Que vuoi? – die Frage nach dem Begehren des Anderen
Graf des Begehrens,vollständiger Graf1
Wofür steht in Lacans Grafen des Begehrens die von mir in der Abbildung oben gelb markierte Linie, also die Linie, die von A aus nach oben führt?
Meine Frage bezieht sich auf die vierte Konstruktionsstufe des Grafen, auf den sogenannten vollständigen Grafen im Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, wie er oben wiedergegeben ist.2
Sie wäre leicht zu beantworten, wenn sie sich auf die dritte Stufe der Konstruktion, also auf Graf 3, bezöge.3 Auf der dritten Stufe stehen die von A ausgehenden, nach oben führenden Linien eindeutig für die Frage „Que vuoi?“, wie bereits das Diagramm zeigt (Abbildung zum Vergrößern anklicken).
Aber wofür steht die von A ausgehende Linie im vollständigen Grafen?
Que vuoi?
„Que vuoi?“, italienisch für „Was willst du?“, ist Lacans Formel für die Frage des Subjekts nach dem Begehren des Anderen.
In der zweiten Sitzung von Seminar 18 erläutert er die Frage Que vuoi? so:
„Man hat sich also beim letzten Mal an bestimmten Wendepunkten fragen können, worauf ich damit hinauswill. Wirklich, diese Art Frage scheint mir, um bedeutsam zu sein, doch reichlich verfrüht zu sein (…).
Dieses worauf ich damit hinauswill ist jedenfalls äußerst exemplarisch für das, was ich zum Begehren des Anderen vorbringe: Que vuoi? Waswilla? Wenn man es sofort sagen kann, fühlt man sich offensichtlich sehr viel wohler. Bei dieser Gelegenheit kann man den Trägheitsfaktor bemerken, den dieses Que vuoi? darstellt, zumindest wenn man antworten kann. Eben deshalb bemüht man sich in einer Analyse, diese Frage in der Schwebe zu lassen.“4
Die Wendung erscheint zum ersten Mal in Seminar 4.5 Lacan bezieht sich hierfür auf einen 1772 erschienenen Roman von Jacques Cazotte, Le diable amoureux (Der verliebte Teufel). Der Ich-Erzähler, Alvare, berichtet, wie er einmal in Neapel den Teufel beschwor und dieser ihm in verschiedenen Gestalten erschien. Die erste Erscheinungsform war ein Kamelkopf, und dieser Kopf fragte den Helden: „Que vuoi?“ „Was willst du?“6 In den Schriften erscheint die Formulierung in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten.7
Das Subjekt stellt sich die Frage nach seinem Begehren jenseits des Anspruchs und stellt hierzu die Frage nach dem Begehren des Anderen jenseits der Ansprüche, die der Andere an ihn stellt. In Seminar 6 heißt es, bezogen auf den Grafen des Begehrens:
„Dieser Diskurs für den Anderen, dieser Bezug auf den Anderen setzt sich jenseits des Anderen fort, sofern er, ausgehend vom Anderen, vom Subjekt wiederaufgenommen wird, um die Frage zu stellen – Was will ich? Genauer, die Frage richtet sich hier an das Subjekt und das in einer bereits umgekehrten Form – Was willst du?“8
Jenseits des Anderen – oberhalb des Punktes A im Grafen – stellt das Subjekt die Frage „Was will ich?“; es stellt diese Frage in umgekehrter Form, in der Weise, dass es fragt, was der Andere will, Que vuoi? Gemeint ist hier nicht, was der Andere fordert, nicht, was er beansprucht, sondern was der Andere begehrt, welches verdrängte Begehren sich hinter den Forderungen des Anderen versteckt und indirekt von ihnen angezeigt wird.
Das Subjekt stellt sich die Frage nach dem Begehren des Anderen, weil es wissen will, was es für den Anderen ist, jenseits von dessen Anspruch9, welchen Platz es im Begehren des Anderen einnimmt. Und es fragt deshalb danach, weil es sein eigenes Begehren verorten will. Das Subjekt begehrt, vom Anderen begehrt zu werden, um auf solche Weise in seinem eigenen Begehren anerkannt zu werden.
