„Zweiter Tod“ und „Zwischen-zwei-Toden“ in Lacans Seminar über die Ethik der Psychoanalyse
Der zweite Tod im See aus brennendem Schwefel (von hier)
Was versteht Lacan unter dem „zweiten Tod“ (seconde mort) und was unter dem „Zwischen-zwei-Toden“ (l’entre-deux-morts)? Beide Begriffe werden von ihm in Seminar 7 von 1959/60, Die Ethik der Psychoanalyse, eingeführt. In diesem Artikel erläutere ich, wie sie in diesem Seminar verwendet werden.
Ich beginne mit einer Skizze des Freud’schen Hintergrunds, danach zitiere und kommentiere ich sämtliche Passagen, in denen die Ausdrücke verwendet werden, in der Reihenfolge ihres Vorkommens. Ausgangspunkt ist ein Zitat von Sade, das von Lacan erläutert wird, ohne bereits vom zweiten Tod zu sprechen, das ihm später aber als Beispiel dafür dient. Es folgen die Stellen, an denen Lacan ausdrücklich vom zweiten Tod spricht (insgesamt sind es sieben) sowie die Passage, in der vom „Zwischen-zwei-Toden“ die Rede ist. Den Schluss bildet eine Zusammenfassung.1
Die Seitenangaben zu den Lacanzitaten beziehen sich auf die bei Quadriga erschienene deutsche Ausgabe des Ethik-Seminars. Die Übersetzung ist teils die von Norbert Haas (einfache Seitenangaben in Klammern), teils meine eigene nach der Staferla-Version (Seitenangaben in Klammern mit dem Zusatz „geändert“). In Zweifelsfällen habe ich die Staferla-Version mit der von Lacan in Auftrag gegebenen Stenotypie verglichen (Version JL) und die Haas’sche Übersetzung mit der Miller’schen Vorlage. In den Lacanzitaten sind alle Anmerkungen von mir, die Einfügungen in eckigen Klammern und die Fettschreibung von „zweiter Tod“ ebenfalls.2
Freuds Begriff des Todestriebs
In Jenseits des Lustprinzips lässt sich Freud, wie er sagt, zu einer „Spekulation“ hinreißen: zur Einführung eines neuen Triebdualismus mit dem Gegensatz von Lebenstrieben und Todestrieben. Zu den Lebenstrieben gehören die Sexual- und die Ichtriebe. Daneben ist jedoch ein Drang wirksam, der darauf abzielt, den Tod herbeizuführen, nicht nur beim Menschen, sondern auch bei den nicht-menschlichen Tieren, bei den Pflanzen und bei den Einzellern.3
Der Tod, um den es hierbei geht, ist nicht der gewöhnliche, nicht das Ergebnis des Sterbens oder des Verwelkens. Der Todestrieb ist ein Trieb, und das heißt für Freud: ein dem belebten Organismus innewohnender Drang, einen früheren Zustand wiederherzustellen. Der Tod, den der Todestrieb herbeizuführen sucht, ist ein früherer Zustand.
Freuds Spekulation besagt: Irgendwann einmal wurden, durch eine unvorstellbare Krafteinwirkung, in der anorganischen Materie die Eigenschaften des Lebendigen erweckt (ähnlich wie in einem späteren Schritt in der lebenden Materie das Bewusstsein erzeugt wurde). Durch diese Einwirkung entstand in dem zuvor unbelebten Stoff eine Spannung. Sie strebt danach, sich auszugleichen, und in diesem Drang nach Spannungsabfuhr besteht der Todestrieb. Der Todestrieb zielt auf die „Rückkehr zum Anorganischen“4.
Der Drang zur Rückkehr beruht auf dem „Konstanzprinzip“, d.h. auf der Tendenz, die Erregung konstant zu halten, bzw. auf dem „Nirwanaprinzip“, d.h. auf der Tendenz, die Erregungsquantität auf Null zu senken.
Der Freud’sche Todestrieb zielt also, über den gewöhnlichen Tod hinaus, auf einen anderen Tod. Wenn ich tot sein werde, hat der mich bewohnende Todestrieb sein Ziel längst nicht erreicht. Meine Leiche wird aus organischer Substanz bestehen, und in dieser Materie wird, so nimmt Freud an, der Todestrieb weiterhin wirksam sein. Sein Ziel wird er erst dann erreicht haben, wenn sich das Organische in etwas Anorganisches verwandelt hat, wenn meine Leiche gewissermaßen fossilisiert ist.
Lacans Freudkritik
In Seminar 7 von 1959/60 entwickelt Lacan eine Ethik der Psychoanalyse, ausgehend vom Todestrieb, vom Streben nach Zerstörung; ein Theologe würde vielleicht sagen: ausgehend vom Bösen.5 Die Freud’sche Erklärung des Todestriebs durch eine Tendenz der Rückkehr zum Anorganischen, durch das Konstanzprinzip oder das Nirwanaprinzip hält Lacan für indiskutabel: sie ist für ihn weder wahr noch falsch, sondern suspekt, fast lächerlich.6 Auch das Konzept des primären Masochismus – eines ursprünglich Triebs nach Selbstzerstörung – wird von Lacan verworfen.7
Am Begriff des Todestriebes hält Lacan jedoch fest. Statt vom Todestrieb spricht auch vom Todesbegehren; Trieb und Begehren werden von ihm in diesem Seminar noch nicht, wie später, klar unterschieden. Unter dem Todestrieb versteht er einen Zerstörungsdrang, einen Zerstörungswillen. Dass es ein Streben nach Vernichtung gibt, ist für ihn unbestreitbar. Wie lässt es sich erklären? Das ist die Frage, die er zu beantworten sucht. Der Zerstörungsdrang ist nicht physiologisch zu begreifen, nicht biologisch und schon gar nicht physikalisch. Das Streben nach Vernichtung beruht auf dem Verhältnis des Menschen zur Sprache – das ist die These, die Lacan im Ethik-Seminar ausarbeitet.
Wenn man den Begriff des Todestriebs akzeptiert, stellt sich die Frage, was hier mit „Tod“ gemeint ist. Was für ein Tod ist es, den der Todestrieb herbeizuführen sucht?
Die Zerstörung des zweiten Lebens
Sade: Man müsste das zweite Leben nehmen können
Eine der Äußerungsformen des Todestriebs ist, Freud zufolge, der Sadismus; der Drang nach Selbstzerstörung wird hier auf andere umgelenkt. Also kann man, zur Erkundung des Todestriebs, fragen, wie sich die destruktive Tendenz beim Namensgeber des Sadismus darstellt, beim Marquis de Sade. Wie wird in seinen Schriften der Zustand beschrieben, der durch Zerstörung herbeigeführt werden soll? Das ist eine der Fragen, denen Lacan im Ethik-Seminar nachgeht.
Sade zielt auf die Realisierung der Jouissance, auf die Befriedigung des Destruktionsstrebens. Die Zerstörung kommt jedoch nicht an ihr Ziel, auf dem Weg der Vernichtung trifft die Strebung auf eine Barriere, auf eine Grenze. In der Sitzung vom 30. März 1960 sagt Lacan:
„Sade ist auf dieser Grenze.“ (S. 238)
Sade bildet sich ein, die Grenze, die ihn an der vollen Realisierung seines Zerstörungsdranges hindert, zu überschreiten; tatsächlich aber steckt er auf ihr fest. In seinen erotischen – oder pornographischen – Phantasien verharrt er auf der Grenze: die Opfer der Quälereien, die er sich ausmalt, sind unzerstörbar. Der Todestrieb ist eine in sich blockierte Bewegung.
In der Folgesitzung, am 27. April 1960, heißt es
„Wir sind im Augenblick an jener Schranke, jenseits welcher das analytische Ding ist und an der jene Bremsungen auftreten, durch die das Objekt als Objekt der Jouissance zu einem unerreichbaren wird.“ (S. 246, geändert)
Für Freud ist das Ding das Nicht-Assimilierbare, um das sich, unter der Herrschaft des Lustprinzips, die Bewegung der Vorstellungen dreht.8 Statt von Vorstellungen spricht Lacan von Signifikanten; er versteht unter dem „Ding“ das unwiderruflich Abwesende, das die Verkettung der Signifikanten beherrscht; er verbindet es mit Freuds Konzept vom verlorenen und wiederzufindenden Objekt und betont, dass es zwar wiederzufinden ist, jedoch nie verloren war.9
Lacan skizziert hier eine Topik der Grenze. Der Zerstörungstrieb zielt auf eine Jouissance, auf eine Triebbefriedigung jenseits des Lustprinzips. Diese Jouissance soll durch Wiederfinden des Dings erreicht werden. Auf dem Weg zur zerstörerischen Vereinigung mit dem Ding tritt eine Blockierung ein. Diese Barriere wird durch das Phantasma geliefert.
Die Position von Sade lässt sich etwa so wie in Abbildung 1 darstellen:
Abb. 1: Sades Position auf der Grenze
Sade befindet sich auf einer Grenze, worunter Lacan einem Grenzbereich versteht (mittleres Segment der Linie); hinter diesem Grenzstreifen liegt das Ding (rechter Abschnitt). Die Grenze wird durch das Phantasma gebildet; die Positionierung von Phantasma über der Linie soll darauf hinweisen, dass das Phantasma, seiner Hauptfunktion nach, zum imaginären Register gehört. Lacan sagt nicht ausdrücklich, was sich auf der anderen Seite der Grenzzone befindet; den linken Abschnitt der Linie habe ich deshalb freigelassen. (Vielleicht kann man hier das Ich eintragen.)
Sade wechselt in seinen Texten zwischen narrativem und argumentierendem Schreiben; auf die Orgie folgt eine Abhandlung folgt eine Orgie. In den Erzählungen verharrt er auf einer Grenze, die vor der Zerstörung liegt, in seinen Theorien jedoch überschreitet er diese Grenze. In der Geschichte von Juliette lässt er den zu seiner Zeit amtierenden Papst auftreten, Pius VI., der ein naturphilosophisch-kriminologisches System vorstellt (vgl. S. 254 f.). In der Natur, so verkündet der Sade’sche Papst, herrschen drei Kräfte. Sie begrenzen die Natur, so dass ihr nur ein eingeschränkter Kreislauf möglich ist. Das Verbrechen unterstützt die Natur. Es schränkt die Macht der drei Kräfte ein und es liefert der Natur durch Zerstörung das Material, das sie benötigt, um wirksam zu werden, dadurch, dass sie es neu zusammenzusetzt. Lacan zitiert im Seminar eine lange Passage aus der Papstrede; dies sind die entscheidenden Sätze:
„‘Um ihr [der Natur] noch besser zu dienen, müßte man die Regeneration, die aus dem von uns begrabenen Leichnam resultiert, verhindern können. Der Mord beseitigt nur das erste Leben des Individuums, das wir niederschlagen. Er müßte ihm auch das zweite nehmen können, wenn er der Natur noch nützlicher sein wollte; denn sie will die Vernichtung; es steht nicht in unserer Macht, unseren Mordtaten das Ausmaß an Wirksamkeit zu geben, das sie sich wünscht.‘“ (S. 255)
Der Sade’sch Papst spricht davon, dass man das „zweite Leben“ nehmen müsste; bei Lacan wird daraus der „zweite Tod“.
Die Sade’sche Konstruktion ähnelt der Freud’schen Spekulation über den Todestrieb. Das Verbrechen ist eine Kraft der Zerstörung, die Natur setzt das Zerstörte neu zusammen – das entspricht in etwa dem Gegensatz von Todes- und Lebenstrieben. Der Mord raubt dem Individuum nur das erste Leben; die Leiche ist in gewissem Sinne weiterhin lebendig, sie besteht aus organischer Materie und ist damit den Reproduktionskreisläufen unterworfen. Einen wirklichen Dienst würde man der Natur erst dann erweisen, wenn man auch dieses zweite Leben vernichten könnte, mit Freud: wenn man die Leiche in einen anorganischen Zustand überführen könnte. Dies steht allerdings nicht in der Macht des Menschen, seine Destruktionskapazität ist beschränkt; das zweite Leben ist, zum Bedauern des Papstes, unausrottbar. In Freud’scher Terminologie: das Wirken der Todestriebe wird von den Lebenstrieben beständig durchkreuzt.
Der Papst bringt in seiner Vernichtungsphilosophie folgende Elemente ins Spiel (vgl. Abb. 2):
– das erste Leben (das linke Segment),
– den Mord, durch den das erste Leben genommen wird (im Schema durch den Punkt zwischen dem linken und dem mittleren Segment repräsentiert),
– das zweite Leben, also den Kreislauf von Werden und Vergehen, die Verwesung der Leiche,
– den (unmöglichen) Akt der Vernichtung des zweiten Lebens (Punkt zwischen dem mittleren und dem rechten Segment),
– die Abwesenheit von Regeneration, das Vernichtetsein des zweiten Lebens (ebenfalls unmöglich).
Der Tod, auf den der Todestrieb in der Pius’schen Version abzielt, ist der Stillstand der biologischen Reproduktionskreisläufe, der „absolute Nullpunkt“ (S. 243). Dieser Zustand wird von Lacan mit dem Wiederfinden des (niemals verlorenen) Dings gleichgesetzt.
Abb. 2: Das System von Pius VI.
Was die Terminologie angeht, ist festzuhalten, dass Sade von der Vernichtung des zweiten Lebens spricht, aber weder hier noch sonst vom zweiten Tod.
Zurückkommen auf die Markierung
Die zitierte Stelle aus der Papstrede wird von Lacan so kommentiert:
„Ich denke, daß Sie den Nerv, die Tragweite dieser letzten Aussage erfaßt haben. Wir sind damit im Zentrum dessen, was Ihnen letztesmal beim Todestrieb als Trennung artikuliert wurde zwischen dem Nirwana- oder Vernichtungsprinzip einerseits – insofern es sich auf ein fundamentales Gesetz bezieht, das zu identifizieren wäre mit dem, was die Energetik uns vorstellt als die Tendenz, zu einem Zustand wenn nicht absoluter Ruhe, so doch zumindest eines universellen Gleichgewichts zurückzukehren – und dem Todestrieb andererseits.“ (S. 255)
Gegen Freud erklärt Lacan hier, dass man unterscheiden muss zwischen, einerseits, dem Nirwana- oder Vernichtungsprinzip, nämlich dem Streben nach Homöostase oder Entropie, und, andererseits, dem Todestrieb; sie haben nichts miteinander zu tun. Lacan fährt fort:
„Der Todestrieb gehört in den Bereich der Geschichte, da er sich auf einer Ebene artikuliert, die nur in Abhängigkeit von der Signifikantenkette definierbar ist, das heißt insofern eine Markierung, die eine Markierungsordnung ist, in bezug auf das Funktionieren der Natur situiert werden kann.“ (S. 255, geändert)
Der Todestrieb muss als ein Phänomen begriffen werden, das von der Signifikantenkette abhängt und damit von der Sprache und vom Sprechen. Deshalb gehört er in den Bereich der menschlichen Geschichte, die hier in der anfänglichen Niederschrift oder Einschreibung eines Signifikanten besteht (vgl. S. 258). Die Signifikantenkette ist eine Ordnung von Markierungen, die sich auf das Funktionieren der Natur bezieht, die Kette kommt dadurch zustande, dass Markierungen in die Natur eingetragen werden.
Der nächste Satz lautet:
„Es muss etwas Jenseitiges geben, von dem aus sie [die Natur] erfaßt werden kann in einem fundamentalen Eingedenken, und zwar so, daß alles nicht einfach in der Bewegung der Metamorphosen, sondern ausgehend von einer ursprünglichen Intention wiederaufgenommen werden kann.“(S. 255, geändert)
Jenseits der Natur muss es etwas geben, von wo aus, durch eine Erinnerung, die Natur erfasst werden kann. Eben dies ist die Signifikantenkette, die Ordnung der Markierungen.
Der Todestrieb gehört nicht in den Bereich der biologischen Formwandlungen. Er muss ausgehend von einer ursprünglichen „Intention“ aufgefasst werden, einem anfänglichen Bezogensein-auf-etwas; er ist ein Versuch, auf diese ursprüngliche Intention zurückzukommen. Hier nimmt Lacan den Freud’schen Gedanken auf, dass ein Trieb darauf abzielt, einen früheren Zustand wiederherzustellen. Worin besteht in diesem Fall die ursprüngliche Intention? Vermutlich darin, dass Markierungen in die Natur eingetragen wurden und auf diese Weise Signifikanten geschaffen wurden.
