Das gespaltene Subjekt, $
Illustration zu Robert Louis Stevenson, Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (1886)
Das gespaltene Subjekt, $
Das Subjekt, mit dem die Psychoanalyse es zu tun hat, ist, Lacan zufolge, geprägt durch eine refente (eine Spaltung), eine division (eine Teilung oder Spaltung), das Subjekt des Psychoanalyse ist ein sujet divisé (ein gespaltenes Subjekt)1, ein sujet barré (ein versperrtes, ein ausgestrichenes Subjekt). Lacan symbolisiert dieses Subjekt mit einem schräg durchgestrichenen großen S, also mit $ (aus technischen Gründen ist der Strich auf dieser Website senkrecht statt schräg). Was ist damit gemeint?
Natürlich kann man aus der Beobachterperspektive jeden Menschen als sujet divisé bezeichnen, schließlich weiß man ja, mit etwas Wissen in Psychoanalyse, dass er durch das Unbewusste bestimmt wird, also gespalten ist.
Das gespaltene Subjekt ist aber auch ein Subjekt, das nicht nur „an sich“, sondern auch „für sich“ gespalten ist und dass von dieser Gespaltenheitserfahrung aus agiert.
Auf der Ebene der Alltagserfahrung lasssen sich die Ausdrücke sujet divisé oder sujet barré auf das Subjekt beziehen, insofern es die Erfahrung macht, dass das es durch etwas bestimmt wird, das ihm entgeht. Es erfährt sich als zerrissen – es sagt Sätze, die es auf keinen Fall sagen wollte, es tut immer wieder Dinge, die es unbedingt vermeiden wollte, es begehrt etwas, was es verabscheut, es liebt Menschen, die es verachtet, es wird durch etwas sexuell erregt, das ihm zuwider ist – usw. Es reagiert auf verschiedene Weise darauf: es wundert sich darüber, es ärgert sich darüber, es ist ihm peinlich, es macht ihm Angst, es lacht. Und es spricht darüber, in Sätzen wie „Ich weiß nicht, was mit mir los ist“, „Mir ist nicht klar, was mich da umgetrieben hat“, „Manchmal bin ich mir ein Rätsel“, „Warum passiert gerade mir das immer wieder?“ oder „Davon wollte ich nun wirklich nichts wissen“. Das sujet divisé oder sujet barré ist, auf dieser phänomenologischen Ebene, ein Subjekt, das die Erfahrung macht, dass es nicht Herr im eigenen Haus ist.
Das sujet divisé oder barré ist also nicht das Unbewusste. Das Unbewusste ist nicht das Subjekt, sondern (in Lacans Terminologie) der Andere, der Andere-in-uns.
Das Subjekt kann mt seiner Gespaltenheit auf verschiedene Weise umgehen. Es kann sie verdrängen und betont souverän auftreten (und vielleicht masochistische sexuelle Phantasien entwickeln); es kann sie auf einen anderen abschieben („Du weißt ja nicht, was du willst!!“); es kann versuchen, die anderen mit seiner Unberechenbarkeit zu faszinieren; es kann versuchen, die abgesperrte Seite in freier Assoziation zur Sprache zu bringen.
Hier etwas Philologie dazu.
„Refente“ und „division“
Zunächst eine Vorfrage zur Übersetzung. Refente geht auf fendre zurück, was „spalten“, „aufspalten“ bedeutet; refente – ein relativ seltenes Wort – entspricht also am ehesten dem deutschen Wort „Spaltung“. Aber wie übersetzt man division am besten, soll man eher von der „Teilung“ oder doch lieber von der „Spaltung“ des Subjekts sprechen?
Als Quelle für den Terminus division du sujet verweist Lacan immer wieder auf Freuds Aufsatz Die Ichspaltung im Abwehrvorgang (1938/40)2, er übersetzt Freuds „Ichspaltung“ mal mit division du moi3, mal mit refente du moi4. In Lacans Sicht geht es in diesem Text um die Spaltung nicht des Ichs, sondern des Subjekts, um die division du sujet, die wiederum als Spaltung des Objekts artikuliert wird (die Mutter hat einen Phallus / hat keinen Phallus).5 Statt von der refente oder division des Subjekts spricht er deshalb, mit dem deutschen Ausdruck, auch von der „Spaltung du sujet“6. Auch im Ethik-Seminar verwendet er den deutschen Ausdruck:
„Daß der Mensch im Feld des Unbewußten gefangen ist, ist, ursprünglich, fundamental. Dieses Feld, sofern es bereits da logisch organisiert ist, bringt eine Spaltung* mit sich, die sich in der ganzen Folge der Entwicklung behauptet, und das Begehren ist seiner Funktion nach im Verhältnis zu dieser Spaltung* zu artikulieren.“7
Lacan verwendet auch den englischen Terminus splitting – „splitting du sujet“ –, der Freudsche Begriff der Ichspaltung ist mit splitting of the ego ins Englische übersetzt worden.8 Die beste Übersetzung von division du sujet ist also dieselbe wie die von refente du sujet, nämlich „Subjektspaltung“, und das sujet divisé ist wohl eher das „gespaltene Subjekt“ als das „geteilte Subjekt“.
Neben „Spaltung“ verwendet Lacan übrigens ein weiteres deutsches Wort, um das Subjekt zu charakterisieren, er spricht von der „Entzweiung“ des Subjekts, ein Terminus, den er ausdrücklich von Hegel übernimmt.9
Die Ursache der Spaltung
Worin also besteht die Subjektspaltung? In Freudscher Terminologie geht es um die Beziehung zwischen dem Vorbewussten und dem Unbewussten.10 Wie für Freud die Differenz von Vorbewusstem und Unbewusstem hat für Lacan die Subjektspaltung konstitutiven Charakter. Sie ist nichts, was zum Subjekt der Psychoanalyse hinzukommt, vielmehr wird das Subjekt durch die Spaltung erst hervorgebracht.11 Die Subjektspaltung ist notwendig.12 Sie ist unaufhebbar; die Einheit des Subjekts kann auf keine Weise hergestellt werden.13
Lacans Hauptthese zur Subjektspaltung lautet: Die Subjektspaltung wird durch die Sprache hervorgerufen. Sie ist eine durch die Aktion des Signifikanten erzeugte Spaltung14, sie beruht auf der Unterwerfung des Subjekts unter die Sprache15, das Subjekt „ist durch die Wirkung der Sprache gespalten“16. In diesem Sinne ist die Subjektspaltung eine Signifikanten-Spaltung17, nämlich eine durch die Signifikanten hervorgerufene Spaltung. Mit dieser These geht Lacan über Freud hinaus. Wenn er über die Subjektspaltung spricht, zielt er darauf ab, die Freudsche Unterscheidung zwischen dem Vorbewussten und dem Unbewussten auf die Einwirkung der Sprache und des Sprechens zurückzuführen.