Die Frage an den Anderen, was er will, kann vom Anderen letztlich nicht beantwortet werden, ihm fehlt der Signifikant dieser Antwort. Im vollständigen Grafen wird das Fehlen der Antwort durch das Symbol S(Ⱥ) dargestellt, zu lesen als: es gibt einen Signifikanten (S), der dem Anderen (A) fehlt, und insofern ist der Andere ausgestrichen, versperrt (Ⱥ); vgl. hierzu diesen Blogbeitrag.
Allerdings gibt es durchaus einen Signifikanten, der die Frage nach dem Begehren des Anderen beantwortet: den Phallus-Signifikanten. Dieser Signifikant ist das Ergebnis der Bildung der sogenannten Vatermetapher, mit ihm beantwortet sich das Subjekt die Frage, was der Andere begehrt – sofern es neurotisch oder pervers ist; im Falle der Pychose wird der Phallus-Signifkant nicht gebildet, das Subjekt verfügt hier nicht über eine Antwort auf die Frage nach dem Begehren des Anderen.10
Der Phallus-Signifikant ist im Anderen – im Unbewussten – nicht verfügbar: er ist urverdrängt, d.h. das Subjekt kann ihn sich auf keine Weise bewusst machen, auch nicht durch das Verfahren der freien Assoziation.11
In den älteren Versionen des Grafen steht dieser Signifikant, als symbolischer Phallus, Φ, am Beginn der oberen Signifikantenlinie des vollständigen Grafen. In der letzten Version des Grafen, im Aufsatz Subversion des Subjekts, wandert er auf die rechte Seite dieser Linie und wird hier als „Kastration“ bezeichnet. Der Phallus wird ersetzt durch das Phantasma. Am Endpunkt der Linie Que vuoi? steht in der dritten Konstruktionsstufe des Grafen deshalb die Formel für das Phantasma, $◊a.Die Linie Que vuoi? im vollständigen Grafen
In der grafologischen Spezialliteratur wird die von A ausgehende Linie des vollständigen Grafen nicht erläutert.13 Deshalb bringe ich, wie im letzten Blogeintrag (zur oberen Signifikantenlinie des Grafen), eine detaillierte Begründung.
Ich beginne mit der Vorlesung vom 18. März 1959.
„Sein eigener Wille, das ist zunächst dieses Ding, wir Analytiker wissen es, dieses allerproblematischste Ding, nämlich das, was es wirklich begehrt. Jenseits der Notwendigkeiten des Anspruchs, der das Subjekt zerstückelt und aufbricht, jenseits der Beziehung zum Andern, ist das Wiederfinden des Begehrens in seiner Unbefangenheit jenes Problem, mit dem wir ständig zu tun haben. Die Fragestellung des Subjekts über das, was es will, genau sie stellt mein fragezeichenförmiger Haken dar.“ (WEW2, 43)14
Der fragezeichenförmige Haken bezieht sich auf die Frage des Subjekts nach dem, was es will. Das bezieht sich vermutlich auf die dritte Konstruktionsstufe des Grafen.
Wir sind also nicht weiter als nach der Lektüre von Subversion des Subjekts.
… „Wie das der Fall ist im ersten Stock des Graphen, ist da irgendwo eine signifikante Kette installiert, die im eigentlichen Sinne das Unbewußte heißt und die dieser Fragestellung ihr Gestell gibt, sodaß man sich irgendwo zurechtfinden kann.“ (WEW2, 43)15
- Im oberen Stockwerk des Grafen ist eine Signifikantenkette installiert. Damit sind wir beim vollständigen Grafen angekommen.
– Diese obere Signifikantenkette ist das Unbewusste.
– Die obere Signifikantenkette gibt der Frage des Subjekts nach dem, was es will, ihr Gestell. Das heißt aber, dass die Frage „Que vuoi?“ auch im vollständigen Grafen ihren Platz hat. Also steht auch im vollständigen Grafen die von A ausgehende Linie für die Frage „Que vuoi?“.
