Lacans Knoten
Wie borromäisch ist Lacans borromäischer Knoten?
In welchem Verhältnis stehen die drei von Lacan erfundenen Dimensionen des psychoanalytischen Raums zueinander: das Imaginäre, das Symbolische und das Reale? Ab Seminar 21 von 1973/74, Les nom-dupes errent, versucht Lacan, diese Frage mithilfe der borromäischen Ringe zu beantworten. Deren Bauweise ist einfach: Fadenringe, die so miteinander verbunden sind, dass, wenn ein belieibiger Ring aufgetrennt wird, die anderen auseinanderfallen. Die kleinste borromäische Verschlingung besteht aus drei Ringen (in der Terminologie der Topologen: aus drei trivialen Knoten), es können jedoch beliebig viele Ringe auf diese Weise verknüpft werden. Der borromäische Charakter solcher Gebilde besteht darin, dass alle Ringe auseinanderfliegen, sobald irgendeiner geöffnet wird (Topologen nennen dies die „Brunnsche Eigenschaft“).
In Seminar 23 von 1975/76, Das Sinthom, geht es um eine borromäische Verschlingung aus vier Knoten; der vierte Knoten steht hier für das Symptom bzw. das Sinthom; vgl. den Kommentar zum Sinthom-Seminar in diesem Blog.
Man denke an Woody Allens Film Vicky Cristina Barcelona (2008). Zwischen Juan Antonio und María Elena stellt sich nur dadurch eine stabile Verbindung her, dass eine Dritte hinzukommt, Cristina. In dem Moment, in dem diese sich aus dem Staub macht, fällt die Beziehung zwischen Juan Antonio und María Elena auseinander. Wollte man zeigen, dass diese Ménage-à-trois borromäischen Charakter hat, müsste man sie um zwei Episoden ergänzen: Juan Antonio zieht sich zurück und das Verhältnis zwischen den beiden Frauen geht in die Brüche; María Elena sucht das Weite, daraufhin kommt es zur Trennung zwischen Cristina und Juan Antonio.
Jeder der Ringe hält die übrigen zusammen, das Stiften des Zusammenhalts ist keine Spezialität eines bestimmten Rings. Die These, die von der borromäischen Verschlingung veranschaulicht werden soll, lautet also: Die verschiedenen Register des psychischen Apparats stehen in einer nicht-hierarchischen Beziehung zueinander, der Psychismus ist eine Struktur ohne Zentrum.
Es hat mich deshalb verblüfft, als ich in Geneviève Morels bemerkenswertem Buch über das Sinthom-Seminar, La loi de la mère, auf Bemerkungen stieß, die das in Frage stellen.
Morel bezieht sich auf einen Satz von Lacan in Seminar 17 von 1969/70, Die Kehrseite der Psychoanalyse. Lacan sagt dort: „dieses Wissen ist Genussmittel“1. Damit stellt er eine Beziehung her zwischen dem Wissen (dem Symbolischen, dem Unbewussten) und dem Genießen (dem Realen, der Triebbefriedigung jenseits des Lustprinzips), und er bedient sich dabei des Zweck-Mittel-Schemas.
Morel deutet den Satz so:
„Das Symbolische ist also von nun an dem Genießen untergeordnet.“2
Von nun an? Also auch noch im Sinthom-Seminar, das ich gerade lese? Geht es in diesem Seminar um die Vorherrschaft des Genießens bzw. des Realen gegenüber dem Symbolischen? Warum bezieht Lacan sich hier aber so hartnäckig auf den borromäischen Knoten? Soll dieser nicht im Gegenteil zeigen, dass alle Ringe allen anderen gegenüber eine dominante Funktion haben – und damit keiner?
Etwas später lese ich bei Morel:
„Das Symptom schafft das Symbol ab, dies ist, so scheint mir, die starke These zu Beginn von Sinthom, die durch das, was folgt, nicht zurückgewiesen wird. Sie bedeutet zunächst, auf der metatheoretischen Ebene, das Ende der Vorherrschaft des Symbolischen im Verhältnis zum Realen und zum Imaginären.“3
Der zweite Satz hat mir sofort eingeleuchtet: Das Symbolische hat für Lacan im Sinthom-Seminar nicht die Vorherrschaft im Verhältnis zu den anderen Registern – genau dies zeigt der borromäische Knoten. Dabei ist allerdings zu ergänzen: Und das Reale hat nicht die Vorherrschaft gegenüber dem Imaginären und dem Symbolischen – und so weiter, reihum, keine der vier Dimensionen hat gegenüber den anderen einen Vorrang.
