Der Liebesanspruch: Komm (Geh) !
Graph des Begehrens, oberes Stockwerk
Wofür steht in Lacans Graphen des Begehrens die obere, von links nach rechts führende Pfeillinie, also die Linie, die ich in der Abbildung oben rot eingefärbt habe?
Der Graph des Begehrens ist eine räumliche Darstellung der Struktur des sprechenden Subjekts und damit der Gesamtheit der Phänomene im Felde der psychoanalytischen Erfahrung. Das Schema wurde von Lacan in Seminar 5 von 1957/58 (Die Bildungen des Unbewussten) und Seminar 6 von 1958/59 (Das Begehren und seine Deutung) entwickelt sowie in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten, einem Text, der 1962 geschrieben und 1966 veröffentlicht wurde. 1
Die Grundkonstruktion sieht so aus: Es gibt ein großes Hufeisen, das von $ (unten rechts) über $◊D (oben rechts) und S(Ⱥ) (oben links) nach I(A) (unten links) führt; dies ist die Linie der Intentionalität. Diese Linie wird von zwei quer von links nach rechts verlaufenden Linien gekreuzt; die untere führt von „Signifikant“ nach „Stimme“, die obere von „Genießen“ nach „Kastration“. Diese beiden Querlinien stehen für Signifikantenketten, Verbindungen von Signifikanten im zeitlichen Nacheinander. Die beiden Stockwerke des Graphen stehen, in Freuds Terminologie, für das Bewusste (unten) und das Unbewusste (oben). Die untere Signifikantenlinie repräsentiert das gewöhnliche bewusste Sprechen. Die obere Linie repräsentiert ein „Sprechen“, bei dem die Bedeutungen der Signifikanten Sprechern und Hörern versperrt sind, das Sprechen des Unbewussten; in Freuds Sprache: sie steht für die „unbewussten Gedanken“.
Mit der unteren Querlinie ist eine bestimmte Signifikantenkette gemeint, die Forderung nach Bedürfnisbefriedigung. Und worum geht es bei der Signifikantenkette, die durch die obere Querlinie dargestellt wird?
Lacan gibt eine klare Antwort, die er mit großem Aufwand entwickelt: Die obere Querlinie repräsentiert den unbewussten Liebesanspruch (demande d’amour), den beim Untergang des Ödipuskomplexes verdrängten Liebesanspruch.
Den Begriff des Liebesanspruchs führt Lacan in Seminar 5 von 1957/58 ein, Die Bildungen des Unbewussten.2 Der Liebesanspruch ist die an den Anderen gerichtete Forderung, von ihm geliebt zu werden. Darin manifestiert sich die Forderung nach Anerkennung durch den Anderen.3
Diese Zuordnung des Liebesanspruchs zum Graphen des Begehrens habe ich, zu meinem Erstaunen, in der Sekundärliteratur nicht gefunden.
Wer sich über den Graphen informieren will, wird vielleicht zuerst zum Lacan-Lexikon von Dylan Evans greifen; er findet hier einen Artikel zum Graphen, darin jedoch keinen Hinweis auf den Liebesanspruch.4 Als aussichtsreichere Auskunftsquellen bieten sich Spezialuntersuchungen zum Graphen an. Mir sind drei Graphologische Arbeiten bekannt, die Untersuchungen von Dor, Eidelsztein und Fink; in keiner habe ich die Auskunft gefunden, dass mit der oberen Signifikantenlinie der Liebesanspruch gemeint ist.5
Es gibt hier offenbar eine Rezeptionssperre. Ich führe im Folgenden ausführlich die Stellen an, die belegen, dass die obere Signifikantenlinie für den Liebesanspruch steht.