… „Es gibt da einen Code eingeschrieben, der das Verhältnis des Subjekts zu seinem eigenen Anspruch ist, $◊D. Das ist ein Register, durch welches das Subjekt was vernehmen kann? Nicht, wie man so sagt, daß sein Anspruch oral ist, oder anal, oder dies oder das – nicht darum handelt es sich. Sondern, daß es in einem bestimmten privilegierten Verhältnis steht, als Subjekt, zum Anspruch. Deswegen habe ich sie so eingeschrieben, mit einer bestimmten Form von Anspruch (demande, was hier mit „Frage“ übersetzt werden muss), diese Linie jenseits des Andern, wo sich die Frage des Subjekts stellt. Ist es eine unbewußte Linie? Nein, schon bevor es eine Analyse und Analytiker gegeben hat, haben sich die Menschen die Frage gestellt, verlassen Sie sich darauf, genauso wie heute seit Freud – zu wissen, wo ihr wirklicher Wille ist. Deshalb zeichnen wir diese Linie als voll durchgezogenen Strich. Sie gehört dem System der Persönlichkeit an, nennen Sie sie bewußt oder vorbewußt, ich werde nicht weiter auf Details eingehen vorläufig.“ (WEW2, 43)
- Wir sind beim Grafen mit dem Code $◊D, also beim vollständigen Grafen.
– Die Linie jenseits des Anderen ist diejenige, wo sich die Frage des Subjekts stellt. Gemeint ist die von A ausgehende nach oben führende Linie, wie das folgende zeigt. Dies ist die zweite Bestätigung dafür, dass die von A ausgehende Linie für die Frage „Was will ich?“ bzw. „Was willst du?“ steht.
– Die Frage des Subjekts ist eine bewusste oder eine vorbewusste Frage.
– Die Linie für die Frage des Subjekts nach dem, was es will, wird als durchgezogene (bewusste) Linie gezeichnet, im Unterschied zur oberen Signifikantenkette, die als gestrichelte (unbewusste) Linie dargestellt wird.
Die Differenzierung zwischen bewussten durchgezogenen und unbewussten gestrichelten Linien findet man in der nebenstehenden Version des Grafen.16
Ich wechsle zur Sitzung vom 8 April 1959.
„Dieser Bezug auf den Andern setzt sich jenseits fort, sofern er von A her wiederaufgenommen wird, um die Frage ‚Was will ich‘ zu konstituieren, oder genauer, denn sie bietet sich dem Subjekt in einer schon negativen Form an ‚Was willst Du?‘ Jenseits des Anspruchs, der entfremdet ist im System des Diskurses, sofern er hier, am Ort des Andern ruht, setzt das Subjekt seinen Anlauf fort und stellt sich die Frage über das, was es ist als Subjekt.“ (WEW2, 50)
- Die von A ausgehende, nach oben zeigende Linie steht für die Frage „Was will ich?“, und zwar in der negativen Form „Was willst Du?“- Die Frage „Was willst Du?“ ist eine Abwehr der Frage „Was will ich?“ – sie ermöglicht damit zugleich einen Zugang zu dieser Frage.
„Auf der Ebene der unteren Linie ist die Antwort immer das Signifikat des Andern, s(A). Die Antwort bezieht sich nämlich hier auf das Sprechen, das im Andern abläuft und den Sinn dessen, was wir sagen haben wollen, modelliert. Wer aber wird das auf der Ebene des Andern sagen haben wollen? Im Jenseits des Diskurses des Andern, auf der Ebene der Frage, die das Subjekt sich selbst stellt, Was bin ich geworden in all dem?, ist, das habe ich Ihnen gesagt, der Signifikant des Andern mit dem Balken die Antwort S(Ⱥ).“ (WEW2, 53)
- Die Antwort auf die Frage „Was will ich?“ ist der Punkt S(Ⱥ). Damit ist klar, dass die Frage „Que vuoi?“ sich nicht nur auf das von A nach $◊D führende Segment bezieht, sondern auch auf den von $◊D nach S(Ⱥ) führenden Pfeil. Die von $◊D nach S(Ⱥ) führende Linie steht außerdem für die Einwirkung des unbewussten Codes, des unbewussten Vokabulars ($◊D) auf die Botschaft S(Ⱥ). Diese Linie hat also eine Doppelfunktion.
