Ein Loch im Zentrum des Realen
Simuliertes Schwarzes Loch von zehn Sonnenmassen vor Milchstraßenhintergrund aus 600 km Abstand gesehen1
Im sogenannten Rom-Vortrag hatte Lacan erklärt, das Symbol manifestiere sich zunächst „als Mord am Ding“2. In Die Bedeutung des Phallus (1958) heißt es: die Sprache führt zu einer Umlenkung der Bedürfnisbefriedigung und damit zu einem Verlust und zu einer Urverdrängung, deren Abkömmling das Begehren ist. Im Seminar Die Ethik der Psychoanalyse von 1959/60 arbeitet er diesen Gedanken so aus:
– Das Ding ist ein „Loch im Realen“, hervorgerufen durch die „Ausformung des Signifikanten“3.
– Das Ding ist im Mittelpunkt, aber „just in dem Sinne, daß es ein ausgeschlossenes ist. Das heißt, daß es in Wirklichkeit als ein Außen gesetzt werden muß“4
– Das Ding ist das „Saugzentrum des Begehrens“5.
– Das Ding liegt in einem Bereich, der nicht nach dem Lustprinzips funktioniert6, die Annäherung an das Ding ist deshalb unerträglich.
– Vom Ding können wir uns „unmöglich vorstellend ein Bild machen“.7
In der späteren Theorieentwicklung wird wird aus dem Ding das unmögliche Genießen, diejenige Triebbefriedigung (wie Freud gesagte hätte), die durch die Einwirkung der Sprache ausgeschlossen ist.
Ein Loch im Realen. Ein Zentrum, das in Wirklichkeit ein Außen ist. Eine Leere mit ungeheuren Anziehungskräften. Ein Loch, in dem das, was ihm zu nahe kommt, verloren geht. Ein Nichts, von dem wir uns kein Bild machen können. Also ein Schwarzes Loch.
Ich stelle mir das so vor wie auf dem Bild oben. Es zeigt ein Schwarzes Loch, so wie eine Astrophysikerin es sich ausmalt. Die völlig schwarze Kreisfläche, die an eine Pupille erinnert, ist das Schwarze Loch. Um es herum gibt es einen Ring mit violettem Rand, eine Art Wirbel; der Ring entsteht durch die Lichtablenkung in der Nähe des Schwarzen Lochs. Den Hintergrund bildet die Milchstraße.
In meiner Phantasie sind die Sterne in Bewegung: Sie stürzen auf den Wirbel zu, der zunächst kein Schwarzes Loch enthält. Beim Auftreffen entsteht in seinem Inneren das Schwarze Loch. (Astronomisch gesehen ist das Unsinn, ich weiß.)
Die Galaxis entspricht dem Symbolischen, mit den einzelnen Sternen als Signifikanten. Der Wirbel verkörpert das Reale. Das Schwarze Loch ist das Ding.
In dem Moment, in dem das Symbolische sich in das Reale einschreibt (in dem die Sprache sich in die Erregungsabläufe des Körpers einprägt), entsteht im Zentrum des Realen ein Loch, ein ursprünglicher Verlust: das Ding. Das Unding.
(Nein, das Ding steht nicht für den Körper der Mutter als verlorenem Objekt. Umgekehrt: Der Körper der Mutter steht für das Ding. Der Körper der Mutter als verlorenes Objekt, das ist der Mythos. Das Konzept des Dings ist Lacans Versuch, die ontologische Struktur zu rekonstruieren, die vom Mythos in die Form einer Erzählung gebracht wird.8)
Verwandte Beiträge
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- Ding – Objekt a – Objekt des Begehrens
Anmerkungen
- Autoren: Ute Kraus (Max-Planck-Institut für Gravitationsphysik, Golm, und Theoretische Astrophysik, Universität Tübingen) und, für die Milchstraße, Axel Mellinger. Lizenz: Wikimedia Commons.
- Funktion und Feld der Sprache und des Sprechens in der Psychoanalyse, in: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, S. 166, Übersetzung geändert.
- Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 151.
- A.a.O., S. 89.
- A.a.O., S. 296.
- A.a.O., S. 91.
- A.a.O., S. 155.
- Vgl. Bernard Baas: Das reine Begehren. Wien, Turia und Kant 1995, S. 44-48.