Der unbewusste Liebesanspruch
Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und Anspruch auf Liebe
Bezogen auf den Graphen heißt es in Seminar 5:
„Was es mit der Perspektive des Bedürfnisses auf sich hat, so geben uns diese Zeilen die beiden Horizonte des Anspruchs an. Wir finden hier den Anspruch als artikuliert, insofern jeder Anspruch auf Befriedigung eines Bedürfnisses durch die Engführungen der Artikulation hindurchgehen muß, die die Sprache zur Pflicht macht. Andererseits gibt es allein aufgrund der Tatsache, daß man auf die Ebene des Signifikanten überwechselt, wenn man das sagen kann, in seiner Existenz und nicht mehr in seiner Artikulation, unbedingten Anspruch auf Liebe, und daraus ergibt sich auf der Ebene desjenigen, an den sich der Anspruch richtet, das heißt des Anderen, daß er selbst symbolisiert ist – was bedeutet, daß er als Anwesenheit auf dem Grunde einer Abwesenheit erscheint, daß er als Abwesenheit anwesend gemacht werden kann. Halten Sie gut fest, daß gar bevor ein Objekt im erotischen Sinne des Ausdrucks geliebt wird – in dem Sinne, in dem der Eros des geliebten Objekts als Bedürfnis wahrgenommen werden kann –, die Setzung des Anspruchs als solcher den Horizont des Anspruchs auf Liebe erschafft.“ (5: 503)6
– „Diese Zeilen“: Lacan steht an der Tafel und zeigt auf den Graphen.
– Der Anspruch (demande), die Forderung, hat zwei Horizonte, und diese beiden Horizonte werden durch zwei Zeilen des Graphen angegeben, durch die von links nach rechts verlaufenden großen Pfeillinien.
– Die beiden Anspruchshorizonte sind der Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und der Anspruch auf Liebe.
– Der Liebesanspruch bezieht sich auf die Anwesenheit vor dem Hintergrund der Abwesenheit, in ihm wird die Abwesenheit anwesend gemacht. Anders gesagt, der Liebesanspruch lautet: Sei ganz für mich da!
– Mit jedem Bedürfnisanspruch wird zugleich ein Liebesanspruch erhoben. Wenn das Kind sagt „Gib mir Brot“ sagt es implizit „Sei für mich da!“.
Damit wissen wir, dass der Bedürfnisanspruch immer mit einem Liebesanspruch einhergeht und dass dieser doppelte Horizont des Anspruchs im Graphen durch zwei Zeilen repräsentiert wird.
… „Auf diesem Schema sind die beiden Linien, auf denen das Bedürfnis des Subjekts sich als signifikant artikuliert‚ die des Anspruchs als Anspruch auf Befriedigung eines Bedürfnisses und die des Anspruchs auf Liebe – aus einem Grund topologischer Notwendigkeit getrennt, aber die Bemerkungen von eben passen darauf. Die Trennung bedeutet nicht, daß sie nicht eine einzige und selbige Linie sind, in die sich einschreibt, was das Kind mit der Mutter verbindet. Es gibt permanentes Übereinanderlegen im Ablauf dessen, was auf der einen und was auf der anderen dieser beiden Seiten geschieht.“ (5: 503)7
– „Auf diesem Schema“: das bezieht sich weiterhin auf den Graphen.
– Das Bedürfnis des Subjekts artikuliert sich „als signifkant“ auf zwei Linien, anders gesagt, es artikuliert sich in zwei Signifikantenketten, die als zwei orientierte Linien dargestellt werden.
– Die eine dieser beiden Linien steht für den Anspruch auf Befriedigung eines Bedürfnisses, die andere für den Anspruch auf Liebe.
– Aus Gründen topologischer Notwendigkeit sind diese beiden Linien im Schema getrennt.– Was meint hier „Notwendigkeit“? Das ist mir nicht klar, aber sicherlich bezieht sich die Rede davon, dass diese Notwendigkeit „topologisch“ ist, auf die Topologie (die räumliche Struktur) des Graphen.
– Empirisch gesehen handelt es sich um eine einzige Linie, d.h. indem der Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung erhoben wird, wird zugleich der Liebesanspruch vorgebracht (ähnlich 5: 588 f.).
Damit ist klar, dass die beiden Ansprüche nicht einfach durch Linien, sondern speziell durch Signifikantenlinien dargestellt werden, also durch Pfeillinien, die Signifikantenketten darstellen.
Demnach gilt:
– Es gibt im Graphen zwei Signifikantenlinien, eine untere und eine obere.
– Von den beiden Signifikantenlinien steht die eine für den Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung, die andere für den Liebesanspruch (5: 503).
– Nun ist aber unstrittig, dass die untere Signifikantenlinie für den Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung steht.