Morels erster Satz – das Symbol schafft das Symptom ab – hat mich ins Grübeln gebracht. Morel bezieht sich damit auf Lacans These, dass sich das Werk von Joyce nicht psychoanalytisch deuten lässt, zumindest nicht Finnegans Wake. Joyce hat, Lacan zufolge, die Äquivokationen derart raffiniert unter Kontrolle gebracht, dass von ihnen aus der Zugang zum Unbewussten versperrt ist.4 Eine ähnliche Idee hatte bereits 1932 C. G. Jung geäußert, als er erklärte, Ulysses lasse sich nicht psychoanalytisch deuten.5 Lacan behauptet also: Das Symptom (das Werk von Joyce) ermöglicht keinen Zugang zum Symbol (zum Unbewussten von Joyce).
Morel deutet das so: „Das Symptom schafft das Symbol ab“. Sie spricht auch vom „absoluten Gewinn des Symptoms über das Symbol“6. Das Symbol wird –in ihrer Sicht –vom Symptom absolut dominiert, bis hin zur Abschaffung, zur Vernichtung. Wenn ich das auf den borromäischen Viererknoten beziehe, heißt das: Der Ring des Symptoms dominiert den Ring des Symbolischen (des Unbewussten), und zwar derart, dass er ihn zerstört. Nun ist klar, wenn man in einem borromäischen Knoten einen der Ringe abschafft, fallen die übrigen auseinander – das ist der Witz dieses Gebildes. Der borromäische Knoten wäre nicht mehr borromäisch. Wenn das Symptom das Symbol abschafft, zerstört dies den borromäischen Knoten.
Das Verhältnis zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen scheint Morel ähnlich zu deuten: als Dominanzwechsel. Über den Körper schreibt sie:
„zunächst in Das Spiegelstadium imaginär und durch das Spiegelbild gestützt, wird er stückweise signifikant, bis hin zu Radiophonie, wo er nur dank des Symbolischen existiert, das sein Gestell bildet“7.
Will sie damit sagen, dass das Imaginäre im Verlauf der Theorieentwicklung zunehmend durch das Symbolische verdrängt wird? Dass das Symbolische also beim späten Lacan das Imaginäre dominiert? Auch das stünde im Gegensatz zum Grundgedanken des borromäischen Knotens, in dem das Imaginäre ja gleichwertig neben dem Symbolischen und dem Realen steht.
In Seminar 21 von 1973/74, Les non-dupes errent, sagt Lacan:
„Eben darum geht es und darum, dass es keine Bedenken dagegen gibt, dass ich zu verstehen imaginiere. (…) Das jedoch, was ich, bezogen auf den Sinn, mit diesem ‚ich imaginiere‘ vorgebracht habe, das ist eben die Anmerkung, die ich dieses Jahr vorbringe werde, nämlich dass das Imaginäre – was auch immer Sie davon verstanden haben, da Sie zu verstehen imaginieren –, dass das Imaginäre eine dit-mansion ist – Sie wissen, wie ich das schreibe -, die genau so wichtig ist wie die anderen.“8
Das Imaginäre ist genau so wichtig wie das Symbolische und das Reale.
Eine ähnliche Dominanzkonzeption wie Morel vertreten Hammermeister und Homer. Hammermeister schreibt:
„Vielleicht mehr noch als die anderen beiden Register hat das Reale eine Reihe von Bedeutungsverschiebungen im Denken Lacans durchlaufen, die dazu führten, daß es im letzten Jahrzehnt der Lacanschen Vortragstätigkeit schließlich in die privilegierte Position in der Hierarchie der Register rückte.“9
Das letzte Jahrzehnt von Lacans Vortragstätigkeit beginnt mit Seminar 16 von 1968/69. Eines der Hauptthemen von Seminar 19 bis Seminar 25 ist der borromäische Knoten. Der borromäische Knoten zeigt eine nicht-hierarchische Beziehung zwischen den Registern, das ist der Grundgedanke. Für den späten Lacan gibt es keine Hierarchie der Register.
Homer bezieht sich auf die späten Arbeiten Lacans,
„wo das Reale zur zentralen Kategorie seines Denkens erhoben wird.“10
Der Begriff des Zentrums beruht auf einer imaginären Auffassung des Raums, auf dem Gegensatz von Zentrum und Peripherie. In den späten Arbeiten versucht Lacan, für das Begriffsgefüge seiner Psychoanalyse eine Topik zu finden, die sich der imaginären Raumauffassung widersetzt, und das heißt vor allem: in der es keine zentrale Kategorie gibt.
Falls Morel, Hammermeister und Homer recht haben, begreift Lacan die Struktur des psychischen Apparats nicht als borromäische Verschlingung, sondern nach dem Muster einer Armillarspähre.
