Lacans Sentenzen
„Die Wahrheit lässt sich nur halbsagen.“
Pythia von Delphi, auf Dreifuß sitzend, mit Schale und Lorbeerzweig in den Händen, bei der Beantwortung einer Anfrage von König Aegeas von Athen.
Attische Trinkschale, etwa 440/430 v. Chr., Antikensammlung Berlin, Kopie
Überarbeitete Fassung vom 22. Mai 2022
Zu den von Lacan erfundenen Neologismen gehört der Ausdruck mi-dire, als Substantiv und als Verb, zu deutsch: Halbsagen oder halbsagen. Die Wahrheit kann nur in einem Halbsagen geäußert werden bzw. die Wahrheit lässt sich nur halbsagen – diese These wird von ihm ab Seminar 17 von 1969/70, Die Kehrseite der Psychoanalyse, immer wieder vorgebracht.
In Seminar 17 verwendet er das Substantiv: „Die Wahrheit kann nur in einem Halbsagen ausgesagt werden“1. In Seminar 18 benutzt er mi-dire zum ersten Mal als Verb: „la vérité n’est qu’à mi-dire“, die Wahrheit ist nur halbzusagen.2 Die von mir als Überschrift verwendete Formulierung „die Wahrheit lässt sich nur halbsagen“ findet man zuerst in Seminar 19.3
Es geht um die verborgene Wahrheit des Symptoms. Diese Wahrheit kann in einer psychoanalytischen Kur durch das Sprechen ans Licht kommen (oder, um Lacans Metapher zu verwenden, aus dem Brunnen steigen4) – durch das Sprechen des Analysanten bei „freier Assoziation“, unterstützt durch Deutungen des Analytikers. Durch das Sprechen (parole) oder, wie Lacan später sagen wird, durch das Sagen (dire).
Die Wahrheit kann jedoch nur halbgesagt werden. Warum? In Seminar 22 von 1974/75, RSI, gibt Lacan die folgende Antwort; der Begriff des Anderen bezieht sich darin auf das Unbewusste, auf den Anderen-in-uns.
„Was Freud uns zum Anderen liefert, ist eben dies, dass es Anderes nur gibt, wenn es gesagt wird, dass es jedoch völlig unmöglich ist, dieses ganz Andere vollständig zu sagen – dass es ein Urverdrängtes* gibt, ein irreduzibel Unbewusstes – und dass es zu sagen im strengen Sinne das ist, was nicht nur dadurch bestimmt ist, dass es unmöglich ist, sondern das, wodurch die Kategorie des Unmöglichen als solches eingeführt wird.“5
Das Aufdecken der verborgenen Wahrheit des Symptoms durch das Sagen stößt auf die Schranke des Urverdrängten, wie Freud es nennt. Das Urverdrängte, Effekt einer ersten Phase der Verdrängung, hält die gewöhnliche Verdrängung in Gang und ist irreversibel – auch durch freie Assoziation kann das durch Urverdrängung entstandene Verdrängte nicht erinnert werden, nicht ins Sprechen gebracht werden.6 Analysant und Analytiker stoßen hier auf eine Unmöglichkeit, das heißt auf etwas Reales im Sinne von Lacan. Das Reale ist das, was zu sagen unmöglich ist.
Bei diesem Urverdrängten, bei dem, was zu sagen unmöglich ist, geht es um die Mehrlust.
In Seminar 18 heißt es:
„Wer nicht sieht, dass die Ökonomie – selbst die sogenannte Ökonomie der Natur – immer eine Diskurstatsache ist, der kann nicht begreifen, dass dies darauf verweist, dass es sich hier um das Genießen nur insofern handeln kann, als es selbst nicht nur ein Fakt (fait), sondern auch ein Effekt (effet) des Diskurses ist
Wenn etwas, was das Unbewusste heißt, als Sprachstruktur halbgesagt werden kann, dann deshalb, damit uns schließlich das Profil dieses Diskurseffekts erscheint, der uns bis dahin als unmöglich erschien, nämlich die Mehrlust.“7
Lacan bezieht sich auf Freuds Ökonomiebegriff, der sich auf die Umwandlungen der Erregungsgrößen bezieht, in Lacans Terminologie auf die Jouissance. Die Ökonomie – die Beziehung zwischen den verschiedenen Formen der Jouissance – ist abhängig vom Diskurs und damit von der Einwirkung des Sprechens auf den Körper.
Mehrlust ist ab Seminar 16 von 1968/69, Von einem Anderen zum anderen, ein Begriff für das Objekt a. Das Objekt a ist stillgelegte Libido8, abgetötete Jouissance.
Die Schranke, die dafür sorgt, dass die Wahrheit nur halbgesagt werden kann, ist das Urverdrängte, ist die Mehrlust als stillgelegte Libido bzw. Jouissance, ist das Objekt a.