– Also steht die obere Signifikantenlinie für den Liebesanspruch.
Allerdings ist nicht eindeutig klar, welche Linie im oberen Teil des Graphen gemeint ist. In der Literatur herrscht Einigkeit darüber, dass die von „Genießen“ nach „Kastration“ führende Linie eine Signifikantenkette darstellt, aber möglicherweise stehen ja auch andere Linien im oberen Teil des Graphen für Signifikantenketten.
Etwas später heißt es:
„In unserem Schema von diesem Jahr haben wir auf der oberen Stufe eine Linie, die eine signifikante und artikulierte Linie ist. Da sie sich am Horizont jeder signifikanten Artikulation produziert, ist sie der fundamentale Hintergrund jeder Artikulation eines Anspruchs. Auf der unteren Stufe ist es artikuliert im allgemeinen, wie schlecht auch immer. Wir haben eine genaue Artikulation, eine Abfolge von Signifikanten, der Phoneme.
Hängen wir unseren Kommentar an die obere Linie an, die im Jenseits jeder signifikanten Artikulation ist. Diese Linie entspricht der Wirkung der signifikanten Artikulation als in ihrer Gesamtheit erfaßt, als allein aufgrund ihrer Gegenwart, sie läßt Symbolisches im Realen erscheinen. In ihrer Totalität, und insofern sie sich artikuliert, läßt sie diesen Horizont oder dieses Mögliche des Anspruchs aufscheinen, diese Macht des Anspruchs, die darin besteht, wesentlich und seiner Natur nach Anspruch auf Liebe zu sein, Anspruch auf Gegenwart, mit aller Ambiguität, die da hineinzulegen ist.“ (5: 518)
– „Unser Schema von diesem Jahr“: der Graph.
– Die Linie in der oberen Stufe, dem oberen Stockwerk des Graphen ist eine Signifikantenlinie.
– Sie wird am Horizont jeder Signifikantenartikulation mitproduziert.
– Die obere Linie lässt den Horizont des Liebesanspruchs aufscheinen.
– Der Liebesanspruch ist Anspruch auf Gegenwart, auf Anwesenheit.
– Der Liebesanspruch ist ambig, ambivalent.
Liebe, Hass, Unwissenheit
Um welche Ambiguität geht es?
… „Um etwas festzulegen, spreche ich hier von Liebe. Der Haß hat in diesem Fall denselben Platz. Einzig in diesem Horizont läßt sich die Ambivalenz von Haß und Liebe begreifen. Und ebenfalls in diesem Horizont können wir an derselben Stelle diesen dritten, der Liebe und dem Haß im Verhältnis zum Subjekt homologen Terminus kommen sehen, die Ignoranz.“ (5: 518)
– Die Rede vom Liebesanspruch ist nur ein Kürzel.
– Es geht in diesem Horizont auch um den Hass.
– Und es geht auch um die „Ignoranz“: um das Nichtwissen, die Unwissenheit.
Die obere Signifikantenlinie steht also erstens für den Liebesanspruch, zweitens für den Hass – für den Todesanspruch, die Forderung nach dem Tod des Anderen –, und drittens für den Anspruch auf die Unwissenheit (ignorance). Geht es um die Unwissenheit des Subjekts oder um die des Anderen?
Die Dreiheit von Liebe, Hass und Unwissenheit (ignorance) findet man zuerst in Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, einem Vortrag von 1953, der 1956 veröffentlicht wurde:
„Man braucht sich nur den traditionellen Lehren zuzuwenden, die uns die Buddhisten (aber nicht nur sie liefern), um in dieser Art von Übertragung einen der Existenz eigentümlichen Irrtum zu erkennen. Sie gliedern diese Lehre unter drei Gesichtspunkten, die sie wie folgt zusammenstellen: Liebe, Haß und Ignoranz.“8
Der Buddhismus benennt drei Hauptursachen für den ewigen Kreislauf der Wiedergeburten, die drei Gifte: rāga (Bindung, Gier, Habenwollen), dveṣa (Hass) und moha (Unwissenheit, Verblendung). Die Unwissenheit wird auf die Geisteshaltung der Gleichgültigkeit bezogen9, auf diese Weise ergibt sich die Verbindung zu Freuds These über die drei Gegensätze der Liebe: „Das Lieben ist nicht nur eines, sondern dreier Gegensätze fähig. Außer dem Gegensatz: lieben–hassen gibt es den anderen: lieben–geliebt werden, und überdies setzen sich lieben und hassen zusammengenommen dem Zustande der Indifferenz oder Gleichgültigkeit entgegen.“10
In Seminar 1 von 1953/54, Freuds technische Schriften, erläutert Lacan die dialektische Struktur des Nichtwissens. Das Nichtwissen beruht darauf, dass das Subjekt sich die Frage stellt nach dem, was es ist; hiedurch bringt es sich in einen Bezug zur Wahrheit; die Bedingung für die Beziehung des Subjekts zum Nichtwissen ist, dass es spricht(1: 214).
