Die Wissenschaft und die Wahrheit – Fassung von 1936
Marc Chagall, Noah und der Regenbogen, ca. 1963, Guache und Pastell auf Papier, 28,5 x 42 cm
Musée Marc Chagall, Nizza
Lacans Écrits enden mit Die Wissenschaft und die Wahrheit, einer Vorlesung von 1965; Wissenschaft und Wahrheit werden darin einander entgegengesetzt. Unter „Wahrheit“ versteht er hier nicht eine Eigenschaft von Sätzen, sondern (mit Heidegger) etwas Verborgenes, das sich im Sprechen zugleich enthüllt und verbirgt. Im Feld der Psychoanalyse geht es um die Suche des Subjekts nach der Wahrheit über sich selbst, um eine Wahrheit, die sich (mit Freud gesprochen) in der Wiederkehr des Verdrängten zeigt, in der Wirksamkeit des traumatischen Kerns des Symptoms.
Die Opposition von Wissenschaft und Wahrheit findet man bereits in Jenseits des „Realitätsprinzips“, einem Aufsatz aus dem Jahr 1936.1 Im Folgenden zitiere und erläutere ich die entscheidende Passage aus dieser frühen Arbeit. Über die Psychoanalyse heißt es hier: sie ist Funktion der Wahrheit und deshalb „keine Wissenschaft“2.
„Man verstehe unseren Gedanken hier richtig! Wir spielen nicht mit dem Paradox, daß die Wissenschaft die Wahrheit nicht zu kennen habe. Aber wir vergessen nicht, daß die Wahrheit ein Wert ist, der auf die Ungewissheit antwortet, von der die Lebenserfahrung des Menschen phänomenologisch gekennzeichnet ist, und daß die Suche nach der Wahrheit historisch unter dem Titel des Spirituellen die Begeisterung des Mystikers und die Regeln des Moralisten, die Wege des Asketen wie die Eingebungen des Mystagogen beseelt.“3
Lacan will nicht behaupten, dass die Wissenschaft von der Wahrheit nichts wissen müsse. Immerhin unterscheidet sie wahre von falschen Sätzen, operiert also mit Wahrheitswerten.Der Wahrheitsbegriff muss jedoch phänomenologisch rekonstruiert werden, im Sinne der Phänomenologie Heideggers: ausgehend von den Lebenserfahrungen des Menschen. Die Wahrheit hat hier einen anderen Wert. Die Lebenserfahrung ist durch Ungewissheit gekennzeichnet, und hierauf antworten die verschiedenen Formen der Spiritualität als unterschiedliche Formen der Wahrheitssuche. Dazu gehören: die Mystik als Unterströmung aller Weltreligionen; die Moralistik, die die Regeln der Lebensführung auf das Studium der Sitten und der menschlichen Natur zu gründen sucht; die Askese, etwa die der christlichen oder der buddhistischen Mönche; die Mysterienkulte, in denen man durch Mystagogen den Zugang zu einer geheimen Wahrheit finden soll. In dieser Tradition steht die Psychoanalyse; sie ist die Erbin der religiösen oder moralischen Wahrheitssuche.
Lacan fährt fort:
„Diese Suche, die einer ganzen Kultur den Vorrang der Wahrheit in der Bezeugung (témoignage) auferlegt, schuf eine moralische Haltung, die für die Wissenschaft eine Existenzbedingung war und bleibt. Doch in ihrem besonderen Wert bleibt die Wahrheit der wissenschaftlichen Ordnung fremd: die Wissenschaft kann sich ihre Bündnisse mit der Wahrheit zur Ehre anrechnen; sie kann sich ihr Phänomen und ihren Wert als Objekt vornehmen; sie kann sie auf keine Weise als ihr eigentliches Ziel identifizieren.“4
Die Suche nach Wahrheit antwortet auf eine Lebenserfahrung, auf das Problem der Ungewissheit, und die Wahrheit zeigt sich in einer Bezeugung, in einem Zeugnis. Die Formulierung spielt wohl auf das griechische Wort martyrion an, „Zeugnis“; der Märtyrer ist der Glaubenszeuge. Wahrheit ist, mit Heidegger, das Ereignis der Entbergung (und Verbergung); die Wahrheit offenbart sich (und verbirgt sich), indem sie bezeugt wird, etwa durch den Märtyrertod. Die sprituellen Formen der Wahrheitssuche haben die mittelalterliche Kultur geprägt, und dies war eine Existenzbedingung für die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft. In ihr geht es nicht mehr darum, dass eine Wahrheit sich offenbart und bezeugt wird, in ihr geht es um Wissensproduktion. Dennoch, die wissenschaftliche Haltung bewahrt einen Rest von mystischer Verzückung, von Infragestellung der herrschenden Sitten, von asketischer Disziplin und von Enthüllung eines Geheimnisses. Die Wissenschaft ist also nicht ohne Beziehung zur Wahrheit, auf verschiedene Weisen hat sie sich mit der Wahrheit verbündet. Und natürlich kann sie die Wahrheit zum Untersuchungsgegenstand machen, etwa durch psychologische oder soziologische Studien zum Wahrheitsbezug oder in Gestalt logisch-mathematischer Wahrheitstheorien.