Die Subjektspaltung ist aber nicht nur eine Spaltung, die durch das Sprechen hervorgerufen wird, sondern auch eine Spaltung im Sprechen. Diejenigen, die auf der Couch liegen und frei zu assoziieren versuchen, sagen beständig mehr und anderes als sie sagen wollen: sie produzieren Versprecher, sie brechen Sätze unvermittelt ab, sie sagen plötzlich Dinge, die „überhaupt nicht hierher gehören“ – all dies sind Formen, in denen die Subjektspaltung empirisch erscheint. Für den Psychoanalytiker ist die Subjektspaltung ein alltägliches Phänomen, sie „überschwemmt ihn (…) mit ihrer beständigen Manifestation“18. Aber der Patient erinnert nicht nur, er wiederholt auch, in der Wiederholung sprechen gewissermaßen die Symptome, die einen Sinn zugleich verbergen und andeuten. Die Spaltung ist auch die zwischen dem Sprechen im gewöhnlichen Sinne des Wortes und dem „Sprechen“ der Symptome.
Bei Freud sind die beiden Seiten der Spaltung das Vorbewusste und das Unbewusste. Diese Terminologie operiert mit „Bewusstsein“ als Leitbegriff, sie bleibt im Banne der Bewusstseinsphilosophie. Lacan rekonstruiert die Subjektspaltung mit verschiedenen Begriffsoppositionen, die den Bezug auf das Bewusstsein vermeiden.
Das Symbol $ und das „sujet barré“
Das gespaltene Subjekt wird von Lacan durch ein großes S symbolisiert, das schräg durchgestrichen ist, also durch das Zeichen $. Die ausdrückliche Gleichsetzung des Symbols $ mit dem „gespaltenen Subjekt“ findet man zuerst in Seminar 13 von 1965/66, Das Objekt der Psychoanalyse.19
Das Symbol $ wird von Lacan auch noch anders gelesen, nämlich als sujet barré. Das ist sogar die häufigere Lesweise. Das Verb barrer bedeutet „sperren“, „absperrren“, „aussperren“ sowie „streichen“, „ausstreichen“, „durchstreichen“; das sujet barré ist demnach das abgesperrte oder ausgesperrte, das ausgestrichene oder durchgestrichene Subjekt. Wenn man Lacans Subjektbegriff nachvollziehen will, muss man sich fragen, wie das zusammenhängt: die refente du sujet, das Symbol $ und das sujet barré.
Ein durchgestrichenes S findet man zuerst in dem Aufsatz Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, geschrieben Dezember 1957 bis Januar 1958. Hier steht der Buchstabe S jedoch nicht für das Subjekt, sondern für den Signifikanten; mit dem durchgestrichenen S ist in diesem Text ein elidierter Signifikant gemeint.20 Für das Subjekt verwendet Lacan das Symbol $ zuerst in Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten. In der Sitzung vom 26. März 1958 wird das Zeichen vorgestellt und auf das Subjekt bezogen21, in der Sitzung vom 25. Juni 1958 erhält es einen Namen: $ symbolisiert das „sujet barré“, heißt es jetzt.22
Die beste Erläuterung des Zusammenhangs zwischen dem durchgestrichenen Buchstaben S, dem sujet barré und dem sujet divisé habe ich in Seminar 14 gefunden (Die Logik des Phantasmas, 1966/67). Lacan schreibt dort:
„Ich erinnere daran, was das $ bedeutet: Das durchgestrichene S (le S barré) repräsentiert, vertritt in dieser Formel das, worum es bei der Spaltung (division) des Subjekts geht, der Spaltung, die sich am Ursprung der gesamten Freud’schen Entdeckung findet und die darin besteht, dass das Subjekt von dem, wodurch es als Funktion des Unbewussten eigentlich konstituiert wird, teilweise ausgesperrt (barré) ist.“23
Lacan spielt hier mit dem Doppelsinn von barré als einerseits „durchgestrichen“ und andererseits „ausgesperrt“. Der Buchstabe S ist barré im Sinne von „durchgestrichen“ oder „ausgestrichen“. Dieses Symbol steht für das Subjekt, insofern es barré ist, ausgesperrt – das Subjekt ist ausgesperrt von dem, wodurch es konstituiert wird, wobei diese Konsitituierung vom Unbewussten abhängt. Der Doppelsinn von barré - durchgestrichen/ausgesperrt – lässt sich, soweit ich sehe, im Deutschen nicht nachbilden; die beste Übersetzung für sujet barré ist deshalb wohl, leider, „ausgesperrtes Subjekt“.
Freud schreibt in Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten:
„Das Vergessen von Eindrücken, Szenen, Erlebnissen reduziert sich zumeist auf eine ‚Absperrung‘ derselben. Wenn der Patient von diesem ‚Vergessenen‘ spricht, versäumt er selten, hinzuzufügen: das habe ich eigentlich immer gewußt, nur nicht daran gedacht.“24
Das sujet barré ist, so könnte man auch übersetzen, das „abgeperrte Subjekt“.
In Seminar 5 heißt es: Das Subjekt ist
„ausgeperrt oder nicht ausgesperrt (barré ou pas barré), je nach Fall, das heißt je nachdem, ob es durch die Wirkung des Signifikanten markiert ist oder ob wir es einfach als noch unbestimmtes Subjekt betrachten, noch nicht zerteilt durch die Spaltung*, die aus der Aktion des Signifikanten hervorgeht“25.
Der Schrägstrich meint, dass das Subjekt „vom Signifikanten markiert ist“26.
Insgesamt kann man das Symbol $ demnach so lesen: Die Durchstreichung des S symbolisiert, dass das Subjekt vom Signifikanten markiert ist – das S steht für das Subjekt, der Strich für den Signifikanten und die Durchstreichung des S für die Markierung des Subjekts durch den Signifikanten. Die Markierung durch den Signifikanten führt dazu, dass das Subjekt ein sujet barré ist, ein ausgesperrtes oder abgesperrtes Subjekt, ein Subjekt, das keinen Zugang zu einem Teil von sich hat, zu dem Teil, durch den es konstituiert wird, und der von Freud Unbewusstes genannt. Und dies heißt nichts anderes, als dass es ein gespaltenes Subjekt ist, gespalten zwischen dem Teil, zu dem es einen Zugang hat, und dem, von dem es ausgesperrt ist.
