Lacans Topologie
Die Kreuzhaube und die Struktur des Phantasmas
Jos Leys: Moebius strip and cross-cap.
Zweite Version dieses Artikels. Die erste Version erschien am 2. März 2013.
Unter einer Kreuzhaube versteht Lacan eine einseitige Fläche, die von Topologen als „mit Kreuzhaube versehene Sphäre“ bezeichnet wird; sie entsteht durch Immersion einer projektiven Ebene in den dreidimensionalen Raum. Bringt man in dieser Fläche einen bestimmten geschlossenen Schnitt an, einen Schnitt in Form einer Innenacht, zerfällt sie in ein einseitiges Möbiusband und eine zweiseitige Scheibe. Die Beziehung zwischen dem Möbiusband, dem Innenacht-Schnitt und der Scheibe entspricht, Lacan zufolge, der Struktur des Phantasmas, das heißt dem Verhältnis zwischen dem gespaltenen Subjekt ($), dem Schnitt qua Signifikantenwiederholung (◊), und dem Objekt a (a) und damit der Formel des Phantasmas, $ ◊ a.
Hilfreich zum Verständnis von Lacans Adaption der Kreuzhaube waren für mich Arbeiten zur Lacan’schen Topologie von Jorge Chapuis1, Marc Darmon2, Christian Fierens3, Jeanne Granon-Lafont4, Juan-David Nasio5, Jacques Siboni6 und Jean-Michel Vappereau7. Im Folgenden fasse ich zusammen, was ich daraus über die Kreuzhaube gelernt habe.
Eingeführt wird die Kreuzhaube (bzw. die projektive Ebene) von Lacan in Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62).8 Danach bezieht er sich auf diese Fläche in den Seminaren 10 bis 14 und 16.9 In den Schriften findet man einen Hinweis auf die Kreuzhaube (bzw. auf die projektive Ebene) in Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, dort in einer Fußnote, die 1966 hinzugefügt wurde.10 In den Autres écrits erscheint die Kreuzhaube bzw. die projektive Ebene im Vorschlag vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der École11, in Radiophonie (1970)12 sowie, besonders ausführlich, in L’étourdit (1972)13.
Einen guten knappen Überblick über die Lacan’sche Topologie insgesamt gibt Erik Porge in Artikeln, die ich auf dieser Internetseite übersetzt habe: Der topologische Raum, Das Qualitative (de)chiffrieren und Schnitte.
Die Kreuzhaube und die Struktur des Phantasmas
Ein räumlicher Apparat
Wie funktioniert der seelische Apparat? In einem Aufsatz über die Laienanalyse erläutert Freud das einem fiktiven Gesprächspartner so:
„Wir werden den stofflichen Gesichtspunkt überhaupt beiseite lassen, den räumlichen aber nicht. Wir stellen uns den unbekannten Apparat, der den seelischen Verrichtungen dient, nämlich wirklich wie ein Instrument vor, aus mehreren Teilen aufgebaut – die wir Instanzen heißen –, die ein jeder eine besondere Funktion versehen und die eine feste räumliche Beziehung zueinander haben. d.h., die räumliche Beziehung, das ‚vor‘ und das ‚hinter‘, ‚oberflächlich‘ und ‚tief‘, hat für uns zunächst nur den Sinn einer Darstellung der regelmäßigen Aufeinanderfolge der Funktionen. Bin ich noch verständlich?“14
Um den Dialog kurz zu unterbrechen: Was wird aus dem Seelenbegriff? Ein räumlicher Apparat.
Freuds lässt seinen Gesprächspartner antworten:
„Kaum, vielleicht verstehe ich es später, aber jedenfalls ist das eine sonderbare Anatomie der Seele, die es bei den Naturforschern doch gar nicht mehr gibt.“
Freuds Addressat hört vor allem die alte Seele heraus, er interessiert sich nicht für die Raumfrage und nicht dafür, dass dieser Raum sich bei Freud nicht auf einen Punkt reduziert, sondern gegliedert ist.
Freud erwidert:
„Was wollen Sie, es ist eine Hilfsvorstellung, wie so viele in den Wissenschaften. Die allerersten sind immer ziemlich roh gewesen. Open to revision, kann man in solchen Fällen sagen.“15
Das lässt sich auch über Freuds räumliche Hilfsvorstellung sagen: sie ist ziemlich roh.
Der seelische Apparat besteht, wie Freud seinem Gesprächspartner erläutert, aus dem Es und dem Ich; das Es ist das eigentlich Seelische und das Ich ist die durch den Einfluss der Außenwelt modifzierte Oberfläche des Es; das Ich bildet die Fassade, das Es ist das Tiefere.16
Wenn man Lacans topologischen Exkursionen ein wenig gefolgt ist, sieht man die Rohheit von Freuds Raumvorstellung ohne Schwierigkeiten. Freud begreift den räumlichen Apparat als eine Art Kugel, deren Oberfläche einen Innen-Außen-Gegensatz erzeugt. Diese Bindung an die Kugelform ist naiv, für Freud gibt es keine Alternativen.
Lacan sieht in Freuds Ballistik, wenn ich so sagen darf, ein Hindernis für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse. Die Kugelorientierung beruht, von Lacan aus gesehen, auf der Bindung an die wahrgenommene Oberfläche des menschlichen Körpers und steht damit im Banne des Imaginären. Warum sollte die Räumlichkeit des psychischen Apparats dieselbe Struktur haben wie unser eigener Körper, wenn wir ihn im Spiegelbild wahrnehmen?
Asphären
Um die Bindung an das Imaginäre zurückzudrängen, vollzieht Lacan eine Revision von Freuds Raumkonzeption. Der entscheidende Schritt besteht darin, dass er die Räumlichkeit des Psychismus nicht von von der Kugeloberfläche her begreift. Die Sphäre (die Kugeloberfläche) ist nur eine der vier kompakten Flächen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts von Mathematikern konstruiert und analysiert worden sind, die anderen drei sind der Torus, die Klein’sche Flasche und die projektive Ebene (bzw. Sphäre mit Kreuzhaube). Die psychoanalytische Forschung hat für Lacan nicht zuletzt die Aufgabe, die räumliche Struktur des psychischen Apparats mithilfe dieser Flächen zu begreifen. Er verfolgt dieses Projekt ab dem neunten Seminar von 1961/62, dem Seminar über die Identifizierung, zum Abschluss kommt es mit dem Aufsatz L’étourdit von 1972.
In L’étourdit bezeichnet Lacan den Torus, die Kreuzhaube und die Klein’sche Flasche als asphères, als „Asphären“ und stellt sie auf solche Weise der Sphäre gegenüber.17 Der Terminus „Asphäre“ ist nicht seine Erfindung; beispielsweise bezeichnet man in der Optik solche Flächen als Asphären, die nicht Segmente einer Sphäre sind.
Dass es möglich ist, mithilfe dieser Flächen auf unterschiedliche Weise den Innen-Außen-Gegensatz zu problematisieren ist eine Eigenschaft, die Lacan besonders interessiert. Das psychoanalytische Feld, so lautet einer seiner Grundgedanken, kann nicht begriffen werden, wenn man sich (wie Freud in der zeichnerischen Darstellung seiner zweiten Topik) am Kreis orientiert und damit am Innen-Außen-Gegensatz. Die Sphäre ist eine Art dreidimensionaler Kreis. Bei der projektiven Ebene (bzw. Sphäre mit Kreuzhaube) sind wir mit einer Fläche konfrontiert, die auf den ersten Blick wie eine etwas zerknautschte Sphäre wirkt, die aber gerade keine ist – Innen und Außen gehen kontinuierlich ineinander über. Die Beschäftigung mit der Kreuzhaube nötigt uns, die scheinbare Sphäre als Nicht-Sphäre zu entdecken, als Asphäre, und auf solche Weise die spontane Orientierung am Innen-Außen-Gegensatz in Frage zu stellen, sie „durchzuarbeiten“, wie man mit Freud sagen könnte.
Die Kreuzhaube
Eine Kreuzhaube (oder Kreuzkappe oder cross-cap oder crosscap) ist eine Fläche der mathematischen Topologie.
Eine Fläche, sie ist also zweidimensional.
Eine Fläche der mathematischen Topologie, das heißt, diese Fläche ist kontinuierlich verformbar und es interessieren an ihr nur diejenigen Eigenschaften, die bei stetiger Verformung erhalten bleiben – bei stetiger Verformung, das heißt ohne Zerschneiden und ohne Verkleben.
Die Kreuzhaube ist eine einseitige Fläche. Damit ist gemeint: Vorderseite und Rückseite sind nicht getrennt, von einem beliebigen Punkt aus kann man eine Linie zur Rückseite dieses Punktes ziehen, ohne dabei eine Kante zu überqueren.
Diese einseitige Fläche ist nicht-orientierbar. Wenn man einen orientierten Kreis auf ihr einträgt (einen Kreis, bei dem ein Richtungspfeil festlegt, ob er im Uhrzeigersinn oder gegen ihn verläuft) und wenn man diesen orientierten Kreis auf ihr verschiebt, dann ist die Orientierung nicht stabil, nach einem Umlauf hat sie sich umgekehrt.
