance-Arten; Freud und der psychoanalytische Diskurs haben das Spektrum dieser Jouissance-Arten herausgearbeitet. (33)
Die Psychoanalyse macht ihren entscheidenden Schritt von daher, dass sie den Fächer der sogenannten sexuellen Jouissance-Aartikulieren kann, dabei ist „sexuell“ in Anführungszeichen zu setzen. (98)
Kastration und sexuelle Lust
Das sexuelle Verhältnis gründet sich beim Menschen – bei dem Wesen, das spricht – auf die Jouissance. (33)
Sämtliche Beziehungen zum Körper – zum eigenen Körper und zum Körper von anderen – haben einen Anteil an der sexuellen Jouissance. (33)
Das Sprechen bewirkt, dass auf der Ebene des Geschlechts der Schein wichtig ist [das Sprechen führt dazu, dass Männer-Rollen und Frauen-Rollen gespielt werden]. (59) Die Tatsache, dass aus dem Sprechen dieser wesentliche Punkt [des Scheins] hervorgeht, ist von dem sexuellen Verhältnis zu unterscheiden, welches sich Jouissance nennt, von der sexuellen Jouissance. [Männer und Frauen beziehen sich auf zwei ganz verschiedenen Ebenen aufeinander: auf der Ebene des Scheins (sie inszenieren sich als Männer und Frauen), und auf der Ebene der Jouissance.] (59 f.; Miller ändert dies zu: Nur aus dem Sprechen kann die jouissance hervorgehen.)
[Festzuhalten ist, dass Lacan hier die sexuelle Jouissance als „sexuelles Verhältnis“ bezeichnet (Miller hat das in seiner Version geändert). Die sexuelle Jouissance ist insofern ein Verhältnis, als Lacan hier nach dem Verhältnis zwischen der Jouissance des Mannes und der Jouissance der Frau fragt, eine Beziehung, die hergestellt werden muss, damit eine Kopulation zustande kommt und damit die Reproduktion.]
Die sexuelle Jouissance ist nicht sexuell, d.h. sie muss sich nicht auf einen Partner des anderen Geschlechts richten. (33 f.)
Die sexuelle Jouissance kann bei Menschen – beim sprechenden Wesen – nur dann zu einer Paarung führen, wenn die Kastration ins Spiel kommt. Das ist eine Entdeckung der Psychoanalyse. (59 f.) Die Psychoanalyse beweist, dass die Jouissance, die nicht nur zum Schein sexuelle Jouissance ist [dass die Jouissance, die sich tatsächlich auf einen Partner des anderen Geschlechts bezieht], durch die Kastration geprägt ist. (98)
Beim Menschen ist das Verhältnis zur Jouissance stärker entwickelt als bei seinen tierischen Verwandten. (61) Beim Menschen taucht die sexuelle Jouissance früher auf als die sexuelle Reife. Das scheint zu genügen, um das Spektrum der Jouissance-Arten, die man als pervers bezeichnet, als infantil zu charakterisieren. (61)
Das steht in Beziehung dazu, dass die sexuelle Jouissance sich nur dann mit der Kopulation verbindet, wenn die Kastration ins Spiel kommt. (61)
Kopulation
Die Jouissance hat strenggenommen nichts mit der Kopulation zu tun, mit der Kopulation als dem beim Menschen bislang noch üblichen Weg, die Reproduktion herbeizuführen. (34)
Der Zweck der sexuellen Jouissance scheint die Kopulation zu sein; für die Kopulation muss jedoch die Kastration ins Spiel kommen. Die Logik dieser Struktur ist noch nie ausgearbeitet worden. (66) [Diese Logik entwickelt Lacan in den sogenannten Formeln der Sexuierung in den Seminaren 18 bis 21 und in L’étourdit von 1972.]
Orgasmus
An die Stelle dessen, was vom sexuellen Verhältnis geschrieben werden kann, treten die Sackgassen der sexuellen Jouissance und tritt damit das Trugbild des Orgasmus als einer absoluten Jouissance. (34) Der Orgasmus ist jedoch keine absolute Jouissance, denn erstens ist er ganz unterschiedlichen Fehlschlägen ausgesetzt; für die männliche Jouissance ist das die Kastration, für die weibliche Jouissance ist das die „Teilung“ (division). (34) [Geneintt ist die Teilung in phallische Jouissance und „weibliche“ Jouissance.]
