Lacans Topologie
Die Innenacht
Innenacht, dargestellt durch einen Gummiring
Wer Lacan liest, wird ihr, in Wort und Bild, irgendwann begegnen: der Innenacht (huit intérieur). Damit niemand an ihr verzweifelt, gebe ich hier eine erste Orientierung. Dabei verlasse ich mich auf die Erläuterungen von Juan-David Nasio in seiner Einführung in Lacans Topologie.1
Am Ende des Beitrags findet man eine Erläuterung von Freuds Begriffen der Nachträglichkeit und der zweifachen Niederschrift, auf die Lacan sich vermutlich für sein Konzept der Innenacht stützt.
Eine Kurve, keine Fläche
Die Innenacht ist eine Kurve, keine Fläche. Diese Kurve liegt auf einer Fläche oder bildet den Rand einer Fläche, sie schwebt nicht frei im Raum. Die Kurve ist geschlossen, d.h. sie hat keine freien Enden. Sie hat die Form einer nach innen geklappten Acht. Die Kurve berührt sich an der Überkreuzungsstelle oder sie berührt sich nicht. Die Innenacht, auf die Lacan sich in seinen topologischen Darstellungen meist bezieht, ist eine Kurve, die sich nicht berührt; es sind jedoch bestimmte Operationen möglich, durch die sie sich selbst schneidet.
Auf Foto zu Beginn dieses Artikels habe ich den zweiten Typ der Innenacht – ohne Selbstberührung – durch einen gewöhnlichen Gummiring veranschaulicht. Ein Papierschnipsel sorgt dafür, dass der Ring sich nicht selbst berührt.
Diese Veranschaulichung ist nur ein erster, missverständlicher Zugang; Lacans Innenacht ist eine Linie auf einer Fläche, ein Schnitt in eine Fläche oder der Rand einer Fläche.
Eingeführt wird der Begriff der Innenacht von Lacan in Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, in der Sitzung vom 11. April 1962. Auf die Innenacht stößt man in den Seminaren 9 bis 13, dann wieder 15 und 20. In den Écrits findet man sie im Aufsatz Die Wissenschaft und die Wahrheit, einer Vorlesung von 1965, die 1966 veröffentlicht wurde. In den Autres écrits begegnet man der Innenacht in der Proposition du 9 octobre 1965 sur les psychanalyste de l’École, die 1968 im Druck erschien.
Topologische Flächen
Lacan befasst sich mit der Innenacht vor dem Hintergrund der mathematischen Topologie. Die mathematische Topologie erforscht diejenigen räumlichen Strukturen, die bei stetiger Verzerrung von Flächen erhalten bleiben. Topologen stellen sich vor, dass ihre Flächen aus Gummitüchern bestehen, die beliebig gedehnt, geschrumpft und ausgebeult werden können; die Topologie wird deshalb auch als Gummituch-Geometrie bezeichnet (eine Geometrie ohne Metrie, ohne Messung). Das Zerreißen oder Verkleben der Tücher ist verboten. Wenn man den nebenstehenden Becher anklickt, verwandelt er sich in einen Torus, also in einen Ring – und wieder zurück. Für den abstrahierenden Blick des Topologen haben beide Objekte dieselbe Struktur, sie sind homöomorph, gleichförmig.2 Für Heidegger ist der Becher wesentlich ein Hohlraum. Er ermöglicht es, dass das Gefäß gefüllt und wieder geleert werden kann; mit Lacan: dass er als rudimentärer Signifikant funktioniert, als Aufeinanderbezogensein von Anwesenheit und Abwesenheit. Heidegger übersieht, dass der Becher einen Henkel hat. Dem Topologen ist das klar; das Nichts, um das herum er den Becher kreiert, ist nicht die Höhlung, sondern die Henkelöffnung. Besser als der Füllraum repräsentiert das Griffloch die Leere im Zentrum des Realen, das Ding.3
Die Innenacht kann in unterschiedliche Flächen eingetragen werden. Bei Lacan sind dies vor allem Torus, Kreuzhaube, Klein’sche Flasche und Möbiusband.