Lacan liest das Symbol $ noch auf eine dritte Weise, als „Subjekt im Fading“, womit gemeint ist: „Subjekt im Verschwinden“. So wird das Symbol in dem Aufsatz Die Lenkung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht gedeutet, einem Text, der 1960 geschrieben wurde. Lacan bezieht diese Deutung speziell auf das durchgestrichene S in den Formeln ($ ◊ D) und ($ ◊ a), die zum Graphen des Begehrens gehören und in Seminar 5 und 6 entwickelt wurden.27 Das Subjekt im Verschwinden (im Fading, in der Aphanisis) ist das Subjekt, das damit konfrontiert, dass die Signifikanten, von denen es repräsentiert wird, es letztlich keineswegs repräsentieren.
Spaltung zwischen dem Ausgesagten und dem Äußerungsvorgang (zwischen „énoncé“ und „énonciation“)
Häufig deutet Lacan die beiden Seiten der Subjektspaltung als énonce und als énonciation, als „Ausgesagtes“ und als „Äußerungsvorgang“. In Seminar 7 von 1959/60, Die Ethik der Psychoanalyse, bezieht er diese Opposition ausdrücklich auf die Subjektspaltung.28
Unter dem „Ausgesagten“ (énoncé) versteht er Signifikantenketten, die sich klar erkennbar auf ein Signifikat beziehen, auf einen Gesamtsinn, eine Bedeutung, also das Sprechen im gewöhnlichen Sinne. Wenn ich sage „Gib mir mal die Butter rüber“, ist das insofern etwas „Ausgesagtes“, als ich das mit einem nachvollziehbaren Sinn verbinde, insofern, als ich sage, was ich meine. Ich bekomme in der Regel nicht mit, dass Signifikanten im Spiel sind, ich verstehe unmittelbar die Bedeutung. Und ich verstehe die Bedeutung des Satzes insgesamt, ich zerlege ihn nicht in seine Elemente.
Das Ausgesagte (énoncé) hat häufig die Form des Anspruchs, der Forderung (demande) – „Gib mir mal die Butter rüber“ ist, in lacanscher Terminologie, ein oraler Anspruch.
Der „Äußerungsvorgang“ (énonciation) im Sinne von Lacan, das sind einzelne Signifikanten, in denen sich das Subjekt zum Ausgesagten in Beziehung setzt und einen Abstand dazu herstellt. Das können eingeschobene Wendungen wie „glaube ich“ sein oder auch komplexe Gebilde wie Fehlleistungen, Träume oder Symptome. Die Signifikanten fungieren hier oft im strengen Sinne als Signifikanten im Sinne von Lacan: ihr Sinn ist unzugänglich, und sie sind durch die Mechanismen der Verdichtung und Verschiebung miteinander verbunden (von Metapher und Metonymie, wie Lacan sagt), auf der Grundlage phonetischer Ähnlichkeiten.
Im „Äußerungsvorgang“ artikuliert sich das Begehren.
Eine Verbindung zwischen dem „Ausgesagten“ und dem „Äußerungsvorgang“ ist beispielsweise ein Versprecher, etwa wenn ich unabsichtlich sage „Gib mir mal die Mutter rüber“. Das sinnorientierte Sprechen (das „Ausgesagte“) wird für einen Moment, beim Signifikanten „B“, unterbrochen. Mit der Ersetzung von B durch M schaltet sich ein „Äußerungsvorgang“ ein; in ihm manifestiert sich das verdrängte Begehren.
Mit dem Begriffspaar Ausgesagtes versus Äußerungsvorgang ersetzt Lacan die Freud’sche Unterscheidung von Bewusstem und Unbewussten durch eine Opposition, die sich auf das Sprechen und die Sprache bezieht, die also auch terminologisch die Bindung an die Bewusstseinsphilosophie hinter sich lässt.
Die Unterscheidung von Ausgesagtem und Äußerungsvorgang wird in Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, eingeführt.29
Ein philologisches Rätsel
In Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, führt Lacan nicht einfach die Opposition von „énoncé“ und „énonciation“, er spricht vielmehr wiederholt vom „procès de l’énoncé“ und vom „procès de l’énonciation“, also von „Vorgang des Ausgesagten“ und vom „Vorgang der Äußerung“.30 Das wirft die Frage auf, ob er die Unterscheidung von „énoncé“ und „énonciation“ von Roman Jakobson übernommen hat. Denn in der französischen Übersetzung eines Aufsatzes von Jakobson, der zuerst im Jahr 1957 auf Englisch erschien, findet man dieselbe auffällige Terminologie: „procès de l’énoncé“ und „procès de l’énonciation“. Dort heißt es (die Kursivschreibung ist von Jakobson, die Fettschreibung von mir):
„1) Il faut distinguer entre l’énonciation elle-même (a) et son objet, la matière énoncèe (e) ;
2) il faut distinguer ensuite entre l’acte ou le procès lui-même (C) et l’un quelconque de ses protagonistes (T) ‚agent‘ ou ‚patient‘ (1).
En conséquence, quatre rubriques doivent être distinguées : un événement raconté (narrated event) ou procès de l’énoncé (Ce), un acte de discours ou procès de l’énonciation (Ca), un protagoniste du procès de l’énoncé (Te), et un protagoniste du procès de l’énonciation (Ta), destinateur ou destinataire.“31
Dass Lacan das englische Original gelesen hat, ist sicher, er bezieht sich darauf im Psychose-Aufsatz, der im Dezember 1957 und Januar 1958 geschrieben wurde32, und in Seminar 6 spielt er zweimal auf dieses Aufsatz an33.
Also drängt sich die Vermutung auf, dass Lacan die Opposition von „énoncé“ und „énonciation“ von Jakobson übernommen hat.
Das Problem besteht darin, dass man die Formulierungen „procès de l’énoncé“ und „procès de l’énonciation“ nur in der französischen Übersetzung findet und es im englischen Original hierzu keine Entsprechung gibt und dass diese Übersetzung erst 1963 veröffenticht wurde, also mehrere Jahre nach Seminar 6. In der englischen Fassung heißt die Passage:
„In order to classify the verbal categories, two basic distinctions are to be observed:
1) speech itself (s), and its topic, the narrated matter (n);
2) the event itself (E), and any of its participants (P), whether ‚performer‘ or ‚undergoer‘.
