Meine Metonymie des Begehrens
Das Verhältnis zwischen Anspruch und Begehren habe ich meist so erläutert: Ich bestelle in einer Buchhandlung oder in einer Bibliothek ein Buch; das ist ein Anspruch, eine Forderung. Mit ihr möchte ich meinen Informationshunger befriedigen, ein Bedürfnis (kein Bedürfnis? für mich schon). Und was geschieht? Kaum habe ich das Buch in Händen, bestelle ich ein zweites, ein drittes, ein viertes und muss aufpassen, dass ich mit dem Lesen hinterherkomme; ich erhebe also weitere Ansprüche, und dies, obwohl mein anfängliches Informationsbedürfnis befriedigt ist. Die Forderung nach einem Buch hat sich von der Funktion der Bedürfnisbefriedigung abgelöst. Die vom Bedürfnis abgelöste Forderung zielt auf das, was ich begehre. Das, was ich begehre, erhalte ich nicht mit dem ersten Buch und nicht mit dem zweiten, sondern durch den Wechsel. Lacan nennt das die „Metonymie des Begehrens“1 ein Kürzel dafür, dass das Begehren „nichts anderes ist als die Metonymie des Diskurses des Anspruchs“2, nichts anderes ist als das, was in der sequentiellen Verkettung von Anspruch mit Anspruch mit Anspruch als unbefriedigt beständig übrig bleibt.3 Freud formuliert es so: „wenn das ursprüngliche Objekt einer Wunschregung infolge von Verdrängung verlorengegangen ist, so wird es häufig durch eine unendliche Reihe von Ersatzobjekten vertreten, von denen doch keines voll genügt.“4 Das Begehren ist das, was ich mit der Forderung nach dem Buch sagen will, über das hinaus, was ich als Anspruch artikulieren kann. Das Begehren ist das Begehren nach einem anderen (Buch) – weshalb ich eine Menge gelesen habe, meine Regale überquellen und ich immer denke „Das muss ich grad noch lesen“.
Aber wo ist der Zusammenhang zwischen diesem Begehren und dem Gesetz? Niemand verbietet mir, Bücher zu lesen oder zu kaufen.
„Volens, nolens, begehrend verpflichte ich mich auf die Straße des Gesetzes.“5
„Begehren und Gesetz sind dasselbe in diesem Sinne, dass ihr Objekt ihnen gemeinsam ist.“6
„Das Begehren als Begehren, das der Mutter gilt, ist identisch mit der Funktion des Gesetzes. Insofern das Gesetz sie untersagt, erlegt es auf, sie zu begehren, denn schließlich ist die Mutter nicht an sich das begehrenswerteste Objekt.“7
Einheit von Begehren und Gesetz – das ist leicht nachzuvollziehen, allerdings nur im Prinzip. Diätvorschriften erzeugen einen Jieper, wie man in Norddeutschland sagt, ein Begehren, und zwar auf das, was man nicht essen soll. Lacan verweist auf den Brief von Paulus an die Römer (Kapitel 7 Vers 7): „Aber die Sünde erkannte ich nicht außer durchs Gesetz. Denn ich wüsste nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte: Du sollst nicht begehren!“8 Wolf Biermann hat es besungen: „Keiner tut gern tun, was er tun darf / Was verboten ist, das macht uns grade scharf.“
Was in diesen Beispielen fehlt, ist das Unbewusste.
Vor einigen Tagen wache ich gegen drei Uhr früh auf, in heller Panik. Ich habe geträumt. Jemand hat mir verboten, weiterhin Bücher zu lesen. Grauenhaft. Die Szene ist wie ausgebleicht, mir ist nicht klar, wer da sprach und unter welchen Umständen. Ich schlafe wieder ein. Gegen fünf schrecke ich ein weiteres Mal aus dem Schlaf. Es ist dieselbe Szene: Jemand verbietet mir, weiterhin Bücher zu lesen. Mein Entsetzen verflüchtigt sich nur langsam.
Die Verbotszene kommt überraschend, die Angst auch, die Wiederholung ebenfalls. Von einem Bücherverbot ist mir nichts bekannt. Ich bin verwirrt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir das Bücherlesen je untersagt worden wäre.
Die Überraschung ist der Index des Unbewussten, habe ich von Lacan gelernt.9 Also kann ich mich wohl darauf verlassen, dass mir der Traum keinen Streich gespielt hat, dass er den „Kern meines Wesens“ berührt, wie Freud sich ausdrückt.
*
Was weiß ich jetzt über den Zusammenhang zwischen dem Begehren und dem Verbot? Viel und wenig. Wenig, denn es handelt sich ja nur um eine schwankende Traumgestalt. Viel, denn es war ein sich wiederholender Angsttraum. Gibt es in meinem Unbewussten ein Bücherverbot? Das wäre ungewöhnlich. Verbietet mir der Andere in meinem Innersten das Lesen? Wohl kaum. Lese ich so viel und ich kaufe so viele Bücher, weil ich das für verboten halte? Bin ich selbst das Buch, das zu lesen mir verboten ist (wie ich am Tag darauf träume, diesmal ohne Angst)?