Ergebnis:
Im vollständigen Grafen steht die von A ausgehende, nach oben führende Linie für die Frage „Que vuoi?“. Sie reicht bis zum Punkt S(Ⱥ); dieser steht für die Antwort auf diese Frage. Insgesamt wird die Frage „Que vuoi?“ im Grafen also durch eine Verbindung von zwei Pfeillinien dargestellt, durch die von A nach $◊D führende Linie und durch die hieran anschließende, von $◊D nach S(Ⱥ) führende Linie. (Vgl. 18.3.1959, Wo Es war 2, S. 43; 8.4.1959, Wo Es war 2, S. 50).17 Die zweite Linie steht zugleich für die Einwirkung des unbewussten Codes auf die unbewusste Botschaft.
Insgesamt steht die große hufeisenförmige Linie – der von $ über $◊D und S(Ⱥ) nach I(A) führende Pfeil – für die Intentionalität, wie Lacan in Subversion des Subjekts erläutert. Die Intentionalität besteht im oberen Stockwerk des Grafen also – bis zum Punkt S(Ⱥ) – in einer Frage, in der Frage „Que vuoi?“.
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Anmerkungen
- Abbildung aus: Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens, Schriften II, S. 193.
- Schriften II, hg. v. Norbert Haas, S. 193.
- Schriften II, S. 191.
- Seminar 18, Sitzung vom 20. Januar 1971 ; übersetzt nach Version Miller, S. 23 f., Übersetzung RN.
- Vgl. Seminar 4, Sitzung vom 6. Februar 1957; Version Miller/Gondek, S. 198 f.
- Vgl. Jacques Cazotte: Der verliebte Teufel. Übersetzt von Franz Kaltenbeck. Insel, Frankfurt am Main 1999. Eine ältere Übersetzung, erstellt von Eduard von Bülow, 1838, findet man im Internet hier.
- Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 325-368, hier: S. 352 f.).
- Seminar 6, Version Miller, S. 348.
- Vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 564.
- Vgl. J. Lacan: Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht (1958).
- Vgl. J. Lacan: Die Bedeutung des Phallus (Vortrag von 1958, zuerst 1966 veröffentlicht), und diesen Blogbeitrag.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 18. März 1959; Version Miller, S. 336.
- Joël Dor: Introduction to the reading of Lacan. The unconscious structured like a language. Other Press, New York 1998; zuerst 1985 auf Französisch erschienen, übersetzt (vermutlich) von Susan Fairfield. Der Graf wird hier, auf knapp 50 Seiten, in den Kapiteln 21 und 23 bis 25 behandelt.– Alfredo Eidelsztein: The graph of desire. Using the work of Jacques Lacan. Karnac Books, London 2009; eine Vorlesung von 1993, die zuerst 1995 auf Spanisch erschien, übersetzt von Florencia F. C. Shanahan.– Bruce Fink: Reading „The Subversion of the Subject“. In: Ders.: Lacan to the letter. Reading Écrits closely.University of Minnesota Press, Minneapolis, London 2004, S. 106-128.
- Ich zitiere die beiden hier interessierenden Sitzungen von Seminar 6 nach deren Übersetzung durch Michael Turnheim in: Wo Es war, Heft 2, 1986, S. 32-60; „WEW2“ meint „Wo Es war, Heft 2“.
- Die drei Pünktchen zu Beginn sollen darauf verweisen, dass dieses Zitat an das vorangehende nahtlos anschließt.
- Aus: Seminar 6, Version Miller, S. 337.
- Vgl. außerdem 6: 606; diese Seitenangabe bezieht sich auf die Staferla-Edition von Seminar 6, Version vom 20.3.2010, die man hier findet.