Die Flächen, in die die Innenacht eingeschrieben ist, können außerhalb und innerhalb ihrer Einbettung in den umgebenden Raum betrachtet werden. Der Torus kann in den dreidimensionalen Raum eingebettet werden, die Kreuzhaube in den in den vierdimensionalen Raum. Im dreidimensionalen Raum kommt es bei der Kreuzhaube zu einer Selbstdurchdringung, die, mathematisch gesehen, irrelevant ist; man sagt deshalb, das Verhältnis der Kreuzhaube zum umgebenden dreidimensionalen Raum ist keine „Einbettung“, sondern eine „Immersion“. Um es an einem Beispiel zu erläutern: Wenn ich einen Würfel zeichne, füge ich ein dreidimensionales Objekt in den zweidimensionalen Raum ein. Bei dieser Art der Darstellung sind einige Kanten unsichtbar, dieses Verschwinden ist mathematisch ohne Belang. Ähnlich ist die Selbstdurchdringung der Kreuzhaube ein Artefakt der Einfügung in einen Raum, der gewissermaßen zu klein für sie ist.
Topologen unterscheiden orientierbare und nicht-orientierbare Flächen. Die meisten Flächen, mit denen wir es zu tun haben, sind so beschaffen, dass sich Vorderseite und Rückseite klar unterscheiden lassen. Das gilt etwa für ein gewöhnliches Blatt Kopierpapier, aber auch für ein zweidimensionales Gedankending wie die Kreisfläche der Schulgeometrie. Flächen dieses Typs heißen „orientierbar“. Eine mathematische Ameise, die man auf dieser Fläche positioniert, muss über eine Kante klettern, um auf die Rückseite zu gelangen.
Es gibt aber auch Flächen, bei denen diese Unterscheidung nicht auf diese Weise getroffen werden kann. Das gilt etwa für das Möbiusband: es hat nur eine Seite (und nur eine Kante). Wenn man es entlangfährt, landet man, ohne dass man über den Rand gerutscht ist, auf der Rückseite des Ausgangspunktes und schließlich wieder beim Start. Solche einseitigen Flächen heißen „nicht-orientierbar“. Ein Möbiusband ist ein Objekt, das im dreidimensionalen Raum unserer Alltagspraxis realisiert werden kann; wer sich einen Möbiusschal stricken will, findet in diesem Video eine Anleitung. Ein solcher Schal ist zwar keine Fläche der mathematischen Topologie – dazu müsste er eine Dicke von einem Punkt haben und beliebig verformbar sein –, aber doch ein veritables Möbiusband. Auch eine nicht-orientierbare Fläche hat Vorder- und Rückseite, jedoch nur lokal, ausgehend von einem bestimmten Punkt. Wenn man die Vorderseite und die Rückseite eines Punktes durch eine Linie miteinander verbindet, muss diese Linie keinen Rand überqueren.
Ein Grundbegriff der Topologie ist der Schnitt; die Flächen werden danach unterschieden, welche Arten von Schnitten man an ihnen vornehmen kann. Lacan deutet den Schnitt als Operation: er bewaffnet sich gewissermaßen mit einer Schere, meist nur mit der im Kopf, und zerschneidet damit seine Gummitücher.
Die Innenacht auf dem Torus
Ein Torus ist gewissermaßen ein Fahrradschlauch ohne Ventil.4 Für die Erläuterung der Innenacht kann man die Unterschiede zwischen dem mathematischen Torus und dem Objekt, durch das er veranschaulicht wird, außer Acht lassen.5 Auf einem Torus lassen sich verschiedene Arten von Kreisen eintragen, von besonderem Interesse sind die Kreise um das Profil und die Kreise um die mittlere Öffnung. Mit „Profil“ meine ich den Kreisumfang, den man sieht, wenn man den Reifen so durchschneidet, dass man eine Art Gartenschlauch erhält, die „mittlerer Öffnung“ ist der Bereich, in dem beim Rad eines Fahrrads die Felgen, die Speichen und die Achsen untergebracht sind.
In der obigen Zeichnung sieht man Umdrehungen um das Torusprofil, sie sind mit D1, D2 usw. bezeichnet; der Fachausdruck ist „Meridiankreise“.6 In Lacans Verwendung des Torus repräsentiert ein Meridiankreis einen einzelnen Anspruch (das große D ist hier die Abkürzung für demande, Anspruch, Forderung), Die Serie D1, D2 usw. steht für die Wiederholung von Ansprüchen, für den Wiederholungszwang. Für die Kreise D1, D2, D3 usw. kann man etwa die Forderungen „Ich will Buch A haben“, „Ich will Buch B haben“ usw. einsetzen (um ein Beispiel aus einem früheren Blogeintrag aufzugreifen).