Später erinnere ich mich dann doch an Leseverbote; ich hätte sie nicht für wichtig gehalten. Eine Szene sehe ich klar vor mir. Ich bin etwa zehn und versuche, meiner Mutter den Unterschied zwischen eineiigen und zweieiigen Zwillingen zu erklären (ich habe eine Zwillingsschwester). Sie sagt: „Der Junge liest zu viel.“ Diese Geschichte, in der ich meiner Mutter beizubringen versuche, welcher Unfall sich auf der mikroskopischen Ebene bei meiner Zeugung ereignet hat, habe ich oft erzählt, ich finde sie komisch. Der Satz meiner Mutter war wie die Verleihung eines Adelstitels. Rolf der Liestzuviel.
Ein anderes Leseverbot wurde von meinem Vater verhängt. Ich durfte die Romane von Alexandre Dumas nicht anrühren – Werke, die sein Bücherregal schmückten. Er hatte sie nicht gelesen, ihm war jedoch zu Ohren gekommen, dass sie auf dem Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche standen; und obwohl er sehr evangelisch war, genügte ihm das. Ich habe die roten Leinenbände verschlungen, von Joseph Balsamo bis zum Grafen von Monte Christo. Am meisten faszinierte mich Lady de Winter aus dem ersten Musketier-Roman. Was mich an ihr fesselte, war das Brandzeichen auf ihrer Schulter. Eine Lilie, das Zeichen dafür, dass sie ein Verbrechen begangen hatte, zugleich aber das Emblem des Königs. In das Reale ihres Körpers war ein Signifikant eingebrannt; mein Rendezvous mit Milady war die Begegnung mit einem Subjekt.
Oberes Bild: Carl Spitzweg, Der Bücherwurm, ca. 1850 (Ausschnitt).
Das untere Bild, aus einer der zahlreichen Verfilmungen der „Drei Musketiere“, stammt von der Website „The ministry of fear“ (Ausschnitt); den Filmtitel habe ich nicht ermitteln können.
Verwandte Beiträge
- Die Metonymie des Begehrens meiner Mutter
- Auf dem Flohmarkt
- Die Liebes(Todes)Forderung
- Die Transzendenz des Lebens
Anmerkung
- „Denn das Symptom ist eine Metapher (…), wie das Begehren eine Metonymie ist (…).“ Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten, in: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, S. 55.
- Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 350.
- In Seminar 11 sagt Lacan, „meine ganze theoretische Arbeit in den letzten Jahren läuft darauf hinaus, Ihnen in dem Schritt-für-Schritt der Klinik zu zeigen, wie das Begehren sich situiert in der Abhängigkeit vom Anspruch – der, weil er in Signifikanten sich artikuliert, einen metonymischen Rest läßt, der unter ihm fortläuft, ein Element, das nicht unbestimmt ist, das eine absolute und zugleich unfaßbare Bedingung ist, ein Element, das notwendig in der Sackgasse ist, unbefriedigt, unmöglich, verkannt, ein Element mit dem Namen Begehren.“ (Version Miller/Haas, S. 161)
- Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (1912), in: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 208. Vgl. auch: „Das, was die Kultur aus ihnen (den Liebestrieben) machen will, scheint ohne fühlbare Einbuße an Lust nicht erreichbar, die Fortdauer der unverwerteten Regungen gibt sich bei der Sexualtätigkeit als Unbefriedigung zu erkennen.“ A.a.O., S. 209.
- Seminar 10, Version Miller/Gondek, S. 107.
- Ebd., S. 136.
- Ebd.
- Vgl. Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 104.
- Zur Überraschung vgl. Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 320 f.; Remarque sur le rapport de Daniel Lagache, in: Écrits, S. 669 (die Übersetzung findet man hier).
In Seminar 9 heißt es: „Man muss sagen, dass es auch eine Erfahrungstatsache ist, deren Frische, wenn man so sagen kann, wir verloren haben (…), diese Frische, die dem entspricht, was ich die Schockwirkung, die Überraschungswirkung genannt habe, wie sie von Freud selbst definiert worden ist als kennzeichnend für dieses Auftauchen von Beziehungen des Unbewussten.“ (Version Staferla, 13. Dezember 1961, meine Übersetzung)
Für den Zusammenhang von Unbewusstem und Überraschung verweist Lacan, außer auf Freud, auf Theodor Reik, Listening with the third ear (1948). (dt.: Hören mit dem dritten Ohr. Klotz, Eschborn bei Frankfurt am Main, 3. Auflage 2007), vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 31.– Vgl. auch ders.: Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewusster Vorgänge. Sijthoff, Leiden 1935.