Der Schmerz zu existieren
Francis Bacon, Three studies for figures at the base of a crucifixion (Ausschnitt)
Öl und Pastell auf Holz, 94 x 74 cm, etwa 1944
Tate Britain, London – vollständige Reproduktion des Gemäldes hier
Der Schmerz zu existieren
In Lacans Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, stoße ich auf diese Bemerkung:
„A limine ist das, woran das Begehren grenzt, nicht mehr in seinen entwickelten, maskierten Formen, sondern in seiner schlichten und einfachen Form, der Schmerz zu existieren.“1
Die Wendung vom „Schmerz zu existieren“ findet man auch in Lacans Aufsatz Kant mit Sade. Dort heißt es,
– es gebe Millionen von Menschen, für die das „Leiden am Dasein“ der Beweis für die Praktiken des Heils sei, nämlich die Buddhisten2;
– der „Schmerz im Reinzustand“ präge das Klagelied der Melancholiker3;
– es gebe verstörende Träume, in denen der Träumer „auf den Grund des Schmerzes am Dasein“ gelangt sei4;
– der Sadismus lenke „die Qual des Daseins“ ab auf den Anderen5.
„Leiden am Dasein“, „Schmerz am Dasein“, „Qual des Daseins“ – im Französischen steht hier immer derselbe Ausdruck: la douleur d’exister, „der Schmerz des Existierens“ oder „der Schmerz zu existieren“.6
Unter dem „Schmerz zu existieren“ oder dem „Schmerz zu sein“ versteht Lacan das, was Freud als primären Masochismus bezeichnet. In Seminar 5 heißt es:
„Wenn Sie gut nachdenken, muß der Rückgriff auf eine angebliche Trägheit der menschlichen Natur, um das Modell abzugeben für das, wonach das Leben angeblich trachtet, uns an dem Punkt, bis zu dem wir damit gekommen sind, leicht schmunzeln lassen. In Wirklichkeit ist an der Rückkehr zum Nichts (néant) nichts (rien) weniger gesichert. Im übrigen zeigt uns Freud selbst an – in einer ganz kleinen Parenthese, die in dem Artikel Das ökonomische Problem des Masochismus, in dem er sein Jenseits des Lustprinzips wiederaufgreift, wiederzufinden ich Sie bitten möchte – daß, auch wenn die Rückkehr zur unbelebten Natur tatsächlich als Rückkehr zum niedrigsten Niveau der Spannung, zur Ruhe zu begreifen ist, nichts uns die Sicherheit gibt, daß in der Reduktion von allem, was sich erhoben hat und was das Leben wäre, auf nichts, es nicht auch da im Innern, wenn man das sagen kann, wühlt, und daß das nicht im Grunde der Schmerz des Seins (douleur d’être) wäre. Diesen Schmerz bringe nicht ich zum Entstehen, nicht ich extrapoliere ihn; er wird von Freud angezeigt als das, was wir als das letzte Residuum der Verbindung von Thanatos mit Eros ansehen müssen. Zweifellos gelingt es Thanatos, sich durch die motorische Aggressivität des Subjekts gegenüber seiner Umgebung zu befreien, aber etwas davon verbleibt innerhalb des Subjekts in der Form dieses Schmerzes zu sein, der für Freud an die Existenz selbst des Lebewesens gebunden zu sein scheint. Nun beweist aber nichts, daß dieser Schmerz auf die Lebewesen beschränkt bleibt, nach allem, was wir jetzt über eine Natur wissen, die weit mehr belebt, faulend, gärend, kochend, ja explosiv ist, als wir es uns bisher je vorstellen konnten.“7
Im Inneren des Lebens ist der Schmerz zu sein, der Schmerz zu existieren, das letzte Überbleibsel der Verbindung des Todestriebs mit dem Lebenstrieb, der Teil des Todestriebs, der nicht als Sadismus nach außen gelenkt werden kann.