(Die Opposition „Einseitigkeit/Zweiseitigkeit“ bezieht sich auf die extrinsischen Eigenschaften einer Fläche, d.h. auf ihr Verhältnis zum umgebenden Raum. Die Opposition „Orientierbarkeit/Nichtorientierbarkeit“ verweist auf die intrinsischen Eigenschaften einer Fläche, unabhängig vom umgebenden Raum.
/_/ Inwiefern bezieht sich „einseitig“ auf das Verhältnis zum umgebenden Raum?)
Die Kreuzhaube hat nur einen Rand, in der Zeichnung oben ist das die untere Kante.
Dieselben Eigenschaftn – nur ein Rand, nur eine Seite, nicht-orientierbar – hat das Möbiusband. Die Kreuzhaube ist eine Sonderform des Möbiusbandes. Man kann es auch umgekehrt beschreiben: Ein Möbiusband ist eine Kreuzhaube mit einem Loch darin (wie Jeanne Granon-Lafont es formuliert18).
Die folgende Animation von Henri Paul de Saint-Gervais zeigt die Entstehung einer Kreuzhaube (der Rand ist hier der rotierende Kreis, den man zu Beginn sieht). Der Verlauf der Farbstreifen um die Durchdringungslinie herum zeigt an, worum es bei der Kreuzhaube geht.
Die Kreuzhaube erinnert an den Kopfschmuck eines Bischofs, weshalb man diese Fläche im Französischen auch als mitre bezeichnet, als „Mitra“19, daneben gibt es die wörtliche Übersetzung mit bonnet croisé.
Durchdringungslinie
Das für den Betrachter auffällige Merkmal der Kreuzhaube ist die Linie, die in der Zeichnung senkrecht verläuft. Sie trägt den Namen „Durchdringungslinie“. Diese Linie ist nicht etwa eine Kante, sie ist kein Rand. An ihr setzt sich vielmehr die linke vordere Fläche in der rechten hinteren fort und die rechte vordere in der linken hinteren.
Man denke an die Beziehung zwischen den Flächen in der Zeichnung „Durchdringung“. Spontan stellt man sich nicht etwa vor, dass sich hier vier einsame Flächen an einer senkrechten Linie vorsichtig berühren, sondern dass man es mit zwei Flächen zu tun hat, die sich wechselseitig durchdringen, dass sich also beispielsweise die von links unten kommende Teilfläche in der nach rechts oben führenden Teilfläche fortsetzt.
In der Animation oben wird dieser Seitenwechsel – von vorne-links nach hinten-rechts bzw. von vorne-rechts nach hinten-links – durch den Verlauf der Farbstreifen angezeigt.
Mit „Durchdringungslinie“ ist bei der Kreuzhaube jedoch mehr gemeint, als dass sich die Fläche vorne links nach dieser Linie in der Fläche hinten rechts verlängert. Man postuliert außerdem, dass man an ihr durch die Wand gehen kann. Ein Weg auf der Kreuzhaube, der auf diese Linie stößt und damit auf eine quer verlaufende Fläche, kann so fortgesetzt (wird postuliert), als ob es die quer verlaufende Fläche nicht gäbe. Man legt außerdem fest, dass es einem Weg, der beispielsweise von der linken Vorderseite kommt, an der Durchdringungslinie nicht erlaubt ist, einen Knick zu machen und sich auf der rechten Vorderseite fortzusetzen.
Um es zu veranschaulichen: Ich stelle mir vor, ich bin eine mathematische (sehr, sehr flache) Ameise. Mein Schöpfer hat mich auf einer Kreuzhaube abgesetzt, auf einer der liegenden Achten in einer der Abbildungen weiter oben. Mein Ausgangspunkt ist, sagen wir, links oben auf der vorderen Außenseite der Haube. Ich krabble entlang der Acht in Richtung des Gebildes, das sich für einen menschlichen Beobachter als Durchdringungslinie darstellt. Ich allerdings bemerke diese Linie nicht, da sie für mich nicht existiert. Ich überquere die Linie ohne Schwierigkeiten, gehe zum Erstaunen meines Betrachters also durch die Wand, und lande danach auf der rechten Innenseite. Dort marschiere ich weiter geradeaus, drehe hierdurch eine Schleife, überquere an der Durchdringungslinie den Weg, den ich zuvor durchlaufen habe, lande auf der linken Außenseite, diesmal hinten, und nach einigen weiteren Schritten erreiche ich meinen Ausgangspunkt auf der linken Außenseite vorn.
Es ist klar, dass diese zauberhafte Eigenschaft der Durchdringungslinie beim Nachbau einer Kreuzhaube nicht realisiert werden kann. Sie muss mithilfe unserer Einbildungskraft hinzugedacht werden. Anders gesagt: Die Durchdringungslinie ist streng genommen keine Durchdringungslinie. Sie ist ein Artefakt, ein Effekt dessen, dass die Kreuzhaube in den dreidimensionalen Raum eingepresst wurde. Lacan spricht denn auch von der „strukturellen Linie der falschen Durchdringung“20.
Die Durchdringungslinie sorgt dafür, dass eine Kreuzhaube und ein Möbiusband nicht homöomorph sind. Homömorph wären sie, wenn genau jedem Punkt der Kreuzhaube genau ein Punkt des Möbiusbandes entspräche und umgekehrt. Die Punkte der Durchdringungslinie haben keine Entsprechung im Möbiusband.
Die Sphäre mit Kreuzhaube (Lacans „Kreuzhaube“)
Man kann den Rand einer Kreuzhaube mit einer halben Hohlkugel verkleben und erhält auf solche Weise eine Fläche, die keinen Rand hat. Aber anders als eine Sphäre und ein Torus, die ja auch keinen Rand haben, schließt die randlose Kreuzhaube kein Volumen ein, sie grenzt kein Innen von einem Außen ab, und dies ist das Werk der Durchdringungslinie. In der Topologie heißt diese unberandete Fläche meist „Sphäre mit Kreuzhaube“ oder ähnlich.21
(Eine Sphäre ist nicht etwa eine Kugel, sofern man unter eine Kugel eine Vollkugel versteht. Eine Sphäre verhält sich zu einer Kugel wie eine Eierschale zu einem Ei, eine Sphäre ist eine Hohlkugel, eine Kugeloberfläche. Topologisch wichtiger Unterschied: Eine Kugel kann durch kontinuierliche Verformung zu einem Punkt kontrahiert werden, eine Sphäre nicht.)
Lacan bezeichnet die Sphäre mit Kreuzhaube gelegentlich als sphère mitrée22, „mit Mitra versehene Sphäre“, und folgt damit dem Sprachgebrauch der Topologen. Meist nennt er die Sphäre mit Kreuzhaube jedoch einfach cross-cap, eine abkürzende Redeweise, die man auch bei Mathematikern findet. Cross-cap meint bei Lacan an manchen Stellen eine berandete Kreuzhaube, meist aber eine unberandete Kreuzhaube, eine Sphäre mit Kreuzhaube; er weist bei der Einführung dieser Fläche ausdrücklich darauf hin. Um seinem Sprachgebrauch einigermaßen zu folgen, ohne die Verwirrung zu reproduzieren, bezeichne ich die beiden Flächen im Folgenden bisweilen als „Kreuzhaube mit Rand“ (oder „berandete Kreuzhaube“ oder „offene Kreuzhaube“) und als „Kreuzhaube ohne Rand“ (oder „unberandete Kreuzhaube“ oder „geschlossene Kreuzhaube“) . Gemeinsam ist beiden Flächen die Einseitigkeit und die Durchdringungslinie.
Die Sphäre mit Kreuzhaube lässt sich auf einfache Weise dadurch veranschaulichen, dass man einen Luftballon aufbläst und einen Teil des Ballons mit einer Klammer einzwängt, derart, dass die Wände des Ballons sich teilweise entlang einer Linie berühren, wie in der nebenstehenden Abbildung.23 Das Material, Gummi, mag einen daran erinnern, dass in der Topologie Flächen kontinuierlich verformbar sind.
Ein übliches Symbol für die Sphäre mit Kreuzhaube ist eine stilisierte Darstellung dieses verklemmten Ballons: ein Kreis mit einer geraden Linie, die den Rand mit dem Zentrum verbindet.
Das folgende Video von Jos Leys (mit leider grauenhafter Musik) zeigt die Entstehung einer Kreuzhaube, die einer Sphäre aufgesetzt ist, einer randlosen Kreuzhaube also. Sie wird darin einfach als cross-cap bezeichnet (Lacan ist nicht der einzige, der diese Kurzform verwendet).
Wenn man die Sphäre mit Kreuzhaube genau unter dem Ende der Durchdringungslinie zerschneidet, zerfällt sie in so etwas wie einen hohlen Doppelkonus (dadurch erzeugt, dass die Fläche sich selbst schneidet) und eine halbe Hohlkugel; in der nebenstehenden Zeichnung wird das dargestellt.24
Die Rede von der „halben Hohlkugel“ ist nur eine Annäherung. Erstens muss es nicht genau eine halbe Hohlkugel sein, es geht einfach um irgendein Segment einer Hohlkugel, einer Sphäre. Und mehr noch, mit der Kreuzhaube sind wir in der Topologie und das heißt: Flächen können beliebig verformt werden – ein Segment einer Sphäre unterscheidet sich hier in nichts von einer Scheibe. Man kann den Vorgang deshalb auch so beschreiben: Die Kreuzhaube wird mit einer Scheibe verklebt.