Consequently four items are to be distinguished : a narrated event (En), a speech event (Es), a participant of the narrated event (Pn), and a participant of the speech event (PS), whether addresser or addressee.“34
Da die deutsche Übersetzung auf der englischen Ausgabe beruht, findet man auch dort keine Entsprechung zu énoncé/énonciation. Man liest hier:
„Bei der Klassifikation der Verbkategorien müssen zwei grundlegende Unterscheidungen beachtet werden:
1) die Rede selbst (r) und ihr Gegenstand, die Materie des Berichtes (b);
2) das Geschehen selbst (G) und jeder der an ihm Beteiligten (B), sei es der ‚Agens‘ oder der ‚Patiens‘.
Folglich gilt es vier Fälle zu unterscheiden: ein berichtetes Geschehen (Gb), einen Sprechakt (Gr), einen Beteiligten am berichteten Geschehen (Bb) und einen Beteiligten am Sprechakt (Br), sei es der Sprecher oder der Angesprochene.„35
Das Paar procès de l’énoncè und procès de l’énonciation ist also eine Hinzufügung in der französischen Übersetzung. Wie kommt es, dass Lacan einige Jahre zuvor genau diese Formulierung verwendet? Zufall? Unwahrscheinlich. Kannte Lacan eine frühe Fassung von Ruwets Übersetzung? Kannte Ruwet Lacans Seminar? Stammt der Zusatz „procès de l’énoncé“ und „procès de l’énonciation“ in der französischen Übersetzung von Jakobson selbst (Ruwet teilt mit, dass er mit Jakobson über Übersetzungsfragen kommuniziert hatte und dass dieser die fertige Übersetzung durchgesehen hatte)? Hatte Jakobson diese Formulierung zunächst im Gespräch mit Lacan verwendet und später in der Bearbeitung von Ruwets Übersetzung?
Nebenbei: Ènoncé übersetzt Jakobsons narrated event, erzähltes Ereignis. Das spricht dafür, dass es besser ist, énoncé mit „Ausgesagtes“ zu übersetzen als mit „Aussage“.
Ausgesagtes und Äußerung im Graphen
In Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, wird das Begriffspaar énoncé und énonciation nicht nur eingeführt, sondern auch dem sogenannten Graphen des Begehrens zugeordnet.
„Wir sind also bei was angekommen? Bei der Auffassung, dass die eine dieser beiden Linien das repräsentiert, was sich auf den Vorgang der Äußerung (procès de l’énonciation) bezieht, die andere das, was sich auf den Vorgang des Ausgesagten (procès de l’énoncé) bezieht. Dass es zwei sind, das heißt nicht, dass jede eine Funktion repräsentiert, das heißt, dass wir jedesmal, wenn es sich um die Funktionen der Sprache handelt, diese Duplizität wiederfinden müssen. Sagen wir auch noch, dass es nicht nur zwei sind, sondern dass sie immer entgegengesetzte Strukturierungen haben werden, beispielsweise wenn die eine diskontinuierlich ist, ist die andere kontinuierlich, und umgekehrt.“36
„Énonciation“ und „ènoncé“ werden zwei Linien zuordnet. Welche Linien sind gemeint? Das klärt, etwas später in derselben Sitzung, die folgende Bemerkung über die Paradoxie der Zensur (die darin besteht, dass das Sprechverbot das Verbotene aussprechen muss, Freud hatte irgendwo darauf hingewiesen):
„Aber die Zensur ist nicht etwas, was, wie auch immer sie ausgeübt wird, durch einen Federstrich aufrechterhalten werden könnte, da hierbei der Äußerungsvorgang angezielt wird und da, um ihn zu verhindern, eine gewisse Vorkenntnis des Vorgangs des Ausgesagten notwendig ist, und da jeder Diskurs, der dazu bestimmt ist, diese Aussage aus dem Vorgang des Ausgesagten zu verbannen, mehr oder weniger in flagranti dabei ertappt werden wird, wie er dieses Ziel verletzt. Es ist die Matrix dieser Unmöglichkeit, die auf dieser Ebene – und sie wird Ihnen noch weitere Matrizen liefern – durch unseren Graphen geliefert wird.“37
„Unser Graph“, das ist Lacans übliche Bezeichnung für das Gebilde, das in der Sekundärliteratur „Graph des Begehrens“ heißt. Der Graph ermöglicht es, eine Unmöglichkeit zwischen dem Vorgang des Ausgesagten (der verbotenen Aussage) und dem Vorgang der Äußerung (dem Aussprechen des Verbots) zu erfassen. Demnach sind die beiden Linien, die den Vorgang des Ausgesagten und dem Vorgang der Äußerung repräsentieren, sicherlich Linien des Graphen. Welche beiden Linien? Das erfährt man in einer späteren Sitzung dieses Seminars. Dort heißt es über einen bestimmten Traum:
„Dieser Traum wird uns als ein Ganzes gegeben. Das ist dieses Ausgesagte (énoncé), das sich, wenn ich so sagen darf, auf der unteren Ebene des Graphen herstellt.
Das ist eine Signifikantenkette, die sich in einer Form darstellt, die umso globaler ist, als sie geschlossen ist, als sie sich genau in der üblichen Form der Sprache darstellt, als sie etwas ist, worüber das Subjekt einen Bericht machen muss, eine Äußerung (énonciation), im Verhältnis zu der es sich verorten muss, etwas, das es mit all seinen Akzenten an Sie weitergeben muss, wobei es dem, was es Ihnen erzählt, mehr oder weniger zustimmen muss. Das heißt, dass sich insgesamt auf der Ebene des Diskurses für den Anderen, der auch der Diskurs ist, wo das Subjekt ihn, diesen Traum, annimmt (assume), dass sich hier insgesamt etwas herstellt, was den Traum begleitet und ihn in gewisser Weise kommentiert, von der Position aus, die vom Subjekt mehr oder weniger angenommen wird. Das heißt, dass es sich hier, während der Erzählung dessen, was geschehen ist, in dessen Innerem als das Ausgesagte des Traums darstellt.