Die Desintegration des Lebens durch die Anarchie der Chromosomen
In der Sitzung vom 18. Mai 1960 ergänzt Lacan seinen Kommentar zur Papstrede. Ausgehend von einem politischen Ereignis, das nicht genauer bezeichnet wird10, stellt er die Frage, ob wir eine bestimmte Linie überschritten haben, eine Grenze im Verhältnis zum Signifikanten.
„Das schrecklich Unerkannte jenseits der Linie, das ist, was wir, beim Menschen, das Unbewußte nennen, das heißt das Gedächtnis dessen, was er vergißt. Und was er vergißt – Sie können sehen, in welcher Richtung –, ist das, was so beschaffen ist, daß er daran nicht denkt – der Gestank, die Zersetzung, die immer wie ein Abgrund droht –, denn das Leben, das ist die Verwesung.“(S. 279)
Zu den Inhalten des Unbewussten gehören Vorstellungen von Zersetzung und Verwesung und dem damit verbundenen Gestank; Freud hatte die Bedeutung olfaktorischer Erinnerungen immer betont. Diese Vorstellungen beziehen sich auf das Leben, auf das zweite Leben im Sinne des Sade’schen Papstes. Lacan fährt fort:
„Zunehmend seit einiger Zeit. Denn die Anarchie der Formen, diese zweite Zerstörung (déstruction seconde), von der Sade gesprochen hat, in dem Zitat, das ich vor einiger Zeit ausgezogen habe, die an die Subversion sogar jenseits des Zyklus von Erzeugung-Zersetzung appelliert, das sind für uns aktuelle Fragen. Die Möglichkeit der zweiten Zerstörung ist für uns plötzlich greifbar geworden in der Bedrohung durch eine Anarchie der Chromosomen, in der die Vertäuungen der Formen des Lebens durchschnitten werden könnten. Monstren versetzten die in Angst und Schrecken, die, zuletzt im XVIII. Jahrhundert, dem Wort Natur noch einen Sinn gaben. Seit langer Zeit mißt man Kälbern mit sechs Füßen, Kindern mit zwei Köpfen kein Gewicht mehr bei, und doch werden wir diese jetzt zu Tausenden vielleicht wieder auftauchen sehen.“ (S. 279)
Der Sade’sche Papst hatte sich gewünscht, nicht nur das individuelle Leben, sondern den Kreislauf der Regeneration insgesamt zerstören zu können und damit die Reproduktion der Formen, die Wiederholung der Gestalten des Lebendigen. Heute ist die Realisierung einer solchen Vernichtungsphantasie eine aktuelle Frage; es könnte dazu kommen, dass die Zahl der Mutationen zunimmt. Vermutlich bezieht Lacan sich hier auf die Schädigung des Erbguts durch atomare Strahlung.
Unter terminologischem Aspekt ist festzuhalten, dass er hier von der „zweiten Zerstörung“ (déstruction seconde) spricht, nicht vom „zweiten Tod“ (seconde mort).
Etwas später heißt es:
„Der Mensch hat zu einem bestimmten Zeitpunkt gelernt, den Diskurs der Mathematik im Realen und in der Welt zu lancieren und in Umlauf zu bringen, der seinerseits sich nur voranbewegen kann, indem nichts vergessen wird. Es genügt, daß eine kleine Signifikantenkette nach diesem Prinzip zu funktionieren beginnt, und die Dinge verlaufen ganz so, als funktionierten sie von selbst, so daß wir uns fragen können, ob der durch die Allmacht des Signifikanten erzeugte Diskurs der Physik auf eine Integration der Natur hinausläuft oder auf ihre Desintegration.“ (S. 284)
Das, was man die „technische Welt“ nennt, beruht auf einem veränderten Verhältnis des Menschen zum Signifikanten: auf der Mathematisierung der Physik und auf der Verwendung physikalischer Formeln bei der Umgestaltung der Natur. Die angewandte Physik hat möglicherweise nicht die Integration, sondern die Desintegration der Natur zur Folge. Damit spielt Lacan an auf die Freud’sche Opposition von Lebens- und Todestrieben: Ziel der Lebenstriebe ist die Schaffung von größeren Einheiten, also die Integration, Ziel der Todestriebe die Auflösung von Einheiten, also die Desintegration. Das Spannungsverhältnis von Lebens- und Todestrieben ist demnach eine grundlegende Beziehung der modernen technisierten Welt; es beruht auf einer veränderten Funktionsweise der Signifikanten durch die Mathematisierung der Physik.
Einige Sätze später kann man lesen:
„Daß der Freudsche Begriff des Todestriebs auftaucht, hat seinen Sinn für uns, weil die Bewegung des Begehrens im Begriff ist, die Linie einer Art Enthüllung zu überschreiten. Die Frage stellt sich auf der Ebene des Verhältnisses des Menschenwesens / des menschlichen Seins (l’être humain) zum Signifikanten als solchem, weil auf der Ebene des Signifikanten jeder Zyklus des Seienden mit Einschluß des Lebens in seiner Bewegung von Verlust und Wiederkehr wieder in Frage gestellt werden kann.“ (S. 284 f., geändert)
Das Begehren bzw. der Trieb – das wird in diesem Seminar noch nicht streng unterschieden – ist dabei, die Linie einer Enthüllung zu überschreiten, einer Enthüllung über den Zusammenhang von Sprache und Vernichtung (Badiou würde von einem Wahrheitsereignis sprechen). Dieser historische Einschnitt wird durch Freuds Begriff des Todestriebs angezeigt. Der Todestrieb beruht auf dem Verhältnis des Menschen zum Signifikanten. Die Sprache hat eine destruktive Dimension.
Mit der Gegenüberstellung zwischen dem Menschenwesen / dem menschlichen Sein (l’être humain) und dem Seienden verweist Lacan auf Heideggers Unterscheidung zwischen dem Sein und dem Seiendem. Der Todestrieb zielt darauf ab, das Lebendige, also bestimmte Formen des Seienden, zu vernichten. Das Verhältnis des Menschen zum Sein realisiert sich in der negierenden Beziehung zum Seienden. Möglich wird dies durch die Sprache, durch das Funktionieren von Signifikanten. In der Möglichkeit, das lebendige Seiende in Frage zu stellen, zeigt sich eine grundlegende Beziehung zwischen dem Menschen und der Sprache.
„Zweiter Tod“
Antigone zwischen dem Seienden und dem Sein
Lacan entwickelt den Begriff des zweiten Todes anhand von literarischen Texten. Nach Sades Geschichte von Juliette ist dies die Antigone des Sophokles.
„Was verleiht diesem zentralen Bild [der Antigone] die zerstreuende Macht in bezug auf alle anderen, die auf einen Schlag in ihm zusammenzufallen und zu schwinden scheinen? Die Artikulierung der tragischen Handlung gibt uns darüber Aufklärung. Es liegt an der Schönheit Antigones – ich erfinde das nicht, ich werde Ihnen die Passage im Gesang des Chors zeigen, in der die Schönheit als solche angesprochen ist, und ich werde Ihnen zeigen, daß das die Schlüsselstelle ist – und zwar an dem Ort, den sie einnimmt, im Zwischenraum (entre-deux) von zwei symbolisch unterschiedenen Feldern. Ihren Glanz (éclat) hat sie zweifellos aus diesem Ort – diesen Glanz, den alle, die auf würdige Weise von der Schönheit gesprochen haben, nie aus ihrer Definition weglassen konnten.“ (S. 299)
Das Bild von Antigone absorbiert aufgrund seiner Schönheit alle anderen Bilder. Die Schönheit der Heldin beruht darauf, dass sie einen bestimmten Ort einnimmt; ihr Schönsein ist ein topischer Effekt. Kreon hat sie dazu verurteilt, lebendig in eine Grabkammer eingemauert zu werden, und der Chor spricht in dem Moment über ihr Aussehen und dessen bezwingende Kraft, in dem sie zu ihrem Grab geführt wird (Vers 795). Zwar beschreibt Antigone sich von Anfang an als bereits tot (Vers 559 f.), durch das Urteil wird ihre subjektive Position jedoch in der Handlung äußerlich dargestellt. In der Grabkammer wird sie in einem Zwischenbereich leben, zwischen der Oberwelt und der Unterwelt, zwischen den Lebenden und den Toten. In ihrem Klagelied singt sie: „Ich Arme, / weder bei Sterblichen, noch bei Toten / geduldet, nicht bei Lebenden, nicht bei Gestorbenen.“ (Verse 850-852)
Die Reiche der Lebenden und der Toten sind symbolisch unterschieden, in ihnen herrschen unterschiedliche Gesetze. Das Reich der Lebenden wird durch die Gesetze der oberirdischen Götter bestimmt, im Hades gelten die ungeschriebenen Gesetze, die von den Totengöttern erlassen wurden (vgl. Verse 449-455).
Lacan erläutert den Unterschied zwischen den beiden Gesetzen mit Heideggers Begriffsopposition zwischen dem Seiendem und dem Sein (vgl. S. 333–335). In Seminar 2 hatte er den Unterschied so erläutert: Die Erkenntnis hat es mit der Beziehung des Menschen zu seiner Welt zu tun, in der sich das Subjekt an die Objekte anzumessen hat; der Mensch bezieht sich als Wesen, das sich als seiend weiß, auf andere Wesen, die es als seiend weiß. Das Feld der Psychoanalyse hat es mit ganz anderen Beziehungen zu tun, mit dem Verhältnis des menschlichen Wesens nicht zum Seienden, sondern zum Sein, genauer: zum Mangel an Sein, zum Begehren.11
Unter dem Seienden versteht Lacan an der zuletzt zitierten Stelle aus Seminar 7 die veränderliche Welt, die Welt von Werden und Vergehen, das Sein ist hier für ihn das, was im Fluss der Transformationen unverrückbar bleibt. Die Gesetze der oberirdischen Götter sind, Lacans zufolge, solche, die sich auf das Seiende beziehen, auf die Geschichte, die der unterirdischen Götter stehen im Verhältnis zum Sein, zum Unveränderlichen. Diese Gesetze sind insofern ungeschrieben, sagt Lacan, als sie in keiner Signifikantenkette explizit entwickelt sind. Gleichwohl sind sie in der Sprache enthalten, denn die Beziehung zum Sein durch Infragestellung des Seienden ist nur in der Sprache möglich.
Die folgende Abbildung soll Antigones Zwischenstellung veranschaulichen (vgl. Abb. 3). Sie hat ihren Platz (mittleres Segment der Linie) zwischen dem Gesetz der Lebenden (linker Abschnitt) und dem der Toten (rechter Abschnitt), zwischen dem Seienden und dem Sein. Ihre Schönheit beruht auf dieser Zwischenposition; im Diagramm habe ich „Schönheit“ über der Linie eingetragen, was heißen soll: die Schönheit gehört zur imaginären Dimension
Abb. 3: Antigone in der Zwischenzone und ihre Schönheit
Für die These, dass die Schönheit auf der Zwischenposition beruht, hat sich Lacan vermutlich von Heidegger anregen lassen. In Hölderlin und das Wesen der Dichtung schreibt dieser:
„So ist das Wesen der Dichtung eingefügt in die auseinander und zueinander strebenden Gesetze der Winke der Götter und der Stimme des Volkes. Der Dichter selbst steht zwischen jenen – den Göttern, und diesen – dem Volk. Er ist ein Hinausgeworfener – hinaus in jenes Zwischen, zwischen den Göttern und den Menschen. Aber allein und zuerst in diesem Zwischen entscheidet es sich, wer der Mensch sei und wo er sein Dasein ansiedelt.“12
Wie Lacan unterscheidet Heidegger zwei Felder, die von unterschiedlichen Gesetzen beherrscht werden, den Bereich des Volkes und den der Götter. Wie Lacan stellt Heidegger die Relation zwischen den Bereichen ins Zentrum der Betrachtung, das Zwischen, wie Heidegger sagt; mit Lacan: l’entre-deux, das Zwischen-Zweien. Und wie Lacan bezieht Heidegger den Zwischenbereich auf das, was man das Schöne nennt, für Heidegger ist er der Ort der Dichter, für Lacan die Bedingung für die Erscheinung des Schönen.
Antigones Schönheit wird von Lacan durch den éclat charakterisiert, den Glanz, das Strahlen, das Leuchten. Damit bezieht er sich auf das Lied, das der Chor singt, als Antigone in die Grabkammer gebracht wird, und in dem es heißt: „Es siegt das in den Augen sichtbare Begehren des schönen Mädchens.“13 „Das in den Augen sichtbare Begehren“, das ist der Glanz von Antigone.14
Lacan behauptet, dass sich alle, die auf angemessene Weise von der Schönheit gesprochen haben, auf den Glanz beziehen. Damit dürfte Heidegger gemeint sein, in dessen Technikaufsatz man lesen kann: „Einstmals hieß technê auch jenes Entbergen, das die Wahrheit in den Glanz des Scheinenden hervorbringt.“15 Und weiter: „Das Dichterische bringt das Wahre in den Glanz dessen, was Platon im ‚Phaidros‘ to ekphanestaton nennt, das am reinsten Hervorscheinende.“16
Unmittelbar nach der zuletzt zitierten Bemerkung spricht Lacan zum ersten Mal vom „zweiten Tod“:
„Dieser Ort [den Antigone einnimmt] ist es, Sie wissen es, den wir zu definieren suchen. Wir haben uns ihm bereits in unseren vorausliegenden Lektionen genähert und wir haben versucht, ihn das erste Mal über den Weg jenes zweiten Todes (seconde mort) zu erfassen, der von den Helden Sades imaginiert wird – der Tod, insofern an ihn appelliert wird als an den Punkt, an dem selbst der Zyklus der natürlichen Transformationen sich in nichts auflöst.“ (S. 299)
Lacan stellt sich die Aufgabe, den Ort zu definieren, den Antigone einnimmt. Dieser Platz lässt sich bestimmen, wenn man die vom Sade’schen Papst anvisierte Totalvernichtung des Lebendigen hinzuzieht. Lacan spricht jetzt nicht mehr, wie Sade bzw. der Papst, von der Zerstörung des zweiten Lebens und auch nicht mehr, wie er selbst es zunächst getan hatte, von der zweiten Zerstörung (déstruction seconde); er bezeichnet die völlige Abwesenheit des organischen Lebens jetzt als zweiten Tod (seconde mort).
Die vom Papst konstruierte Welt lässt sich, wenn man diese Begrifflichkeit verwendet, schematisch so darstellen wie in Abbildung 4: Auf das erste Leben (linker Abschnitt) folgt das zweite Leben, also die Verwesung (mittlerer Abschnitt). Auf das zweite Leben folgt der zweite Tod, der Zustand, in dem jedes Leben zum Stillstand gekommen ist.
Abb. 4: Der zweite Tod im System von Pius VI.
Der Begriff des zweiten Todes stammt aus der Offenbarung des Johannes (Kapitel 20, Verse 6 und 14; Kapitel 21, Vers 8]. Der biblische Hintergrund wird von Lacan nicht erwähnt. Der griechische Ausdruck lautet deuteros thanatos, die Vulgata übersetzt mit secunda mors und mors secunda. In der französischen Übersetzung findet man la seconde mort (Übersetzung Louis Segond, revidierter Text von 1910); Luther übersetzt mit der andeer Tod, in der revidierten Luther-Übersetzung von 1984 liest man der zweite Tod.
Christus wird wiederkehren, so prophezeit der Johannes der Apokalypse, und er wird tausend Jahre lang herrschen. Am Ende seines tausendjährigen Reiches werden sämtliche Toten auferstehen und es folgt das Gericht, in dem sie gerichtet werden, das Jüngste Gericht. Der Satan, der Tod und das Totenreich (hades) werden dann in einen See aus brennendem Schwefel geworfen werden, außerdem all jene, die im Buch des Lebens nicht verzeichnet sind.17 Auch die Verzagten und die Ungläubigen landen in diesem Feuersee, die Unreinen und die Mörder, die Unzüchtigen und die Zauberer, die Götzendiener und die Lügner. Der Tod, den sie alle im brennenden See erleiden, ist der „zweite Tod“.
Worin also besteht der zweite Tod? Geht es daei um eine Einäscherung, also um die völlige Vernichtung jeden Lebens im Sinne des Sade’schen Papstes? Oder besteht er in einem ewigen Verbrennen, also in einem unaufhörlichen schmerzhaften Leben? Darüber gibt Johannes keine Auskunft.
In der christlichen Tradition wird unter dem zweiten Tod meist ein Zustand verstanden, in dem ewige Qualen erlitten werden. Die Aussagen des Johannes der Apokalypse über den im Feuersee erlittenen zweiten Tod sind die wichtigste biblische Referenz für die christlichen Höllenphantasien. Einige Theologen und manche christlichen Gruppen, etwa Jehovas Zeugen, verstehen unter dem zweiten Tod jedoch die vollständige Zerstörung, eine Doktrin, die als Annihilationismus bezeichnet wird. Die Siebenten-Tags-Adventisten halten beides für korrekt: die Sünder müssen zunächst im Feuersee leiden, bevor sie vollständig vernichtet werden.