Longitudinalkreis: Objekt a
Die zweite Zeichnung zeigt einen Kreis um die mittlere Öffnung, er wird hier a genannt. Dieser Kreistyp heißt „Longitudinalkreis“. Die Langitudinalkreise repräsentieren das Objekt a. Der Kreis a in der letzten Zeichnung steht für also für das Objekt, das die Wiederholung der Forderung antreibt.
In der Sekundärliteratur wird der Longitudinalkreis bisweilen dem Begehren zugeordnet, nicht dem Objekt a; aber Lacan ist hier eindeutig. In der Sitzung, in der er den Torus einführt, bezeichnet er die meridionalen Kreise als volle Kreise, die longitudinalen Kreise als leere Kreise
„Denn im Verhältnis zu den Runden, die aufeinander folgen – Abfolge der vollen Kreise –, müssen Sie sich klarmachen, dass die leeren Kreise, die gewissermaßen von den Ringen dieser Schlaufen erfasst werden und sämtliche Kreise des Anspruchs miteinander verbinden, im Verhältnis zu diesen Runden muss es wohl etwas geben, das in Beziehung zum klein a steht, Objekt der Metonymie, insofern es dieses Objekt ist. Ich habe nicht gesagt, dass durch diese Kreise das Begehren symbolisiert wird, sondern das Objekt, das sich als solches dem Begehren anbietet.“7
Die Kreise um die „zentrale Leere“ herum sind nicht die Kreise des Begehrens, osndern die Kreise des Objekts a
Im voranstehenden Absatz werden die Ansprüche durch isolierte Kreise dargestellt. Um den Zusammenhang der Ansprüche zu repräsentieren, kann man sie durch Umdrehungen veranschaulichen, die miteinander verbunden sind, wie in der folgenden Abbildung.
Man erhält dann eine Spirale, die sich um den Reifen schlängelt.
Der Torus dreht sich longitudinal um die Öffnung, in der bei einem Fahrrad etwa die Speichen angebracht werden. Diese Leere steht für das unwiederbringlich verlorene Objekt des Begehrens. Dieses Objekt wird in jedem Anspruch angezielt und verfehlt. Das Objekt des Begehrens kann beispielsweise ein orales Objekt sein, auch dann, wenn das, was beansprucht wird, beispielsweise ein Buch ist: „Da nahm ich das kleine Buch aus der Hand des Engels und aß es. In meinem Mund war es süß wie Honig. Als ich es aber gegessen hatte, wurde mein Magen bitter.“ (Offenbarung 10, Vers 10)8
Damit es Wiederholung gibt, genügen zwei Ansprüche. Um den Zusammenhang von Anspruchswiederholung und Begehren darzustellen, kann man sich darauf beschränken, auf dem Torus zwei spiralförmig miteinander verbundene Anspruchskreise einzutragen.
Wenn man den einen dieser beiden Kreise zusammenpresst und den anderen auseinanderzerrt, ergibt sich das obenstehende Bild. Es zeigt eine Innenacht. Der zusammengepresste Kreis steht für den Anspruch, der auseinandergezogene für das Begehren, die Verbindung in Gestalt einer Innenacht für die Beziehung zwischen dem Anspruch, dem Begehren und dem Objekt des Begehrens.9 Die Innenacht steht also für die Wiederholung, für den Wiederholungszwang.10
Der zweite Ausgangspunkt für die Konstruktion der Innenacht ist die Kreuzhaube.11 Vgl. hierzu auf dieser Website den Artikel k.
Innenacht bei Poincaré
In einem Brief von Henri Poincaré an Lazarus Fuchs zu den sogenannten Fuchs’schen Funktionen aus dem Jahre 1880 findet man die folgende Zeichnung12:
Die Diagramme sollen zwei verschiedene Arten der Selbstüberschneidung veranschaulichen. Die Umrisslinie der linken Figur entspricht Lacans Innenacht.
Hat er sich durch diese Darstellung inspirieren lassen? Immerhin bezieht er sich in den Seminaren zwei Mal auf die Fuchs’schen Funktionen.13
Poincarés Auseinandersetzung mit den Fuchs’schen Funktionen war ein wichtiger Schritt für Poincarés Begründung der Analysis situs bzw. Topologie.14
Umdeutung der Innenacht in Seminar 11?