Im folgenden Bild entspricht die Mitra des Bischofs der Kreuzhaube mit Rand, die Mitra mitsamt der sichtbaren Oberfläche des Bischofskopfes der Kreuzhaube ohne Rand.
Wer hat die Kreuzhaube in die Topologie eingebracht? Vermutlich Walter von Dyck in einem Artikel von 1888. Die nebenstehende Abbildung ist aus dieser Arbeit, das Objekt oben rechts ist eine Sphäre mit Kreuzhaube.25
Ich habe nicht geprüft, ob von Dyck bereits den Ausdruck „Kreuzhaube“ verwendet. Auf jeden Fall verwenden Max Dehn und Poul Heegaard den Terminus in ihrem Artikel Analysis situs von 1907, in dem sie die kombinatorische Topologie begründen; sie zeigen dazu eine entsprechende Abbildung.26
Warum heißt diese Fläche „Kreuzhaube“? „Kreuzhaube“ ist kein üblicher Ausdruck der deutschen Sprache. Das „Kreuz“ darin ist leicht erklärlich, im Querschnitt gesehen bildet diese Fläche an der Durchdringungslinie ein Kreuz. Aber warum „Haube“? Dachten die Erfinder des Terminus an das Kreuzgewölbe mit seinen Einschnitten und daran, dass man die sphärischen Dreiecke, die durch die Durchdringung der Tonnen entstehen, als „Kreuzkappen“ bezeichnet?
Die projektive Ebene
Eine Kreuzhaube ohne Rand, also eine Sphäre mit Kreuzhaube, dient in der Topologie als Hilfsmittel, um die projektive Ebene darzustellen. Die projektive Ebene ist ein mathematisches Objekt, das durch eine Reihe von Formeln definiert wird. Sie existiert im vierdimensionalen Raum und das heißt: sie ist nicht anschaulich. Man benötigt jedcoh Visualisierungen, und die Sphäre mit Kreuzhaube ist eine Veranschaulichung der projektiven Ebene. Die Sphäre mit Kreuzhaube entsteht, mathematisch gesehen, dadurch, dass man eine projektive Ebene in den dreidimensionalen Raum einfügt, die Sphäre mit Kreuzhaube ist einer projektiven Ebene äquivalent. Lacan verwendet „Kreuzhaube“ (im Sinne der Sphäre mit Kreuzhaube) und „projektive Ebene“ deshalb mehr oder weniger synonym.
Eine projektive Ebene unterscheidet sich von einer gewöhnlichen Ebene – einer „euklidischen Ebene“, einer Ebene in der gemessen wird – durch die Forderung, dass alle Geraden sich schneiden, auch Parallelen, und dass sie sich in genau einem Punkt schneiden; für die Parallelen heißt das, dass sie sich nicht etwa „an beiden Enden“ schneiden, nicht zwei Mal. Damit wird eines der Axiome der euklidischen Geometrie gekippt, das sogenannte Parallelenpostulat, die Forderung, dass es durch einen Punkt außerhalb einer Geraden genau eine Gerade gibt, die sich mit der ersten Geraden nicht schneidet. Es ändert sich also die axiomatische Grundlage der Geometrie der Flächen.
Wo aber schneiden sich Parallelen, wenn man das Parallelenaxiom aufgibt? Im Unendlichen. Die projektive Geometrie kennt also Punkte im Unendlichen; die euklidische Geometrie hat für solche Punkte keinen Platz. Eine euklidische Ebene enthält Geraden, und Geraden sind auf dieser Ebene unendlich lang, sie enthalten jedoch keine Punkte im Unendlichen. Parallelen können jetzt neu definiert werden: Zwei Geraden sind dann parallel, wenn sie denselben Punkt im Unendlichen haben.
Wenn man das Parallelenpostulat streicht, gibt es im Unendlichen nicht nur Punkte. Man findet hier ebenso eine Gerade im Unendlichen, auch „Ferngerade“ geheißen. Sämtliche Punkte im Unendlichen liegen auf dieser unendlich entfernten Geraden. Eine Ferngerade ist also nicht etwa nur eine unendlich lange Gerade, sondern eine Gerade, die ganz und gar, mit all ihren Punkten, im Unendlichen liegt.
Man kann die Beziehung zwischen der euklidischen und der projektiven Ebene so darstellen wie in der folgenden Zeichnung27:
Der rosa Kreisring bildet zusammen mit der grauen Kreisscheibe die projektive Ebene. Innerhalb der euklidischen Ebene (graue Kreisscheibe) schneiden Parallelen sich nicht, jenseits der euklidischen Ebene schneiden sie sich in einem Punkt im Unendlichen. Parallelen, die unterschiedliche Richtungen haben, haben unterschiedliche Schnittpunkte im Unendlichen. Bei dieser Art der Darstellung hat jedes Parallelenbündel zwei Schnittpunkte im Unendlichen (1 und 1ˈ, 2 und 2ˈ usw.); es gilt jedoch, dass Geraden nur einen Schnittpunkt im Unendlichen haben, also müssen wir setzen: 1 = 1ˈ, 2 = 2ˈ usw. Alle Punkte im Unendlichen zusammen bilden eine Gerade, die Ferngerade. Sie ist hier als Kreis dargestellt, muss jedoch als Gerade aufgefasst werden.
Eine intuitive Annäherung an eine Ferngerade ist die Horizontlinie unseres Planeten, wie wir sie etwa von der Betrachtung des Meeres her kennen, allerdings – diese Art Horizontlinie ist gekrümmt, also gerade keine Gerade.
Kurz: Eine projektive Ebene ist eine euklidische Ebene plus einer Ferngeraden.
Zentralprojektion
Die projektive Ebene kann von der Zentralprojektion aus eingeführt werden, also von einem Projektionsverfahren her, bei der alle Projektionsgeraden durch einen bestimmten Punkt laufen, den Augpunkt oder Ursprung.28 Die Zentralprojektion besteht darin, dass man dieses Geradenbüschel mit zwei Ebenen schneidet, die etwa „Grundebene“ und „Abbildungsebene“ genannt werden. Beim Auftreffen auf die beiden Ebenen erzeugen die Geraden Punkte und die Punkte auf der einen Ebene entsprechen den Punkten auf der anderen Ebene – die Beziehung ist bijektiv, zu jedem Punkt auf der einen Ebene gibt es genau einen Punkt auf der anderen Ebene und umgekehrt., Zwischen den beiden Ebenen gibt es hierdurch eine systematische perspektivische Verkürzung.
Betrachten wir nun die Beziehung zwischen dem Geradenbüschel und einer einzelnen Ebene, können wir dann sagen, dass jeder Geraden des Geradenbüschels genau ein Punkt der Ebene entspricht? Nein. Zwar entspricht jedem Punkt der Ebene eine Gerade, aber nicht jeder Geraden entspricht ein Punkt der Ebene. Die Ausnahme bilden diejenigen Geraden, die durch den Augpunkt parallel zur Ebene verlaufen. Im Rahmen der euklidischen Geometrie schneiden sie sich nicht mit der Ebene, ihnen entspricht also kein Punkt der Ebene. Nun möchte man aber, dass das Geradenbüschel und die Punkte der Ebene sich vollständig entsprechen – nicht nur soll jedem Punkt der Ebene eine Gerade des Geradenbüschels entsprechen, es soll auch jeder Geraden des Geradenbüschels ein Punkt der Ebene korrespondieren. Um das zu erreichen, legt man fest, dass auch die parallel zur Ebene durch den Augpunkt verlaufenden Geraden sich mit der Ebene schneiden. Wo? In Punkten im Unendlichen. Man ordnet also der Ebene weitere Punkte zu, „unendlich ferne Punkte“ (oder „Punkte im Unendlichen“), und man definiert diese Punkte so, dass sie die Bilder derjenigen Geraden durch den Augpunkt sind, die parallel zur Abbildungsebene verlaufen. Die Gesamtheit dieser Punkte, so legt man außerdem fest, bildet eine Gerade, nämlich die „unendlich ferne Gerade“ (oder „Ferngerade“) der Ebene. Damit ist die Beziehung zwischen den durch den Augpunkt führenden Geraden und der Ebene vollständig bijektiv – nicht nur entspricht jedem Punkt eine Gerade, sondern jeder Geraden entspricht auch ein Punkt.
Bei der zentralperspektivischen Darstellung führt das Geradenbüschel nicht durch eine, sondern durch zwei Ebenen. Auch der zweiten Ebene werden Punkte im Unendlichen zugeordnet, für die ebenfalls festgelegt wird, dass sie eine Gerade bilden, die im Unendlichen liegt. Den Punkten im Unendlichen der einen Ebene entsprechen dann die Punkte einer gewöhnlichen Geraden in der anderen Ebene. Damit wird die Zentralperspektive zu einer Abbildungsweise, bei der es eine umkehrbar eindeutige Beziehung zwischen den durch einen Augpunkt führenden Geraden und den Punkten der beiden Ebenen gibt. Mit der Einführung von unendlich fernen Punkten und unendlich fernen Geraden vollzieht man den Übergang von der euklidischen zur projektiven Geometrie und die Ebene verwandelt sich aus einer euklidischen in eine projektive Ebene.
