Die Liebes(Todes)Forderung
Angry child. Foto von hier
Liebe ist nicht einfach ein Affekt. Das Liebesgefühl ist mit einer artikulierten Forderung verbunden (also mit Signifikanten) und wird durch sie strukturiert. Der Andere soll ganz für einen da sein. Diese Forderung nach Anwesenheit des Anderen wird von Lacan als Liebesanspruch (demande d’amour) bezeichnet. Der Liebesanspruch ist ambivalent, er ist mit einer Todesforderung liiert, und auch sie hat artikulierten Charakter: „dass er doch tot wär!“1
Ein Beispiel für die artikulierte Todesforderung findet man in Freuds Bruchstück einer Hysterie-Analyse, dem sogenannten Fall Dora. Eine siebenjährige Kusine flüstert Dora ins Ohr: „Du kannst dir nicht denken, wie ich diese Person (auf die Mutter deutend) hasse! Und wenn sie einmal stirbt, heirate ich den Papa!“2
Freud zufolge werden nicht die Gefühle verdrängt, sondern die mit ihnen verbundenen Vorstellungen.3 Lacan schließt sich ihm an: das Unbewusste enthält keine Affekte, sondern Signifikanten.4 Im Unbewussten findet man nicht Liebesgefühle und Hassgefühle, sondern Liebesforderungen und Todesforderungen.
Im Grafen des Begehrens werden die unbewussten Liebes- und Todesforderungen durch die obere Signifikantenlinie repräsentiert5; in der Abbildung links habe ich die Linie des Liebesanspruchs rot gefärbt6. Da die Übertragung auf dem unbewussten Liebesanspruch beruht, ist die Linie des Liebesanspruchs zugleich die der Übertragung; dies zeigt das Diagramm rechts7.
Lacan erläutert den Liebesanspruch in Seminar 4 durch die Masturbationsphantasie „Ein Kind wird geschlagen“, die von Freud untersucht worden ist.8Lacan spricht in Seminar 4 zwar noch nicht vom „Liebesanspruch“ – der Terminus wird erst im folgenden Seminar eingeführt –, der Sache nach geht es jedoch bereits in Seminar 4 um das, was dann „Liebesanspruch“ genannt werden wird. In der Phantasie „Ein Kind wird geschlagen“ hat das, was „Liebesanspruch“ heißen wird, folgende Gestalt:
„Wenn mein Vater ein Kind schlögt, welches das mir verhaßte Kind ist, zeigt er mir, daß er mich liebt. Oder dieses ‚Mein Vater schlägt ein Kind aus Furcht, ich könnte glauben, daß ich nicht vorgezogen werde.“9
Ein anderes Beispiel für den Liebesanspruch findet Lacan in Freuds Studie über einen Fall von weiblicher Hysterie. Der Liebesanspruch besteht hier in der Forderung von Dora gegenüber ihrem Vater, sie gegenüber seiner Geliebten, Frau K., zu bevorzugen.10 Wenn Dora von ihrem Vater verlangt, dass er den Verkehr mit Frau K. abbricht11, ist ihr Liebesanspruch bewusst. Er hat aber zugleich eine unbewusste Gestalt, er äußert sich im Symptom. Das Ziel der Hysterie ist für Dora, so schreibt Freud, „den Vater zu erweichen und ihn der Frau K. abwendig zu machen.“12
Beim Liebesanspruch denkt man zuerst, wie die Beispiele zeigen, an die Liebesforderung, die das Kind an Vater oder Mutter richtet. Es geht auch umgekehrt. Davon handelt der bekannte Witz von dem Jungen, der vom Psychoanalytiker kommt und berichtet, er habe einen Ödipuskomplex. Antwort der Mutter: „Ödipus, Schnödipus, wenn du nur die Mama recht lieb hast.“
F. erzählt mir von ihrem Treffen mit B. Sie erfährt, dass B. zwei Söhne hat, einen von vier Jahren und einen von zwölf. Mit dem Vierjährigen hat B. in den letzten Tagen nicht gesprochen. Sie hatte sich mit ihm gestritten und er hatte wütend zu ihr gesagt: „Ich hab dich nicht mehr lieb.“ Das konnte sie nicht ertragen. Ein paar Mal hat sie doch mit ihm geredet, aber nur das Nötigste. Gestern hat er es nicht mehr ausgehalten. Er ist zu seinem Bruder gelaufen und hat ihn gefragt, wie man das macht: „sich entschuldigen“. Der hats ihm erklärt, und dann ist der Kleine zu ihr gekommen. Es war eine Qual für ihn, das konnte man ihm ansehen, aber schließlich hat er es rausgebracht: „Tut mir leid, Mama.“ Pause. „Ich hab dich lieb.“ Und wie sah B. an dieser Stelle aus, frage ich. Zufrieden?, sagt F.
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Anmerkungen
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 1.7.1959.
- S. Freud: Bruchstück einer Hysterie-Analyse (1905). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 6. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 83-186, hier: S. 130 f.
- S. Freud: Das Unbewusste (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 119-174, Teil III: „Unbewusste Gefühle“.- Freud schreibt: „Strengenommen (…) gibt es also keine unbewußten Affekte, wie es unbewußte Vorstellungen gibt.“ Ebd., S. 137.
- Vgl. Seminar 6, Sitzung vom 26.11.1958
- vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 503, und meinen Blogartikel zu dieser Linie des Grafen
- Die Zeichnung ist aus Seminar 5, S. 603.
- aus Seminar 5, S. 499
- S. Freud: „Ein Kind wird geschlagen“ (Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen) (1919). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 229-250.
- Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 138.
- Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 432 f.
- Bruchstück einer Hysterie-Analyse, a.a.O., S. S. 103.
- Ebd., S. 121.