Lacan bezieht sich auf eine Bemerkung Freuds: Der Todestrieb wird vom Lebenstrieb – von der Libido – nach außen abgelenkt, ein Anteil des Todestriebs wird so zum Sadismus. Freud sagt weiter:
„Ein anderer Anteil macht diese Verlegung nach außen nicht mit, er verbleibt im Organismus und wird dort mit Hilfe der erwähnten sexuellen Miterregung libidinös gebunden; in ihm haben wir den ursprünglichen erogenen Masochismus zu erkennen.“8
Was hat man sich unter dem Schmerz des Seins konkret vorzustellen? In Seminar 5 fährt Lacan an der zuletzt zitierten Stelle so fort:
„Was wir uns umgekehrt vorzustellen haben, was wir mit Fingern greifen können, ist, daß das Subjekt sich in seinem Verhältnis zum Signifikanten, insofern es gebeten wird, sich im Signifikanten zu konstituieren, dem von Zeit zu Zeit verweigern kann. Es kann sagen – Nein, ich werde nicht ein Element der Kette sein. Dies ist tatsächlich das Unterste. Aber das Unterste, die Kehrseite, ist hier genau dasselbe wie die Vorderseite. Denn was tut das Subjekt jeden Augenblick, in dem es sich gewissermaßen weigert, eine Schuld zu bezahlen, die es nicht vertraglich eingegangen ist? Es tut nichts anderes als sie fortwähren zu lassen. Seine aufeinanderfolgenden Weigerungen haben zur Wirkung, die Kette wieder in Gang zu bringen, und es findet sich immer stärker an eben diese Kette gebunden. Im Absagungszwang*, dieser ewiglichen Notwendigkeit, eben diese Weigerung zu wiederholen, zeigt uns Freud die letzte Triebfeder von allem, was vom Unbewussten sich in der Form der symptomatischen Reproduktion manifestiert.“9
Der „Schmerz zu Sein“ zeigt sich demnach in der Wiederholung des Symptoms, im Wiederholungszwang. (Den „Absagungszwang“ sollte man überlesen; das Wort ist ein vom Herausgeber des Seminars, J.-A. Miller, erfundender deutscher Ausdruck, den er an dieser Stelle eingeschoben hat; in der Stenografie gibt es dafür keine Entsprechung.10) Die Wiederholung beruht letztlich auf dem Versuch, aus der symbolischen Kette der Verpflichtungen auszubrechen, mit der paradoxen Wirkung, dass sich das Schuldgefühl und damit die Bindung an die Kette verstärkt. Ausbruch aus der symbolischen Kette und Bindung an sie, Kehrseite und Vorderseite, sind ein und dasselbe; Lacan spielt damit auf das Möbiusband an, das er erst vier Jahre später, im Seminar über die Identifizierung, ausdrücklich zum Thema machen wird und das an der zitierten Stelle, noch anonym, möglicherweise seinen ersten Auftritt hat. Der Schmerz zu existieren prozessiert in einer möbiushaften Spaltung des Subjekts.
Lacan rekonstruiert hier Freuds Begriff des moralischen Masochismus. Freud zufolge beruht das bewusste Schuldgefühl auf dem Sadismus des Über-Ichs; das unbewusste Schuldgefühl hingegen – das Strafbedürfnis – stützt sich auf den Masochismus des Ichs. Der Schmerz zu sein, der Schmerz zu existieren, besteht demnach konkret in diesen beiden Formen des Schuldgefühls: im schlechten Gewissen und im Strafbedürfnis.
Mit Existenz oder Existieren meint Lacan das Bezogensein des Menschen auf die Sprache und die dadurch hervorgerufene Spaltung des Subjekts. Diese Verwendung des Existenzbegriffs, mit der Betonung des ex („außen“) in ex-sistere („im Außen stehen“), ist von Heidegger inspiriert; für Heidegger ist Existenz bzw. existieren das Bezogensein des Daseins (des Menschen) auf das Sein (Sein und Zeit, 1927); später schreibt Heidegger verdeutlichend auch Ek-sistenz/ek-sistieren oder Ex-sistenz/ex-sistieren.11 Während Heidegger den Außenbezug letztlich zeitlich fasst (etwa Zukunft als Sich-vorweg-sein), begreift Lacan ihn, wie gesagt, als Bezug auf die Sprache.
In Seminar 5 heißt es:
„Als Existenz findet sich das Subjekt von Beginn an als Spaltung konstituiert. Warum? Weil sein Sein sich anderswo, im Zeichen, zur Repräsentation bringen muß, und das Zeichen selbst ist an einem dritten Ort. Es ist das, was das Subjekt in dieser Zerlegung seiner selbst strukturiert, ohne die es uns unmöglich ist, auf eine triftige Weise das zu begründen, was sich das Unbewußte nennt.“12
Die Quelle für die Formel vom „Schmerz zu existieren“ ist möglicherweise Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Es handelt sich um die berühmteste Passage der abendländischen Philosophie zu diesem Thema, also ist wahrscheinlich, dass Lacan sie gekannt hat.