Die Vorstellung vom zweiten Tod im Feuersee hat sich vom neutestamentlichen Hintergrund teilweise abgelöst und ist zu einem Bestandteil der Populärmythen geworden. Am Ende des Films „Terminator 2 – Tag der Abrechnung“ (1991) wird der böse Terminator, ein mörderischer Android, der nicht sterben kann – der den ersten Tod nicht erleiden kann – in einen Feuersee geworfen, eine Gießpfanne mit flüssigem Stahl; auf diese Weise wird er endgültig vernichtet.
Die christliche Tradition bezieht sich demnach auf zwei gegensätzliche Deutungen des zweiten Todes, sie begreift ihn teils als eine Verewigung der schmerzhaften Jouissance, teils, wie der Sade’sche Papst, als eine Vernichtung jeder Jouissance, als erfolgreiche Durchsetzung des Nirwana-Prinzips.
Der Begriff des zweiten Todes hat also zwei einander ausschließende Bedeutungen. In Lacans Bezügen auf den Sade’schen Papst wird der Ausdruck annihilistisch verwendet, der zweite Tod ist hier die völlige Abwesenheit von organischem Leben, die erfolgreiche Durchsetzung des Nirwanaprinzips, die vollständige Beseitigung von Jouissance. In den meisten christlichen Höllenphantasien bezieht sich der Begriff auf einen Zustand ewiger Qual; die Qual setzt Empfindungsfähigkeit voraus, also eine Art Restleben, hier ist der zweite Tod die Verewigung der Jouissance.
Worin also besteht der Ort von Antigone? Ist er der des zweiten Todes oder bezieht sie sich von ihrem Ort aus auf den zweiten Tod, der anderswo zu situieren wäre? Ich lasse das zunächst offen.
Im nächsten Satz (der grammatisch unvollständig ist) bezieht Lacan den Ort von Antigone auf die Opposition zwischen dem Seienden und dem Sein:
„Dieser Punkt [der Ort, an dem Antigone sich befindet], der der ist, an dem die falschen Metaphern des Seienden sich von dem scheiden, was die Position des Seins ist.“ (S. 299)
Lacan spricht hier vom Seienden als von den „falschen Metaphern“. „Metapher“ ist Lacans Terminus für die Bedeutungserzeugung durch Signifikantensubstitution. Die Metapher ist diejenige Signifikantenbeziehung, durch die der Sinn entsteht; das Seiende, die falschen Metaphern des Seienden, das ist der Sinn, die Bedeutung, das Signifikat. Der Sinn bezieht sich auf das Seiende statt auf das Sein.
Der Ort von Antigone ist derjenige, an dem das Seiende sich vom Sein scheidet. Ihre Position ist nicht die des Seienden und auch nicht die des Seins; der Platz, den sie einnimmt, ist der Unterscheidungsort. Der späte Heidegger begreift die Beziehung zwischen dem Seienden und dem Sein nicht zwei-, sondern dreigliedrig, neben dem Seienden und dem Sein kommt, als Drittes, das ins Spiel, was sie auseinanderhält und zugleich verbindet: ihre Differenz.18 Antigone ist am Ort der Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Antigone am Ort der Differenz
In einer früheren Sitzung des Ethik-Seminars hatte Lacan erklärt, der Triebbegriff lasse sich nicht auf einen psychologischen Begriff eingrenzen, er sei ein „absolut fundamentaler ontologischer Begriff, der die Antwort auf eine Bewußtseinskrise darstellt, die voll zu bestimmen wir nicht gezwungen sind, weil wir in ihr leben“ (S. 157). Der Begriff des Triebes muss ontologisch rekonstruiert werden, darunter versteht Lacan, wie man hier sieht: ausgehend von der Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein (die Bewusstseinskrise wäre also, mit Heidegger, die Krise der Metaphysik).
Warum orientiert Lacan sich bei der theoretischen Rekonstruktion des Todestriebs an Heideggers Spätphilosophie? Möglicherweise knüpft er an eine Bemerkung von Freud an, wonach es sich bei seinen Überlegungen zum Todestrieb um „Spekulation“ handele, um „oft weitausholende Spekulation“19. Unter Spekulation versteht Hegel diejenige Philosophie, die nach dem Grund des Seins fragt, also die Ontologie. Heidegger versucht, noch hinter die Ontologie zurückzugehen, hinter die Konzeption des Seins als Grund, eben dadurch, dass er die Frage nach der Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden stellt. Es ist, als hätte Lacan gesagt: ‚Nehmen wir Freuds Hinweis doch einmal ernst. Der Todestrieb lässt sich nur durch „weitausholende Spekulation“ aufklären. Darunter sollte man allerdings nicht die naturphilosophischen Gedankengebäude verstehen, die von Freud errichtet wurden, sie sind indiskutabel. Man muss den Begriff Spekulation ernst nehmen, wie Hegel, und man muss sich auf die am weitesten ausholende Spekulation beziehen, auf die Differenzphilosophie des späten Heidegger.‘20
Antigone hat ihren Platz dort, wo sich das Seiende vom Sein scheidet, sie befindet sich am Ort der Differenz, in der Zwischenposition zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen dem Seienden und dem Sein. Und genau dadurch, dass sie diese Differenzposition einnimmt, wird sie für den Chor schön.
In diesen Zusammenhang gehört eine Bemerkung von Lacan über die Sprechweise der Heldin. Antigone – so behauptet Lacan – verwendet den griechischen Ausdruck meta („mit“ oder „bei“) auf ungewöhnliche Weise, so nämlich, dass sie ihn hartnäckig an das Ende des Satzes stellt. „Meta ist eigentlich das, was den Schnitt anvisiert. (…) Dieser Zug bezeichnet uns in signifikanter Weise, von welch einschneidender Art die Gegenwart unserer Antigone ist.“21 Antigone vergegenwärtigt also den Schnitt.22
Lacans Bemerkung über das Seiende und das Sein zeigt an, dass mit dem Schnitt an dieser Stelle nicht, wie in früheren Seminaren, einfach das Intervall zwischen den Signifikanten gemeint ist, sondern zugleich die Differenz zwischen dem Sein und dem Seienden. Das vermittelnde „mit“ bezieht sich demnach auf diese Differenz, auf das „Zwischen“, das beide Seiten vermittelt.23
Das Sein wird von Lacan mit dem Ding parallelisiert. In der Sitzung vom 4. Mai 1960 hatte es über das Feld des Dings geheißen, dies sei der „Ort, wo alles, was sein kann, in Frage gestellt wird, dieser Ort des Seins, wo sich alles das herstellt, was wir als auserwählten Ort der Sublimation bezeichnet haben“ (S. 259, geändert).24 Das Feld des Dings ist der Ort des Seins, d.h. der Ort, von dem aus alles, was sein kann – alles Seiende – in Frage gestellt wird. Im folgenden Diagramm habe ich den Begriff des Dings in das zuletzt vorgestellte Schema zu Antigone eingefügt (vgl. Abb. 6).
Abb. 6: Antigone in Beziehung zum Ding
Lacan fährt fort:
„Wir werden seinen Ort [den, an dem sich das Seiende vom Sein scheidet], artikuliert als solche, als eine Grenze, im ganzen Text der Antigone wiederfinden, im Munde aller Personen und im Munde von Teiresias. Aber auch, wie könnte man es übersehen, in der Handlung selbst – insofern im Mittelpunkt des Stückes etwas steht, dass sich in Klagen, Kommentaren, Streitgesprächen, Appellen um die zur Marter verurteilte Antigone artikuliert. Verurteilt zu welcher Marter? Lebendig eingeschlossen zu sein in einem Grab.
Das zentrale Drittel des Stückes bildet die Manifestation, die Apophanie25, das Detail, das uns von der Bedeutung der Stellung, des Loses eines Lebens gegeben wird, das sich mit dem Tod, der gewiss ist, vermischen wird, einem Tod, der antizipiert erlebt wird, einem Tod, der auf den Bereich des Lebens übergreift, Leben, das auf den Tod übergreift.“ (S. 299, geändert)
Der Ort von Antigone ist, wie der von Sade, eine Grenze, ein Grenzbereich. Ihre Grenzposition besteht darin, dass sie in einer Grabkammer eingeschlossen ist. Dieser Ort grenzt an zwei Bereiche an, an den des Lebens und an den des Todes, und beide vermischen sich in ihm. In ihrem Grab ist Antigone aus dem Reich der Lebenden ausgeschlossen, sie ist jedoch noch lebendig. Sie gehört auch nicht zu den Toten, allerdings ist ihr Aufenthalt bereits ein Grab. Insofern greift hier das Leben auf den Tod über und der Tod auf das Leben.
Die von Antigone eingenommene Zwischenposition wird auch durch den Begriff der Marter (supplice) angedeutet. Lacan sagt nicht, dass Antigone „zum Tode“ verurteilt wird (wie Haas übersetzt), sondern „zur Marter“. Wer gemartert wird, schwebt zwischen Leben und Tod.
Von einer Zwischenposition spricht auch Teiresias. Durch das Bestattungsverbot wird die Leiche des Polyneikes den unterirdischen Göttern entzogen, ebenso haben die oberen Götter an diesem Toten keinen Anteil und auch nicht Kreon (Vers 1072).
Der Ort von Antigone, so hieß es einige Sätze vorher, ist auf dem Weg über den zweiten Tod zu erfassen. Der Ort von Antigone ist ein Zwischenbereich, ein Grenzstreifen. Diese Grenze verläuft zwischen dem Feld der Lebenden und dem der Toten, zwischen dem Seienden und dem Sein. Der zweite Tod ist kein Zwischenzustand, sondern der absolute Endzustand. Also dürfen wir annehmen, dass der Ort von Antigone nicht der des zweiten Todes ist, sondern dass sie sich von ihrer Grenzzone aus auf den zweiten Tod als einen angrenzenden Ort bezieht und dass der Ort des zweiten Todes derselbe ist wie der der Toten und des Seins.
Ich füge die Begriffe der Grenze und des zweiten Todes zum Antigone-Diagramm hinzu und erhalte das folgende Schema (Abb. 7):
Abb. 7: Antigone auf der Grenze zum zweiten Tod
Aus Freuds Unterscheidung zwischen den Lebenstrieben und den Todestrieben wird bei Lacan eine räumliche Konzeption, bei der etwas Drittes in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt: der Grenzstreifen zwischen zwei Bereichen. Wie kommt es zu dieser Umbildung? Man könnte ganz allgemein auf Lacans Vorliebe für topische Darstellungen verweisen, wie sie sich seit Seminar 1 manifestiert, worin das optische Modell präsentiert wird (und man könnte vorausdeuten auf den Aufsatz Lituraterre von 1971, worin der Grenzbereich als Litoral, als Uferzone, eine prominente Rolle spielen wird). Vielleicht hat die topische Orientierung jedoch einen weiteren Grund. In Jenseits des Lustprinzips schreibt Freud: „Der Unterschied der beiden Triebarten [Sexualtriebe und Ichtriebe], der ursprünglich irgendwie qualitativ gemeint war, ist jetzt nur anders, nämlich topisch zu bestimmen.“26 Möglicherweise folgt Lacan diesem Hinweis und überträgt ihn auf das Verhältnis von Lebens- und Todestrieben: der Unterschied auch zwischen diesen beiden Triebarten ist topisch zu bestimmen, er ist als räumliche Beziehung aufzufassen. Und vielleicht orientiert er sich noch spezieller daran, dass es, Freud zufolge, ein Unterschied ist, der topisch aufzufassen ist. Ein topisch bestimmter Unterschied ist nichts anderes als eine Grenze oder eine Grenzzone, ein Zwischen.
In Batailles Der heilige Eros (1957) liest man: „Es ist überhaupt das Wesen des Opfers, Leben und Tod in Übereinstimmung zu bringen. Dem Tod verleiht es den Aspekt aufquellenden Lebens, dem Leben die Schwere, den Taumel und das Offenwerden gegenüber dem Tod. Es ist das Leben, vermischt mit dem Tod, aber im selben Augenblick ist der Tod in ihm ein Zeichen des Lebens, Öffnung ins Unbegrenzte.“27 Lacan scheint sich hier bedient zu haben. Ist die von Antigone eingenommene Grenzposition die Position des Opfers?
Hamlets Hölle
In derselben Sitzung stellt Lacan, um den Begriff des zweiten Todes zu klären, einen weiteren literarischen Bezug her. Nach Sades Juliette und Sophokles‘ Antigone ist dies Shakespeares Hamlet, ein Stück, das er im vorhergehenden Seminar – dem von 1959/60 über das Begehren und seine Deutung – ausführlich kommentiert hatte.
„Um einen weiteren Schritt zu tun, gebe ich Ihnen hier den Ort an, an dem unsere Analyse von Hamlet sich mit derjenigen des Zweiten Todes überschneidet, auf die ich sie hinführe.
Vergessen Sie nicht einen der Effekte, an dem sich die Topologie, die ich Ihnen angebe, erkennen läßt. Wenn Hamlet in dem Augenblick einhält, in dem er Claudius töten will, dann deshalb, weil er genau mit dem Punkt beschäftigt ist, den ich zu definieren versuche – es genügt ihm nicht, ihn zu töten, er will für ihn die ewige Höllenqual. Halten wir es, unter dem Vorwand, daß wir mit der Hölle abgeschlossen haben, für so unter unserer Würde, das auch nur ein wenig in die Analyse eines Texts eingehen zu lassen? Auch wenn er an die Hölle nicht mehr glaubt als wir, auch wenn er nicht sicher ist, da er sich ja fragt – Schlafen, träumen vielleicht –, ist es doch so, daß Hamlet in seinem Handeln einhält, weil er will, daß Claudius zur Hölle fahre.“ (S. 302 f.)
Lacan bezieht sich hier auf die dritte Szene des dritten Akts. Dem Prinzen bietet sich die Gelegenheit, Claudius zu töten, und er setzt zum Stich an. Nun ist der König aber gerade in ein Gebet vertieft. Als Hamlet das klar wird, unterlässt er die Tat. Wenn Claudius ausgerechnet während eines Gebets zu Tode käme, könnte dies zur Folge haben, dass er in den Himmel aufgenommen wird statt dass er in der Hölle leiden muss. Hamlet beschließt also, für seinen Mord einen besseren Moment abzuwarten, einen Augenblick, in dem Claudius eine Sünde begehen wird.
Das berühmte Zögern des Prinzen beruht in dieser Szene darauf, dass er Claudius nicht einfach nur in den Tod schicken will, sondern darüber hinaus in die Hölle. Er wünscht ihm einen Tod, der über den ersten, den gewöhnlichen Tod, hinausgeht: ein ewiges Leiden.
Statt ‚Hamlet wünscht Claudius zur Hölle‘ könnte man auch sagen: ‚Hamlet wünscht ihm den zweiten Tod‘ – im Sinne der christlichen Mehrheitsdeutung, nicht im Sinne von Sade. Claudius soll auf ewig leiden, er soll keineswegs annihiliert werden.
Nebenbei: In der Miller-Version wird in dem Ausdruck „zweiter Tod“ das Adjektiv von nun an großgeschrieben, „la Seconde mort“. Lacan selbst schreibt den Ausdruck in den von ihm veröffentlichten Aufsätzen immer mit kleinem s: „la seconde mort“.