Todestrieb
Die Jouissance ist für den Körper der Abstieg zum Tod (28) [insofern die unbegrenzte Steigerung der Jouissance tödlich ist]. In der Frage des Todestriebs hat Freud nicht klar genug herausgestellt, dass es dabei um die Jouissance geht. Dabei ist dieser Zusammenhang in der Erotologie leicht zugänglich, z.B. in den Schriften von Sade. (30) Der einzige vollendete Akt wäre der Selbstmord. Allerdings gibt es keinen vollendeten Akt; auch der Selbstmord wäre unter dem Aspekt der Jouissance ein misslungener Akt – außer vielleicht die Selbstverbrennungen der Buddhisten [wegen der ins Äußerste gesteigerten Schmerzlust]. (31)
Es gibt keine Synthese [der verschiedenen Jouissance-Arten, auch nicht durch den Phallus], es sei denn, man möchte Synthese dies nennen, dass es Jouissance nur durch Sterben gibt. (35) [Ich nehme an, dass gemeint ist: Sämtliche Jouissance-Arten zielen auf eine Steigerung der Erregung, die tödlich wäre.]
Deutung
In der Psychoanalyse bezieht sich jede Deutung auf die Verbindung zwischen dem, was gesprochen wird, und der Jouissance. (25) Die Deutung hat die Aufgabe, das Subjekt auf das aufmerksam zu machen, was es in der Wiederholung findet, nämlich eine Form der Lust (jouissance) jenseits des Lustprinzips (principe de plaisir). (27 f.) Jede psychoanalytische Deutung hat die Aufgabe, eine Aussage [eines Analysanten] in Beziehung zu einer Jouissance zu setzen. (62)
Dadurch, dass das Sprechen [des Analysanten] in Beziehung zur Jouissance gesetzt wird, wird die Dimension der Wahrheit gesichert. Allerdings lässt sich die Wahrheit nur halbsagen. (62)
Im Diskurs des Analytikers ist das Verhältnis zur Jouissance das Interessanteste, die Jouissance stützt diesen Diskurs, sie bedingt ihn. (69)
Außerdem
Im Primärvorgang und im Sekundärvorgang ist der Gewinn immer ein Jouissance-Gewinn. (25)
Das Wissen gehört zur Ordnung der Jouissance. (37) [Unter „Wissen“ versteht Lacan häufig das Unbewusste; hier könnte gemeint sein: Das Unbewusste dient der Jouissance-Gewinnung.]
Probleme des Gewissens sind Probleme der Jouissance. (36). [Vgl. die Bemerkung im Encore-Seminar: „Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens – Genieße!“18]
Es gibt Autoren, die sich für die Perversion bei den Tieren interessieren. Sie setzen dabei voraus, dass die Tiere bei der Kopulation Jouissance haben. Woher wollen sie das wissen? (69 f.)
Es gibt eine Disjunktion der sexuellen Jouissance. (71)
Die Disjunktion der sexuellen Jouissance orreliert mit lalangue, und lalangue steht in einem Verhältnis zum Realen. (71)
In den Diskursmathemen ist nicht nur den Größen $, S1, S2 und Mehrlust ein Platz zu geben, sondern auch der Jouissance. (98)
Resümee: Was versteht Lacan 1971/72 unter jouissance sexuelle?
In den ersten drei Vorträgen von Das Wissen des Psychoanalytikers verwendet Lacan den Ausdruck „sexuelle Jouissance“ auf zwei Weisen, sagen wir: locker und streng. Wenn er den Ausdruck locker verwendet, meint er damit das mit den Partialtrieben verbundene Spektrum der Lüste, wie es von Freud und vom Diskurs der Psychoanalyse herausgearbeitet worden ist, vor allem die sogenannten perversen Lüste.