Im selben Seminar unternimmt Lacan einen ersten Versuch, das Verhältnis zwischen dem Symbolischen, dem Imaginären und dem Realen topisch darzustellen: durch einen Sechsflächner, einer Art in sich gespiegelte Dreieckspyramide. Die Liebe wird hier an der Kante zwischen dem Symbolischen und dem Imaginären verortet, der Hass an der Kante des Imaginären und des Realen und die Unwissenheit an der Kante des Realen und des Symbolischen. Zur Übertragung gehören nicht nur Liebe und Hass, sondern auch Unwissenheit, denn das Subjekt, das in eine Analyse geht, bringt sich hierdurch in die Position dessen, der nicht weiß, ohne diesen Bezug wäre eine Analyse nicht möglich (1: 340).11
In der weiteren Ausarbeitung wird die Liebe als Liebesanspruch begriffen und der Hass als Todesanspruch, als Todesforderung – worin besteht dann der Anspruch auf Unwissenheit? Einen Hinweis gibt Lacan in Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung. Er analysiert dort den von Freud berichteten Traum vom toten Vater, der nicht wusste, dass er tot war. Dieser Traum, so erklärt Lacan, beruht auf dem Anspruch des Sohnes auf die Unwissenheit des Vaters, und dieser Anspruch hat die Funktion, die eigene Unwissenheit abzuwehren.12
Linie der Übertragung
In Seminar 5 heißt es:
„Wir haben auf der oberen Linie links den Signifikanten des Anderen als markiert von der Aktion des Signifikanten, das heißt des schräggestrichenen A – S(Ⱥ).“ (5: 518)
– Die „obere Linie, von der bislang die Rede war, ist diejenige, bei der man im Graphen links das Kürzel S(Ⱥ) findet.
Damit ist klar, dass mit der oberen Signifikantenlinie tatsächlich die von „Genießen“ nach „Kastration“ führende Linie gemeint ist, also das Gegenstück zu derjenigen Linie im unteren Teil des Graphen, die für den Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung steht.
„Die Übertragung im eigentlichen Sinne ist im Verhältnis zu dieser Linie einzuordnen.“ (5: 519)
– „Diese Linie“ ist wieder die obere Querlinie, die Linie des Liebesanspruchs.
– Diese Linie ist nicht nur die Linie des Liebesanspruchs, sondern zugleich die der Übertragung.
Die Übertragung besteht demnach in der Übertragung eines unbewussten Anspruchs auf Anwesenheit des Anderen, auf den Tod des Anderen und auf Nichtwissen. (Das erinnert mich an eine Freundin, die zu meiner Verblüffung von ihrem Psychoanalytiker tatsächlich erwartete, dass er jederzeit für sie telefonisch erreichbar wäre.)