Der zweite Tod des Polyneikes
Immer noch in der Sitzung vom 25. Mai 1960 heißt es zu Goethes Antigone-Deutung28, Goethe zeige darin,
„daß Kreon, getrieben von seinem Begehren, offenbar seinen Weg verläßt und die Schranken zu durchbrechen sucht, indem er seinen Feind Polyneikes über jene Grenzen hinaus verfolgt, wo ihn zu treffen ihm erlaubt ist – er beabsichtigt ganz genau, ihn mit jenem Zweiten Tod zu schlagen, den über ihn zu verhängen er keinerlei Recht hat. Kreon entwickelt seinen gesamten Diskurs in diesem Sinne und allein deshalb läuft er in sein Verderben.“ (S. 306)
Kreon will Polyneikes einen zweiten Tod zufügen. Das ist ein verstecktes Zitat; im Stück fragt Teiresias den König, was für eine Stärke es denn sei, einen Toten noch einmal zu töten (Vers 1030)? Den ersten Tod erlitt Polyneikes, als er in der Schlacht um Theben fiel. Der zweite Tod besteht darin, dass ihm die Beerdigung verweigert wird, das Übergangsritual für die Passage aus dem Reich der Lebenden in das der Toten. Da dieses Ritual ausbleibt, verwandelt sich seine Leiche in einen unreinen Kadaver (Sades Papst würde diesen Zustand als den des zweiten Lebens bezeichnen). Antigone nimmt an, dass ihre Bemühungen um eine ordnungsgemäße Bestattung Erfolg gehabt haben und dass sie sich mit ihren Bruder im Hades vereinigen wird (Verse 899-904); Lacan folgt ihr, er sagt, Antigone tue das, was sie tut, „für ihren Bruder, der in die Unterwelt gegangen ist“ (332). Für beide, für Antigone wie für Lacan, ist Polyneikes also nach dem Begrübnisritual ein Bewohner des Totenreichs. Im Diagramm habe ich deshalb unter „Gesetz der Toten“ den Namen Polyneikes hinzugefügt (vgl. Abbildung 8):
Abb. 8: Antigone und Polyneikes
Die vom Diagramm veranschaulichten Analogien zeigen, dass sich Polyneikes für Antigone in der Position des Seins befindet. Was könnte das heißen? Antigone erklärt, dass sie das, was sie getan hat (die Übertretung des Bestattungsverbots), niemals für ihren Gatten oder für ihre Kinder getan hätte, da diese ersetzbar gewesen wären; ihr Bruder hingegen sei unersetzlich, da die Eltern bereits tot sind (Verse 905-911). Für Lacan heißt das, dass Antigone sich auf ihren Bruder als auf eine reine Identität bezieht: „für mich ist mein Bruder in jedem Fall mein Bruder“, sagt er in imitierender Rede (S. 334), Antigone beziehe sich auf Polyneikes „als ein Ding, das den ganzen Fluß möglicher Transformationen hindurch unverrückbar bleibt. Was ist, ist, und an diesem, an dieser Oberfläche macht sich die unverbrüchliche, nicht überschreitbare Position Antigones fest.“ (S. 334, geändert) Lacan spielt damit auf den Satz der Identität an: A = A. Dieser Satz spricht, Heidegger zufolge, vom Sein des Seienden.29
Der zweite Tod ist für Lacan also eine Form des Seins. Nun ist der Tod aber sicherlich eine Form des Nichts. Welche Beziehung zwischen dem Sein und dem Nichts wird hier vorausgesetzt?
Das Schöne auf der Grenze zum zweiten Tod und die Schöpfung aus dem Nichts
Am ausführlichsten äußert sich Lacan über den zweiten Tod in der Sitzung vom 1. Juni 1960. Kreon, so heißt es dort, sorgt sich um „das Gute“. Man tut Lacan keine Gewalt an, wenn man das mit Heidegger so übersetzt: Kreons Sorge gilt dem Wohl einer Wohlfahrt und dem Geordneten einer Ordnung.30 Der Fehler des Königs besteht darin, dass er will, dass das Gute alles erfasst. Die Totalisierung des Guten ist nur durch einen Exzess möglich, eine Überschreitung; in diesem Falle besteht sie darin, dass Kreon die Gesetze der Totenbestattung verletzt, ungeschriebene Normen, die von den Unterweltgöttern erlassen worden sind. Das Feld der Götter, auf dem diese Übertretung sich vollzieht, ist uns fremd geworden, sagt Lacan; man müsse hierbei an Initiation denken und an Besessenheitszustände, bei denen ein Gott sich durch den Mund eines Mediums kundgibt. Im Ethik-Seminar hatte er bereits an früherer Stelle angemerkt: die „panische Trunkenheit, die heilige Orgie, die Flagellanten des Attiskultes, die Bacchanten in der Tragödie des Euripides, kurz, der ganze Dionysismus“ ist „eine untergegangene Geschichte“, anders gesagt: „der Große Pan ist tot“ (S. 249).]
„Wir haben aufgeräumt in diesem Feld der Götter, wir Christen, und just dem, was wir an seine Stelle gesetzt haben, gilt hier, im Licht der Psychoanalyse, die Frage. Was bleibt in diesem Feld als Grenze? – Grenze, die ganz sicher immer schon da war, die aber mit Sicherheit bleibt und ihre Linien in diesem Feld zieht, das für uns Christen ein verlassenes Feld ist. Das ist die Frage, die ich hier zu stellen wage.
Die Grenze, um die es geht und die zu bestimmen wesentlich ist, damit vermittels Reflexion ein bestimmtes Phänomen in Erscheinung treten kann, das ich in erster Annäherung das Phänomen des Schönen genannt habe, ist das, was ich als die Grenze des Zweiten Todes zu definieren begonnen habe.“ (S. 312 f.)
Die Götter haben früher ein bestimmtes Feld eingenommen, ich nehme an: das des Heiligen. Dieses Feld hatte immer schon eine Grenze. Wo verläuft sie, führt sie quer durch das Feld oder trennt sie das Feld des Heiligen von dem des Profanen? Für die zweite Deutung spricht der Kontext, also Kreons Übertretung, der Konflikt zwischen dem menschlichen und dem göttlichen Gesetz; in dieselbe Richtung geht Antigones Verortung im Bereich zwischen zwei unterschiedlichen symbolischen Feldern, dem der menschlichen und dem der göttlichen Gesetze (vgl. S. 299).
Das Bild vom verlassenen Feld der Götter erinnert an Hölderlins Rede von den „entflohenen Göttern“31 und damit an Heideggers Aufsatz Hölderlin und das Wesen der Dichtung, worin es heißt: „Es ist die Zeit der entflohenen Götter und des kommenden Gottes.“12 Auch bei Heidegger geht es um die Grenze zwischen dem Feld der Götter und dem der Sterblichen. Sagen wir also: Die Grenze des zweiten Todes verläuft zwischen dem Bereich der Menschen und dem der Götter, zwischen dem Profanen und dem Heiligen.
„Grenze des zweiten Todes“, was ist gemeint: die Grenze zum zweiten Tod oder der zweite Tod als Grenze? Anhand dieses Zitats lässt sich das nicht entscheiden; in einer späteren Sitzung verwendet Lacan den Ausdruck jedoch so, dass man eindeutig sagen kann, dass für ihn der zweite Tod hinter dieser Grenze liegt (S. 351, ich komme darauf zurück). Demnach geht es um die folgende Topik: Zwischen dem Feld des Heiligen und dem des Profanen verläuft eine Grenze, die Grenze zum zweiten Tod.
Die Grenze zum zweiten Tod ist die wesentliche Bedingung für das Erscheinen des Schönen. Ich habe bereits die Passage zitiert, in der Lacan erklärt, die Schönheit von Antigone beruhe darauf, dass sie in einer Zwischenzone ihren Platz habe, an dem Ort, an dem sich das Seiende vom Sein scheide (vgl. S. 299). Die Grenze zum zweiten Tod ist ein Grenzstreifen, der Zwischenbereich, der für das Schöne grundlegend ist.
Das Feld der Götter ist vom Christentum leergeräumt worden; an ihre Stelle ist der christliche Gott gesetzt worden. Die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen und damit die Grenze zum zweiten Tod ist jedoch geblieben.
Worin also besteht im Christentum die Grenze zwischen dem Heiligen und dem Profanen, die Grenze zum zweiten Tod? Und wie stellt sich diese Grenze im Lichte der Psychoanalyse dar? Darum geht es im Folgenden.
Lacan fährt fort:
„Ich habe sie [die Grenze zum zweiten Tod] Ihnen zuerst bei Sade vorgeführt als die Grenze, die die Natur im Ursprung ihrer formgebenden, den Wechsel von Zersetzung und Zeugung regelnden Kraft selbst einkreisen soll.“ (S. 312)
In der Natur herrschen, dem Sade’schen Papst zufolge, drei Kräfte, die feste Formen aufweisen und hierdurch die Natur auf einen begrenzten Kreislauf einengen (vgl. S. 254). Diese die Natur einkreisenden Kräfte bilden die Grenze zum zweiten Tod (vgl. Abb 9).
Abb. 9: Das System von Pius VI. und die drei Kräfte als Grenze zum zweiten Tod
Anschließend heißt es:
„Jenseits dieser Ordnung, die zu denken und ins Bewußtsein zu heben für uns bereits nicht leicht ist, jenseits, sagt uns Sade, der hier als Anhaltspunkt für ein Moment des christlichen Denkens genommen ist, gibt es etwas, ist eine Überschreitung möglich, die er das Verbrechen nennt.
Dieses Verbrechen kann, wie ich Ihnen zeigte, nur auf ein lächerliches Phantasma hinauslaufen, doch es geht eben um das, was der Gedanke bezeichnet. Das Verbrechen wäre das, was die natürliche Ordnung nicht respektiert. Und das Denken von Sade geht so weit, sich diesen wirklich einmaligen Exzeß auszudenken – erstmals sicher insofern, als es vor ihm kaum artikuliert worden ist, zumindest nicht offen, denn wir wissen nicht, was die mystischen Sekten lange schon formulieren konnten –, daß es durch das Verbrechen in der Macht des Menschen steht, die Natur von den Fesseln ihrer eigenen Gesetze zu befreien. Denn die der Natur eigenen Gesetze sind Fesseln.“ (S. 313)
Der Papst stellt sich vor, die Ordnung der von den drei Kräften eingegrenzten Natur zu überschreiten in Richtung auf das Feld des zweiten Todes, die Annihilierung der biologischen Kreisläufe. Die Natur würde hierdurch von den Fesseln ihrer eigenen Gesetze – von den einschränkenden Kräften – befreit werden. Der Papst wünscht sich diese Überschreitung und erklärt sie zugleich für unmöglich.
Sade wird hier als Anhaltspunkt für ein Moment des christlichen Denkens genommen. Ein christlicher Aspekt im Denken von Sade ist die Phantasie von der ewigen Strafe32, darauf hatte Lacan bereits dadurch verwiesen, dass er die Spekulation des atheistischen Papstes mit dem neutestamentlichen Begriff des zweiten Todes bezeichnete.
Die Vorstellung des Papstes von der Vernichtung jeden Lebens und der Ausschaltung der Naturgesetze hat für Lacan etwas Lächerliches. Bemerkenswert ist für ihn der dahinter stehende Gedanke, nämlich der, die natürliche Ordnung nicht zu respektieren. Diese Ordnung wird von Sade als ein System von Gesetzen begriffen, die für die Natur Fesseln darstellen und von denen sie befreit werden soll. Das Wissen um die Naturgesetze ist für Lacan, wie erwähnt, mit der Wirksamkeit einer speziellen Form von Signifikanten verbunden, mit den Formeln der Naturwissenschaften (vgl. den Kommentar zu S. 284). Die Natur von ihren Gesetzen zu befreien ist in den Augen von Lacan vielleicht eine Metapher dafür, das Leben von den Signifikanten zu befreien, die sich in es eingeschrieben haben.
Der Gedanke von der Außerkraftsetzung der Naturordnung ist, Lacan zufolge, möglicherweise bereits von mystischen Sekten artikuliert worden. Die Mystiker, so hatte er in einer früheren Sitzung des Ethik-Seminars erklärt, streben nach dem „Ding“, nach einem Sein außerhalb der Signifikantenordnung.33 Der Zustand, auf den der Papst abzielt – der absolute Nullpunkt der Natur –, ist derselbe wie der, den die Mystiker zu erreichen versuchen: die Vereinigung mit dem „Ding“.
Ich nehme an, dass Lacan sich, was die Mystik angeht, auf Bataille stützt. Die mystische Erfahrung ereignet sich auf einem Feld, so kann man bei diesem lesen, das „wesentlich vom Todestrieb beherrscht wird“34. Die Mystiker bemühen sich um die Auflösung des Gegensatzes von Subjekt und Objekt; sie streben danach, eine Fülle zu erfahren, von der sich, Bataille zufolge, nicht sagen lässt, ob sie das Leben ist oder der Tod. Dadurch werden ihnen die Regeln des sozialen Lebens und der individuellen Lebenserhaltung gleichgültig. In der Fülle des angestrebten Seins – oder des Nichts – löst sich die Subjekt-Objekt-Unterscheidung für sie auf. Teresa von Ávila schreibt: „Ich sterbe daran, nicht zu sterben.“35 Sie will den Tod, aber um ihn begehren zu können, muss sie leben; sie empfindet lebend den Tod, sagt Bataille.36 Teresa lebt demnach am selben Ort wie Antigone in ihrem Felsengrab: im Grenzbereich zwischen Leben und Tod. Teresa sehnt sich danach, sterben zu können, was ihr jedoch nicht möglich ist; in Lacans Terminologie: sie kann den Übergang zum Ding nicht vollziehen, sie verharrt auf der Grenze.
Lacan fährt in seinem Sade-Kommentar so fort:
„Die Reproduktion der Formen, um die herum ihre zugleich harmonischen und unvereinbaren Möglichkeiten in einer Sackgasse von Konflikten ersticken werden, all das muß ausgeschaltet werden, um sie sozusagen zu einem Neubeginn aus nichts zu zwingen. Das ist die Absicht dieses Verbrechens. Nicht umsonst ist das Verbrechen für uns ein Horizont unserer Erforschung des Begehrens und nicht umsonst hat Freud ausgehend von einem Urverbrechen die Genealogie des Gesetzes zu rekonstruieren versucht. Die Grenze des aus nichts, des ex nihilo, genau da hält sich, wie ich Ihnen bei den ersten Schritten in unserem Vorhaben dieses Jahr sagte, mit Notwendigkeit ein Denken, das streng atheistisch sein will. Ein streng atheistisches Denken läßt sich in der Perspektive des Kreationismus ansiedeln und in keiner anderen.“ (S. 313)
Wenn Sade sich wünscht, die Reproduktionskreisläufe zu vernichten, verfolgt er damit eine Absicht, die über das Herbeiführen der Leblosigkeit hinausgeht. Er will die Natur zu einem Neuanfang zwingen, zu einer Schöpfung. Vernichtung und Schöpfung sind eins. Bei dieser Schöpfung soll es sich nicht um eine Schöpfung aus etwas handeln, sondern um eine Schöpfung aus nichts.
Über die Schöpfung als radikalen Neuanfang hatte Lacan zuerst in Seminar 2 gesprochen. Mit Bezug auf Platons Theorem von der Wiedererinnerung heißt es dort:
„Das an sich existierende Bild ist seinerseits nur Abbild einer an sich existierenden Idee, ist ein Bild nur in bezug auf ein anderes Bild. (…) Wenn wir jedoch von der symbolischen Ordnung sprechen, dann gibt es absolute Anfänge, dann gibt es Schöpfung.“37
Im Schema der psychoanalytischen Kommunikation, das Lacan in Seminar 2 vorstellt und das er später Schema L nennen wird, steht die Beziehung zwischen dem Anderen und dem Subjekt für die symbolische Realisierung des Subjekts, und diese ist immer „symbolische Schöpfung“38.
Im Ethik-Seminar findet er einen Terminus für die symbolische Schöpfung als absoluter Anfang: Schöpfung aus dem Nichts (zuerst auf den Seiten 148 bis 152). Das, was aus dem Nichts geschaffen wird, ist der Signifikant, und das Nichts ist ein anderer Name für „das Ding“.
Von der Schöpfung aus dem Nichts handelt auch der Freud’sche Mythos vom Urvatermord in Totem und Tabu. Der Vater wird umgebracht, vernichtet, und aus dem so herbeigeführten Nichts geht das Gesetz hervor, das Inzestverbot und das Mordverbot, damit aber zugleich das Begehren, nämlich das, es zu übertreten. Die Entstehung des Gesetzes durch das Verbrechen, das noch kein Verbrechen ist, wäre also eine der Formen der Schöpfung aus dem Nichts. Ein Denken, das streng atheistisch sein will, wie etwa das von Sade, muss von dieser theologischen Grundfigur ausgehen.
Mit der Schöpfung aus dem Nichts übernimmt Lacan einen Gedanken der frühchristlichen Theologie. Der biblische Gott erzeugt die Welt nicht aus einem Urstoff, also nicht auf die Weise wie der griechische Schöpfergott, der Demiurg, von dem Platon im Timaios erzählt. Der biblische Gott schöpft die Welt aus nichts, und zwar durch das Wort. „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“39 Ein Grundsatz der antiken Metaphysik lautet: ex nihilo nihil fit, aus nichts wird nichts. Mit dem Theologem der creatio ex nihilo widersprechen die christlichen Theologen diesem Prinzip. Die Schöpfung aus dem Nichts ist, neben der Höllenvorstellung, ein weiteres Element des christlichen Denkens bei Sade. Die beiden einander ausschließenden Todesvorstellungen – Tod als ewiges Leiden und Tod als Nichts – sind beide im christlichen Denken verankert.