Anders als für die spirituellen Strömungen ist für die Wissenschaft Wahrheit jedoch nicht das Ziel. Inwiefern nicht? Lacan erläutert das im nächsten Satz:
„Wem das gekünstelt erscheint, der möge für einen Augenblick bei den erlebten Wahrheitskriterien innehalten und sich fragen, was von diesen Kriterien an Konkretestem bestehen bleibt in den schwindelerregenden Relativismen, bei denen die zeitgenössische Physik und Mathematik angelangt sind: wo ist die Gewißheit, Beweis der mystischen Erkenntnis, die Evidenz, Grundlage der philosophischen Spekulation, ja selbst die Widerspruchsfreiheit, die bescheidenere Forderung des empirisch-rationalistischen Gebäudes? Mehr in der Reichweite unseres Urteils: Kann man sagen, daß der Gelehrte sich fragt, ob der Regenbogen z.B. wahr sei? Ihm geht es nur darum, daß diese Erscheinung in irgendeiner Sprache kommunizierbar ist (Bedingung der mentalen Ordnung), in irgendeiner Form registrierbar ist (Bedingung der experimentalen Ordnung), und daß es ihm gelingt, sie in die Kette der symbolischen Identifizierungen einzufügen, in der seine Wissenschaft die Verschiedenheiten ihres eigenen Objekts vereinigt (Bedingung der rationalen Ordnung).“3
Für die spirituellen Strömungen ist das Wahrheitskriterium eine konkrete Lebenserfahrung. Lacan kontrastiert das mit dem Relativismus der zeitgenössischen Physik und Mathematik; er bezieht sich damit vermutlich auf den Welle-Teilchen-Dualismus der Quantenphysik, auf die Grundlagenkrise der Mathematik und vielleicht auch bereits auf den Gödelschen Unvollständigkeitssatz von 1930. Für die Mystik besteht das Wahrheitsbeweis in einem Gewissheitserlebnis, in einem „ohne Warum“, wie es bei Silesius heißt. Die Wahrheit der Metaphysik beruht seit Aristoteles auf Evidenz, darauf, dass die Prinzipien unmittelbar angeschaut werden können (die obersten Sätze einer Begründungskette können nicht begründet werden, andernfalls wären es nicht die obersten Sätze, also müssen sie evident sein). Die Kombination von Empirismus und Rationalismus, etwa im logischen Empirismus, hält an der Wahrheitsfrage fest, lässt aber die Forderung fallen, dass die Axiome evident sein müssen, ihr genügt die Widerspruchsfreiheit.
Für den Wissenschaftler sind diese Wahrheitsbezüge ohne Belang. Ihm geht es nicht um Gewissheit, nicht um Evidenz und, Lacan zufolge, nicht einmal um Konsistenz.
Für Noah ist der Regenbogen das Zeichen, mit dem Gott ihm garantiert, dass er einen neuen Bund mit ihm geschlossen hat und er nie wieder eine Sintflut schicken wird.5 Noah weiß durch diesem Zeichen, dass er Gott vertrauen kann – für ihn ist der Regenbogen wahr. In Lacans späterer Begrifflichkeit: Der Regenbogen ist für Noah ein Signifikant, der ihm die Aufrichtigkeit des Anderen garantiert.
Als Newton die Farben des Regenbogens durch prismatische Brechung erklärte, hatte er sich nicht gefragt, ob der Regenbogen wahr ist. Das wissenschaftliche Wissen orientiert sich an anderen Kriterien: an den Postulaten der sprachlichen Kommunizierbarkeit, der erfahrungsmäßigen Registrierbarkeit (es muss Protokolle geben) und der Subsumierbarkeit unter ein Symbolsystem, unter eine Theorie. Die Sprache steht hier für Lacan nicht auf der Seite der Wahrheit, sondern der Wissenschaft mit ihrer Forderung nach Mitteilbarkeit, Protokollierbarkeit und Theoretisierbarkeit.
Nach der symbolischen Wende von 1953 wird Lacan u.a. folgende Thesen zur Wahrheit vorbringen:
– Die Wahrheit wird durch das Sprechen konstituiert (Rom-Vortrag).
– Wahrheit besteht nicht in einem generalisierten und immer wahren Wissen, sondern darin, die rechte Antwort zu geben auf ein Ereignis im symbolischen Austausch zwischen menschlichen Wesen, etwa durch eine gute Deutung (Seminar 2).
– Die Wahrheit hat die Struktur einer Fiktion.
– Es gibt keinen Signifikanten, der die Wahrheit garantieren könnte (Seminar 6).
– Das Subjekt der Psychoanalyse ist das Subjekt der Wissenschaft, nämlich das durch die Etablierung der Wissenschaft ausgeschlossene und so erzeugte Subjekt (Seminar 12).
– Die Wahrheit lässt sich nur halbsagen (Seminar 17).
– Die vier Diskurse unterscheiden sich durch das Verhätnis zwischen Wissen und Wahrheit. Am Platz der unbewussten Wahrheit stehen jeweils andere Elemente: im Herrendiskurs das gespaltene Subjekt, im Diskurs der Universität der Herrensignifikant, im Diskurs des Hysterikers das Objekt a und in der Psychoanalyse das Wissen (Seminar 17).
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Anmerkungen
- Schriften III, hg. v. N. Haas, S. 15-37.
- A.a.O., S. 22.
- A.a.O., S. 23, Übersetzung geändert.
- A.a.O., S. 23.
- 1. Mose 9, 8-17.