Übrigens bezieht Lacan sich auf diese Art der Konstruktion einer projektiven Ebene und ihr Verhältnis zur Kreuzhaube in seinen Vorlesungen zur Perspektive in Seminar 13, Das Objekt der Psychoanalyse.29
Die singulären Punkte
Die Sphäre mit Kreuzhaube (die randlose Kreuzhaube) entsteht durch Einfügung der projektiven Ebene in den dreidimensionalen Raum. Hierbei gibt es zwei Punkte, die diese Dreidimensionalisierung nicht mitmachen und gewissermaßen im vierdimensionalen Raum zurückbleiben. Diese beiden Punkt sind die entscheidenden Charakteristika der Sphäre mit Kreuzhaube, in ihnen fasst sich die Funktionsweise dieser Fläche zusammen.
Bei der Darstellung der projektiven Ebene durch die Sphäre mit Kreuzhauben sind diese beiden entscheidenden Punkt die beiden Endpunkt der Durchdringungslinie. Die Durchdringungslinie gibt es nur, weil wir gezwungen sind, uns eine projektive Ebene im dreidimensionaeln Raum vorzustellen, mathematisch ist sie nicht von besonderem Interesse. Relevant an der Durchdringungslinie sind, mathematisch gesehen, ihre beiden Endpunkte.
Dabei handelt es sich nicht etwa um gewöhnliche Punkte, sondern um sogenannte singuläre Punkte, auch Kuspidalpunkte oder Rückkehrpunkte genannt. Als „singuläre Punkte“ werden in der Mathematik solche Punkte bezeichnet, an denen ein Strukturwechsel stattfindet; bei der Kreuzhaube geht hier die zweiseitige Fläche, also ein Ring oder ein Sphärenabschnitt, in die einseitige Fläche über, in den möbiusartigen Doppelkonus, dessen Innen- und Außenseite kontinuierlich ineinander übergehen. Insofern fassen diese beiden Punkte die Eigenschaften der Kreuzhaube in sich zusammen, für den Blick des Mathematikers ist sie um diese beiden Punkte herum organisiert. Wenn man sie herauslöst, verschwindet die Struktur der Kreuzhaube.30
Obwohl es zwei solche singulären Punkte gibt, stellt Lacan nur einen von ihnen heraus, denjenigen, der sich für uns als dasjenige Ende der Durchdringungslinie darstellt, das im Zentrum liegt; in der nebenstehenden Abbildung ist er durch einen kleinen Kreis markiert. In Lacans Sicht ist eine Kreuzhaube, ob mit oder ohne Rand, um diesen Punkt herum organisiert.31 Bei ihm heißt er „Ursprungspunkt“ oder „Zentralpunkt“32 oder einfach nur „der Punkt“33.
1979 führte Lacan Gespräche mit dem Physiker Jean-Pierre Petit, nachdem dieser, zusammen mit einem Kollegen, einen Aufsatz über die Umstülpung der Sphäre veröffentlicht hatte. Eines der Themen bei diesen Treffen war die Kreuzhaube. Etwa 25 Jahre später hat Fabrice Guyod mit Petit ein Interview über dessen Begegnungen mit Lacan geführt.34 Darin erläuterte Petit auf plastische Weise, was es mit den singulären Punkten bzw. Kuspidalpunkten auf sich hat; im Folgenden übersetze ich diese Passage des Interviews (die Einfügungen in runden Klammern stehen so auch im Original, Einschübe in eckigen Klammern sind von mir).
Fabrice Guyod:
„Wäre es Ihnen möglich, den Begriff des Kuspidalpunkts, anders gesagt der Whitney-Singularität, zu definieren und zu charakterisieren, so wie Sie es auf Ihrer Internetseite getan haben?“
Jean-Pierre Petit:
„Die Angelsachsen nennen alle Singularitäten cusps [Scheitelpunkte]. Übersetzung (Lexikon): corne [wörtlich „Horn“], sommet [Gipfel]. Larousse: cuspide: eine lang zulaufende Spitze, vom Lateinischen cuspida [richtig wäre: cuspis]: Spitze.
Ich habe einem Freund am Telefon erklärt, was ein Kuspidalpunkt ist.
Stell dir vor, du sitzt auf einem Pferd. Plötzlich zerquetschst du das Pferd mit deinen Beinen, und zwar so, dass die Beine sich berühren. Die Pferd-Fläche verändert sich. Der rechte Oberschenkel des Pferdes verbindet sich mit seiner linken Schulter und sein linker Oberschenkel mit seiner rechten Schulter.
– Aber wo ist der Kuspidalpunkt?
– Da sitzt du drauf.
Das Phänomen, dass sich in der Abdeckung die Verbindungen ändern, nennt man Chirurgie.
Die unten dargestellte Operation ist die Bildung eines Kuspidalpunkts ausgehend von einem parabolischen [Halb-]Zylinder (dem ‚Pferd‘ von eben):
Und nach dem ‚Zerquetschen des Pferdes‘:
Soweit ich’s verstanden habe, bediente Lacan sich dieser Fläche (cross-cap), um das zu darzustellen, was er ‚Grundphantasma‘ nannte, ein Ausdruck, der für einen Physiker natürlich ziemlich unverständlich ist.
Die Kreuzhaube kennt man durch ihre Standarddarstellung im dreidimensionalen Raum (vgl. die folgende [zweidimensionale] Abbildung):
Unter diesen Bedingungen befindet sich einer der Kuspidalpunkte ‚im Zentrum‘ (C2) und der andere ‚an der Peripherie‘ (C1), wobei jeder dieser Punkte die Linie der Selbstüberschneidung begrenzt. Für einen Mathematiker ist diese Unterscheidung allerdings willkürlich. Dennoch hatte Lacan beschlossen, auf dem ‚zentralen Kuspidalpunkt‘ das zu verorten, was er ‚Objekt klein a‘ nannte.“
Fabrice Guyod:
„Auch hierbei handelt es sich um einen Punkt, der die Aufmerksamkeit derjenigen Leser auf sich ziehen wird, die mit Lacans topologischen Ausarbeitungen ein wenig vertraut sind.
Tatsächlich verwendet Lacan die Kreuzhaube zum ersten Mal im Jahre des Seminars Die Identifizierung, in den Sitzungen vom 28. März und vom 16. Mai 1962. Dass er vom peripherischen Kuspidalpunkt C1 keinen Gebrauch macht, scheint bei seinen zahlreichen Bezügen auf diese Fläche eine Konstante zu sein. Ab der Sitzung vom 16. Mai 1962 ist das, was er am zentralen Kuspidalpunkt C2 verortet, allerdings nicht das Objekt a, sondern das, was er dann als symbolischen Phallus bezeichnet (Φ).“
Es dürfte Lacan nicht entgangen sein, dass das lateinische Wort cuspis (Spitze, Stachel, Spieß) auch eine Bezeichnung für den Penis ist (siehe hier).
Nebenbei: Jean-Pierre Petit hat eine empfehlenswerte populärwissenschaftliche Einführung in die Topologie verfasst35; im Internet bekommt man sie hier auf französisch und hier auf deutsch.36
Immersion versus Einbettung
Eine Sphäre mit Kreuzhaube, eine randlose Kreuzhaube, entspricht einer projektiven Ebene. Diese Entsprechung hat Grenzen; die Grenzen werden durch die beiden singulären Punkte bezeichnet. Die Grenzen beruhen auf der Beziehung zwischen einer Fläche und dem umgebenden Raum.
Flächen können in Räume unterschiedlicher Dimension eingefügt werden: in den zweidimensionalen Raum, in den dreidimensionalen Raum, in den vierdimensionalen Raum usw. Eine Veranschaulichung für eine Fläche, die in den zweidimensionalen Raum eingefügt ist, ist ein Rechteck, das ich auf ein Blatt Papier zeichne. Wenn ich dieses Blatt ergreife und fallen lasse, habe ich damit eine Veranschaulichung für eine Fläche, die in den dreidimensionalen Raum eingefügt ist. Die Einfügung in den vierdimensionalen Raum lässt sich nicht veranschaulichen, sie existiert in der Gestalt, dass man Punkte nicht wie im dreidimensionalen Raum durch Tripel beschreibt (x, y, z), sondern durch Quadrupel (x, y, z, u).
Eine projektive Ebene gibt es in voller Blüte nur im vierdimensionalen Raum. Eine Sphäre mit Kreuzhaube entsteht dadurch, dass man eine projektive Ebene in den dreidimensionalen Raum einfügt (was man wiederum zeichnen kann, also in den zweidimensionalen Raum verlegen kann). Die Dimensionsdifferenz hat zur Folge, dass projektive Ebene und Kreuzhaube nicht homöomorph sind – nicht genau jedem Punkt der projektiven Ebene entspricht genau ein Punkt der Kreuzhaube und umgekehrt. Die Sphäre mit Kreuzhaube ist eine projektive Ebene, die man in einen Raum eingequetscht hat, der für sie eine Nummer zu klein ist.
Um das Spannungsverhältnis zwischen Fläche und umgebenden Raum beschreiben zu können, unterscheidet man zwei Formen der Beziehung zwischen einer Fläche und dem umgebenden Raum: Einbettung und Immersion. Von Einbettung spricht man dann, wenn Homöomorphie vorliegt, von Immersion, wenn dies nicht der Fall ist.