In Seminar 20 von 1972/73, Encore, kommentiert Lacan seine quasi-algebraische Notation – also die Verwendung von Symbolen wie $, A, a, Φ usw. – mit den folgenden Sätzen:
„Ihre Schrift selbst bildet eine Stütze, die über das Sprechen hinausgeht, ohne herauszutreten selbst aus den Effekten selbst der Sprache. Dies hat den Wert, das Symbolische zu zentrieren, unter der Bedingung, sich seiner zu bedienen zu wissen, für was? – dafür, eine gemäße Wahrheit zu erhalten, nicht die Wahrheit, die von sich vorgibt, die ganze zu sein, sondern die des Halb-Sagens, die, die sich bewahrheitet, indem sie sich davor hütet, bis zum Geständnis zu gehen, was das Schlimmste wäre, die Wahrheit, die sich hütet ab der Ursache des Begehrens.“9
Dies ist eine Forderung von Lacan an den Analytiker: Die Wahrheit der Psychoanalyse muss sich vom juristischen Wahrheitsbegriff lösen. Die Wahrheit der Psychoanalyse darf nicht die des Geständnisses sein. Die Wahrheit der Psychoanalyse hat ihre Grenze und der Analytiker muss sich davor hüten, den Patienten zu einem Geständnis bringen zu wollen. Die Grenze der Wahrheit wird gebildet durch die Ursache des Begehrens, durch das Objekt a.
In Radiophonie wird die Formel für den Diskurs des Analytikers so geschrieben10:
Die linke Seite bezieht sich auf den Analytiker, die rechte auf den Analysanten. Der Analytiker verkörpert das Objekt a am Platz oben links, am Platz des Scheins, des Scheins, den Patienten ganz zu verstehen. Der Analysant bemüht sich, alles zu sagen, was ihm in den Sinn kommt, für dieses inkohärente Sprechen steht das Symbol $ am Platz oben rechts.
Die Unmöglichkeit geht vom Punkt a aus, also davon, dass der Analytiker für den Patienten die Mehrlust bzw. das Objekt a verkörpert. In der freien Assoziation des Analysanten gibt es etwas, das nicht gesagt werden kann, das nicht als Wahrheit erscheinen kann, als enthüllter Sinn, und dieses Halbsagen ist ein Effekt der Mehrlust.
(Möglicherweise hat das Verfahren der Passe für Lacan vor allem die Funktion, zu klären, ob der Kandidat auf diese Grenze gestoßen ist und sie angemessen verarbeitet hat, ob er also seinen Analysanten gegenüber diese Dimension des Objekts a repräsentieren kann. –?)
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Anmerkungen
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„La vérité (…) ne saurait s’énoncer que d’un mi-dire“, Seminar 17, Sitzung vom 11. März 1970, Version Miller, S. 118; das Substantiv „mi-dire“ findet man hier auch auf den Seiten 40, 58 f., 119, 121, 125-127, 132 und 140
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Seminar 18 von 1971, D’un discours qui ne serait pas du semblant, Version Miller, S. 12.
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„la vérité ne peut que se mi-dire“, Seminar 19 von 1971/72, … ou pire, Sitzung vom 10. Mai 1972, Version Miller, S. 186.
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Vgl. J. Lacan: Die Freud’sche Sache oder Sinn der Rückkehr zu Freud in der Psychoanalyse (1956). In: Ders.: Schriften. Band I. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2016, S. 472–513, hier: S. 481 (Gondek übersetzt hier puits mit „Schacht“).– Ders.: Die Wissenschaft und die Wahrheit (1966). In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 401–428, hier: S. 415.
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Seminar 22, RSI, Sitzung vom 17. Dezember 1973; meine Übersetzung, RN, nach Version Staferla
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Vgl. Freud: Die Verdrängung. GW 10, S. 250–251.– Ders.: Das Unbewusste, GW 10, S. 280.– Ders.: Hemmung, Symptom und Angst, GW 14, S. 121.
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Seminar 18, Sitzung vom 20. Januar 1971, meine Übersetzung, RN, nach version Staferla; vgl. Version Miller, S. 21.
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Vgl. Lacan:
„Diese anderen Objekte, nämlich der Blick und die Stimme (wenn wir das Objekt, das bei der Kastration im Spiel ist, erst einmal zurückstellen), sind mit der Spaltung des Subjekts unauflöslich verbunden und vergegenwärtigen davon im Feld des Wahrgenommenen den als libidinös getilgten Teil.“
(25. Mai 1966, S. 2; das ist die in dieser Sitzung vorgelesene Zusammenfassung des Seminars; vgl. J. Lacan: L’objet de la psychanalyse. Compte rendu du séminaire 1965–1966. In: Ders.: Autres écrits. Seuil, Paris 2005, S. 219)
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J. L.: Radiophonie (1970). Übersetzt von Jutta Prasse und Hinrich Lühmann. In: Ders.: Radiophonie. Television. Quadriga, Berlin 1988 S. S.5–54, hier: 49.