Hier, in dem Diskurs, in dem das Subjekt das annimmt, für Sie, dem es das erzählt, werden wir sehen, wie sich die verschiedenen Elemente herstellen, die verschiedenen Akzentuierungen, die sich immer auf die mehr oder weniger starke Annahme (assomption) durch das Subjekt beziehen. „Es scheint mir, ich hatte den Eindruck, dass das in diesem Augenblick passiert ist.“ „In diesem Augenblick lief es so ab, als ob dieses Subjekt zugleich ein anderes wäre oder sich in ein anderes verwandelte.“38 Das ist das, was ich eben seine Akzente genannt habe.
Diese unterschiedlichen Arten der Annahme des Traumerlebnisses sind hier auf derjenigen Linie verortet, die die des ‚Ichs‘ (Je) der Äußerung ist, insofern als es, bezogen auf dieses psychischen Ereignis, insofern es dies in seine Äußerung mehr oder weniger aufnimmt.“39
Der erzählte Traum als Ganzer ist das Ausgesagte. Dieses Ausgesagte wird einer Signifikantenkette im unteren Stockwerk des Graphen zugeordnet, derjenigen Linie, die in der Endfassung des Graphen von „Signifikant“ nach „Stimme“ führt.
Die sprachlichen Elemente, in denen der Traumerzähler sein Verhältnis zum Traum bekundet – „es scheint mir“, „ich hatte den Eindruck“ –, gehören zur Ebene der Äußerung.
Im Graphen werden sie der Linie des „Ichs“ (Je) der Äußerung zugeordnet; dies ist die obere, quer von links nach rechts verlaufende Linie. In Millers Version des Seminars findet man zu dieser Sitzung das Diagramm rechts.40, in der Endfassung des Graphen im Aufsatz Subversion des Subjekts ist dies die Linie, die von „Genießen“ nach „Kastration“ führt.
In der Staferla-Version von Seminar 6 findet man deshalb an dieser Stelle das folgende Diagramm des Graphen, in dem die untere Signifikantenlinie mit „énoncé“ bezeichnet ist und die obere mit „énonciation“.
Topologie der Subjektspaltung: das Möbiusband
Topologisch wird die Spaltung des Subjekts von Lacan durch das Möbiusband dargestellt. Als Repräsentant des Subjekts wird es in Seminar 9 eingeführt41; der ausdrückliche Bezug des Möbiusbandes zur „Entzweiung“ des Subjekts wird zuerst in Seminar 12 hergestellt.42
Das Bewusste und das Unbewusste verhalten sich zueinander wie die beiden Seiten eines Möbiusbandes: man gelangt vom einen zum anderen, ohne ein Rand zu überqueren.
Weitere Formen der Subjektspaltung
Spaltung zwischen dem Ich und dem Symptom
Das Symptom, so heißt es in Die Familie (1938), wurde von Freud anfänglich als ein Teil der Erinnerung verstanden, der verdrängt wurde und im Symptom zum Ausdruck kommt; wenn die Bedeutung des Symptoms dem Patienten mitgeteilt wird, weicht das Symptom. Die spätere Erfahrung zeigte, dass es komplizierter ist: das Subjekt setzt der Erhellung des Symptoms Widerstand entgegen und eine entscheidende Kraft bei der Behandlung ist die affektive Übertragung.
„Aus dieser Etappe ist indessen die Vorstellung geblieben, daß das neurotische Symptom im Subjekt einen Augenblick seiner Erfahrung darstellt, in dem es sich nicht zu erkennen vermag, eine Form also der Persönlichkeitsspaltung.“43
Den Begriff der Persönlichkeit wird Lacan später zurückweisen, aus der Spaltung der Persönlichkeit wird die des Subjekts. Die Persönlichkeitsspaltung bzw. die Subjektspaltung ist die zwischen dem Ich und dem Symptom.
Spaltung zwischen dem Anspruch und dem Begehren
Das Subjekt steht in einer ambivalenten Beziehung zum Anspruch, zu den Forderungen des Anderen44, zu den Wünschen der Eltern. Es identifiziert sich mit diesen Ansprüchen und bildet daraus seine Ideale, zugleich versucht es jedoch, sein Begehren jenseits dieser Ansprüche zu realisieren, jenseits der Identifizierung. Eine elementare Manifestation dieser Spaltung wäre beispielsweise: „Ich will das da – nein doch lieber was andres.“ Die Opposition von Anspruch und Begehren wird von Lacan zuerst entwickelt in Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten.45
Eine räumliche Darstellung des Verhältnisses von Anspruch und Begehren liefert der Graf des Begehrens46, in dem die Linie des Begehrens zwischen den beiden Linien des Anspruchs aufgehängt ist.47
Eine Form der Spaltung zwischen Anspruch und Begehren ist die zwischen dem Gesetz und dem Begehren.
Spaltung zwischen der Identifizierung mit dem einzigen Zug (1) und dem gesuchten Subjekt (i)
In Seminar 9 erläutert Lacan die Subjektspaltung anhand von Descartes‘ Cogito. Dem „ich denke“ entspricht die Identifizierung, dem „also bin ich“ entspricht das Subjekt als gesuchtes Signifikat. Lacan stellt hier die Identifizierung außerdem durch die Zahl 1 dar, das gesuchte Subjekt durch den Buchstaben i als Symbol für die imaginäre Zahl also . Die Spaltung des Subjekts ist also die zwischen dem „ich denke“ und dem „ich bin“, zwischen 1 und i. (Vgl. Seminar 9, Sitzung vom 10. Januar 1965, und den Blogartikel Lacan über den Eigennamen (I): Seminar 9.)
In Seminar 18 artikuliert Lacan diesen Gedanken ausgehend vom Begriff der Intersubjektivität. Das lateinische Wort inter meint „zwischen“, die Intersubjektivität ist die Beziehung zwischen Subjekten. Lacan hatte den Begriff anfangs verwendet und später kritisiert.
„Inter, sicher, das ist tatsächlich das, was ich erst später äußern konnte über eine Intersignifikanz, die dann in der Folge subjektiviert wird, wobei der Signifikant das ist, was für einen anderen Signifikanten ein Subjekt dort repräsentiert, wo es nicht ist. Wo es repräsentiert wird, ist das Subjekt abwesend. Und eben deshalb, weil es gleichwohl repräsentiert wird, ist es auf diese Weise gespalten.„48
Das Subjekt ist gespalten zwischen,
– einerseits dem Signifikanten, der es für einen anderen Signifikanten repräsentiert, allerdings dort, wo es nicht ist, diese Signifikantenbeziehung wird vom Subjekt sekundär subjektiviert,
– und, andererseits, dem, was in dieser Repräsentationsbeziehung abwesend ist, was in ihr nicht repräsentiert wird.