Man sagt dann, die unberandete Kreuzhaube ist eine „Immersion“ der projektiven Ebene in den dreidimensionalen euklidischen Raum. Wenn projektive Ebene und Kreuzhaube homöomorph wären, würde man von „Einbettung“ sprechen.
Eine Kreuzhaube ohne Rand ist also eine Fläche, die dadurch entsteht, dass eine andere Fläche, nämlich die projektive Ebene, in den dreidimensionalen Raum immergiert ist (und nicht etwa „eingebettet“ ist). Dass hier Immersion und keine Einbettung vorliegt, sieht man an den beiden Endpunkten der Durchdringungslinie.
Der Zentralpunkt als Lochpunkt
Lacan begreift den Zentralpunkt als Lochpunkt.37 Die Kreuzhaube ist demnach um ein Loch herum gebaut, das ist sogar ihr entscheidendes Merkmal. Was hat es mit diesem Loch auf sich? Lacans Bemerkungen hierzu sind knifflig, die Sekundärliteratur ist in dieser Frage wenig hilfreich. Ich habe zu diesem Thema deshalb einen eigenen Artikel geschrieben: Das Loch in der Kreuzhaube.
Zugänge
Identifizierung der Diametralpunkte
Eine Kreuzhaube ohne Rand lässt sich theoretisch so herstellen, dass man von einem Sphärensegement ausgeht, etwa einer halben Hohlkugel, dass man auf ihrem Rand genau gegenüberliegende Punkte definiert und dass man die Gegen-Punkte miteinander verklebt. (Statt von einem Sphärensegement kann man auch, in Gedanken, von einem beliebig dehnbaren und schrumpfbaren Gummituch mit Rand ausgehen – in der Topologie gelten Flächen als kontinuierlich verformbar.) Das Verfahren der Vereinigung der gegenüberliegenden Randpunkte nennt sich „Identifizierung der Diametralpunkte“. Die folgenden Zeichnungen deuten an, wie auf diesem Wege eine Kreuzhaube entsteht:
Identifizierung der Diametralpunkte38
Die erste Identifizierungsaktion besteht darin, wie man in den oberen beiden Zeichnungen sieht, dass man die Punkte a und aˈ miteinander verklebt; Lacan stellt diesen ersten Schritt heraus, er setzt den hierdurch generierten Punkt mit dem Zentralpunkt der Kreuzhaube gleich, mit dem unteren Endpunkt der Durchdringungslinie (mehr dazu weiter unten).
Es ist klar, dass es nach wenigen Schritten ein Gewirr von Überkreuzungen gibt, das sich unserer Vorstellungskraft entzieht und das technisch nicht realisierbar ist.
Rechteck-Darstellung
Die Flächen der Topologie können durch Rechtecke dargestellt werden, deren Ränder teilweise oder vollständig orientiert sind – also mit Richtungspfeilen versehen sind – und bei denen gegenüberliegende Pfeillinien miteinander verklebt werden, derart, dass sie in dieselbe Richtung zeigen. Beispielsweise lässt sich ein Zylinder durch ein Rechteck repräsentieren, bei dem zwei gegenüberliegende Ränder in dieselbe Richtung zeigen:
Ein Möbiusband entspricht einem Rechteck, bei dem zwei gegenüberliegende Ränder in die entgegengesetzte Richtung weisen; das Zusammenkleben erzeugt die für dieses Band charakteristische Verdrehung:
Die Kreuzhaube ohne Rand wird durch das folgende orientierte Rechteck dargestellt:
Hier sind beide gegenüberliegenden Seitenpaare mit entgegengesetzt orientierten Pfeilen gekennzeichnet. Um die gegenüberliegenden Pfeile so übereinanderzulegen, dass sie in dieselbe Richtung zeigen, muss man eine doppelte Verwindung des Rechtecks vornehmen. Bei der ersten Torsion werden diejenigen Kanten miteinander verklebt, die durch einfache Pfeilen markiert sind, damit erhält man also ein Möbiusband. Bei der zweiten Verklebung werden die Kanten verbunden, die in der Zeichnung durch Doppelpfeile gekennzeichnet sind; wieder ist eine Verdrehung nötig.
Die Durchdringungslinie hat keinen festen Ort, was in einer Zeichnung nicht dargestellt werden kann. Die Kreuzhaube ist eine Fläche der Topologie, d.h. eine beliebig verformbare Fläche, die Durchdringungslinie kann an jeder beliebigen Stelle der Fläche in jeder beliebigten Form realisiert werden. Um das zumindest anzudeuten, wird diese Linie bisweilen als Schlangenlinie gezeichnet, was der unberandeten Kreuzhaube das Aussehen einer Hummerschere verleiht.39
Zwei geschlossene Schnitte in die Kreuzhaube
Eine grundlegende Kategorie der Topologie ist der Schnitt. Zu den Werkzeugen des Topologen gehört die Schere (in der Hand oder im Kopf), zu seinen Aktivitäten das Zerschneiden von Gummitüchern – von topologischen Flächen.
Die Schnitte, um die es dabei geht, haben die Form von Linien, die zwei Bedingungen genügen: erstens, sie schneiden sich nicht (es sind, in der Sprache der Mathematiker, Jordankurven); zweitens, sie sind geschlossen, das heißt, sie kommen auf ihren Ausgangspunkt zurück (es sind geschlossenen Jordankurven). Annäherungsweise könnte man sagen, die interessierenden Schnitte sind „kreisförmig“, allerdings muss man sich dabei daran erinnern, dass in der Topologie Kreise beliebig verformt werden können, vorausgesetzt, dass sie sich nicht schneiden.
Flächen werden in der Topologie danach klassifiziert, wie viele Arten von Schnitten in Form von geschlossenen Linien ohne Selbstüberschneidung man an ihnen anbringen kann, und zwar so, dass die Fläche nicht zweigeteilt wird. Bei einer Sphäre beispielsweise (einer Kugeloberfläche) gibt es keinen solchen Schnitt, bei einem Torus (einem Reifen) gibt es zwei Arten von geschlossenen Schnitten, durch die er aufgeschnitten, aber nicht zerstückelt wird.
Vor diesem Hintergrund interessiert Lacan sich für die Beziehung zwischen der Kreuzhaube ohne Rand und dem geschlossenen Schnitt und dabei speziell für den Unterschied zwischen denjenigen geschlossenen Schnitten, durch welche die randlose Kreuzhaube zweigeteilt wird und denjenigen geschlossenen Schnitten, die nicht zu einer Zweiteilung führen. Damit sind wir, nebenbei gesagt, im Herzen der Lacan’schen Topologie – sie dreht sich vor allem darum, welche Effekte es hat, wenn geschlossene Schnitte auf Flächen einwirken.
Der Schnitt aus einer Runde
Auf einer Sphäre mit Kreuzhaube sorgt ein bestimmter geschlossener Schnitt dafür, dass die einseitige Sphäre mit Kreuzhaube sich in eine zweiseitige Fläche verwendelt, ohne dass sie zerstückelt wird. Lacan nennt diesen Schnitt „Schnitt aus einer Runde“; man kann ihn so darstellen (durchgezogene Linie: Schnitt auf der Vorderseite; gestrichelte Linie: Schnitt auf der Rückseite)40:
Randlose Kreuzhaube mit Schnitt aus einer Runde
Diese Art des geschlossenen Schnitts umrundet die Durchdringungsline nur einmal. Die Kreuzhaubenfläche wird durch ihn, wie gesagt, aufgeschnitten, nicht zerstückt. Das Ergebnis ist eine Fläche mit folgenden Merkmalen
– sie ist zweiseitig statt wie vorher einseitig,
– sie hat einen Rand statt wie vorher randlos zu sein.
Dies sind intrinsische Eigenschaften der Fläche, Eigenschaften, die ihr unabhängig von der Beziehung zum umgebenden Raum zukommen.
Die resultierende Fläche enthält den singulären Punkt. Bei Immersion in den dreidimensionalen Raum wird der singuläre Punkt durch die Linie der Selbstdurchdringung dargestellt.
Schematisch lässt sich das Ergebnis des Ein-Runden-Schnitts so darstellen:
Fläche nach dem Ein-Runden-Schnitt in eine Kreuzhaube
Der Punkt steht für den singulären Punkt, der Strich, der von ihm ausgeht soll andeuten, dass der singuläre Punkt bei Immersion in den dreidimensionalen Raum durch eine Durchdringungslinie repräsentiert wird.
Der Schnitt aus zwei Runden
Einer anderer geschlossener Schnitt, den man auf der Kreuzhaube anbringen kann, ist ein Schnitt in Gestalt dessen, was Lacan als huit intérieur bezeichnet, als „Innenacht“ (vgl. hierzu diesen Blogartikel).