„In dieser Zwischenzone ist das einzuordnen, was sich das Begehren nennt, angezeigt durch das kleine d. Es ist das Begehren, das eigentlich in der gesamten Ökonomie des Subjekts in Frage gestellt ist, und das an dem beteiligt ist, was sich in der Analyse offenbart, nämlich in dem, was sich anschickt, sich im Sprechen zu regen, in einem Spiel des Schwankens zwischen den ebenerdigen Signifikanten des Bedürfnisses, wenn ich das so sagen kann, und dem, was, jenseits der Signifikantenartikulation, aus der beständigen Gegenwart des Signifikanten im Unbewußten resultiert, insofern der Signifikant das Subjekt bereits gestaltet, geformt, strukturiert hat. In dieser Zwischenzone ist das Begehren einzuordnen, das Begehren des Menschen, insofern es das Begehren des Anderen ist. Es ist jenseits des Bedürfnisses, jenseits der Artikulation des Bedürfnisses, zu der das Subjekt durch die Notwendigkeit veranlaßt wird, es für den Andern geltend zu machen, jenseits jeder Befriedigung des Bedürfnisses. Es stellt sich unter seiner Form einer absoluten Bedingung dar und bringt sich im Spielraum zwischen Anspruch auf Befriedigung des Bedürfnisses und Anspruch auf Liebe hervor. Das Begehren des Menschen ist für ihn stets am Ort des Anderen als Ort des Sprechens zu suchen, weshalb das Begehren ein in diesem Ort des Anderen strukturiertes Begehren ist.“ (5: 521, Übersetzung geändert)
– Das Begehren ist im Graphen in der Zwischenzone zwischen dem Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und dem Anspruch auf Liebe einzuordnen. Dies bezieht sich auf die mit d bezeichnete Linie, die zwischen der unteren und der oberen Signifikantenlinie platziert ist, zwischen dem Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und der Forderung nach Liebe, Tod und Unwissenheit.
– Das Begehren hat die Form einer „absoluten Bedingung“, d.h. es ist unabhängig vom Anderen („absolut“ im Sinne von „losgelöst“), und darin unterscheidet es sich vom Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und vom Liebesanspruch, die beide mit der Abhängigkeit vom Anderen einhergehen.13
Die Position des Begehrens zwischen den beiden Anspruchslinien des Graphen erklärt sicherlich auch, warum Lacan in Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht erklärt, das Begehren entstehe „jenseits“ des Anspruchs auf Bedürfnisbefriedigung und „diesseits“ des Anspruchs auf Anwesenheit oder Abwesenheit.14 Der Text beruht auf einem Vortrag, den Lacan im Juli 1958 hielt, direkt nach dem Abschluss von Seminar 5. Betrachtet man das Blatt Papier von oben, liegt die Linie des Begehrens (die waagerechte Linie zwischen d und $◊a) jenseits der Linie des Anspruchs auf Bedürfnisbefriedigung und diesseits der Linie des Liebesanspruchs.15 Diese Art der Betrachtung widerspricht übrigens der Auffassung, dass es sich beim Graphen des Begehrens um einen Graphen im Sinne der mathematischen Graphentheorie handelt; Graphentheoretisch gesehen kann man über die Beziehung zwischen dem Pfeil des Liebesanspruchs und dem Pfeil des Begehrens nur sagen, dass beide Verbindungen zwischen den Punkten $◊D und S(Ⱥ) darstellen, aber nicht, dass der eine diesseits oder jenseits des anderen liegt – in der Graphentheorie gibt es kein Oben oder Unten.
Untergang des Ödipuskomplexes
Ich wechsle zum Seminar 6.
„Angesichts des letztlichen Ausgangs seiner ödipalen Forderungen zieht das Subjekt es vor, wenn man so sagen kann, den gesamten Teil von sich hinzugeben, der ihm von nun an auf immer verboten sein wird, nämlich an die punktierte Signifikantenlinie, die den oberen Teil unseres Graphen ausmacht.“(Seminar 6, 29. April 1959, meine Übersetzung nach Version Staferla)
Das ist nicht sehr klar; ich nehme an, dass gemeint ist: die ödipalen Forderungen, darunter die ödipale Liebesforderung, wandert gewissermaßen in den oberen Teil des Graphen, sie wird unbewusst; sie wird dort durch die hier zur Diskussion stehende Signifikantenlinie repräsentiert.
Eine Schwierigkeit der Konstruktion besteht darin, dass der Liebesanspruch sowohl bewusst als auch unbewusst sein kann. In der Erläuterung der Linie des Liebesanspruchs wird die obere Signifikantenlinie manchmal auf den bewussten Liebesanspruch bezogen, manchmal auf den unbewussten. Da die beiden Etagen des Graphen das Bewusste (unten) und das Unbewusste (oben) darstellen, ist jedoch klar, dass die Linie des Liebesanspruchs sich auf den unbewussten Liebesanspruch bezieht, wie er beim Untergang des Ödipuskomplexes entstanden ist.