In Seminar 11 beschreibt Lacan die Innenacht anders als hier dargestellt, nicht als Schnitt, der Flächen erzeugt (das ausgestrichene Subjekt und das Objekt a), sondern selbst als Fläche. Hier heißt es:
„Ich habe an der Tafel den Versuch unternommen, die Topologie des Subjekts mit einer Sigle anzuschreiben, der ich seinerzeit den Namen der Innenacht gegeben habe. Sie erinnert in der Tat an die berühmten Eulerschen Kreise, nur handelt es sich, wie Sie wohl sehen, um eine Fläche, die Sie herstellen können. Der Rand derselben ist fortlaufend, der wird allerdings in einem Punkt zugedeckt von der Fläche, die zuerst entstanden ist. Die Zeichnung vermittelt, wenn man sie in einer bestimmten Perspektive sieht, den Eindruck, als ob sie zwei Felder darstellte, die sich überschneiden.“15
Mir ist nicht klar, wie der Widerspruch aufzulösen ist. Verwendet Lacan hier den Begriff „Innenacht“ ungenau, und zwar als Terminus für eine der beiden Flächen, die dadurch entstehen, dass man eine Kreuzhaube durch einen Innenacht-Schnitt in zwei Teile zerlegt, nämlich für die Fläche, die in der Zeichnung gerastert ist und die dem Objekt a entspricht?
Nachträglichkeit und doppelte Niederschrift
Mit der zweifache Drehung der Innenacht bezieht Lacan sich vor allem auf die Wiederholung, auf den Wiederholungszwang. Weitere Bezugspunkte sind aber vermutlich Freuds Begriffe der „Nachträglichkeit“ und der „doppelten Niederschrift“. Ich füge deshalb hierzu eine Passage ein, die ich meinem Kommentar zu Lacans Baltimore-Vortrag entnommen habe, „Über Struktur als Einmischen einer Andersheit als Voraussetzung eines Subjekts“.
Nachträglichkeit
Das unbewusste Subjekt äußert sich, Freud zufolge, in Symptomen; charakteristisch für Symptome ist der Wiederholungszwang.16 Dem Wiederholungszwang liegt ein Trauma zugrunde, und das Trauma beruht auf einer einzelnen Wiederholung. Diese einzelne Wiederholung ist in Freuds Terminologie die Beziehung der Nachträglichkeit.17
Bereits im Entwurf einer Psychologie (1895) hatte er das Trauma so erklärt: Es gibt ein erstes Ereignis, das keine sexuelle Erregung erweckt und nicht in einen Bedeutungszusammenhang eingeordnet werden kann; es gibt ein zweites Ereignis, durch das die Erinnerung an das erste Ereignis nachträglich seine Bedeutung erhält; dies hat zur Folge, dass die Erinnerung an das erste Ereignis geweckt und mit traumatisierender Erregung verbunden wird. Die zweite Szene verleiht der ersten ihren pathogenen Wert, die erste Szene wird nachträglich zum Trauma. Freud schreibt: „Dieser Fall ist nun typisch für die Verdrängung bei der Hysterie. Überall findet sich, daß eine Erinnerung verdrängt wird, die nur nachträglich zum Trauma geworden ist.“18 In der Analyse des sogenannten Wolfsmannes greift Freud auf das Konzept der Nachträglichkeit zurück. Im Alter von anderthalb Jahren erlebt das Kind eine erste Szene: Es beobachtet den Koitus der Eltern, ohne dass dies größere Folgen hätte (die „Urszene“); im Alter von vier Jahren bringt ein Traum die frühere Koitusbeobachtung zur nachträglichen Wirksamkeit und ruft ein Trauma hervor.19
Auf die Bedeutung der Nachträglichkeit hatte Lacan bereits im sogenannten Rom-Vortrag von 1953 verwiesen20, in Seminar 1 hatte er sich erneut darauf bezogen.21
In Lacans Frege-Deutung wiederholt die Zwei die Proto-Eins und erzeugt so rückwirkend die Eins. Damit will er letztlich sagen, die Eins wiederholt die Proto-Null und erzeugt so rückwirkend die Null. Entsprechend beruht der Wiederholungszwang darauf, dass ein unschädliches Ereignis (die Proto-Null) durch ein ähnliches Ereignis wiederholt wird (die Eins) und hierdurch die Erinnerung an das erste Ereignis nachträglich zu einem Trauma wird (zur Null).
Auf diesem Trauma beruht der Wiederholungszwang – eine einzige Wiederholung genügt, um die Wiederholung der Wiederholung in Gang zu setzen.
Durch die erste Wiederholung wird das Subjekt konstituiert; das Subjekt entspricht der Null.