In den Seminaren 22 und 23 stellt Lacan den borromäischen Knoten der Armillarsphäre gegenüber (vgl. hierzu im Kommentar „ ‚Das Sinthom‘ entziffern“ den Kommentar zur Sitzung vom 9. Dezember 1975). Eine Armillarsphäre diente dazu, die Position von Himmelskörpern zu bestimmen. Die rechte Zeichnung zeigt ihren Aufbau. Der blaue Ring wird vom olivgrünen Ring umfasst und der olivgrüne vom roten. Das lässt sich als Dominanzverhältnis deuten: der rote Ring dominiert den olivgrünen Ring und der olivgrüne den blauen, also der rote Ring auch den blauen. Der olivfarbene Ring hat hier eine Zwischenstellung, er ist zugleich eingehüllt (vom roten) und einhüllend (in Bezug auf den blauen). Für die beiden anderen Ringe der Armillarsphäre gilt das nicht –der rote Ring ist umfassend, ohne von einem der anderen Ringe umfasst zu werden, der blaue wird umfasst, ohne selbst einen der anderen Ringe zu umfassen.
In einer borromäischen Verschlingung hat der Aufbau der Ringe eine andere Struktur (siehe die Zeichnung rechts). Auch hier wird der blaue Ring vom olivgrünen Ring umfasst und der olivgrüne vom roten. Der rote Ring wird jedoch zugleich vom blauen umhüllt. Dies führt dazu, dass jeder der drei Ringe ist in Bezug auf die anderen beiden Ringe eine Zwischenstellung einnimmt, jeder Ring ist für einen anderen Ring der einhüllende Ring und für einen anderen Ring der eingehüllte Ring. Dies ist die Struktur der borromäischen Verschlingung.11
Morels Sinthom-Buch und die Bemerkungen von Hammermeister und Homer stellen mich vor eine Wahl.
Entweder ich sage:
– Lacan versucht zu zeigen, dass der psychische Raum die Struktur eines borromäischen Knotens hat, für ihn gibt es also keine Vorherrschaft des Realen bzw. des Symptoms gegenüber dem Symbolischen und keine Zurückdrängung des Imaginären durch das Symbolische. Es gelingt ihm auch halbwegs, dieses Projekt durchzuführen. So habe ich es mir bislang vorgestellt.
Oder ich folge Morel (falls ich ich sie richtig verstanden habe) sowie Hammermeister und Homer und halte dies für richtig:
– Lacan versucht zunächst die Dominanz des Symbolischen gegenüber dem Imaginären zu zeigen und später, bis hin zum Sinthom-Seminar, die Vorherrschaft des Realen bzw. des Symptoms gegenüber dem Symbolischen. Dann muss ich aber zugleich behaupten: Dass Lacan sich hierbei am borromäischen Knoten orientiert, ist der Grundwiderspruch der Seminare 21 bis 23. Lacan möchte hier zeigen, dass der psychische Apparat die Struktur eines borromäischen Knotens hat, tatsächlich aber zeigt er, dass er wie eine Armillarsphäre aufgebaut ist.12
Für meine Lektüre des Sinthom-Seminars habe ich jetzt zwei einander ausschließende Lesehypothesen:
– Nullhypothese: Es gibt keine Differenz zwischen Programm und Durchführung. Lacan verfolgt das Projekt, den borromäischen Charakter des Psychismus nachzuweisen, und dies gelingt ihm einigermaßen.
– Alternativhypothese: Es gibt eine Differenz zwischen Programm und Durchführung. Lacan will den borromäischen Charakter des psychischen Apparats darlegen, tatsächlich aber zeigt er das Gegenteil.
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Anmerkungen
- Seminar 17, Version Miller, S. 57.
- Geneviève Morel: La loi de la mère. Essai sur le sinthome sexuel. Economica, Anthropos, Paris 2008, S. 98.
- A.a.O., S. 110, Hervorhebungen von Morel.
- Lacans Überlegungen zu Joyce findet man in: Joyce das Symptom I, Übersetzung in diesem Blog hier; Joyce le symptôme II. In: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 265–270, Übersetzung in diesem Blog hier; sowie in Seminar 23 von 1975/76, Le sinthome.
- Carl Gustav Jung: „Ulysses“. Ein Monolog (1932). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 15. Walter-Verlag, Olten 1971, S. 121–149, im Internet hier. Auf diese Vorläuferschaft hat Michael Turnheim hingewiesen in: Lacans sinthome. In: Ders.: Mit der Vernunft schlafen. diaphanes, Zürich und Berlin 2009, S. 55–75, hier: S. 62 Fn. 15.
- A.a.O., S. 104.
- Morel 2008, S. 97
- Sitzung vom 13. November 1973.
- Kai Hammermeister: Jacques Lacan. Beck, München 2008, S. 58 f.
- Sean Homer: Jacques Lacan. Routledge, Abingdon 2005, S. 81.
- Vgl. Version Miller 2005, S. 35. Die beiden Zeichnungen sind aus der Staferla-Version des Sinthom-Seminars.
- In diese Richtung geht vielleicht Morels Bemerkung, dass Lacan im RSI-Seminar den früheren Status des Unbewussten als rein symbolisch zurückweist und deshalb „mit seiner Lokalisierung im borromäischen Knoten in Verlegenheit gerät“ (A.a.O., S. 103).