Für die Denkfigur der Schöpfung aus dem Nichts stützt Lacan sich ausdrücklich auf Heidegger, auf dessen Aufsatz über das Ding.40 Dort wird dieser Terminus jedoch nicht verwendet, dafür in einem anderen Heidegger-Text, in Was ist Metaphysik? Hier kann man lesen:
„Die christliche Dogmatik […] leugnet die Wahrheit des Satzes ex nihilo nihil fit und gibt dabei dem Nichts eine veränderte Bedeutung im Sinne der völligen Abwesenheit des außergöttlichen Seienden: ex nihilo fit – ens creatum [aus Nichts wird – das geschaffene Seiende]. Das Nichts wird jetzt der Gegenbegriff zum eigentlich Seienden, zum summum ens [höchsten Seienden], zu Gott als ens increatum [ungeschaffenem Seienden].“41
Das Nichts wird von der christlichen Dogmatik als vollständige Abwesenheit von außergöttlichem Seienden begriffen, als Abwesenheit von Mensch, Tier, Erde, Werkzeug usw. Gott wird als höchstes Seiendes aufgefasst; im Schöpfungsakt steht ihm das Nichts gegenüber. ‚Aus Nichts wird das geschaffene Seiende‘, dies ist die creatio ex nihilo, die Schöpfung aus dem Nichts, der Vorgang, dass „Gott aus dem Nichts schafft“41.
Lacan spricht von der Grenze des „aus nichts“, keineswegs von der Grenze des „nichts“.42. Das, was die Grenze bildet, ist nicht das Nichts, sondern das „aus nichts“. Das „aus nichts“ hat eine Zwischenposition, es ist die Relation zwischen dem Nichts und dem Geschaffenen; in diesem Sinne bildet es die Grenze zwischen beiden. Auch die creatio ex nihilo ist für Lacan eine dreigliedrige Struktur, mit dem Geschaffenen, dem „aus nichts“ (dem „Aus“, könnte man auch sagen) und dem Nichts.
Die Schöpfung des Signifikanten aus dem Nichts lässt sich schematisch so darstellen wie in Abbildung 10.
Abb. 10: Die Schöpfung des Signifikanten aus dem Nichts
Lacan spricht über die Schöpfung aus dem Nichts, um das System des Sade’schen Papstes zu erklären. Im folgenden Diagramm integriere ich die Schöpfung aus dem nichts in das zum Papst bereits vorgestellte Schema (Abb. 11):
Abb. 11: Das System von Pius VI. und die Schöpfung des Signifikanten aus dem Nichts
In der nächsten Abbildung ergänze ich das zu Antigone entwickelte Schema um die creatio ex nihilo (Abb. 12).
Abb. 12: Antigone und die Schöpfung des Signifikanten aus dem Nichts
Antigone befindet sich am Ort der Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein, am Ort des „ex nihilo“, der Schöpfung des Signifikanten aus nichts, auf der Grenze zum zweiten Tod.
Der zweite Tod ist eine Form des Seins und zugleich eine Form des Nichts. Die hier implizit vorgenommene Gleichsetzung von Sein und Nichts findet man explizit bereits in Seminar 1 von 1953/54, Freuds technische Schriften:
„Das Loch im Realen heißt je nach der Weise, in der man es ansieht, das Sein oder das Nichts.„43
Wie hat man das zu verstehen? Auch dieser Gedanke stützt sich auf Heidegger und darüber hinaus auf Hegel. Wenn das Nichts zum Problem wird, schreibt Heidegger in dem schon zitierten Aufsatz Was ist Metaphysik?, entsteht ein Zugang zum Sein; die Frage nach dem Nichts ist die Form, in der dem Fragenden das Sein erscheint:
„Das Nichts bleibt nicht das unbestimmte Gegenüber für das Seiende, sondern es enthüllt sich als zugehörig zum Sein des Seienden.“44
Die Zugehörigkeit des Nichts zum Sein wird von Heidegger im anschließenden Satz durch ein Hegelzitat bekräftigt:
„‚Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe.‘ Diesen Satz findet man in Hegels Wissenschaft der Logik (1. Buch, Werke 3, S. 78).“45
Von Hegel wird die Identität zwischen dem reinen Sein und dem reinen Nichts damit begründet, dass beide sich durch das Merkmal der Unbestimmtheit auszeichnen. Heidegger weist diese Begründung zurück. Die Identität von Sein und Nichts gilt für ihn deshalb, weil das Sein „sich nur in der Transzendenz des in das Nichts hinausgehaltenen Daseins offenbart“45. Das Sein zeigt sich dem Dasein (dem Menschen), wenn er sich auf das Nichts bezieht. Heidegger wird hier ganz konkret. Das Dasein bezieht sich auf das Nichts in den verschiedenen Formen des negierenden Verhaltens: in der Verneinung, im Entgegenhandeln, im Verabscheuen, im Versagen, im Verbieten, im Entbehren.46 Mit der Psychoanalyse kann man das vielleicht so ergänzen: Der Mensch bezieht sich in reinster Form auf das Nichts im Streben nach Vernichtung, im Todestrieb. In dem Nichts, auf das die Zerstörung abzielt, im zweiten Tod, zeigt sich dem Menschen das Sein.47
Ein Denken, das atheistisch sein will, muss „kreationistisch“ sein und nicht etwa evolutionistisch, wie Lacan im Ethik-Seminar bereits früher gefordert hatte.48 Das Evolutionsdenken begreift das Bewusstsein als Höhepunkt der Entwicklung; dies impliziert, dass der Prozess bereits zu Anfang vom Bewusstsein und vom Denken bestimmt wurde; der Evolutionismus beruht auf einer versteckten Schöpfungstheologie. In atheistischer Perspektive ist die Einführung des Signifikanten in die Natur als ein absoluter Anfang zu begreifen, als ein Anfang, der sich auf nichts zurückführen lässt: als creatio ex nihilo.
Lacan fährt fort:
„Ebenso gibt es, wenn man illustrieren will, dass das sadistische Denken sich genau auf dieser Grenze [des „aus nichts“] hält, kein besseres Beispiel als das Fundamentalphantasma bei Sade. Das, was die Tausende von erschöpfenden Bildern der Manifestation des Begehrens, die er uns gibt, immer wieder illustrieren, ist, so meine ich, genau das Phantasma eines ewigen Leidens, denn für das Bild des im Sadeschen Phantasma zugefügten Leidens ist dies grundlegend. Typisch ist dies, dass das Opfer durch das Leiden nicht an den Punkt geführt werden kann, der es auflösen und vernichten würde. Es scheint, dass in diesem Phantasma das Objekt der Martern die Möglichkeit bewahren muss, ein Träger zu sein, der nicht zerstört werden kann. Die Analyse dieses Phantasmas zeigt klar, daß das Subjekt einen Doppelgänger von sich ablöst, den es für die Vernichtung unerreichbar macht.“ (S. 313 f., geändert)
Das Sade’sche Denken hält sich auf der Grenze des ex nihilo. Es geht keineswegs zum Nichts über, es verharrt im Zwischenbereich, in der Grenzzone zwischen der Schöpfung und dem Nichts, zwischen dem Seienden und dem Sein, zwischen dem Signifikanten und dem Ding. Eben dies wird durch das Sade’sche Fundamentalphantasma illustriert. Es besteht darin, dass dem Opfer nicht einfach Leid zugefügt wird, sondern ein Leid, das ewig andauert. Das Opfer wird keineswegs annihiliert, im Gegenteil, es ist unzerstörbar. Das Opfer, dem die Martern zugefügt werden, ist ein Doppelgänger des Subjekts, ein imaginärer anderer, in dem sich das Ich seine Unsterblichkeit zusichert.49
In den Sade’schen Phantasien wird das Opfer auf einer Grenze festgehalten, auf der Grenze zum zweiten Tod. Pius VI. hat recht: die Grenze zur Totalvernichtung kann nicht überschritten werden.
Als nächstes heißt es:
“Dieses [das Opfer] soll das, was man hier mit einem dem Bereich der Ästhetik entlehnten Ausdruck die Spiele des Schmerzes nennen muß, ertragen. Es geht da nämlich genau um dieselbe Region wie die, in der sich die Erscheinungen des Ästhetischen tummeln, um einen bestimmten Freiraum. Und eben darauf beruht die Verbindung zwischen den Spielen des Schmerzes und den Erscheinungen der Schönheit, auf die nie hingewiesen worden ist, als wäre sie mit ich weiß nicht was für einem Tabu belastet, mit ich weiß nicht welchem Verbot, das mit jener Schwierigkeit verwandt ist, die wir an unseren Patienten wohl kennen, einzugestehen, was im eigentlichen Sinne zur Ordnung des Phantasmas gehört.
Ich werde Ihnen am Text von Sade zeigen, daß das so manifest ist, daß man es schließlich gar nicht mehr sieht. Stets sind die Opfer geschmückt, nicht allein mit allen Schönheiten, sondern mit der Anmut selbst, die deren höchste Blüte ist. Wie diese Notwendigkeit erklären, wenn nicht zuallererst so, daß wir sie als verborgene, stets bedrohliche wiederzufinden haben, von welcher Seite wir uns auch der Erscheinung nähern, von der Seite der ergreifenden Zurschaustellung des Opfers oder auch von der Seite der ganzen zu sehr exponierten, zu gut gemachten Schönheit, die den Menschen bestürzt vor dem Bild stehen läßt, das sich hinter ihr abzeichnet als von etwas, das sie bedroht. Aber von was? – es ist ja nicht die Vernichtung?“ (S. 314)
In den Sade’schen Phantasien ist das Opfer immer von auffälliger Schönheit, und damit bewahrt es seine Anziehungskraft für das Begehren, wie Lacan an früherer Stelle gesagt hatte, das Opfer hat immer „die schönsten Augen von der Welt“ (S. 245), und das verbindet es mit Antigone, deren aus den Augen strahlender Glanz vom Chor in dem Moment besungen wird, in dem sie zum Ort der Marter geführt wird.
Über die Beziehung zwischen Leiden und Schönheit wird nie gesprochen, sie scheint tabuisiert zu sein, behauptet Lacan. Die Verbindung beruht darauf, dass beides, das Auf-Dauer-Stellen des Leids und die Schönheit, am selben Ort angesiedelt sind, im Grenzbereich zum zweiten Tod. Für das ewige Leiden ist das evident: wer ewig leidet, lebt beständig an der Grenze zum Tod. Für die Schönheit ist das weniger offenkundig. Man denke jedoch daran, wie oft Filmschönheiten durch ihre Verletzlichkeit charakterisiert werden; die Google-Suche zeigt mir für die Wortverbindung „vulnerable actress“ 55.600 Einträge.50 Die Schönheit fungiert als ein Schleier vor Qual und Folter.
Der Grenzstreifen vor dem zweiten Tod wird von Lacan in der imaginären Dimension durch zwei Merkmale charakterisiert: er ist von Wesen bevölkert, die sich dadurch auszeichnen, dass sie schön sind, und außerdem dadurch, dass sie ewig leiden, leiden ohne zu sterben. Diese Gestalten haben eine Abwehrfunktion gegenüber dem, was hinter der Grenze liegt: gegenüber dem Ding, dem Nichts, dem Sein, dem zweiten Tod. Und damit verweisen sie darauf (vgl. Abb. 13).
Abb. 13: Sades Position: Schönheit und ewiges Leiden
Das, was von der Schönheit abgewehrt wird, ist nicht die Vernichtung, heißt es an der zuletzt zitierten Stelle. Drei Sätze später wird Lacan das Gegenteil behaupten. Mir ist nicht klar, ob sich das auflösen lässt.
Lacan fährt fort:
“Ich glaube, dass das wesentlich ist, so dass ich die Absicht habe, Sie dazu anzuhalten, diesbezüglich die Texte von Kant in der Kritik der Urteilskraft über das Wesen der Schönheit, die so streng sind, noch einmal durchzugehen. Ich übergehe sie hier, was heißen soll, ich setze sie in Klammern. Gleichwohl, die Vermögen51, die bei der Erkenntnis am Werk sind, sind, wie Kant uns sagt, auch bei der Erscheinung des Schönen im Spiel, freilich ohne daß es um das Objekt ginge. Wird Ihnen da nicht die Analogie zum sadistischen Phantasma deutlich, in dem das Objekt allein da ist als Macht eines Leidens, das seinerseits nur der Signifikant einer Grenze ist, nämlich der Punkt, wo das Leiden als eine Stase aufgefaßt wird, als etwas, was uns bekräftigt, daß das, was ist, nicht in das Nichts, aus dem es hervorgegangen ist, zurückzukehren vermag – ?“ (S. 314, geändert)
Kants Ästhetik bezieht sich auf Schönheitsurteile, also beispielsweise auf die Aussage „Dieser Hund ist schön“. Bei der Erzeugung dieses Urteils sind die Vermögen der Einbildungskraft und des Verstandes am Werk; das Schönheitsurteil kommt dann zustande, wenn beide Erkenntnisvermögen zusammenstimmen. Die Harmonie dieser Vermögen ist die subjektive Bedingung der Erkenntnis.52 Beim ästhetischen Urteil geht es insofern nicht um das Objekt, als dieses Urteil, wie Kant sagt, auf „interesselosem Wohlgefallen“ beruht. Das Wohlgefallen beruht auf der Harmonie der Vermögen; es kommt nicht dadurch zustande, dass das Begehrungsvermögen (im Kantischen Sinne) aktiv geworden ist und sich das Subjekt in den Besitz des Objekts bringen möchte.
Zu dieser Konzeption des Schönheitsurteils gibt es im Sade’schen bzw. im sadistischen Phantasma eine Entsprechung, so lautet zumindest Lacans These. In diesem Phantasma hat das Objekt – das Opfer – die Aufgabe, Träger eines Leidens zu sein. Dadurch, dass dieses Leiden ewig ist, fungiert die Qual als Signifikant einer Grenze, an der sich das Leiden aufstaut, ohne überzufließen, also ohne dass der Übergang zum Tod vollzogen wird. In seinem Ewigkeitscharakter bekräftigt das Leiden des Opfers, dass die Grenze zum Tod nicht überschritten werden kann.
Das Sade’sche Phantasma antwortet auf die Schöpfung aus dem Nichts. Das Seiende ist aus dem Nichts geschaffen worden. Der Todestrieb zielt darauf ab, in das Nichts zurückzukehren. Das Phantasma dient der Abwehr dieser Möglichkeit, der Abwehr des Übergangs in den zweiten Tod.53
Am Schluss dieser langen Passage über den zweiten Tod kommt Lacan auf die anfängliche Frage zum Verhältnis von Christentum und Psychoanalyse zurück:
“Es ist hier tatsächlich die Grenze, die das Christentum an der Stelle aller anderen Götter errichtet hat in Gestalt jenes exemplarischen Bildes, das insgeheim alle Fäden unseres Begehrens an sich zieht – das Bild der Kreuzigung. Wenn wir es wagen, ich sage nicht, ihm ins Gesicht zu sehen – seit es Mystiker gibt, die sich darein versenken, darf man gleichwohl hoffen, daß es [das Christentum] damit konfrontiert war –; es ist gewiss schwieriger, auf direkte Weise davon zu sprechen und zu sagen wagen, dass das etwas ist, das wir als Apotheose des Sadismus bezeichnen können, avant la lettre natürlich, das heißt eine Vergöttlichung von allem, was in diesem Feld bleibt, von jener Grenze, an der das Sein / das Lebewesen im Leiden verharrt, denn er vermag dies nur durch einen Begriff, der übrigens das Aus-dem-Spiel-Bringen aller Begriffe repräsentiert, nämlich genau den des ex nihilo.“ (S. 314 f., geändert)
Was findet man im Christentum auf der Grenze zum zweiten Tod? Das Bild der Kreuzigung. Im Drama der Passion stellt diese Religion den Tod Gottes dar, so hatte Lacan in einer früheren Sitzung des Seminars bemerkt (S. 233). Jetzt gilt ihm die Kreuzigung als Vergöttlichung des Sadismus. Das Grundphantasma des Sadismus besteht im ewigen Leiden, damit ist klar, dass Lacan hier nicht die Darstellung des Gekreuzigten als Toten im Sinn hat und schon gar nicht die als Helden, sondern die Darstellung als Leidenden, als Schmerzensmann. In Seminar 10 wird Lacan auf den masochistischen Charaker der christlichen Religion aufmerksam machen:
„Ich hatte Ihnen auch angezeigt, welches die christliche Lösung, ich wollte sagen die christliche Abmilderung war die diesem irreduziblen Verhältnis zum Objekt des Schnitts gegeben wurde Dies ist nichts anderes als das Wunder, das mit dem masochistischen Ausweg verbunden ist, insofern der Christ durch die Dialektik der Erlösung gelernt hat, sich ideell mit Dem zu identifizieren, der sich mit diesem Objekt selbst, mit dem von der göttlichen Vergeltung zurückgelassenen Abfall identisch gemacht hat.“54
Das Bild des leidenden Christus hat demnach dieselbe Funktion wie das von Antigone, deren Bild das „Bild einer Passion“ ist (S. 327).55
Viele christliche Mystiker haben versucht, sich mit den Qualen des leidenden Christus zu vereinen, etwa indem sie sich die Passionsgeschichte beständig vor Augen hielten, darüber meditierten und sich selbst Schmerzen zufügten.56 Zu den imaginären Gestalten, die die Grenze zum zweiten Tod bevölkern, gehört also auch das Bild der Kreuzigung (vgl. Abb. 14).