Die Innenacht ist ebenfalls eine geschlossene Kurve. Anders als ein Kreis oder eine Ellipse dreht die Innenacht nicht nur eine Runde, sondern zwei Runden – hier kommt das Zählen ins Spiel: nicht eine Umdrehung, sondern zwei. Damit ähnelt diese Kurve einer Acht, die man an der Überkreuzungsstelle so gefaltet hat, dass die obere kleinere Schlaufe in der unteren größere Schlaufe liegt. Die Innenacht hat keinen Überschneidungspunkt, sie berührt sich nicht selbst; in der Zeichnung wird das dadurch angedeutet, dass an der Kreuzungsstelle eine der Linien unterbrochen ist. Die Innenacht ist eine Erfindung des Seminars Die Identifizierung (Seminar 9 von 1961/62)41; der Schnitt in Form einer Innenacht wird hier auch als „Doppelschnitt“ bezeichnet42.
Der Schnitt aus zwei Runden wird also in der randlosen Kreuzhaube angebracht. Und er wird so appliziert, dass er die Durchdringungslinie und damit den Zentralpunkt zwei Mal umrundet. Die folgende Abbildung zeigt drei Arten von Innenacht-Schnitten, die um den Zentralpunkt herum angebracht werden können und die zum selben Ergebnis führen.43
Drei Versionen des Innenacht-Schnitts auf einer randlosen Kreuzhaube
Die randlose Kreuzhaube ist, wie erläutert, eine einseitige Fläche, die in den dreidimensionalen Raum immergiert ist. Der Innenacht-Schnitt zerteilt sie in zwei unterschiedlich strukturierte Flächen, die beide in den dreidimensionalen Raum eingebettet sind: in ein Möbiusband und in eine Scheibe. Das Möbiusband ist
– einseitig (man kann von der Vorderseite eines Punktes eine Linie zu dessen Rückseite ziehen, ohne einen Rand zu überqueren),
– spiegebar (sein Spiegelbild unterscheidet sich vom Original)
– und hat nur einen Rand.
Die Scheibe ist
– zweiseitig (man muss einen Rand überwinden, um von der Vorderseite zur Rückseite zu kommen),
– nicht spiegelbar (man kann sie so verformen, dass ihr Spiegelbild sich nicht vom Original unterscheidet),
– sie hat ebenfalls nur einen Rand,
– sie enthält den singulären Punkt, und dass heißt, bei Immersion in den dreidimensionalen Raum, sie durchdringt sich selbst.
Die zweiseitige Fläche enthält den singulären Punkt und, bei Immersion in den dreidimensionalen Raum, ein Stück der Durchdringungslinie, sie überlappt sich dann teilweise mit sich selbst. Ihr Rand hat die Form einer Innenacht44:
Die zweiseitige Fläche mit Selbstüberschneidung
Die Zerlegung der randlosen Kreuzhaube durch den Innenacht-Schnitt in eine zweiseitige sich selbst durchdringende Fläche und ein einseitiges Möbiusband lässt sich so darstellen45:
Randlose Kreuzhaube → zweiseitige Fläche mit Selbstübverschneidung + Möbusband
Das Gemeinsame zwischen dem Ein-Runden-Schnitt und dem Zwei-Runden-Schnitt besteht also darin, dass beide Arten des Schnitts eine zweiseitige berandte Fläche mit singlärem Punkt bzw. mit Selbstüberschneidung herstellen. Beim Ein-Runden-Schnitt erhält man nur diese Fläche, sonst nichts, beim Zwei-Runden-Schnitt erhält man außerdem ein Möbiusband.
Eine Komplikation besteht darin, dass der Zwei-Runden-Schnitt einem einfachen kreisförmigen Schnitt topologisch äquivalent ist, der nicht um die Durchdringungslinie herumführt. Im Folgenden stellen Abbildung a und Abbildung aˈ denselben Schnitt dar – man kann die beiden Schnitte durch Verschieben ineinander überführen46
Zwei Darstellungen von Lacans Zwei-Runden-Schnitt
Der Zwei-Runden-Schnitt muss also nicht unbedingt zwei Runden drehen. Auch eine geschlossene, sich nicht selbst überschneidende Kurve außerhalb der Durchdringungslinie visualisiert einen Schnitt, durch die randlosen Kreuzhaube in ein Möbiusband und eine zweiseitige Fläche zerfällt.
Einen Überblick gibt diese Zeichnung von Christian Fierens:
Die Schnitte a und aˈ entsprechen Lacans Zwei-Runden-Schnitt, der Schnitt b entspricht seinem Ein-Runden-Schnitt.
Der Schnitt vom Typ b wiederum, Lacans Ein-Runden-Schnitt, kann durch einen Stich in die randlose Kreuzhaube ersetzt werden – er muss also keine Runde drehen.47
Linie ohne Punkte und Punkt außerhalb der Linie
In der Topologie können Flächen kontinuierlich verformt werden. Dazu gehört auch, dass sie kontrahiert werden können. Wenn man ein Möbiusband in sich zusammenzieht, reduziert man es letztlich auf eine geschlossene Linie. Lacan betont, dass diese Linie die Form einer Innenacht hat, allerdings lässt sich diese Form so verbiegen, dass nichts als eine geschlossene Linie übrigbleibt, die sich nicht selbst schneidet, ein verbeulter Kreis. Eine offene Linie lässt sich zu einem Punkt zusammenziehen, eine geschlossene Linie jedoch nicht, der „Kreis“, der bei der Kontraktion entsteht, ist irreduzibel.
In L’étourdit bezeichnet Lacan die geschlossene Linie ohne Selbstüberschneidung, die sich durch Kontraktion des Möbiusbandes ergibt, als ligne sans points, „Linie ohne Punkte“.48 Genau gesagt: Er identifiziert das Möbiusband mit dieser Linie.
Was geschieht, wenn man eine Scheibe schrumpft? Letztlich kann sie so kontrahiert werden, dass nichts als ein Punkt übrigbleibt. Lacan nennt diesen Punkt point hors ligne, „Punkt außerhalb der Linie“, gemeint ist „Punkt außerhalb derjenigen Linie, in der sich das Möbiusband zusammenfasst“.
Führt man diese beiden Schrumpfungsoperationen durch, zerfällt die randlose Kreuzhaube durch den Innenacht-Schnitt also einerseits in eine geschlossene Linie und andererseits in einen Punkt, in Lacans Terminologie: in eine „Linie ohne Punkte“ und in einen „Punkt außerhalb der Linie“.
Das heißt umgekehrt: Durch Hinzufügung eines Punktes zu einer Innenacht-Linie ergibt sich eine randlose Kreuzhaube – allerdings nur dann, wenn man den Punkt in der vierten Dimension verortet.
Spekular und nicht-spekular
Möbiusband und Scheibe unterscheiden sich in ihrem Verhältnis zum Spiegelbild. Das Möbiusband, sagt Lacan, ist spéculaire, „spiegelbildlich“ oder „spekular“, die Scheibe hingegen ist non spéculaire, „nicht spiegelbildlich“, „nicht-spekular“49. Aber auch die Kreuzhaube insgesamt ist „nicht-spekular“.
Man kann sich den Unterschied zwischen „spiegelbildlich“ und „nicht spiegelbildlich“ klarmachen, indem beobachtet, was geschieht, wenn man die Buchstaben O und E spiegelt. Das Spiegelbild von O ist wiederum ein O. Das Spiegelbild von E ist kein E, sondern ein Gebilde, das so aussieht: ∃. Man könnte auch sagen: Das Spiegelbild von O ist „nicht spiegelverkehrt“, das Spiegelbild von E hingegen ist „spiegelverkehrt“. Lacan drückt sich anders aus, in seiner Terminologie ist das O „nicht spiegelbildlich“, „nicht-spekular“, und das E ist „spiegelbildlich“, „spekular“. (In der Topologie würde man sagen, der Buchstabe O ist mit seinem Bild homotop, der Buchstabe E nicht.)
„Das Objekt a ist nicht spiegelbildlich“ meint also: Bei der Spiegelung der Scheibe entsteht keine Spiegelverkehrung. Dasselbe gilt für die randlose Kreuzhaube insgesamt, sie hat „kein Spiegelbild“, sie unterscheidet sich nicht von ihrem Spiegelbild.
Die zweiseitige Fläche mit Überlappung scheint auf den ersten Blick ein (seitenverkehrtes) Spiegelbild zu haben, denn diese Fläche ist so beschaffen, dass einer der beiden kurzen Lappen entweder oben ist oder unten, das ergibt dann anscheinend eine rechtsdrehende und eine linksdrehende zweiseitige Fläche. Die beiden Formen können jedoch durch Verformung ineinander überführt werden. Also hat die zweiseitige Fläche kein Spiegelbild mit Spiegelverkehrung, „kein Spiegelbild“.50
Dasselbe gilt für die Kreuzhaube insgesamt, es gibt gibt es keine rechtsdrehende im Gegensatz zu einer linksdrehenden Kreuzhaube.
Rechts- und linksdrehendes Möbiusband51
Im Rahmen der Psychoanalyse bezieht sich die Formulierung, das Objekt a habe kein Spiegelbild, darauf, dass sich das Objekt a der Beherrschung entzieht, also dem Narzissmus bzw. dem Imaginären; mit der Kreuzhaube sucht Lacan hierzu eine Entsprechung im Rahmen der Topologie.
Das Möbiusband hingegen ist spiegelbildlich. Ein Möbiusband ist entweder rechtsdrehend oder linksdrehend, man kann das eine nicht ohne Zerschneiden in das andere überführen. Wenn man ein rechtsdrehendes Möbiusband spiegelt, sieht man im Spiegel ein linksdrehendes und umgekehrt.