Im Seminar über die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse heißt es:
„Zur Veranschaulichung dessen, was in der Zahl bereits impliziert ist, von der Präsenz des Anderen her, sollte es, meingott! ausreichen, dass ich Ihnen sage, daß die Zahlenfolge nur darstellbar ist, wenn man, mehr oder weniger kaschiert, die Null einführt. Nun, die Null ist die Präsenz des Subjekts, das auf dieser Ebene die Summe bildet. Aus der Dialektik von Subjekt und Anderem können wir die Null nicht herausziehen. Die scheinbare Neutralität dieses Feldes verdeckt die Präsenz des Begehrens als solchem.“22
Die Null symbolisiert das Subjekt – als Begehren, als Seismangel.
Zweifache Niederschrift
Die Nachträglichkeit des Traumas wird von Freud im Jahre 1896 in einem Brief an Wilhelm Fließ in eine Theorie der mehrfachen „Niederschrift“ von Erinnerungsspuren integriert: die Erinnerungsspuren erfahren eine „Umschrift“; das Gedächtnis ist „in verschiedenen Arten von Zeichen“ niedergelegt. Es gibt mindestens drei solcher „Niederschriften“: die erste Niederschrift ist das Wahrnehmungszeichen, die zweite Niederschrift ist das das Unbewusstsein, und die dritte Niederschrift das Bewusstsein.23
In der Traumdeutung (1900) weist Freud diese (von ihm nie veröffentlichte) Hypothese zurück:
„Wenn wir also sagen, ein unbewusster Gedanke strebe nach Übersetzung ins Vorbewußte, um dann zum Bewußtsein durchzudringen, so meinen wir nicht, dass ein zweiter, an seiner Stelle gelegener Gedanke gebildet werden soll, eine Umschrift gleichsam, neben welcher das Original fortbesteht; und auch vom Durchdringen zum Bewußtsein wollen wir jede Idee einer Ortsveränderung sorgfältig ablösen.“24 Das Bewusstwerden unbewusster Gedanken beruht nicht auf Umschrift und nicht auf Ortswechsel, sondern auf einer Verlegung der Energiebesetzung.
In Das Unbewusste (1915) greift Freud das Problem wieder auf:
„Wenn ein psychischer Akt (beschränken wir uns hier auf einen solchen von der Natur einer Vorstellung) die Umsetzung aus dem System Ubw in das System Bw (oder Vbw) erfährt, sollen wir annehmen, daß mit dieser Umsetzung eine neuerliche Fixierung, gleichsam eine zweite Niederschrift der betreffenden Vorstellung verbunden ist, die also auch in einer neuen psychischen Lokalität enthalten sein kann, und neben welcher die ursprüngliche unbewußte Niederschrift fortbesteht? Oder sollen wir eher glauben, daß die Umsetzung in einer Zustandsänderung besteht, welche sich an dem nämlichen Material und an derselben Lokalität vollzieht?“25 In diesem Aufsatz erklärt Freud, er halte beides für möglich.
Was geschieht mit einer unbewussten Vorstellung, wenn sie bewusst wird? Erste Möglichkeit: die Vorstellung wird ein zweites Mal niedergeschrieben, an einem anderen Ort des psychischen Apparats, d.h. im Bewusstsein oder im Vorbewussten (dies ist die Idee von 1896). Zweite Möglichkeit: die Vorstellung bleibt, wo sie ist, nur ihr Zustand wird verändert; dies ist die Version der Traumdeutung, die Zustandsveränderung besteht darin, dass eine Energiebesetzung verlegt oder entzogen wird.
Die „zweite Niederschrift“ ist mit „double inscription“ ins Französische übersetzt worden; durch Rückübersetzung wurde hieraus der Begriff der „doppelten Einschreibung“.
Das Problem der „zweiten Niederschrift“ war 1960 von Jean Laplanche und Serge Leclaire in einem Vortrag zu lösen versucht worden.26
In Die Wissenschaft und die Wahrheit (1965) hatte Lacan diesen Lösungsversuch kritisiert.27 In den Seminaren 12 und 13 entwickelt er seine alternative Auffassung von der zweiten Niederschrift; im Baltimore-Vortrag fasst er sie zusammen.
Lacans These zur zweifachen Niederschrift lautet: Die zweite Niederschrift erzeugt rückwirkend die erste.
