Auf dem Flohmarkt
Flohmarkt am Mauerpark (Foto von hier)
Heute sind wir, beim Spaziergehen in Prenzlauer Berg, in einen Flohmarkt geraten. Ich fand’s grässlich, und während S. nach etwas Schönem für ihr Handgelenk Ausschau hielt, habe ich versucht, mich mit Lacan in die Haltung des interessierten Beobachters zu versetzen.
Warum ist der Besuch eines Trödelmarkts für viele Menschen ein Vergnügen? Weil hier die Differenz von Anspruch und Begehren inszeniert wird.
„Anspruch“, das ist die Eindeutschung von demande, und demande meint auch die Nachfrage im ökonomischen Sinne. „Ich hätt gern das und das“ – das ist, zu einem Verkäufer gesprochen, ein Anspruch, eine Forderung, die Artikulation einer Nachfrage.
Gehen Menschen auf einen Flohmarkt, um etwas zu kaufen, also um einen Anspruch vorzubringen, eine Kauf-Forderung? Nur auch. Auf einem Trödelmarkt stöbert man. Man wechselt von möglicher Nachfrage zu möglicher Nachfrage. Das könnte etwas sein. Oder das? Nein, doch eher das. Den Übergang von Anspruch zu Anspruch zu Anspruch nennt Lacan Metonymie. Von welcher Triebkraft wird die Metonymie in Gang gehalten? Vom Begehren. Menschen gehn auf Flohmärkte, weil es dort möglich ist, durch das Driften von Stand zu Stand das metonymische Gleiten von Nachfrage zu Nachfrage zu realisieren, das Begehren szenisch darzustellen.
Man könnte auch sagen: Trödeln kommt von trödeln. Der Handel mit alten Dingen lebt vom beständigen Aufschub, davon, dass die Realisierung des Anspruchs unermüdlich verzögert wird.
Warum stürzen Menschen sich dafür ins Gewühl? Das Gedränge ist ja nicht nur eine Nebenwirkung, sondern zugleich eine Ursache. Viele Menschen gehn auch deshalb auf einen Flohmarkt, weil hier ein solcher Andrang herrscht. Würde jemand einen Flohmarkt besuchen, wenn er wüsste, dass er dort einsam von Stand zu Stand schlendern wird?
Weshalb also das Gedränge? Weil das Begehren das Begehren des Anderen ist. Das Begehren ist keine dem einzelnen Individuum innewohnende Triebkraft, es ist vielmehr ein gesellschaftliches Verhältnis, es existiert ausschließlich in der Beziehung zu dem Begehren, das der Andere hat. Der Andere – auf dem Flohmarkt ist das die anonyme Menge der Besucher. Das Begehren des einzelnen Besuchers wird in Gang gesetzt durch das Begehren dieses Anderen, dadurch, dass der einzelne in die Bewegung verwickelt wird, in der sich eine Menschenmasse von einem Stand zum nächsten schiebt, von Anspruch zu Anspruch, dadurch also, dass er von der Bewegung erfasst wird, in der der Andere das Drängen des Begehrens in Szene setzt.
Und warum müssen es vor allem gebrauchte Dinge sein? Weil jeder beliebige Gegenstand, wenn er von Vernichtung bedroht ist, schön wird, und das heißt: zum Anziehungspunkt für das Begehren. Das ist sogar die Grundstruktur des Schönen. Das Ideal-Schöne – etwa in Gestalt jener glamourösen Objekte, die, eine Viertelstunde entfernt, in der Kollwitzstraße vom Fenster eines Designladens aus die Passanten anlächeln –, das Ideal-Schöne ist nur eine Sonderform des Schönen.1 Man denke an den Schlussverkauf. Die Waren locken die Käufer nicht nur mit dem niedrigen Preis, sondern auch damit, dass sie vom Verschwinden bedroht sind. „Alles muss weg.“
Übrigens: Das grüne Perlenarmband, das S. sich schließlich ertrödelt hat, gefällt mir.
NACHTRAG vom 2. September 2013
Nicole B. schreibt mir zu diesem Artikel:
„Der Reiz des Flohmarkts besteht auch darin, dass man vorher nie wissen kann, was man ‚haben will‘, weil man ja nicht weiß, was es gibt.“
Das Begehren ist das Begehren des Anderen.
„Für mich setzt ein guter Flohmarkt lauter kleine Geschichten frei: Wo könnte dieser oder jener Gegenstand in einem meiner imaginierten Häuser – z.B. an der Côte d’Azur – stehen? Würde diese Kette an meinem Hals gut aussehen? Wie könnte der Couchtisch aussehen, auf dem diese Glasschale steht? Und schließlich: Wäre es nicht total praktisch, endlich mal Glasuntersetzer zu haben? Wollte ich die nicht schon immer haben?“
Das ist in Lacans Begrifflichkeit der Anspruch, hier nicht als Einleitung eines Kaufgesprächs, sondern als Vorstellung im Kopf: das und das möchte ich haben.
„Und ebenfalls toll: die Geschwindigkeit mit der man von Wünschen wieder loskommt.
‚Was kosten denn diese Untersetzer?‘
‚Die sind aus Kristallglas.‘
‚Ja, und was kosten sie?‘
‚Ich wollte 14 Euro dafür haben.‘
Man kann nun handeln. Oder sich denken: ‚Uff, mir sind sie bloß 5 wert und so weit wird sie nicht runtergehen, also weitergehen, eigentlich brauchte ich doch keine Glasuntersetzer und vielleicht gibt’s an einem anderen Stand noch günstigere.‘ “
Die „Wünsche“, das sind in der Lacan-Sprache die Ansprüche. Dass man von ihnen wieder loskommt, gehört zur Metonymie des Begehrens.
„Flohmarkt ist für mich ein Eintauchen in die schönen Spielsituationen meiner Kindheit. Im Grunde geht’s – um Nichts. Das ist entspannend.“
Das Begehren ist, mit Lacan, eine Beziehung zum manque-à-être, zum Mangel-zu-sein, eine Beziehung zum Nichts.
„Das ist entspannend“. Stimmt, das fehlt in meiner Trödelreflexion. Die Konfrontation mit dem Begehren ist meist beängstigend oder niederdrückend oder zumindest aufregend. Auf dem Flohmarkt ist das anders. Der Flohmarkt ermöglicht eine entspannte Beziehung zum Begehren. Das Begehren wird hier nur gespielt, nur „markiert“, wie Schauspieler sagen.
Ob ich Flohmarkt so scheußlich finde, weil er mich zu sehr mit meinem Begehren konfrontiert? Die Frage ruft eine Erinnerung wacht. Ich bin Anfang zwanzig und mit R. in Venedig. Es ist dunkel, die Gassen sind beleuchtet und der Strom der Touristen wälzt sich wie Lava zwischen den engen Häusern hindurch. Ein Gedanke von damals kommt hoch: „Das ist Dantes Hölle. Scharen von unerlösten Seelen, die sich träge dahinschleppen.“
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Anmerkung
- Vgl. Lacan, Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 354 f.