Lacan steht an der Tafel und zeigt auf den Graphen:
„Auf dieser Ebene, und das ist es, was das Zeichen zwischen $ und D sagen will, auf dieser Ebene wird der Anspruch durch seine im eigentlichen Sinne symbolische Form affiziert, der Anspruch wird verwendet, insofern jenseits dessen, was er hinsichtlich der Bedürfnisbefriedigung fordert, er sich setzt als dieser Liebesanspruch oder dieser Anspruch auf Anwesenheit, worüber wir gesagt haben, dass der Anspruch den anderen, an den er sich wendet, als denjenigen einsetzt, der anwesend oder abwesend sein kann.“ (27. Mai 1959, 6: 609, meine Übersetzung)
– „Auf dieser Ebene“: gemeint ist das obere Stockwerk des Graphen.
– Im oberen Stockwerk des Graphen ist der Anspruch ein Liebesanspruch.
– Der Liebesanspruch ist ein Anspruch auf Anwesenheit, er bezieht sich auf den Anderen als auf jemanden, der anwesend oder abwesend sein kann.
– Im Ausdruck ($ ◊ D) besagt das Zeichen zwischen $ und D, nämlich die Raute ◊, dass das Subjekt ($) die Bedürfnisansprüche (D), zu etwas Bestimmtem verwendet: dazu, um den Liebesanspruch zu artikulieren. Die oralen und analen Ansprüche (D) dienen als Vokabular, um den unbewussten Liebesanspruch vorzubringen.
Begehren zwischen Bedürfnisbefriedigungsanspruch und Liebesanspruch
Wie erscheint der Liebesanspruch im dritten Text, in dem der Graph entwickelt wird, im Aufsatz Subversion des Subjekts?
„Es ist wohl befremdlich, daß wir, wenn sich hier der unermeßliche Raum auftut, den jeder Anspruch einschließt: weil er Verlangen nach Liebe ist, der genannten Frage [nach dem Vater] nicht mehr Platz einräumen.
Sie vielmehr darauf konzentrieren, was sich, vermöge derselben Anspruchswirkung, diesseits zuschließt um recht eigentlich den Platz des Begehrens auszumachen.“(Schriften II, hg. v. Norbert Haas, S. 189; Écrits, S. 813)
– Jeder Anspruch eröffnet einen unermesslichen Raum, weil er Verlangen nach Liebe ist: Im Graphen wird dieser unendliche Raum durch den Abstand zwischen dem Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und dem Liebesanspruch dargestellt.
– Diesseits schließt sich, aufgrund der Anspruchswirkung, etwas zu, nämlich der Platz des Begehrens: Ich nehme an, dass gemeint ist, dass das Begehren seinen Platz diesseits des Liebesanspruchs hat. Das ist die Position der Begehrenslinie im Graphen im Verhältnis zur Linie des Liebesanspruchs, wenn man ihn von unten nach oben liest.
… „Das Begehren gewinnt Gestalt in der Spanne (marge) , in der der Anspruch sich vom Bedürfnis losreißt: wobei die Spanne eben die ist, die der Anspruch (dessen Appell bedingungslos nur an den Andern sich richten kann) auftut in der Form eines möglichen Fehlens, das das Bedürfnis hier beitragen kann, weil es keine universale Befriedigung kennt (was man Angst nennt).“ (Schriften II, hg. v. Norbert Haas, 189)
– Das Begehren gewinnt Gestalt in einer „Spanne“, einem Abstand, einer Randzone, einem Rand.16
– Diese Randzone wird dadurch erzeugt, dass der Anspruch sich vom Bedürfnis losreißt und einen Appell an den Anderen richtet. Der Anspruch, der sich vom Bedürfnis losgerissen hat, ist der Liebesanspruch. Das Begehren gewinnt also Gestalt im Raum zwischen dem Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und dem Liebesanspruch.
– Der vom Bedürfnis losgerissene Anspruch richtet sich bedingungslos an den Anderen. „Bedingungslos“ meint hier: ohne Bezug auf ein bestimmtes Bedürfnis; der Liebesanspruch ist unabhängig von der Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses.