Das Phantasma
Lacan bezieht die randlose Kreuzhaube, durch einen Innenacht-Schnitt um den Zentralpunkt herum in ein Möbiusband und eine Scheibe zerteilt, von Anfang an auf das Phantasma.52
Ab Seminar 13, Das Objekt der Psychoanalyse, nimmt er folgende Zuordnungen vor53:
– Die Schnittlinie der Innenacht repräsentiert die Wiederholung der Signifikanten.
– Die Scheibe steht für das Objekt a.54 Die Scheibe lässt sich auf einen Punkt reduhzieren; das Objekt a ist ein fehlendes Objekt, es entspricht einem verschwindenden Punkt, einem Punkt in der vierten Dimension.55
– Das Möbiusband entspricht dem gespaltenen Subjekt, und zwar deshalb, weil man ein Möbiusband durch einen Längsschnitt in ein Band verwandeln kann, das Vorder- und Rückseite hat, das also kein mehr Möbiusband ist. Damit reduziert sich das Möbiusband für Lacan letztlich auf diesen transformierenden Schnitt.56
Die Wiederholung des Signifikanten (der Innenacht-Schnitt in die Fläche) hat zur Folge, dass ein Objekt verloren geht, das Objekt a (die Scheibe); hierdurch entsteht das gespaltene und versperrte Subjekt (das Möbiusband).
Diese dreigliedrige Struktur entspricht, so Lacan, der Formel des Phantasmas, $ ◊ a:
– $: das ausgestrichene, gespaltene Subjekt = Möbiusband
– ◊: die Signifikantenwiederholung als Schnitt in eine Fläche = Schnitt in Form einer Innenacht57,
– a: das Objekt a = Scheibe
Ein viertes Element kommt hinzu, der zentrale Punkt der Durchdringungslinie.
– Der Zentralpunkt entspricht, Lacan zufolge, dem Phallus, Φ, also dem aus der Kastrationserfahrung hervorgegangene Phallus-Signifikanten, nicht als Signifikant der Geschlechtsdifferenz (haben/nichthaben), sondern als Signifikant des Mangels, dessen, was einem fehlt.58
Der Zentralpunkt ist in der Scheibe verortet, damit wird angezeigt, dass die Objekte a als (illusionäre) Kompensationen für die Kastration fungieren.
Den Zusammenhang der Komponennten stellt die folgende Zeichnung dar (ich habe sie dem Topologie-Buch von Juan-David Nasio entnommen und etwas erweitert).59
– Ausgangsfläche ist eine halbe Sphäre, der eine Kreuzhaube aufgesetzt ist, also eine Kreuzhaube ohne Rand. Die Zusammengesetztheit aus halber Hohlkugel und berandeter Kreuzhaube wird durch die horizontale kreisförmgie Linie angedeutet, durch welche die Fläche in ein unteres Drittel und zwei obere Drittel geteilt wird.
– Oben sieht man die senkrechte Durchdringungslinie mit dem Zentralpunkt am unteren Ende; Lacan bezieht ihn auf den Phallus, Φ.
– Um die Durchdringungslinie herum wird ein Schnitt in Form einer Innenacht angebracht; er umrundet die Durchdringungslinie zwei Mal und ebenso den Zentralpunkt. Der Innenacht-Schnitt repräsentiert die Signifikantenwiederholung, in der Formel des Phantasmas ($ ◊ a) wird der Schnitt durch die Raute symbolisiert, ◊.
– Der Innenacht-Schnitt zerteilt die unberandete Kreuzhaube in zwei Teilflächen. Die eine dieser Flächen ist ein Möbiusband, also eine einseitige Fläche. Das Möbiusband entspricht dem sujet barré, dem ausgestrichenen, versperrten Subjekt. In der Formel des Phantasmas ist dies das Symbol $.
– Die andere Teilfläche ist eine Scheibe und damit eine zweiseitige Fläche. Die Scheibe enthält einen Teil der Durchdringungslinie sowie den Zentralpunkt. Die Scheibe entspricht dem Objekt a. Dass sie den Zentralpunkt enthält, weist darauf hin, dass das Objekt a dazu dient, (auf illusorische Weise) die Kastration zu kompensieren.
Lacan hat gelegentlich geäußert, die vier topologischen Flächen (Sphäre, Torus, Kreuzhaube/projektive Ebene und Klein’sche Flasche) entsprächen den vier Objekten a60; welches topologische Objekt welchem Objekt a entspricht, hat er nicht gesagt. Aus den Meninas-Vorlesungen lässt sich erschließen, dass er die Kreuzhaube bzw. die projektive Ebene mit dem Blick-Objekt zusammenbringt.61
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- Erik Porge: Das Qualitative (de)chiffrieren
- Erik Porge: Schnitte
Anmerkungen
-
Vgl. Jorge Chapuis, avec la collaboration de Rithée Cevasco: Guide topologique de „L’étourdit“. Un abus imaginaire et son au-delà. Éditions Nouvelle de Champ lacanien, Paris 2019.
-
Vgl. Marc Darmon: Essais sur la topologie lacanienne. Nouvelle édition, revue et augmentée. Éditions de l’Association Lacanienne Internationale, Paris 2004, darin Kapitel VI: „La topologie du sujet“, S. 177–252, zur Kreuzhaube v.a. S. 179–185, 200–203, 209–211, 225 f.
-
Vgl. Christian Fierens: Lecture de l’étourdit. Lacan 1972. L’Harmattan, Paris 2002, darin: II.1 „L’enseignement de la topologie“, S. 179–208.
-
Vgl. Jeanne Granon-Lafont: La topologie ordinaire de Jacques Lacan. Point Hors Ligne, Paris 1985, darin Kapitel IV: „Le plan projectif ou cross-cap“, S. 69–90; englische Übersetzung: Jeanne Lafont: The ordinary topology of Jacques Lacan. Übersetzt von Jack W. Stone. University of Missoury, M.I.T 1986, im Internet hier.
-
Vgl. Juan-David Nasio: Introduction à la topologie de Lacan. Payots et Rivages, Paris 2010; das Buch ist die überarbeitete Fassung von: Ders.: Topologerie. Introduction à la topologie psychanalytique. In: Ders.: Les yeux de Laure. Le concept d’objet a dans la théorie de J. Lacan. Aubier, Paris 1987, S. 149–219.– Die Passagen über die Kreuzhaube aus dem Buch von 1987 sind ins Englische übersetzt worden: J.-D. Nasio: Object a and the Cross-cap. In: Ellie Ragland, Dragan Milovanovic (Hg.): Topologically speaking. Other Press, New York 2004, S. 98–116.
-
Als geschriebener Text (auf Französisch): Jacques Siboni: Plan projectif et sujet lacanien – quelques exemples (2000), auf der Seite Lutecium im Internet hier: http://jacsib.lutecium.org/papers/l960201a/index.html
Als Video von 2012 (auf Englisch, zusammen mit Jeann Lafont): topologos-webex-10 Lutecium Jacques Lacan and the projective plane, im Internet hier, https://www.youtube.com/watch?v=GGG85uY-Tk0 -
Jean-Michel Vappereau: Étoffe. Les surfaces topologiques intrinsèques. Éditions Topologie en Extension, Paris 1988, im Internet hier, darin „Appendice, Eléments pour une théorie de la représentation et de l’objet“, S. 303–326.
-
Vgl. die Sitzungen vom 28. März 1962, vom 11. April 1962, vom 9., 16., 23. und 30. Mai 1962 und vom 6., 13., 20. und 27. Juni 1962.
-
Vgl. in Seminar 10, Die Angst (1962/63), die Sitzungen vom 14. November 1962 (Miller-Edition S. 13, Gondek-Übersetzung S. 13), vom 28. November 1962 (Miller S. 51, Gondek S. 56), vom 9. Januar 1963 (Miller S. 113–116, Gondek S. 125–127), vom 23. Januar 1963 (Miller S. 143, Gondek S. 154), vom 30. Januar 1963 (Miller S. 158, 161, 163, Gondek S. 168 f., 172, 174) und vom 27. März 1963 (Miller S. 240, Gondek S. 259).
Vgl. in Seminar 11, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), die Sitzungen vom 22. April (Miller S. 134, Haas S. 154) und vom 29. April 1964 (Miller S. 143, Haas S. 163 f.).
Vgl. in Seminar 12, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse (1964/65), die Sitzungen vom 9. Dezember 1964, vom 16. Dezember 1964, vom 23. Januar 1965 und vom 16. Juni 1965.–
Vgl. in Seminar 13, Das Objekt der Psychoanalyse (1965/66) die Sitzungen vom 8. Dezember 1965, vom 15. Dezember 1965, vom 5. Januar 1966, vom 12. Januar 1966, vom 9. Februar 1966, vom 23. März 1966, vom 30. März 1966, vom 4. Mai 1966, vom 11. Mai 1966, vom 25. Mai 1966, vom 1. Juni 1966 und vom 22. Juni 1966.–
Vgl. in Seminar 14, Die Logik des Phantasmas (1966/67), die Sitzungen vom 16. November 1966, vom 15. Februar 1967, vom 19. April 1967 und vom 30. Mai 1967.–
Und vgl. schließlich in Seminar 16, Von einem Anderen zum anderen (1968/69), die Sitzungen vom 27. November 1968 (Miller-Edition S. 59), vom 26. März 1962 (Miller S. 249).