Die Jouissance ist an den Körper gebunden, und alle Beziehungen zum Körper haben Anteil an der sexuellen Jouissance
Lacan betont, dass es sich bei diesen Jouissance-Arten jedoch nur in Anführungszeichen um „sexuelle“ Formen der Jouissance handelt, d.h. sie beziehen sich nicht notwendig auf einen Partner des anderen Geschlechts (in Seminar 18 hatte er erklärt, dass er unter „Sexualität“ die Beziehungen zwischen Mann und Frau versteht19). Nur durch die Kastration – durch die Einwirkung des Kastrationskomplexes – kommt es dazu, dass die Jouissance-Arten sich auf einen Partner des anderen Geschlechts beziehen und die Jouissancen von Partnern unterschiedlichen Geschlechts in ein Verhältnis zueinander geraten. Erst durch die Kastration werden die verschiedenen Jouissancen also zu sexuellen Lüsten im strengen Sinne des Wortes „sexuell“. Erst die Kastration ermöglicht die Kopulation und auf diese Weise die sexuelle Reproduktion.
Durch die Kastration kommt es jedoch nicht zu einer Synthese [der verschiedenen Jouissance-Arten].
Die Vorstellung, dass der Orgasmus eine absolute Jouissance ist, ist ein Trugbild. Der Orgasmus ist unterschiedlichen Fehlschlägen ausgesetzt, bei der männlichen Jouissance ist das die Kastration, bei der weiblichen Lust die „Teilung“ (division). [Gemeint ist die Teilung in „phallische Jouissance“ und „weibliche Jouissance“. ]
In der Psychoanalyse hat die Deutung immer die Aufgabe, das Sprechen des Analysanten in Beziehung zur Jouissance zu setzen; diese Beziehung ist die Wahrheitsbeziehung. Dabei hat der Analytiker zu berücksichtigen, dass sich die Wahrheit nur halbsagen lässt.
Verwandte Beiträge
- La jouissance – die Lust jenseits des Lustprinzips, das sogenannte Genießen
- Jouissance, Orgasmus, sexuelle jouissance (Lacan 1966)
- Geneviève Morel: Die phallische Funktion
- Phallisches Genießen (I): Seminar 17
- Phallisches Genießen (II): Seminare 19 und 20
Anmerkungen
- J. Lacan: Je parle aux murs. Entretiens de la chapelle de Sainte-Anne. Le Seuil, Paris 2011.– J. Lacan: Ich spreche zu den Wänden. Gespräche aus der Kapelle von Sainte-Anne. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2013 (im Folgenden verweise ich hierauf mit „Version Miller/Gondek“).
- J. Lacan: Le séminaire, Livre XIX. … ou pire. 1971–1972. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Le Seuil, Paris 2011.– Die Vorträge aus der Reihe Le savoir du psychanalyste sind in Millers Ausgabe von Seminar XIX dadurch gekennzeichnet, dass der Titel der Sitzungen hier das Wort entretien („Gespräch“) als Untertitel hat.
- Seminar 19 von 1971/72, … ou pire, Sitzung vom 15. Dezember 1971, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller S. 31 f.
- Seminar … ou pire, Sitzung vom 12. Januar 1972, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller S. 46.
- J. Lacan, Le savoir du psychanalyste, Vorträge im Sainte-Anne-Krankenhaus in Paris, Vortrag vom 4. November 1971, meine Übersetzung nach Version Staferla. Vgl. Lacan, Ich spreche zu den Wänden, a.a.O., S. 33 f.
- J. Lacan, Seminar 20 von 1972/73, Encore, Sitzung vom 21. November 1972, Version Miller/Haas u.a. S. 9.
- Lacans Neologismus lalangue (zusammengeschrieben) ist Gegenbegriff zu la langue, zur Sprache als System im Sinne von Saussure. Gondek definiert lalangue so: „die unausweichliche Gegebenheit von Sprache vor allen festgelegten Bedeutungen und jeder Grammatik. Impliziert wird damit der Nicht-Ausschluss jeder Möglichkeit poetischer oder lautlicher, rein spielerischer Variation, einschließlich des kindlichen Lallens.“ (Lacan, Ich spreche zu den Wänden, a.a.O., S. 108)
- Es gibt hier eine starke Abweichung zwischen der Staferla-Version (nach der ich übersetze) und der von J.-A. Miller herausgegebenen Fassung dieses Textes.