Das Subjekt wird durch einen Signifikanten repräsentiert, in dem es abwesend ist: dies ist die Identifizierung. Es gibt etwas, was in dieser Repräsentation nicht repräsentiert wird: das Begehren.
Das nicht-repräsentierte Begehren wird selbst wiederum repräsentiert, durch das Objekt a als dem Rest, also als das, was nicht repräsentiert wird. Das Subjekt ist also gespalten zwischen
– dem Mangel auf der einen Seite, dem Subjekt als Leere, als Mangel, als Kluft, als Loch (dem Begehren),
und zwei heterogenen Repräsentationsformen:
– dem Signifikanten, der sich auf andere Signifikanten bezieht (der Identifizierung)
– und dem Objekt a (im Phantasma).
Hieraus ergibt sich die viergliedrige Struktur, mit der Lacan in Seminar 17 bei der Konstruktion der Diskurse arbeitet: $, S1, S2, a.
Spaltung zwischen dem Auge und dem Blick
Die Spaltung des Subjekts, so heißt es in Seminar 11 von 1964, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, ist die charakteristische Dimension der analytischen Entdeckung und Praxis.49
„Auge und Blick, dies ist für uns die Spaltung, in der sich der Trieb auf der Ebene des Sehfeldes manifestiert.“50
„Auge“ steht für das geometrale Sehen, das Sehen als Beziehung im Raum. „Blick“ meint das Sehen unter dem Aspekt nicht des Raums, sondern des Lichts. Diese beiden Ebenen des Sehens verhalten sich zueinander wie Schein und Sein.51
Auf der Ebene des geometralen Sehens ist das Subjekt der Geometralpunkt“52, auch „Subjekt der Vorstellung“53 genannt, nämlich das Zentrum des räumlichen Sehens. Von ihm aus ordnet sich das Feld des Sehens in Bild (image) und Objekt, in Phainomenon und Noumenon, in Erscheinung und Ding an sich.54
Auf der Ebene des Sehens als Licht ist das Subjekt dem von außen kommenden Blick ausgesetzt. Der Blick ist der böse Blick, der neidische Blick; er symbolisiert die Kastration und ist damit ein Objekt a.55 Durch den Blick tritt das Subjekt ins Licht, vom Blick aus gesehen, ist das Subjekt im Bild (tableau). Um den Blick zu „zähmen“, um ihn zu befrieden, gibt es ihm etwas zu sehen: es macht sich zum Fleck (tâche) im Bild, zum Schirm (écran), zur Maske, mit der es spielt.
Im Feld des Sehens hat die Subjektspaltung also die Form der Spaltung zwischen dem geometralen Subjekt und dem Subjekt als Fleck im Bild.
Spaltung zwischen dem unären und dem binären Signifikanten
Im selben Seminar heißt es:.
„Diese Vorstellungsrepräsentanz* läßt sich auf unserem Schema der Ursprungsmechanismen der Alienation in jener ersten Signifikantenkoppelung lokalisieren, die uns einen Begriff davon geben kann, wie das Subjekt zuerst im Andern auftaucht, sofern nämlich der erste Signifikant, der einzelne Signifikant / le signifiant unaire, auf dem Feld des Andern auftaucht und das Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert, der wiederum die Aphanisis des Subjekts bewirkt.“56
Das Subjekt wird durch den unären Signifikanten für einen anderen Signifikanten repräsentiert. Der andere Signifikant, „binärer Signifikant“ genannt, bewirkt die aphanisis des Subjekts, sein Verschwinden.
Lacan fährt fort:
„Daher die Spaltung des Subjekts – wenn das Subjekt irgendwo als Sinn auftaucht, manifestiert es sich anderswo als fading, als ein Schwinden.“57
Der unäre Signifikant repräsentiert das Subjekt meint also: Der unäre Signifikant sorgt dafür, dass das Subjekt als Sinn auftaucht.
Der nächste Satz lautet:
„Man kann also sagen, daß es auf Leben und Tod geht zwischen dem signifiant unaire / dem unären Signifikanten und dem Subjekt als signifiant binaire / binären Signifikanten, der Ursache für sein Schwinden. Die Vorstellungsrepräsentanz ist der binäre Signifikant.
Dieser Signifikant bildet dann den zentralen Punkt der Urverdrängung* – mithin dessen, was, nachdem es ins Unbewußte übergegangen, jetzt, der Theorie Freud zufolge, jenen Anziehungs*punkt ausmacht, durch den alle weiteren Verdrängungen ermöglicht werden, alle weiteren ähnlichen Übergänge an den Ort der Unterdrückung*, den Ort dessen, was als Signifikant unter den Tisch fällt. Darum geht es bei dem Terminus Vorstellungsrepräsentanz*.“58
Der binäre Signifikant, als Ursache für das Verschwinden des Subjekts, ist
– die Vorstellungsrepräsentanz,
– der zentrale Punkt der Urverdrängung, vereinfacht gesagt: der urverdrängte Signifikant, das Urverdrängte.
In Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung, führt Lacan den symbolischen Phallus als binären Signifikanten ein, als Plus-Minus-Zeichen gewissermaßen; dem Vortrag Die Bedeutung des Phallus kann man entnehmen, dass der Phallus der Signifikant der Urverdrängung ist. Der binäre Signifikant als Kern der Urverdrängung ist also der symbolische Phallus. Vgl. hierzu in diesem Blog den Artikel „Ein Signifikant ist, was für einen anderen Signifikanten das Subjekt repräsentiert.“
Die Spaltung zwischen dem unären und dem binären Signifikanten ist eine Spaltung des Unbewussten. Das Unbewusste entsteht durch Verdrängung, und für Freud gibt es zwei Formen der Verdrängung: die Urverdrängung und die sekundäre Verdrängung. Das, was urverdrängt ist, kann durch das Verfahren der freien Assoziation nicht in Erinnerung gerufen werden, es dient als Anziehungspunkt für die sekundäre Verdrängung, die ein „Nachdrängen“ ist, wie Freud sagt.59
Spaltung zwischen dem Sinn und dem Nicht-Sinn („Entfremdung“)
In Seminar 11 bezeichnet Lacan die Spaltung des Subjekts als „Entfremdung“ (aliénation). Die beiden Seiten der Spaltung sind hier der Sinn und das Symptom, insofern es durch „Nicht-Sinn“ bestimmt ist, durch Signifikanten ohne Sinn. Die Spaltung ist also die zwischen zwei Signifikantenfunktionen: zwischen dem Signifikanten, insofern er einen Sinneffekt erzeugt, und dem Signifikanten, insofern er jenseits des Sinns funktioniert.60 In Seminar 17 wird er diese beiden Funktionen des Signifikanten als „Herrensignifikant“ und „Wissen“ bezeichnen. Der Herrensignifikant erzeugt den Sinn, indem er ein letztes Wort liefert, einen „Polsterstich“ oder „Stepppunkt“, wie es in Seminar 3 geheißen hatte; das „Wissen“ – das Unbewusste – dient dem „Genießen“, in Freuds Terminologie: der Triebbefriedigung.