„Die Basis alles Wollens aber ist Bedürftigkeit, Mangel, also Schmerz, dem er folglich schon ursprünglich und durch sein Wesen anheimfällt.“13
„Der Wunsch ist seiner Natur nach Schmerz: die Erreichung gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfnis wieder ein: wo nicht, folgt Öde, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist wie gegen die Not.“14
„… der dem Leben wesentliche Schmerz lässt sich nicht abwälzen…“15
„…daß der Schmerz als solcher dem Leben wesentlich und unausweichbar ist.“16
„Meistens aber verschließen wir uns der einer bittern Arzenei zu vergleichenden Erkenntnis, daß das Leiden dem Leben wesentlich ist und daher nicht von außen auf uns einströmt, sondern jeder die unversiegbare Quelle desselben in seinem eigenen Innern herumträgt.“17
Im selben Paragraphen findet sich eine prägnante Beschreibung dessen, was Lacan die Metonymie des Begehrens nennen wird, die beständige Verschiebung des Objekts:
„Wir suchen (…) zu dem nie von uns weichenden Schmerz stets eine äußere einzelne Ursache, gleichsam einen Vorwand; wie der Freie sich einen Götzen bildet, um einen Herrn zu haben. Denn unermüdlich streben wir von Wunsch zu Wunsch, und wenngleich jede erlangte Befriedigung, soviel sie auch verhieß, uns doch nicht befriedigt, sondern meistens bald als beschämender Irrtum dasteht, sehn wir doch nicht ein, daß wir mit dem Faß der Danaiden schöpfen; sondern eilen zu immer neuen Wünschen“18.
In einer entscheidenden Wende seiner Theorieentwicklung bezieht Freud sich ausdrücklich auf Schopenhauer. Dieser ist, wie Freud zähneknirschend einräumt, der einzige Autor, den er zur Stützung seiner Todestriebhypothese anführen kann.19
Wenn der „Schmerz zu existieren“ eine schopenhauerianisierende Umschreibung dessen ist, was Freud den primärem Masochismus nennt, dann wird klar, was mit der Grenze zwischen dem Existenzschmerz und dem Begehren gemeint ist (einer Grenze, die von Lacan durch das einleitende lateinische „a limine“ betont wird, was gewöhnlich „von vornherein“ bedeutet, hier jedoch auch die wörtliche Bedeutung evoziert, „von der Grenze an“). Diese Grenze entspricht der Freud’schen Abgrenzung und Gegenüberstellung von Todestrieben und Lebenstrieben. Für diese Deutung lässt sich unterstützend anführen, dass Freud die Energie der Lebenstriebes als Libido bezeichnet und dass Lacan Libido und Begehren mehr oder weniger gleichsetzt.
Und die Differenz zwischen der reinen und der maskierten Form des Schmerzes zu existieren? Damit bezieht Lacan sich vermutlich auf Freuds Unterscheidung zwischen dem entmischten Todestrieb (der durch keinen Narzissmus gemilderten Autodestruktivität) und dem Todestrieb, der mit dem Lebenstrieb vermischt ist, der mit ihm, wie Freud meist sagt, „legiert“ ist (dadurch, dass die Destruktivität nach außen abgelenkt wird).20
Gemeint ist also vermutlich: Das sexuelle Begehren grenzt an den Todestrieb in seiner unvermischten Form, an den Drang zur Selbstzerstörung.
„Was Schopenhauer da schreibt, kann ich eins zu eins übertragen“, sagt mir S., „das passt direkt auf K. Das Versiegen der Leidenschaft erfüllte ihn mit Scham. Und nach jeder Befriedigung gab es für ihn eine Leere, weil die Befriedigung nicht der Schmerz war.“
Schopenhauer spricht vom „Leben“, nicht vom „Existieren“. Wie kommt es zu dieser Umwandlung? Möglicherweise auf dem Weg über Sartre. Eine Annäherung an die Wendung vom „Schmerz zu existieren“ findet man in Sartres Roman Der Ekel21:
„Ich existiere, weil ich denke … und ich kann mich nicht daran hindern zu denken. Sogar in diesem Moment – es ist gräßlich, wenn ich existiere, so, weil es mich graut zu existieren. Ich bin es, ich bin es, ich bin es, der mich aus dem Nichts zieht, nach dem ich trachte: der Haß, der Abscheu zu existieren, das sind wiederum nur Arten, mich existieren machen, in die Existenz einzutauchen“22.
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Anmerkungen
-
J. Lacan: Kant mit Sade. In: Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 148
-
Kant avec Sade. In: Ecrits 1966, S. 777 f. Der 1966 in den Écrits erschienene Aufsatz ist die überarbeitete Version eines Artikels von 1963; die Wendung „douleur d’exister“ findet man bereits in der älteren Fassung, siehe hier.
-
Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 291.
-
Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus (1924). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 347.
-
Vgl. Stenografie S. 33.
-
ex-sistieren: z.B. in Vom Wesen und Begriff der Physis (1939), GA 9, S. 264); Ek-sistenz: etwa in Der Spruch des Anaximander (1946), GA 5, S. 338.
-
Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I (1819), § 57. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 1. Hg. v. Wolfgang Löhneysen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986, S. 427 f.
-
Vgl. Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 213-272, hier: S. 259
-
Vgl. etwa: Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191-270, hier: S. 246 f.
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Jean-Paul Sartre: Der Ekel (1938). Übersetzt von Uli Aumüller. Büchergilde Gutenberg, Frankfurt am Main ohne Jahr, S. 156 f.