Abb. 14: Der Ort der Kreuzigung
Damit lässt sich erraten, was zu Beginn dieser langen Passage mit der Grenze auf dem Feld der Götter gemeint war. Diese Grenze ist vermutlich das Opfer. Lacan spricht von Antigone als dem „fürchterlich freiwilligen Opfer“ (S. 298), er sagt, von außen gesehen erscheine sie als Opfer (S. 338).
Das Bild der Kreuzigung ist eine imaginäre Darstellung der Grenze zum zweiten Tod. Der zweite Tod kann aber auch symbolisch angegangen werden, sogar durch einen Begriff. Der Begriff für die Grenze zum zweiten Tod ist ex nihilo, oder vielleicht besser, das ex, das „aus“.
In welchem Sinne schlägt der Begriff ex nihilo alle anderen Begriffe aus dem Feld? Eine Antwort findet sich in Lacans nächster Bemerkung über den zweiten Tod.
Eine Beziehung zum Sein
In der Sitzung vom 15. Juni 1960 heißt es:
“Was uns betrifft, so versuche ich Ihnen vor allem zu zeigen, dass die ethischen Ausarbeitungen, die uns von der Moral vor Sokrates, Aristoteles und Platon überliefert sind, uns den Menschen auf den Bahnen der Einsamkeit zeigen und befragen und dass sie den Helden für uns in der Zone verorten, in der der Tod auf das Leben übergreift, in dem Feld also, auf dem er im Verhältnis zur Zone seiner wahrhaften Beziehung erprobt wird, nämlich in der Beziehung zu dem, was ich hier als zweiten Tod bezeichnet habe: diese Beziehung zum Sein, insofern es all das aufhebt, was sich auf die Veränderung, auf den Zyklus von Werden und Vergehen, ja sogar auf die Geschichte bezieht, und das uns auf eine Ebene führt, die radikaler als alles ist, insofern sie als solche von der Sprache abhängt.“ (S. 341, geändert)
Eine Sitzung zuvor hatte Lacan sich zur Ethik in der Zeit vor Sokrates, Platon und Aristoteles geäußert, nämlich zu den Tragödien des Sophokles (S. 325-327). Sophokles, so lautete seine These, zeigt uns die Helden in einer bestimmten Position: immer sind sie „am Ende der Bahn“, am Rande des Todes, für diese Helden gilt, dass sie „in eine Grenzzone zwischen Leben und Tod gestellt sind“ (S. 326). Diese Zone, so heißt es jetzt mit einer bereits früher gebrauchten Formulierung, ist die, worin der Tod auf das Leben übergreift (vgl. S. 298).
In diesem Überschneidungsbereich stehen die Helden in einer Beziehung zum zweiten Tod, im Verhältnis zum Sein, und dies ist die wahrhafte Beziehung, die Beziehung zur Wahrheit – im Gegensatz zu den falschen Metaphern des Seienden, von denen früher (S. 299) die Rede war.
Die Beziehung zum Sein wird dadurch hergestellt, dass alles aufgehoben wird, was mit Veränderung zu tun hat, mit Werden und Vergehen, mit Geschichte. Anders gesagt: die Beziehung zum Sein wird durch die Negation des Seienden realisiert. An früherer Stelle hatte Lacan, wie bereits zitiert, angemerkt, dass der Todestrieb in den Bereich der Geschichte gehört (S. 255). Damit ist offenbar nicht nur gemeint, dass er die anfängliche Einschreibung des Signifikanten zurückzukommen versucht, sondern auch dies, dass er auf die Negation der Geschichte abzielt.
Die Beziehung zum Sein / zum zweiten Tod, hergestellt durch die Negation des Seienden in seiner Veränderlichkeit, ist die radikalste Beziehung überhaupt, denn es ist ein Verhältnis, das von der Sprache abhängt. Die Beziehung des Menschen zur Sprache wird im Ethik-Seminar durch den Begriff der creatio ex nihilo bestimmt; die Schöpfung des Signikanten geht hervor aus dem Nichts und sie dreht sich um das Nichts, um das Ding. Diese Beziehung ist die radikalste überhaupt, die letzte Ebene, auf die man sich im Rahmen der Psychoanalyse beziehen kann. Aus diesem Grunde schlägt der Begriff des ex nihilo alle anderen Begriffe aus dem Feld, wie Lacan S. 315 behauptet hatte.
Das Ende des zweiten Leidens und der Ort der ewigen Qual
In der Sitzung vom 22. Juni 1960 heißt es nach einer Bemerkung über den physischen Tod:
“Bei dem, was ich Ihnen im Augenblick sage, geht es nicht um diesen Tod. Es geht um den zweiten Tod, jenen, den man noch ins Auge fassen kann – wie ich Ihnen an einem konkreten Inhalt gezeigt habe, am Text von Sade –, nachdem der Tod eingetreten ist, jener, den die gesamte menschliche Überlieferung im Grunde niemals aufgehört hat sich gegenwärtig zu halten und worin sie das Ende der Leiden sieht.
Das ist dasselbe wie dies, dass diese gesamte Überlieferung, auch sie, niemals aufgehört hat, sich ein zweites Leiden vorzustellen, ein Leiden jenseits des Todes, unbegrenzt aufrechterhalten aufgrund der Unmöglichkeit, diese Grenze des zweiten Todes zu überschreiten.“ (S. 351, geändert)
Der Sade’sche Papst zeigt, dass man den zweiten Tod als etwas ins Auge fassen kann, das nach dem ersten Tod eintritt.
Die gesamte menschliche Überlieferung sieht in diesem zweiten Tod das Ende des Leidens. Man wird hier etwa an das buddhistische Nirwana denken können, auf das sich ja auch Freud in seinen Erörterungen zum Todestrieb bezogen hatte, an den Austritt aus dem Kreislauf des Leidens. Auch die christliche Deutung des zweiten Todes als Annihilation gehört hierher.
Nach dem ersten, dem physischen Tod und vor dem zweiten Tod gibt es ein zweites Leiden (das erste Leiden ist die Qual im irdischen Jammertal). Das zweite Leiden fungiert als Grenze zum zweiten Tod. Es ist unmöglich, diese Grenze zu überschreiten, das zweite Leiden ist von ewiger Dauer.
(Es ist unmöglich, „diese Grenze des zweiten Todes zu überschreiten“ – die Formulierung belegt, dass mit „Grenze des zweiten Todes“ eine Grenze gemeint ist, hinter der der zweite Tod liegt und nicht etwa der zweite Tod als Grenze. Ein bessere Übersetzung wäre also vielleicht „diese Grenze zum zweiten Tod zu überschreiten“.)
Die beiden Bedeutungen von zweiter Tod werden hier in eine klare Beziehung gebracht: Das ewige Leiden (zweiter Tod 1) ist eine Grenze gegenüber dem zweiten Tod im Sinne der Annihilation (zweiter Tod 2); es ist nicht möglich, diese Grenze zu überschreiten.
Anschließend heißt es:
„Darum ist die Tradition der Höllen stets so lebendig geblieben. Wie ich Ihnen gezeigt habe, ist sie selbst noch bei Sade gegenwärtig, in der Vorstellung, die dem Opfer zugefügten Leiden auf Dauer zu stellen. Denn es gibt dieses Raffinement, dieses Detail, das einem der Helden des Sadeschen Romans zugeschrieben wird, sie dadurch auf Dauer zu stellen, dass er sich der Verdammnis desjenigen versichert, den er vom Leben zum Tod befördert.“ (S. 351, geändert)
Für das Christentum ist der Bereich des zweiten Leidens – die Grenze gegenüber dem zweiten Tod im Sinne der Totalvernichtung – die Hölle. Selbst bei Sade, einem militanten Atheisten, stößt man auf die Höllenvorstellung. In seinen Phantasien geht es ihm darum, das den Opfern zugefügte Leid zu verewigen; er bemüht sich um eine Neufassung der christlichen Höllenvorstellung. Außerdem gibt es das faszinierende Detail, dass einer von Sades Bösewichten, Saint-Fond, an ein Leben nach dem Tode glaubt und (zum Entsetzen seiner atheistischen Komplizen) seine Opfer zwingt, einen Vertrag zu unterschreiben, mit dem sie ihre Seele dem Teufel vermachen – um zu garantieren, dass sie, nachdem er sie ermordet hat, auf ewig in der Hölle schmachten.57 Die Ähnlichkeit zu Hamlet ist offenkundig.
Im Folgenden habe ich die Höllenphantasie in das zuletzt vorgestellte Schema eingetragen (Abb. 15):
Körperbild und Phantasma als Grenze zum zweiten Tod
In derselben Sitzung setzt Lacan seine Betrachtungen über das Schöne fort. Nur sekundär geht es beim Schönen um die ideale Gestalt, um das ideale Schöne. Primär bezieht sich das Schöne auf die „Punkthaftigkeit des Übergangs vom Leben zum Tod“ (351), auf das „Zwischen-zwei“ (353). Für jeden beliebigen Gegenstand, der sich in diesem Übergang befindet, gilt, dass in ihm „dieser mehr oder minder unerträgliche Glanz vibriert, der das Schöne heißt“ (355). Beispielsweise beruht die Schönheit der niederländischen Stillleben auf einer zeitlichen Struktur: darauf, dass sie die drohende Auflösung zeigen, die Gefahr der Zersetzung.58 Er fährt fort:
„Ebenso kann die Frage des Schönen, sofern sie die Frage des Ideals ins Spiel bringt – um die Dinge auf dieser Ebene zu nehmen – nur aufgegriffen werden als abhängig von einem Übergang an die Grenze. Ich will sagen, insofern die Gestalt des Körpers sich als Hülle für alle möglichen Phantasien des menschlichen Begehrens präsentiert, insofern in dieser Gestalt des Körpers, ich meine in dieser äußeren Form, zwangsläufig all das eingehüllt ist, was von den Blumen des Begehrens in dieser bestimmten Vase enthalten sein kann, deren Gefäßwand wir zu fixieren suchen. Insofern sie ist, genau gesagt, insofern sie gewesen ist, denn sie ist nicht mehr göttliche Gestalt, kann uns noch zu Kants Zeiten die menschliche Gestalt als Ideal präsentiert werden, als Erscheinen*, als Grenze der Möglichkeiten des Schönen.“ (S. 355, geändert)
Noch zur Zeit von Kant galt als das Ideal des Schönen die äußere Gestalt des menschlichen Körpers. Auch diese spezielle Form des Schönen, das Ideal-Schöne, kann nur von dem bereits erläuterten Übergang aus begriffen werden, dem Wechsel vom Leben zum Tod, der an die Grenze des Todes führt – und dort zu einem Halt zwingt. Eine der Todesdrohung ausgesetzte Gestalt des Körpers fungiert dabei als Anziehungspunkt für das Begehren32, als Hülle für die Phantasmen; wie eine Vase die Blumen, enthält die Körperform die Phantasmen.
Die Metapher der Vase hatte Lacan bereits im optischen Schema verwendet59; jetzt verbindet er sie mit dem Hinweis auf das Töpfern und damit auf das im Ethik-Seminar entwickelte Modell für die Schöpfung des Signifikanten aus dem Nichts. Im optischen Schema steht die Vase für das Bild des anderen, im Töpferbeispiel für den Signifikanten; die Deutung der Vase wird vom Imaginären zum Symbolischen hin verschoben.
Danach heißt es:
“Das führt uns dazu, daß wir die Beziehung der Körperform, und zwar sehr genau des Bildes, wie ich das hier in der Funktion des Narzißmus bereits artikuliert habe, als eigentlich das ansetzen, was in einer bestimmten Beziehung des Menschen, der Beziehung zu seinem zweiten Tod, den Signifikanten seines Begehrens repräsentiert. Sein sichtbares Begehren, ἵμερος ἐναργής (himeros enargês), das ist das zentrale Trugbild, das zugleich auf den Platz dieses Begehrens verweist, insofern es Begehren nach nichts ist, das Beziehung des Menschen zu seinem Mangel-zu-sein (manque-à-être)60 ist, was zugleich auf diesen Platz verweist wie auf das, was ihn daran hindert, ihn einzunehmen61“ (S. 355, geändert)
Lacan deutet hier die folgende Argumentationskette an.
Die narzisstische Beziehung besteht in einem Verhältnis zum Körperbild, zum Bild des Körpers als geschlossener Gestalt.
Das Körperbild ist, in der Sprache des Chores in Antigone, das himeros enargês (Vers 795), das sichtbare Begehren, das in die Dimension des Imaginären projizierte Begehren.
Das Körperbild fungiert als Signifikant des Begehrens.
Das Körperbild hat eine doppelte Funktion. Es verweist auf den Platz des Begehrens und ebenso auf das, was den Menschen daran hindert, diesen Platz einzunehmen. Anders gesagt: Es verweist den Menschen darauf, dass das, was er begehrt, zugleich die Barriere, die ihn daran hindert, das Begehrte zu erreichen. Diese Barriere ist die Bindung an die imaginäre Dimension, an den Körper als Gestalt.
Das Begehren ist eine Beziehung zum „Mangel-zu-sein“, also zum Nichts.
Die Beziehung zum Mangel zu sein ist die Beziehung zum zweiten Tod. Das, was begehrt wird, ist der zweite Tod.
Insgesamt: Das Körperbild bezieht sich insofern auf den zweiten Tod, als es in einer Beziehung zum Begehren steht, zum Mangel.
Lacan fährt so fort:
„Hier macht es uns etwas möglich, bei dieser Frage nachzuhaken. Wenn das so ist, ist dann eben dieser Platz, eben diese Stütze, dieses Bild, dieser Schatten, den die Gestalt des Körpers darstellt, ist dies dasselbe Bild wie das, das eine Schranke bildet in Bezug immerhin auf das andere Ding62, das jenseits ist, und das nicht nur diese Beziehung zum zweiten Tod ist, zum Menschen, insofern die Sprache ihm abverlangt, in Rechnung zu stellen (rendre compte), dass er nicht ist? Nun, es gibt die Libido, nämlich ganz genau das, woran uns wichtig ist, dass sie uns in flüchtigen Augenblicken über diese Gegenüberstellung hinaus mitreißt, die Libido, die dafür sorgt, dass wir diese Gegenüberstellung vergessen, insofern Freud als erster mit aller Kühnheit und mit Nachdruck artikuliert, dass der einzige Moment des Genießens, den der Mensch kennt, letztlich an eben dem Ort ist, an dem die Phantasmen sich herstellen, die für uns eben die Schranke darstellen, bezogen auf den Zugang zu diesem Genießen, in dem alles vergessen ist.“ (S. 355 f., geändert)
Dies ist die letzte Passage, in der Lacan im Ethik-Seminar vom zweiten Tod spricht. Er fragt nach der Funktion des Körperbildes. Ist es eine Schranke im Verhältnis zum Ding, zum „anderen Ding“, wie es hier heißt?63 Die Beziehung zum Ding besteht nicht nur in der Beziehung zum zweiten Tod. Zu was noch? Zur Jouissance, worunter Lacan hier vor allem den Orgasmus zu verstehen scheint.
An der Libido ist uns wichtig, sagt Lacan, dass sie uns über die „Gegenüberstellung“ hinaus fortreißt, ich nehme an: über die Gegenüberstellung mit dem Körperbild hinaus. In der sexuellen Erregung löst sich unsere narzisstische Bindung auf, wir bringen unsere Körper auf eine Weise ins Spiel, die wir sonst vielleicht als hässlich empfinden würden, und auf genau diesen Ichverlust kommt es uns offenbar an.64 Freud habe vom „einzigen Moment der Jouissance, den der Mensch kennt“ gesprochen, ich nehme an, er bezieht sich damit auf Freuds Bemerkung, „der höchste Betrag von Lust“ sei beim Mann an die Ejakulation gebunden.65 Diese Jouissance ist zugleich der Ort, an dem die Phantasmen sich herstellen; die Phantasmen drängen auf einen Zugang zu dieser Jouissance, versperren ihn aber zugleich.66 Der Orgasmus (falls es darum geht) ist eine Jouissance, „in der alles vergessen wird“, bei der wir uns vergessen, bei der wir die Orientierung am Körperbild einen Moment lang aufgeben, wobei jedoch nicht nur das Körperbild eine Schranke darstellt, sondern auch die Phantasmen.