Spaltung zwischen dem Wissen und der Wahrheit
Descartes‘ Argumentation in den Meditationen über die erste Philosophie läuft – Lacan zufolge – hinaus auf die Spaltung zwischen Wissen und Wahrheit. Mit Wissen ist die Wissenschaft gemeint, mit Wahrheit die Garantie letzter Wahrheiten; Descartes überlässt die Wahrheitsgarantie Gott und sorgt damit dafür, so Lacan, dass die Wissenschaftler arbeiten können, ohne sich um letzte Wahrheiten kümmern zu müssen. Diese Spaltung konstituiert das Subjekt der Wissenschaft und entfesselt die Produktivität der modernen Wissenschaften.61
Die aus der Wissenschaft ausgeschlossene Wahrheitsfrage kehrt jedoch wieder, wie alles Verdrängte, und zwar im Symptom. Insofern ist das Subjekt, mit dem die Psychoanalyse es zu tun hat, das Subjekt der Wissenschaft. Das Subjekt sagt mehr, als es über sich weiß, es sagt Dinge, in denen sich seine Wahrheit manifestiert, sein Unbewusstes. Lacan entwickelt diese Thesen vor allem in Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse.62
Bezogen auf das Feld der Psychoanalyse ist die Spaltung in Wissen und Wahrheit die in das kohärente Sprechen, das unter dem Kommando des Ich-Ideals steht, und das inkohärente Sprechen (etwa in Gestalt eines Versprechers), in dem ein verdrängter Signifikant zur Sprache kommt und eine verborgene Wahrheit entborgen wird.
Verwandte Beiträge
- Das Subjekt als Fehlen eines Signifikanten
- Das Verschwinden des Subjekts: Fading, Aphanisis
- Das Subjekt im Schiebepuzzle
Anmerkungen
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In den Écrits findet sich die Formulierung sujet divisé nur einmal, in Die Bedeutung des Phallus (Écrits 1966, S. 693; Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 129, dort mit „gespaltenes Subjekt“ übersetzt). In den Autres écrits erscheint sie drei Mal, darunter in Radiophonie (Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 436; dt.: Radiophonie. Television. Quadriga, Weinheim u.a. 1988, S 39, was dort mit „geteiltes Subjekt“ übersetzt wird). In den Seminaren verwendet Lacan die Wortfolge sujet divisé erstmals in Seminar 12.
Die Wendung division du sujet ist in den Schriften etwas häufiger, in den Écrits findet man sie etwa in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens (Écrits, S. 825; Schriften II, S. 202, dort mit „Teilung des Subjekts“ übersetzt) sowie in Die Stellung des Unbewussten (Écrits, S. 840; Schriften II, S. 219, auch hier „Teilung des Subjekts“), in den Autres écrits erscheint die Wortfolge beispielsweise in Radiophonie (Autres écrits, S. 413; Radiophonie, a.a.O., S. 16). In den Seminaren spricht Lacan von Anfang an über die division, auf die genaue Wortfolge division du sujet stößt man jedoch erstmals in Seminar 11 (Version Miller, S. 199; in Version Miller/Haas mit „Teilung des Subjekts“ übersetzt, S. 229).
In den Écrits findet man die Rede von der refente des Subjekts in fast allen klassischen Lacan-Aufsätzen: Die Ausrichtung der Kur, Die Bedeutung des Phallus, Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens, Die Position des Unbewussten, Die Wissenschaft und die Wahrheit; die Rede von der refente des Subjekts ist in den Écrits also weitaus häufiger als die von seiner division. In den Seminaren ist es umgekehrt hier ist refente selten (man findet es etwa in Seminar 6, Version Miller, S. 544). Lacan verwendet den im Französischen selteneren Ausdruck refente also vor allem in der Schriftsprache, den gewöhnlichen Ausdruck division vor allem in der gesprochenen Sprache.
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Vgl. S. Freud: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 389–394. Lacan bezieht sich auf diese Arbeit zuerst in Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 278.
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Vgl. „La Division, ou l’Éclatement, du moi“, Seminar 5, Version Miller, S. 235 oder auch Version Miller/Gondek, S. 278 – in der deutschen Übersetzung findet man an dieser Stelle Lacans Übersetzung ins Französische.
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Vgl. Seminar 13, Sitzung vom 1. Dezember 1965. Lacan bezieht sich für Freuds Begriff der Ichspaltung an dieser Stelle außerdem auf dessen Aufsätze Fetischismus von 1927 (Studienausgabe, Bd. 3, a.a.O., S. 379–388) sowie Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose von 1924 (Studienausgabe, Bd. 3, S. 355–361).
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Seminar 8, Version Miller/Gondek, S. 394.
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„Die vorgebliche Aussetzung der Widerspruchsfreiheit auf der Ebene des Unbewussten ist einfach cette fondamentale splitting du sujet, dieses grundlegende splitting des Subjekts“, Seminar 13, Sitzung vom 23. März 1966, meine Übersetzung.
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Von der „Entzweiung“ des Subjekts spricht Lacan vor allem in Seminar 12, zuerst in der Sitzung vom 9. Juni 1965.
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So spricht Lacan beispielsweise von „der Schize, der Entzweiung, der radikalen Spaltung, in der sich das Subjekt konstituiert“, Seminar 13, Sitzung vom 9. Februar 1966, meine Übersetzung.
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Das Subjekt ist notwendigerweise gespalten: Seminar 13, Sitzung vom 5. Januar 1966.
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In Seminar 10 spricht Lacan vom „gespaltenen Subjekt als der unmöglichen Vereinigung“ (Version Miller/Gondek, S. 385, Übersetzung geändert).
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Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 518.
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Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 197, Übersetzung geändert.