-
Vgl. J. Lacan: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 36 f., Fußnote 14.
-
Vgl. J. Lacan: Radiophonie. Übersetzt von Hans-Joachim Metzger. In: Ders.: Radiophonie. Television. Quadriga, Weinheim u.a. 1988, S. 5–54, hier: S. 21 f.
-
S. Freud: Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen (1926). In: Ders.: Studienausgabe. Schriften zur Behandlungstechnik. Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 271–341, hier: S. 286, Hervorhebungen von Freud.
-
Vgl. J.L.: Autres écrits. Seuil, Paris 2001, S. 449–495, asphère: S. 471, 473 f., 482 f., 485.
-
Die beiden Abbildungen der Kreuzhaube sind aus der Staferla-Ausgabe von Seminar 9, von mir verändert.
-
Lacans Formulierung findet sich in Seminar 13, Sitzung vom 30. März 1966.
-
Walther von Dyck: Beiträge zur Analysis situs. I In: Math. Ann. 37 (1888), Heft.2, S. 457–512.
-
Max Dehn, Poul Heegaard. Analysis situs. In: Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften III, AB 3.Teubner Verlag, Leipzig 1907, S. 153-220, im Internet hier. Dort liest man auf S 197:
„Jede einseitige Fläche, deren Restfläche k(gedrehte) Bänder hat, ist homöomorph mit einer Kugel mit k „Kreuzhauben“ (Fig. 10). Ersetzen wir 2h (< k) Bänder durch Doppelbänder, so erhalten wir eine Kugel mit k – 2h Kreuzhauben, und h Henkeln. 2l (≤ k Kreuzhauben) können auch ersetzt werden durch l „sich durchsetzende“ Henkel (Fig.11).“
-
Abbildung aus Siboni, Plan projectif et sujet lacanien, a.a.O., von mir übersetzt; Siboni verwendet die Termini point projectif und droite projective.
-
Eine Einführung der projektiven Ebene von der Zentralprojektion her findet man, ohne Formeln, in: David Hilbert und Stephen Cohn-Vossen: Anschauliche Geometrie. Julius Springer, 1932, im Internet hier, in § 18, „Perspektive, unendlich ferne Elemente und ebenes Dualitätsprinzip“.
-
Vgl. die Sitzungen vom 4. Mai 1966, hier übersetzt, und vom 11. Mai 1966, hier übersetzt.
-
Vgl. Lacan, Seminar 9, Die Identifizierung, Sitzung vom 6. Juni 1962.
-
Vgl. Seminar 9, Die Identifizierung, Sitzung vom 23. Mai 1962.
-
Vgl. Jean-Pierre Petit und Fabrice Guyod: Récit des trois rencontres entre Jean-Pierre Petit et Jacques Lacan, tournant autour de la surface du cross-cap et de la surface de Boy. In: Figures de la psychanalyse 2006/2 (Nr.14), S. 181–204.
-
Jean-Pierre Petit: Les aventures d’Anselme Lanturlu: Le Topologicon. Édition Belin, Paris 1985.– J.-P. Petit: Die Abenteuer des Anselm Wüsstegern. Das Topologikon. Übersetzt von F. Herrmann. Physik-Verlag, Weinheim 1987.
-
In der französischen Ausgabe wird auch die Unterscheidung von plongement (Einbettung) und immersion (Immersion) erläutert, die in diesem Artikel noch Thema sein wird. In der deutschen Ausgabe gibt es hier einen entstellenden Eingriff des Übersetzers, er übersetzt sowohl immersion als auch plongement mit „Einbettung“, macht aus der Kapitelüberschrift Plongements et immersions die Überschrift „Einbettungen“ und ersetzt Petits Erläuterung des Unterschieds durch eine falsch Definition der Jordankurve. (Vgl. S. 25 f. in beiden Ausgaben.)
-
Abbildung aus: Darmon, Essais sur la topologie lacanienne, a.a.O., S. 182.
-
Nebenstehende Abbildung aus. J. Lacan: L’identification, dit „Séminaire IX“. Prononcé à Sainte-Anne en 1961–1962. Texterstellung von Michel Roussan. Selbstverlag, Paris 1992, Sitzung vom 16. Mai 1962, S. 225.
-
Die Innenacht hat ihren ersten Auftritt in Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62). In der Sitzung vom 11. April 1962 wird sie erstmals auf den Torus bezogen, in der Sitzung vom 9. Mai 1962 erstmals auf die Kreuzhaube.
-
Abbildung aus Darmon, Essais sur la topologie lacanienne, a.a.O., S. 185.
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Abbildung aus: Darmon, Essais sur la topologie lacanienne, a.a.O., S. 209.
-
Abbildung aus Darmon, Essais sur la topologie lacanienne, a.a.O., S. 209.
-
Vgl. Seminar 9, Die Identifizierung, Sitzung vom 6. Juni 1962; Seminar 10, Die Angst, Sitzung vom 22. Mai 1963, Version Miller/Gondek, S. 317.
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Vgl. Seminar 9, Die Identifizierung, Sitzung vom 6. Juni 1962.
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Abbildung aus: Jean-Pierre Petit: Die Abenteuer des Anton Wüsstegern. Das Topologikon. Physik-Verlag, Weinheim 1987, S. 21.
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Vgl. Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62), Sitzung vom 6. Juni 1962.
In diesem Seminar sieht die Zuordnung so aus:„Der doppelte Schnitt teilt die Fläche, die cross-cap genannt wird, immer in zwei Teile: den, für den wir uns interessieren und woraus ich für Sie die Stütze der Erklärung des Verhältnisses von S zu a im Phantasma machen werde und auf der anderen Seite eine Möbiusfläche.“ (Sitzung vom 6. Juni 1962)
Das Phantasma entspricht hiernach also der Scheibe insgesamt. Diese Zuordnung wird in Seminar 13 geändert.
-
Bei der Einführung der Kreuzhaube in Seminar 9, Die Identifizierung, wird die Scheibe mit dem Phallus als Objekt der Kastration gleichgesetzt.
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In Seminar 9, Die Identifizierung, in dem Lacan die Kreuzhaube einführt, versteht er unter dem Objekt a noch „das Objekt des Begehrens“, ab Seminar 10, Die Angst, wird hieraus „die Ursache des Begehrens“.
-
So zuerst in Seminar 13, Sitzung vom 15. Dezember 1965:
„Das Möbiusband ist eine Fläche, die so ist, dass der Schnitt, der in ihrer Mitte gezogen wird, eben das Möbiusband ist. Das Möbiusband ist seinem Wesen nach der Schnitt selbst. Und darin kann das Möbiusband für uns die strukturale Stütze für die Konstituierung des Subjekts als teilbar sein.“
Deutlicher noch sagt er es in derselben Sitzung für den Torus:
„Es geht darum zu wissen, wo dieses $ verortet ist, wo es artikuliert ist, dieses gespaltene Subjekt als solches. Das, was vom Subjekt strukturiert werden kann, ist strukturell ganz und gar mit der Möglichkeit der Transformation verbunden, des Übergangs der Struktur des Torus zu der des Möbiusbandes, nicht das Wahre des Subjekts, sondern das Möbiusband insofern es gespalten ist, insofern es, einmal in der Mitte zerschnitten, kein Möbiusband mehr ist. Es ist dann eine Sache, die zwei Seiten hat, eine Vorderseite und eine Rückseite, das sich auf eigenartige Weise in sich selbst einrollt, die jedoch – wie ich Ihnen das heute als Modell geliefert habe, damit sie es auf spürbare Weise sehen – auf das anwendbar wird, was man üblicherweise als Ring bezeichnet und was ein Torus ist.“
-
Die Deutung der Raute in der Phantasma-Formel als Schnitt findet man bei Lacan ab dem Seminar Das Begehren und seine Deutung (Seminar 6 von 1958/59); vgl. in Seminar 6 die Sitzungen vom 20. Mai, 27. Mai, 3. Juni, 10. Juni, 24. Juni und 1. Juli 1959. Die Deutung des Phantasma-Schnitt als Innenacht-Schnitt in eine Kreuzhaube wird zuerst im Seminar Die Identifizierung entwickelt (Seminar 9 von 1961/62), Sitzung vom 16. Mai 1962.
-
Abbildung aus Darmon, Essais sur la topologie lacanienne, a.a.O., S. 434.
-
Vgl. Juan-David Nasio: Introduction à la topologie de Lacan. Payots et Rivages, Paris 2010, S. 89, von mir modifiziert, RN.
Diese Zeichnung gibt es bereits in: Nasio, Les yeux de Laure, a.a.O., S. 208, sowie in: Nasio, Object a and the cross-cap, a.a.O., S. 107.
-
Vgl. J. Lacan, Problèmes cruciaux pour la psychanalyse, Seminar 12 von 1964/75, unveröffentlicht; D’un Autre à l’autre. Le séminaire, livre XVI. Le Seuil, Paris 2006, S. 249.
-
Vgl. Erik Porge: Des fondements de la clinique psychanalytique. Érès, Toulouse 2008, S. 124, Übersetzung auf dieser Website hier.