Die Beziehung zum zweiten Tod wird hier beschrieben als Beziehung „zum Menschen insofern die Sprache ihm abverlangt, in Rechnung zu stellen, dass er nicht ist“. Die Sprache fordert vom Menschen, sein Nichtsein zu berücksichtigen, sich auf sein Nichtsein zu beziehen. Damit sind wir wieder bei Lacans Erklärung des Todestriebs durch die Beziehung zur Sprache. Die Sprache bringt das Nichts ins Spiel, denn sie ist Schöpfung ex nihilo. Der zweite Tod ist dieses (unerreichbare) Nichts, aus dem die Sprache hervorgeht.
Das Begehren ist die Beziehung zum Seinsmangel (manque d’être)67, zum Mangel-zu-sein (manque-à-être)68, zum Nicht-Sein69, zum Nichts. Die reinste Form der Beziehung zum Nichts ist das Streben danach, tot zu sein, sofern es nicht von der imaginären Beziehung durchkreuzt wird; dieses Streben wird von Antigone verkörpert. „Aber Antigone treibt die Erfüllung dessen, was man das reine Begehren nennen kann, bis an die Grenze, das reine und einfache Todesbegehren als solches. Dieses Begehren verkörpert sie.“ (339) Ihr Todesbegehren ist rein, in der Sprache von Freud: ihr Todestrieb ist „entmischt“, ohne „Legierung“ mit dem Lebenstrieb, er wird durch keinen Narzissmus gemildert.70
Die Sprache verlangt dem Menschen ab, dass er sich über diese Beziehung zum zweiten Tod Rechenschaft ablegt. Das ist die Ethik der Psychoanalyse.
In derselben Sitzung heißt es:
„Das Ende der Antigone zeigt uns die Einsetzung ich weiß nicht was für eines blutigen Opferbildes, das der mystische Suizid realisiert. Von einem bestimmten Augenblick an wissen wir freilich nicht mehr, was im Grab Antigones geschieht. Alles weist uns darauf hin, daß das, was geschehen ist, in einem Anfall von mania geschehen und Antigone auf eine Ebene gelangt ist, wo auch Ajax und Herkules zugrunde gehen – ich lasse das Ende von Ödipus beiseite.“ (S. 356)
Die Tragödie endet mit einer Serie von Selbstmorden, von denen man durch Botenbericht erfährt. Antigone erhängt sich in ihrer Grabkammer, daraufhin stürzt sich in einer Art Wahnsinnsanfall ihr Verlobter, Haimon, ins Schwert und dies wiederum hat zur Folge, dass seine Mutter Eurydike sich ersticht. Lacan spricht vom „mystischen Selbstmord“ und bezieht sich damit speziell auf Antigone. Die Mystiker streben danach, das niemals verlorene Ding wiederzufinden; Antigones Selbstmord ist insofern mystisch, als sie durch ihn das Wiederfinden des Dings realisiert. In einer Art mystischer Hochzeit vereinigt sich Antigone durch den Selbstmord mit ihrem toten Bruder, mit dem reinen Sein. Ähnliches gilt für andere Helden der Sophokleischen Tragödien, für Herkules in den Trachinerinnen und für Ajax.71
„Zwischen-zwei-Toden“
Die Wendung „das Zwischen-zwei-Toden“ (l’entre-deux-morts) findet man im Ethik-Seminar nur ein einziges Mal, und dies in der letzten Sitzung. Dort heißt es:
„Jemand hier hat die Topologie, die ich für Sie entworfen habe dieses Jahr, mit einem nicht unglücklichen Ausdruck und außerdem nicht ohne Witz Bereich des Zwischen-zwei-Toden getauft. Ihre Ferien werden es Ihnen gestatten zu sagen, ob die Strenge desselben Ihnen als tatsächlich effizient erscheint. Ich bitte Sie, darauf zurückzukommen.“ (S. 382)
Die Bezeichnung „Zwischen-zwei-Toden“ stammt von einem Seminarteilnehmer oder einer Seminarteilnehmerin, und Lacan reicht den Ausdruck als Zitat mit einer Litotes vorsichtig zustimmend weiter. Die Formulierung ist „nicht unglücklich“ und „nicht ohne Witz“. Der Witz besteht vermutlich in der Anspielung auf „Entre deux mers“, Zwischen-zwei-Meeren, ein bekanntes Weinanbaugebiet, lautgleich mit „entre deux mères“, zwischen zwei Müttern. Aber ist dieser Ausdruck „effizient“? Das bleibt noch offen; der Ausdruck „Zwischen-zwei-Toden“ wird im Ethik-Seminar von Lacan noch nicht adoptiert. Im folgenden Seminar – dem von 1960/61 zur Übertragung –, wird sich das ändern; der Begriff „Zwischen-zwei-Toden“ tritt hier gleichrangig neben den des zweiten Todes.
Beim Lesen der offiziellen Ausgabe des Ethik-Seminars gewinnt man den Eindruck, dass der Begriff „Zwischen-zwei-Toden“ ein größeres Gewicht hat. Das liegt daran, dass Miller die Vorlesung vom 8. Juni 1960 so überschrieben hat: „Antigone, zwischen-zwei-Toden“. In dieser Sitzung wird der Ausdruck jedoch nicht verwendet, es ist hier auch nicht in einem allgemeineren Sinne von zwei Toden die Rede. Stattdessen spricht Lacan hier vom „Zwischen-Leben-und-Tod“ (S. 326): die Helden der Sophokleischen Tragödien, so heißt es hier, sind in der Grauzone zwischen Leben und Tod angesiedelt.
Was ist mit der Formel „Zwischen-zwei-Toden“ gemeint? Die beiden Tode sind nicht schwer zu identifizieren. Der eine Tod ist sicherlich der physische, der andere gewiss der oben behandelte „zweite Tod“, die Rückkehr in das Nichts, aus dem die Signifikanten hervorgegangen sind. Aber worauf bezieht sich das Zwischen? Im Ethik-Seminar wird eine andere Zwischenposition entwickelt, die zwischen den Leben und Tod, zwischen dem Seienden und dem Sein, zwischen dem Signifikanten und dem Ding. Die Formel „Zwischen-zwei-Toden“ impliziert eine andere Topik. Warum dieser Wechsel?
Zusammenfassung
Die hier dargelegte Rekonstruktion der Begriffe „zweiter Tod“ und „Zwischen-zwei-Toden“ beschränkt sich auf das Seminar, in dem die Begriffe eingeführt werden: Seminar 7 von 1959/60, Die Ethik der Psychoanalyse.
Der zweite Tod (seconde mort) ist bei Lacan der Name für denjenigen Tod, der vom Todestrieb angezielt wird, für das letzte Ziel des Destruktionsstrebens.
Der Ausdruck geht auf die Offenbarung des Johannes zurück (Apokalypse 19 bis 21). Dort meint zweiter Tod denjenigen Tod, den die Sünder nach dem Jüngsten Gericht erleiden, dadurch, dass sie in einen See aus brennendem Schwefel geworfen werden, wobei unbestimmt bleibt, ob der zweite Tod zu einer vollständigen Vernichtung führt oder in einem ewigen Leiden besteht. Lacan verweist nicht auf diesen Hintergrund.
Von Freud übernimmt Lacan
– den Begriff des Todestriebs,
– ebenso die Definition des Triebs als Streben nach einem absoluten Nullpunkt sowie als Versuch, einen früheren Zustand wiederherzustellen,
– und schließlich auch den Gedanken, dass der Todestrieb eine Bewegung ist, die von einer Gegenbewegung durchkreuzt wird und die deshalb nicht an ihr Ziel gelangt.
Freuds Erklärung des Todestriebs durch das Konstanzprinzip oder das Nirwanaprinzip wird von Lacan verworfen.
Der Tod, den der Todestrieb herbeizuführen sucht, muss vielmehr in Abhängigkeit von der Sprache begriffen werden, vom Signifikanten. Signifikanten entstehen dadurch, dass Markierungen in das Lebendige eingetragen werden. Der Todestrieb ist das Bestreben, zum Nullpunkt vor der Einschreibung von Signifikanten zurückzukehren.
Lacan erläutert den zweiten Tod mit drei Begrifflichkeiten: durch die Beziehung zwischen dem Signifikanten und dem „Ding“, durch die creatio ex nihilo (die Schöpfung aus dem Nichts) und durch die Differenz zwischen dem Seiendem und Sein.
- Die Bewegung der Signifikanten dreht sich für Lacan, mit dem frühen Freud, um eine radikale Abwesenheit: das „Ding“. Der zweite Tod ist das Wiederfinden des (nie verlorengegangenen) Dings, die Rückkehr zu einem Zustand, in dem die Signifikanten keine Wirksamkeit haben.
- Die Entstehung von Signifikanten kann, mit einer Denkfigur der frühchristlichen Theologie, als creatio ex nihilo begriffen werden, als Schöpfung aus dem Nichts. Anders gesagt, die Entstehung von Signifikanten ist ein absoluter Anfang, sie ist nicht, evolutionstheoretisch, als Höherentwicklung aufzufassen. Der zweite Tod, auf den der Todestrieb abzielt, ist die Rückkehr zu dem Nichts, aus dem die Signifikanten hervorgegangen sind, also zu einem Zustand vor der Existenz von Signifikanten, als Ursprung einer neuen Schöpfung. Das „Nichts“ ist aber zugleich das Subjekt, das durch den Signifikanten als Mangel konstituiert wird (vgl. Das Subjekt als Leere in diesem Blog).
- Der zweite Tod ist die durch die Sprache ermöglichte Vernichtung des Seienden als Beziehung zum Sein.
Der zweite Tod ist also insgesamt die Auslöschung der Macht des Signifikanten als Bedingung des radikalen Neubeginns.
Bei Sade besteht der zweite Tod darin, dass die Natur insgesamt ihr Leben ausgehaucht hat.
In der Antigone des Sophokles wird der zweite Tod durch das Totenreich repräsentiert; in ihm herrscht das Recht des Seins unter Absehung vom Seienden, von der konkreten Geschichte. Antigone bezieht sich auf Polyneikes als Sein, nicht als Seienden, insofern sich ihre Beziehung zu ihrem Bruder auf den Satz der Identität stützt („mein Bruder ist mein Bruder“) und nicht auf die Taten des Bruders.
Von Freud übernimmt Lacan den Gedanken, dass das Vernichtungsstreben unweigerlich auf eine Barriere stößt.
Das Subjekt, das sich auf den zweiten Tod bezieht, ist in einer Grenzzone verortet. Der zweite Tod liegt hinter dieser Grenze, er wird angestrebt, aber nicht erreicht. In Antigone ist dieser Grenzbereich die Zwischenzone zwischen Leben und Tod. In theologischer Begrifflichkeit ist dieser Bereich das „ex“ des „ex nihilo“, das „aus“ der „Schöpfung aus dem Nichts“. Ontologisch gesehen, handelt es sich bei dieser Grenze um das Zwischen, zwischen dem Seienden und dem Sein, in Heideggers Terminologie ist sie die Differenz. Bezogen auf das Register des Symbolischen entspricht die Grenze dem Schnitt, dem Intervall zwischen den Signifikanten.
Auf der Grenze zum zweiten Tod sind zwei imaginäre Formationen angesiedelt. Eine davon ist das Phantasma des ewigen Leidens. Im Christentum ist dies die Vorstellung von der Hölle als Ort ewiger Qual sowie das Bild des gekreuzigten Christus als Schmerzensmann; bei dem Atheisten Sade kehrt dieses christlliche Phantasma wieder als Phantasie von den ewig leidenden, jedoch niemals sterbenden Opfern. Die Grenze zum zweiten Tod ist aber auch der Ort, an dem sich die Erscheinung des Schönen herstellt. Ein beliebiger Gegenstand wird dadurch schön, dass er im Übergang vom Leben zum Tod festgehalten wird, ohne die Grenze zu überschreiten.
Lacans Begriff des zweiten Todes ist also keineswegs einfach mit dem ewigen Leiden gleichzusetzen. Der Ausdruck ist mehrdeutig, und diese Ambiguität bezieht sich auf das Verhältnis von Trieb und Phantasma, von Trieb und Begehren. Der Trieb strebt nach Rückkehr zum Nichts der creatio ex nihilo des Signifikanten, nach Annihilierung im Sinne des Sade’schen Papstes (erste Bedeutung von zweiter Tod); das masochistische Phantasma des ewigen Leidens (zweite Bedeutung von zweiter Tod) ist eine Phantasie des ewigen Lebens und damit eine Abwehr gegen den Todestrieb.
An die Stelle der Freud’schen Lebenstriebe tritt bei Lacan die Topik der Grenze als Ort, an dem die imaginären Phänomene angesiedelt sind: die Phantasmen (des ewigen Leidens) und die Sublimierung in Form der Schönheit. (Eine weitere Grenze bildet für Lacan das Lustprinzip, das in den hier zitierten und kommentierten Passagen jedoch nicht direkt zur Sprache kommt.)
Der Begriff „Zwischen-zwei-Toden“ (l’entre-deux-morts) ist die Erfindung eines Seminarteilnehmers oder einer Seminarteilnehmerin. Im Ethik-Seminar wird diese Begriffsbildung von Lacan ganz am Schluss ohne nähere Erläuterung erwähnt. Auffällig ist der Wechsel der Topik. Wenn Lacan im Ethik-Seminar von einem Zwischen redet, ist dies das Zwischen zwischen Leben und Tod, nicht das zwischen dem ersten und dem zweiten Tod angesiedelte Zwischen. Mit dem „Zwischen-zwei-Toden“ wird eine neue oder modifizierte Topik angedeutet.
Literatur
Lacan, Seminar 7 von 1959/60, L’éthique de la psychanalyse
Version Miller = Lacan: Le séminaire, livre VII: L’éthique de la psychanalyse. 1959-1960. Texte établi par Jacques-Alain Miller. Le Seuil, Paris 1986
Version Miller/Haas = Lacan: Das Seminar, Buch VII (1959-1960). Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Norbert Haas. Quadriga, Berlin 1996
Version Staferla = Wort-für-Wort-Transkription auf der Website staferla.free.fr.
Version JL =Von Lacan in Auftrag gegebene Stenotypie von Seminar 7. Im Internet auf der Website der École lacanienne de psychanalyse (ELP), hier.)
Lacan, Schriften
Remarque sur le rapport de Daniel Lagache: „Psychoanalyse et structure de la personnalité“. In: Lacan: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 647–684
Kant mit Sade. In: Lacan: Schriften II. Hg. v. Norbert Haas. Walter, Olten 1975, S. 133–15
Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten. In: Lacan: Schriften II, S. 165–204
Hommage fait à Marguerite Duras, du ravissement du Lol V. Stein. In: Lacan: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 191–198
L’étourdit. In: Lacan: Autres écrits, a.a.O., S. 449–496
Andere Autoren
Annihilationismus. Artikel in der deutschen Wikipedia, abgerufen am 29.7.2013, hier
Bataille, George: Der heilige Eros (L’Érotisme, 1957). Übersetzt von Max Hölzer. Ullstein, Berlin u.a. 1982
Balmès, François: Ce que Lacan dit de l‘être (1953-1960). Presses Universitaires de France, Paris 1999, darin: Kap. 6, „D’une Chose à l’Autre“, S. 179–206 (zum Begriff des Seins im Ethik-Seminar)
Bibel, Neues Testament
– griechisch: Novum Testamentum Graece, Nestle-Aland 26. Auflage 1979,
im Internet auf der Seite greekbible.com,
– lateinisch: Biblia sacra iuxta vulgatam versionem, 4. Auflage 1994, auf biblegateway.com/versions/?action=getVersionInfo&vid=4
– französisch: Louis Segond, revidierte Übersetzung von 1910, auf vargenau.free.fr/bible-segond;
– deutsch: Luther-Übersetzung von 1445 auf lutherbibel.net;
– deutsch: revidierte Luther-Übersetzung von 1984 auf die-bibel.de/online-bibeln/luther-bibel-1984/bibeltext
Christliche Mystik. Artikel in der deutschen „Wikipedia“, abgerufen am 29.7.2013, hier.