In Millers Fassung findet man hier die Behauptung, dass die sexuelle jouissance nur aus dem Sprechen hervorgeht; in der Staferla-Fassung ist davon nicht die Rede.
Miller-Version: « Quoi qu’il en soit, le fait est que l’étant que nous évoquions toute à l’heure parle, et que c’est n’est que de la parole que procède la jouissance, celle que l’on appelle sexuelle, qui est à distinguer du rapport sexuel. » (Lacan, Je parle aux murs, a.a.O., S. 62)
Gondek übersetzt nach der Miller-Version so: „Was es auch damit auf sich hat, Tatsache ist, dass das Seiende, auf das wir gerade ansprachen, spricht, dass nur aus dem Sprechen das Genießen hervorgeht, das, welches man sexuell nennt, und das vom geschlechtlichen Verhältnis zu unterscheiden ist.“ (Lacan, Ich spreche zu den Wänden, a.a.O., S. 59 f.)
Staferla-Version: « Quoi qu’il en soit, la constitution de par le fait que l’étant, dont nous parlions tout à l’heure, que cet étant parle, le fait que ce n’est que de la parole que procède ce point essentiel, est tout à fait – dans l’occasion – à distinguer du rapport sexuel, qui s’appelle la jouissance, la jouissance qu’on appelle sexuelle et qui seule détermine chez l’étant dont je parle ce qu’il s’agit d’obtenir, à savoir l’accouplement. » - Den Terminus lalangue hatte Lacan erstmals einen Monat zuvor verwendet, in der Vortragsreihe Le savoir du psychanalyste im Vortrag vom 4. November 1971; vgl. Ich spreche zu den Wänden, a.a.O., S. 18.– Der Verweis auf Picassos Sentenz „Ich suche nicht, ich finde“ bezieht sich vermutlich darauf, dass der Ausdruck lalangue auf dem Missverständnis eines Hörers beruht; Lacan hatte vom „Lalande“ gesprochen, dem von André Lalande herausgegeben und weitgehend selbst verfassten Standardlexikon der Philosophie (Vocabulaire technique et critique de la philosophie, 1902–1923), das bis heute in aktualisierter Form erhältlich ist; ein Hörer hatte „lalangue“ verstanden und Lacan hatte das sofort aufgegriffen – er hatte nicht gesucht, aber gefunden.
- Le savoir du psychanalyste, Vortrag vom 2. Dezember 1971, meine Übersetzung nach Version Staferla. Vgl. Version Miller/Gondek S. 58–62.
- Le savoir du psychanalyste, Vortrag vom 2. Dezember 1971, meine Übersetzung nach Version Staferla. Vgl. Version Miller/Gondek S. 66.
- Im Tetraeder des Diskurses ist der Platz des Scheins der Platz oben links; im Diskurs des Analytikers findet man hier das Objekt a.
- Der Platz der Wahrheit ist der Platz unten links; im Diskurs des Analytikers gibt es hier S2, das Wissen.
- Le savoir du psychanalyste, Vortrag vom 2. Dezember 1971, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller/Gondek S. 68–71.
- Das Spiel vom Wiesel (jeu de furet) ist ein in Frankreich sehr bekanntes Kinderspiel; hierauf bezieht sich das Kinderlied „il court, il court, le furet“.
- Erläuterung in Version Staferla: Vgl. die reale Mauer der vier Unmöglichkeiten: Inkonsistenz (Diskurs des Herrn), Unvollständigkeit (Diskurs des Herrn), unbeweisbar (Diskurs der Universität), unentscheidbar (Diskurs des Analytikers).
- Le savoir du psychanalyste, Vortrag vom 6. Januar 1972, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller/Gondek S. 97 f.
- J. Lacan: Seminar 20 von 1972/73, Encore, Sitzung vom 21. November 1972, Version Miller/Haas u.a. S. 9.
- Seminar 18 von 1971, Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre, Sitzung vom 20. Januar 1971, Version Miller S. 30 f.