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Und nicht etwa eine „signifikante Spaltung“, wie Creusot, Haas und Weber in Schriften II, S. 129, übersetzen. Vgl. hierzu in diesem Blog den Beitrag Die Signifikantenkette – eine signifikante Kette?
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Die Wissenschaft und die Wahrheit, in: Schriften II, S. 233
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Vgl. Seminar 13, Sitzungen vom 23. März und vom 4. Mai 1966.
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Seminar 5, Version Miller, S. 475; Version Miller/Gondek, S. 559.
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Seminar 14, Sitzung vom 16. November 1966, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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S. Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1914). In: Ders.: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 10, Werke aus den Jahren 1913-1917. Imago, London 1949, S. 125–136, hier: S. 127 f.
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Seminar 5, Die Bildungen des Unbewussten, Sitzung vom 11. Juni 1958; Version Miller/Gondek, S. 518, Übersetzung geändert nach Version Staferla.
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Vgl. Seminar 6, Das Begehren und seine Deutung, Sitzung vom 19. November 1958; Version Miller, S. 48 (bezogen auf $ in der Formel für das Phantasma, $ ◊ a), meine Übersetzung.
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Vgl. J.L.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 72-145, hier: S. 132 Fn. 16.
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Vgl. Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 364.
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Die Opposition von Ausgesagtem und Äußerungsvorgang wird eingeführt in Seminar 6, in der Sitzung vom 3. Dezember 1958.
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Seminar 6, Sitzung vom 3. Dezember 1958, Version Miller S. 93, 95 f.; Sitzung vom 10. Dezember 1958, Version Miller S. 106.
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Roman Jakobson: Les embrayeurs, les catégories verbales et le verbe russe. In: Ders.: Essais de linguistique générale. Übersetzt aus dem Englischen von Nicolas Ruwet. Minuit, Paris 1963, S. 176–196, hier: S. 181, im Internet hier.
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Vgl. J.L.: Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht. In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständige Übersetzung. Turia und Kant, Wien 2015, S. 9–72, hier: S. 14.
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Vgl. die Hinweise auf den linguistischen Fachbegriff shifter in Seminar 6, Sitzung vom 19. November 1958, Version Miller S. 45; Sitzung vom 13. Mai 1959, Version Miller S. 436.
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Roman Jakobson: Shifters, verbal categories, and the Russian verb (1957). In: Ders.: Selected Writings. Vol. II. Word and Language. Mouton: The Hague: Mouton 1971, S. 130-147, hier: S. 133 (im Internet hier).
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Roman Jakobson: Verschieber, Verbkategorien und das russische Verb. In: Ders.: Form und Sinn. Sprachwissenschaftliche Betrachtungen. Fink, München 1974, S. 35–54, hier: S. 39; im Internet hier.
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Seminar 6, Sitzung vom 3. Dezember 1958, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller, S. 93.
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Seminar 6, Sitzung vom 3. Dezember 1958, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller, S. 95.
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In Millers Version hat dieser Satz keine Anführungszeichen, d.h. Miller deutet ihn als Lacans Kommentar, dass sich das Subjekt durch die „Akzente“ wie „mir scheint“ usw. in ein anderes verwandelt.
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Seminar 6, Sitzung vom 14. Januar 1959, meine Übersetzung nach Version Staferla; vgl. Version Miller, S. 167 f.
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Seminar 6, Sitzung vom 14. Januar 1959, Version Miller, S. 163.
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Sitzung vom 9. Juni 1965. Der Begriff wird mehrfach aufgegriffen in Seminar 13.
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Die Familie, Schriften III, hg. v. N. Haas, S. 86.
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Der Graf des Begehrens wird entwickelt in den Seminaren 5 und 6 sowie in dem Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 402, Schriften II, S. 193.
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Die untere Signifikantenlinie steht für den bewussten Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung, sie führt von „Signifikant“ nach „Stimme“; die obere Signifikantenlinie steht für den unbewussten Liebesanspruchs, sie verläuft von „Genießen“ nach „Kastration (vgl. hierzu in diesem Blog den Artikel Die von „Genießen“ nach „Kastration“ führende Linie.). Zwischen diesen beiden Linien ist, in entgegengesetzter Richtung verlaufend, die Linie des Begehrens aufgehängt, gekennzeichnet durch d für désir, Begehren. Sie führt vom Schnittpunkt oben rechts, $◊D, nach unten und über $◊a, das Phantasma, zum Schnittpunkt oben links, S(Ⱥ).
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Seminar 18, Sitzung vom 13. Januar 1971, Version Miller, S. 10.
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Vgl. Seminar 11, Sitzungen vom 9. Februar bis zum 11. März 1964.
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Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 112) und „geometrales Subjekt“[1. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 112 f.
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Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 229 f., mit einem Sternchen versehene Ausdrücke im Original deutsch. Übersetzung geändert; der Ausdruck „unaire“ meint nicht „einzig“ (wie Haas übersetzt), sondern „einzeln“; „einzig“ wäre unique.
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Freud:
„Wir haben also Grund, eine Urverdrängung anzunehmen, eine erste Phase der Verdrängung, die darin besteht, daß der psychischen (Vorstellungs-)Repräsentanz des Triebes die Übernahme ins Bewußte versagt wird. Mit dieser ist eine Fixierung gegeben; die betreffende Repräsentanz bleibt von da an unveränderlich bestehen und der Trieb an sie gebunden. (…) Die zweite Stufe der Verdrängung, die eigentliche Verdrängung, betrifft psychische Abkömmlinge der verdrängten Repräsentanz oder solche Gedankenzüge, die, anderswoher stammend, in assoziative Beziehung zu ihr geraten sind. Wegen dieser Beziehung erfahren diese Vorstellungen dasselbe Schicksal wie das Urverdrängte. Die eigentliche Verdrängung ist also ein Nachdrängen.“
(S. Freud: Die Verdrängung (1915). In: Ders.: Studienausgabe Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 109, Einfügung in runden Klammern von Freud)
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Vgl. Seminar 11, vor allem Sitzung vom 27. Mai 1964; Die Stellung des Unbewussten (Vortrag von 1960, überarbeitet 1964, veröffentlicht 1966), Schriften III, hg. v. N. Haas, S. 205-230, hier: S. 218-221.
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Vgl. Seminar 11, Sitzung vom 29. Januar 1964; Version Miller/Haas, S. 42 f.
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Vgl. v.a. die Sitzungen vom 19. Mai 1965, 9. Juni 1965 und 16. Juni 1965.