Claudel, Paul: Introduction à la peinture hollandaise. Gallimard, Paris 1935; dt.: Vom Wesen der holländischen Malerei. Fischer, Frankfurt am Main 1954
Conrad, Klaus: Die beginnende Schizophrenie. Versuch einer Gestaltanalyse des Wahns. Thieme, Stuttgart 1958
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 9. Auflage 2006
Freud, Entwurf = Entwurf einer Psychologie (1895). In: Ders.: Aus den Anfängen der Psychoanalyse 1887-1902. Briefe an Wilhelm Fließ. S. Fischer, Frankfurt am Main 2. Aufl. 1975, S. 299–384
Freud, Erniedrigung = Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens (1912). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 197–209
Freud, Jenseits = Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 213–272
Freud, Verneinung = Die Verneinung (1925). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S.371–378
Hatzfeld, Marjolaine: Variations sur le thème tragique dans l’Éthique. In: Littoral, Nr. 36, Oktober 1992, S. 39–62
Heidegger, Ding = Das Ding (1951). In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Neske, Pfullingen 1954, S. 157–180
Heidegger, Hölderlin = Hölderlin und das Wesen der Dichtung (1936). In: Ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Gesamtausgabe, Bd. 4. Klostermann, Frankfurt am Main 1981, S. 33–48
Heidegger, Identität = Der Satz der Identität (1957). In: Ders.: Identität und Differenz. Neske, Pfullingen 1957, S. 9–30
Heidegger, Kunstwerk = Der Ursprung des Kunstwerkes (Vorträge von 1935/36, zuerst veröffentlicht 1960). In: Ders.: Holzwege. Gesamtausgabe, Bd. 5. Klostermann, Frankfurt am Main 1977, S. 1–74
Heidegger, Ontotheologie = Die onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik (1957). In: Ders.: Identität und Differenz, a.a.O., S. 3–67
Heidegger, Technik = Die Frage nach der Technik (1954). In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Neske, Pfullingen 1954, S. 9–40
Heidegger, Metaphysik = Was ist Metaphysik? (Vortrag von 1929 mit einem Nachwort von 1943/44 und einer Einleitung von 1949) Klostermann, Frankfurt am Main 1969
Marty, Éric: Pourqui le XXe siècle a-t-il pris Sade au sérieux? Le Seuil, Paris 2001, darin Kap. II.2, “Lacan et la chose sadienne”, S. 171–268
Naveau, Laure: Sous le regard … Ou pire. In: lacanquotien.fr.blog, hier.
Lacoue-Labarthe, Philippe: De l’éthique: À propos d’Antigone. In: Lacan avec les philosophes. Hg. v. Collège international de philosophie. Michel, Paris 1991, S. 21–36 (eine englische Übersetzung findet man im Internet hier).
Sade, Donatien Alphonse François de: Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice (1801). Im Internet bei Wikisource, hier.
Simonney, Dominique: Le temps de passer. In: Essaim Nr. 24, 2010/1, S. 73–85 (Spezialaufsatz zum Begriff des zweiten Todes bei Lacan)
Sophokles: Antigone. Griechisch/deutsch. Übersetzt von Norbert Zink. Reclam jun., Stuttgart 1981
Viller, Marcel: La mystique de la Passion chez saint Paul de la Croix. In: Recherches de science religieuse, 40, 1-2, janvier-avril 1952, Mélanges Jules Lebreton II, p. 426-445, im Internet hier, abgerufen am 29.7.2013
Vion-Dury, Juliette (Hg): Entre-deux-morts. Vorwort von Daniel Sibony. Presses universitaires de Limoges, Limoges 2000
Zupančič, Alenka: Ethics of the real. Kant, Lacan. Verso, London u.a. 2000, darin zum zweiten Tod: Kapitel 9, „Thus“, S. 249–259
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- Das sadistische Begehren
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Anmerkungen
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Was die Seminare angeht, so findet man die beiden Begriffe, außer in dem über die Ethik, in den Seminaren 8 und 9; vom „Zwischen-zwei-Toden“ spricht Lacan dann noch einmal in Seminar 17. In den Aufsätzen verwendet er beide Begriffe in Kant mit Sade, nur den Ausdruck „zweiter Tod“ in Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freud’schen Unbewussten und nur den Ausdruck „Zwischen-zwei-Toden“ in der Hommage an Marguerite Duras sowie in L’étourdit.
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Warum interessiert mich der Begriff „zweiter Tod“?
Das Vorhaben, das mich seit einiger Zeit beschäftigt, ist die Entzifferung des Graphen des Begehrens. Warum wird im Aufsatz Subversion des Subjekts von 1960/66 der Schnittpunkt oben rechts ($◊D) plötzlich als Trieb gedeutet – in den Seminaren 5 und 6, in denen der Graph eingeführt wird, ist davon noch nicht die Rede. Wenn man diese Frage beantworten will, muss man Lacans erste größere Auseinandersetzung mit dem Triebbegriff zur Kenntnis nehmen, die im Ethik-Seminar von 1959/60. Hier geht es vor allem um den Todestrieb und dessen Sublimierung. Der Tod, den der Todestrieb herbeizuführen sucht, wird von Lacan als „zweiter Tod“ bezeichnet. Um den Lacan’schen Triebbegriff zu klären, musste ich also nachvollziehen können, was es mit diesem zweiten Tod auf sich hat. Die Erläuterungen in der Sekundärliteratur fand ich unbefriedigend.
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Vgl. Freud, Jenseits; von „Spekulation“ spricht Freud auf S. 234.
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Eine Skizze von Lacans Konzeption des Todestriebs im Ethik-Seminar findet man in diesem Blog hier.
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Vgl. Freud, Entwurf, S. 335, 338f., 365; sowie: Freud, Verneinung.
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Vgl. im Ethik-Seminar v.a. die Vorlesungen vom 9.und 16.12.1959.
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Vom Datum und vom Inhalt her könnte es sich um den U-2-Zwischenfall handeln und der damit verbundenen Befürchtung eines Atomkriegs.
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Vers 795 f. „nika d’enargês blepharôn himeros eulektrou numphas“.
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Vgl. zum Glanz des Schönen auch Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 262.
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Heidegger, Technik, S, 38, im Original findet man den griechischen Ausdruck hier und im Folgenden in griechischer Schrift. Technê wird im Lateinischen mit ars übersetzt; der Begriff ars ist eine der Quellen des heutigen Kunstbegriffs.
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A.a.O., S. 39.– Heidegger orientiert sich vermutlich an Hölderlin, der die Ausdrücke „Glanz“, „glänzen“ und „glänzend“ sowie verschiedene Komposita – etwa „aufglänzen“ – häufig verwendet.
Vom Glanz spricht Heidegger auch im Kunstwerk-Aufsatz von 1935/36. Hier heißt es über das Standbild und die Tragödie: „Zum Weihen gehört das Rühmen als die Würdigung der Würde und des Glanzes des Gottes. Würde und Glanz sind nicht Eigenschaften, neben und hinter denen außerdem noch der Gott steht, sondern in der Würde, im Glanz west der Gott an. Im Abglanz dieses Glanzes glänzt, d.h. lichtet sich jenes, was wir die Welt nannten.“ (Heidegger, Kunstwerk, S. 30.) Dieser Aufsatz wurde jedoch erst 1960 veröffentlicht, also während des Ethik-Seminars oder danach.
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Vom Feuersee ist bereits in Offenbarung 19, Vers 20 die Rede.
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Zur Differenz zwischen dem Seienden und dem Sein, der ontisch-ontologischen Differenz, vgl. Heidegger, Metaphysik, S. 23 (Einleitung von 1949), S. 45 f. (Nachwort von 1943); ders., Ontotheologie, S. 53–61.
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In keinem Text bezieht Lacan sich so stark auf Heidegger wie im Ethik-Seminar Zu Lacans Heideggerrezeption in diesem Seminar vgl. die Arbeiten von Lacoue-Labarthe, Hatzfeld und, vor allem, Balmès.
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Ethik-Seminar, Version Miller/Haas, S. 318 f., Übersetzung geändert
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Die Bemerkungen zum „mit“ sind sicherlich von Heidegger inspiriert, bei dem man lesen kann: „Die gemäßere Formel für den Satz der Identität A ist A sagt demnach nicht nur: Jedes A ist selber dasselbe, sie sagt vielmehr: Mit ihm selbst ist jedes A selber dasselbe. In der Selbigkeit liegt die Beziehung des ‚mit‘, also eine Vermittelung, eine Verbindung, eine Synthesis: die Einung in eine Einheit.“ Heidegger, Identität, S. 11
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Auch das Zwischen (l’entre-deux) verweist auf Heidegger, vgl. Heideggers Bemerkung zum Zwischen in: Ontotheologie, S. 54 f.
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„ce lieu où est mis en cause tout ce qui peut être, ce lieu de l’être“, Version JL, Sitzung vom 4. Mai 1960, im Internet hier, S. 23. Miller ändert dies zu: „lieu où est mis en cause tout ce qui est lieu de l’être“ (S. 253), „ein Ort, an dem alles in Frage gestellt ist, was Ort des Seins ist“ (Version Miller/Haas, S. 259), was keinen Sinn ergibt. Vgl. die Hinweise von Hatzfeld (S. 45 Fn. 15) und Balmès (S. 181).
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Das Wort „Apophanie“ wird weder vom Langenscheidt-Großwörterbuch noch vom Dictionnaire ‚Littré‘ en ligne aufgeführt. Es kommt vom griechischen apo, „von“, und phainein, „zeigen“, und bedeutet „Darstellung“, „Sichzeigen“ oder eben „Manifestation“. Miller streicht in seiner Version „die Manifestation“. Den Anstoß für die Verwendung des seltenen Ausdrucks gab möglicherweise die Verwendung des Verbs apophainesthai durch Heidegger in Die Frage nach der Technik (das Ethik-Seminar enthält zahlreiche Anspielungen auf diesen Aufsatz): „Überlegen heißt griechisch legein, logos. Es beruht im apophainesthai, zum Vorschein bringen.“ (Heidegger, Technik, S. 13, griechische Ausdrücke im Original in griechischer Schrift.) – 1958 wurde der Begriff „Apophänie“ von Klaus Conrad in die Psychiatrie eingeführt; er meint dort eine psychotische Wahrnehmungsverzerrung (vgl. Conrad); das ist hier nicht gemeint.– Staferla liest „apophonie“, was „Vokalwechsel“ heißt und keinen Sinn ergibt.
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Vgl. Eckermann, Gespräche am 28. März und am 1. April 1827.
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Vgl. M. Heidegger: Platons Lehre von der Wahrheit (1947). Francke, Bern 3. Auflage 1975
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In der Hymne „Germanien“: „Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals / Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten.“
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George Bataille: Mystik und Sinnlichkeit. In: Bataille, Eros, S. 217–247, hier: S. 244.
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Den Zusammenhang zwischen dem Sein und dem Nichts bei Heidegger betont Lacan in Seminar 11 von 1964: „Was die Seinsmeditation angeht, die im Denken von Heidegger kulminiert, so gibt diese dem Sein selbst jenes Nichtungsvermögen wieder – oder stellt doch zumindest die Frage, wie es möglich sei, daß das Sein sich auf dieses beziehen könne.“ (Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 87)
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„forces“ in der von Lacan in Auftrag gegebenen Stenotypie, ein klarer Hinweis auf die Kantische Vermögenspsychologie (die Vermögen heißen auch „Kräfte“); siehe hier. Miller verschlimmbessert „forces“ zu „formes“.
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Der Vergleich zwischen der Kantischen Ästhetik und dem sadistischen Phantasma wird von Lacan nicht durchgeführt. Hier mein Vorschlag:
Im sadistischen Phantasma fungiert das Leiden als Signifikant. Dieser Signifikant hat die Funktion, eine Garantie dafür zu liefern, dass die Rückkehr des Seienden in das Nichts unmöglich ist.Gegenstand der Kantischen Ästhetik ist das Schönheitsurteil, also ein bestimmter Typ von Signifikanten. Der Signifikant des Schönheitsurteils ist mit einem Lustgefühl verbunden, dem Wohlgefallen; dieser Verbindung von Signifikant und Jouissance entspricht bei Sade das Leiden, das als Signifikant fungiert. Das Schönheitsurteil bezieht sich zwar auf Seiendes, z.B. auf einen Hund, in dieser Beziehung zum Seienden hat das Urteil jedoch nicht seinen entscheidenden Grund; ich finde den Hund nicht deshalb schön, weil ich ihn erkenne oder (im Kantischen Sinne) begehre, nicht deshalb, weil ich ihn haben will. In diesem Sinne beruht das Schönheitsurteil nicht auf der Beziehung zum Objekt. Das Schönheitsurteil kommt vielmehr dadurch zustande, dass ich erfahre, dass die Erkenntnisvermögen zusammenstimmen. Das Urteil zeigt mir an, dass mit der Objektkonstituierung alles gut läuft, dass die Schöpfung von Seiendem (die Konstituierung von Objekten) aus dem Nichts (aus dem Ding an sich) nicht zusammenbrechen wird. Das Schönheitsurteil ist also auf einer Grenze angesiedelt, zwischen dem Seienden (den konstituierten Objekten) und dem Nichts (dem Ding an sich). Das Schönheitsurteil ist der Signifikant, der mir garantiert, dass die Grenze zum Ding an sich (zum Nichts, zum Lacan’schen Ding) nicht überschritten werden wird.
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Lacan behauptet, dass sie wie Jesus am Kreuz sagt: „Mein Vater, warum hast du mich verlassen“ (S. 307, 327). Ich habe dafür im Theaterstück von Sophokles keine entsprechende Stelle gefunden.
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Man denke etwa an das mystische Motiv der Hochzeit am Kreuz. Bei Hildegard von Bingen heißt es:
„Als Christus Jesus, der wahre Sohn Gottes, am Leidensholze hing, wurde ihm die Kirche in der Verborgenheit der himmlischen Geheimnisse vermählt, und sie empfing als Hochzeitsgabe sein purpurfarbenes Blut.“
(Zitiert nach dem Artikel “Christliche Mystik” in Wikipedia, hier.)
Ein anderes Beispiel ist der Mystiker Paul vom Kreuz (1694-1775), der eine Gemeinschaft gründete, Congregatio Passionis Jesu Christi, Kongregation vom Leiden Christi, die bis heute existiert. Eindrucksvolle Tagebucheinträge von Paul von Kreuz (in französischer Übersetzung) findet man bei Viller, im Internet hier.
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Vgl. Seminar 1, Version Miller/Hamacher, S. 162, 179; Lagache-Aufsatz, S. 674, 680; vgl. die Erläuterung des optischen Modells auf dieser Website.
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„qui l’empêche de l‘avoir“, ich folge hier der von Lacan in Auftrag gegebenen Stenotypie, die von Staferla übernommen wird (Version JL, 22.6.60, S. 19, siehe hier). Miller ändert das in: „et empêche le la voir“ (S. 345); Haas übersetzt das mit „und verhindert, daß er gesehen werde“.
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Stille Post: In Version JL findet man „l’autre chose“; Miller transkribiert mit „l’Autre-chose“; Haas lässt „chose“ weg und übersetzt mit „dem Anderen“.
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Vom Anderen als Ding spricht Lacan im Ethik-Seminar bereits auf S. 71 (Version Miller/Haas).
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Die Bilder des Ichs können uns beim Akt des Liebemachens im Wege stehen, heißt es S. 239.
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Freud:
„Das neue Sexualziel besteht beim Manne in der Entladung der Geschlechtsprodukte; es ist dem früheren, der Erreichung von Lust keineswegs fremd, vielmehr ist der höchste Betrag von Lust an diesen Endakt des Sexualvorganges geknüpft.“
(S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Frankfurt am Main 2000, S. 37–146 hier: S. 112)
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Diese Bemerkung bezieht sich möglicherweise auf Freuds Aufsatz über die Erniedrigung des Liebeslebens. Dieser Text passt allerdings nicht ganz, er handelt zwar von der Einschränkung der Libido und auch von den sexuellen Phantasien, man findet hier jedoch nicht die allgemeine These, dass die Libido durch die Phantasien eingeschränkt wird.
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Vgl. Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 283; Lacan übernimmt diesen Terminus von Sartre, der ihn in Das Sein und das Nichts verwendet.
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Vgl. Das Drängen des Buchstaben im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957), Schriften II, S. 48, dort mit „Seinsverfehlen“ übersetzt; Écrits, S. 522.
In Sartres manque d’être ist „Sein“ ein Substantiv, in Lacans manque-à-être (oder manque à être, wie man auch schreiben kann) ist „sein“ ein Verb.
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Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191–270, hier: S. 246 f.
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Vgl. zu diesen Tragödien im Ethik-Seminar auch S. 325–327 (Version Miller/Haas).