– Der Anspruch bezieht sich auf ein mögliches Fehlen: Der Liebesanspruch bezieht sich auf den Anderen unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen Abwesenheit – er soll da sein und nicht weg sein.
– Zu diesem Fehlen kann das Bedürfnis beitragen, da es keine universelle Befriedigung kennt. – Verstehe ich nicht.
„Aber wir unterbrechen hier noch einmal und wenden uns zurück zum Status des Begehrens, welches sich als autonom ausgibt bezüglich einer solchen Vermittlung über das Gesetz, und zwar darum, weil dieses seinerseits aus ihm entspringt in dem Umstand, daß das Begehren durch eine besondere Symmetrie die Bedingungslosigkeit des Liebesanspruchs, in dem das Subjekt dem Anderen unterworfen bleibt, umkehrt, um es der Gewalt der absoluten Bedingung auszuliefern (absolut dann auch in der Bedeutung von ‚losgelöst‘).“ (189 f., die Hinzufügung in Klammern stammt von Lacan)
– Der Liebesanspruch ist insofern „bedingungslos“, als er von einem speziellen Bedürfnis unabhängig ist; er führt jedoch zur Abhängigkeit vom Anderen.
– Das Begehren ist insofern eine „absolute Bedingung“, als es von der Zustimmung des Anderen unabhängig ist; dafür ist es jedoch abhängig von den bestimmten Bedürfnissen, aus denen es hervorgeht.
Kurz gesagt
Die Signifikantenlinie im oberen Teil des vollständigen Graphen – der von „Genießen“ nach „Kastration“ führende Pfeil – steht für den unbewussten Liebesanspruch (vgl. 5: 503, 519). Der Ausdruck „Liebesanspruch“ ist bei Lacan meist ein Kürzel für drei miteinander verbundene Forderungen: für den Anspruch auf die Liebe des Anderen, für die Forderung nach dem Tod des Anderen und für den Anspruch auf Unwissenheit (ignorance) (vgl. 5: 518), auf Unwissenheit des Anderen und damit des Subjekts. Liebe und Hass sollen nicht als pure Affekte begriffen werden; Lacan betont, dass es es sich bei ihnen um artikulierte Forderungen handelt. Der Anspruch auf Liebe ist die Forderung nach der Anwesenheit des Anderen („Stand by Me“), der Todesanspruch die Forderung nach seiner Abwesenheit („dass er doch tot wär!“). Genetisch gesehen, handelt es sich um die ödipalen Forderungen, die beim Untergang des Ödipuskomplexes verdrängt worden sind (vgl. 6: 531). Auf der Linie des Liebesanspruchs ist auch die Übertragung zu verorten (vgl. 5: 519). Das Vokabular, mit dem der Liebesanspruch artikuliert wird, sind orale und anale Forderungen nach Bedürfnisbefriedigung; im Graphen wird dies durch das Kürzel $◊D dargestellt, den Kode des Unbewussten (vgl. 6: 609). Zwischen den beiden Anspruchslinien – dem Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung und dem auf Liebe – ist die Linie des Begehrens aufgespannt (vgl. 5: 521), insofern liegt das Begehren (wenn der Blick das Papier von unten nach oben betrachtet) jenseits des Anspruchs auf Bedürfnisbefriedigung und diesseits des Anspruchs auf Liebe (vgl. Ausrichtung der Kur, Schriften I, 221).
Die beiden Signifikantenlinien werden von Lacan also insgesamt durch drei Oppositionen charakterisiert:
– die untere steht für eine bewusste Signifikantenkette, die obere für eine unbewusste Signifikantenkette,
– die untere steht für den Aussageinhalt (énoncé), die obere für den Aussagevorgang (énonciation),
– die untere steht für den Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung, die obere für den Liebesanspruch.
Die obere Signifikantenlinie steht also für den unbewussten ambivalenten Liebesanspruch, d.h. für einen Liebesanspruch, von dem das Subjekt nichts weiß. Während der Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung sich für das Subjekt als Aussageinhalt darstellt (als énoncé), ist das Subjekt mit dem unbewussten Liebesanspruch als einem Aussagevorgang konfrontiert (etwa einem Versprecher), einer énonciation.
Relevanz des unbewussten Liebesanspruchs
Wie lässt sich erklären, dass Lacan dem Liebesanspruch eine solche Bedeutung zumisst, dass er die Signifikantenkette des Unbewussten mehr oder weniger mit ihm zusammenfallen lässt?
Vielleicht orientiert sich Lacan an folgender Passage aus Freuds Studie über den Mann Moses:
„Wenn das Ich dem Über-Ich das Opfer eines Triebverzichts gebracht hat, erwartet es als Belohnung dafür, von ihm mehr geliebt zu werden.“17
Der unbewusste Liebesanspruch wäre dann, in Freuds Begrifflichkeit, die an das Über-Ich gerichtete Erwartung, von ihm geliebt zu werden und die damit verbundene Ambivalenz. Er wäre das, was uns dazu bringt, dass wir uns den Forderungen des Über-Ichs beugen, den Trieb verdrängen und, mit Lacan, auf diese Weise das Begehren erzeugen.
Kommentare
Siehe hier
Verwandte Beiträge
- Die Anerkennung des Begehrens und das Begehren nach Anerkennung
- Die Liebes(Todes)Forderung
- The King’s Beech
- Orale und anale Kodierung des Liebesanspruchs
- Der Graph des Begehrens
Anmerkungen
- Nebenstehende Abbildung aus: J. Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten. In: Ders.: Schriften II. Hg. v. Norbert Haas. Walter-Verlag, Olten und Freiburg i.Br. 1975, S. 193.
Die Färbung der oberen Linie ist von mir. - Lacan verwendet den Ausdruck „Liebesanspruch“ zum ersten Mal in der Sitzung vom 30. April 1958; Seminar 5, Version Miler/Gondek, S. 433.
- Vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 27.
- Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse. Turia + Kant, Wien 2002; zuerst 1996 auf Englisch erschienen, übersetzt von Gabriella Burkhart.
- Joël Dor: Introduction to the reading of Lacan. The unconscious structured like a language. Other Press, New York 1998; zuerst 1985 auf Französisch erschienen, übersetzt (vermutlich) von Susan Fairfield. Der Graph wird hier, auf knapp 50 Seiten, in den Kapiteln 21 und 23 bis 25 behandelt.- Alfredo Eidelsztein: The graph of desire. Using the work of Jacques Lacan. Karnac Books, London 2009; eine Vorlesung von 1993, die zuerst 1995 auf Spanisch erschien, übersetzt von Florencia F. C. Shanahan.– Bruce Fink: Reading „The Subversion of the Subject“. In: Ders.: Lacan to the letter. Reading Écrits closely. University of Minnesota Press, Minneapolis, London 2004, S. 106–128.
- „5: 503“ bedeutet „Seminar 5, Seite 503“. Seminar 5 wird hier nach der Miller/Gondek-Version zitiert. Die Fettschreibung hier und im Folgenden stammt von mir, RN.
- Die drei Pünktchen vor dem Beginn des Zitats sollen darauf hinweisen, dass dieser Satz an das vorherige Zitat lückenlos anschließt.
- Schriften I, S. 154.
- Etwa in diesem Artikel.
- S. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 96.
- Vgl. außerdem Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, Schriften I, S. 221.
- Vgl. Seminar 6, Sitzungen vom 26. November 1958, 10. Dezember 1958, 17. Dezember 1958 und 7. Januar 1959.
- Zur Unterscheidung zwischen dem „unbedingten“ Liebesanspruch und dem „absoluten“ Begehren vgl. 5: 450 f., 471 f., 521, 588 f.
- Schriften I, Hg. v. Norbert Haas, S. 221.
- In Die Bedeutung des Phallus, einem Vortrag vom Mai 1958, der 1966 veröffentlicht wurde, ist die Orientierung umgekehrt. Die im Liebesanspruch hergestellte Beziehung zur Mutter liegt „diesseits“ des Bedürfnisses, das sie befriedigen kann, und das Begehren liegt „jenseits“ des Liebesanspruchs (vgl. Schriften II, Hg. v. Norbert Haas, S. 127). Der Graph steht hier auf dem Kopf.
- Vgl. die Übersetzung von Hans-Dieter Gondek in: J.L.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Turia und Kant, Wien 2015, S. 351.
- S. Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 563.