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Anmerkungen
- Nasio, a.a.O.– Nasio behandelt in dieser Arbeit vor allem die Kreuzhaube. Das Buch ist die überarbeitete Fassung von: Ders.: Topologerie. Introduction à la topologie psychanalytique. In: Ders.: Les yeux de Laure. Le concept d’objet a dans la théorie de J. Lacan. Aubier, Paris 1987, S. 149–219. Von dieser ersten Fassung gibt es eine Teilübersetzung ins Englische: Ders.: Objet a and the cross-cap. In: Ellie Ragland, Dragan Milovanovic (Hg.): Lacan: Topologically speaking. Other Press, New York 2004, S. 98–116.
- Autor der Animation: LucasVB, Wikimedia Commons.
- Vgl. Lacans Kommentar in Seminar 7 zu Heideggers Gedanken über den Krug; Version Miller/Haas S. 148–152. Heideggers Krug findet man in dem Aufsatz Das Ding von 1951; in: Heidegger: Vorträge und Aufsätze. Neske, Pfullingen 1954, S. 157–180. Lacan spricht nicht wie Heidegger vom Krug, sondern von der vase, der Vase oder dem Gefäß; in der Übersetzung ist das nicht erkennbar, hier findet man Krug für vase.
- Der Torus wird von Lacan zuerst 1953 kurz erwähnt, im sogenannten Rom-Vortrag, der 1956 veröffentlicht wurde (J. L.: Funktion und Feld der Sprache und des Sprechens in der Psychoanalyse. In: Ders.: Schriften. Band I. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2016, S. 278–381, hier: S. 379). In Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62) wird er gründlich eingeführt, dort in der Sitzung vom 7. März 1962. Die Innenacht auf dem Torus hat ihren Erstauftritt in den Sitzungen vom 28. März und vom 11. April 1962.
- Die nebenstehende Zeichnung ist von der Website des Labbé-Verlags.
- Vgl. Jeanne Granon-Lafont: La topologie ordinaire de Jacques Lacan. Point Hors Ligne, Paris 1985, S. 85.
-
J. Lacan: Die Identifizierung, Seminar 9 von 1961/62, Sitzung vom 7. März 1962, meine Übersetzung, RN, nach Version Roussan des Seminars
- Auf diese Stelle bezieht sich Lacan in Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 350.
- Die letzten beiden Zeichnungen habe ich aus: Nasio, Introduction à la topologie de Lacan, a.a.O., S. 15 f.
- Vgl. etwa Seminar 14 von 1966/67, Die Logik des Phantasmas, Sitzung vom 15. Februar 1967.
- Die Kreuzhaube wird in der Sitzung vom 16. Mai 1962 des Identifizierungsseminars eingeführt, die Innenacht auf der Kreuzhaube wird erstmals am 6. Juni 1962 zum Thema.
-
Vgl. Die Fuchs’schen Funktionen im Briefwechsel zwischen Henri Poincaré und Lazarus Fuchs, Sommer 1880, zusammengestellt von Gabriele Dörflinger, Universitätsbibliothek Heidelberg 2012, im Internet hier
-
Vgl. Seminar 18, Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre, Sitzung vom 9. Juni 1971, Version Miller S. 157 (vgl. meine Übersetzung hier); Seminar 19, … oder schlimmer, Sitzung vom 14. Juni 1972, Version Miller S. 217.
-
Vgl. Klaus Volkert: Wie und warum wurde Poincaré zum Topologen? In: Philosophia scientiae, tome 2, no. 3, 1997, S. 73–102.
- Seminar 11, Sitzung vom 29. April 1964, Version Miller/Haas S.163. Vgl. in Seminar 11 zur Innenacht auch die Sitzung vom 24. Juni 1964, Version Miller/Haas S. 284–286.
- Zum Wiederholungszwang vgl. S. Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 213-272, vor allem Abschnitt III, S. 228-233.
- Vgl. den Artikel „Nachträglichkeit“. In: Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Vokabular der Psychoanalyse. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1972, S. 313-317.
- Vgl. Entwurf einer Psychologie, a.a.O., S. 356.
- Vgl. S. Freud: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (1918). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 8. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 125-232, hier: S. 156-165.
- Vgl. J. Lacan: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: Ders.: Schriften I. Hg. v. Norbert Haas. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 71-169, hier: S. 95.
- Seminar 1, Sitzung vom 19. Mai 1954, Version Miller/Hamacher, S. 244.
- Seminar 11, Sitzung vom 3. Juni 1964, meine Übersetzung nach Version Miller; Version Miller/Haas, S. 238.
- Vgl. S. Freud: Brief an Wilhelm Fließ vom 6. Dezember 1896. In: Ders.: Briefe an Wilhelm Fließ. Hg v. Jeffrey Moussaieff Masson. S. Fischer, Frankfurt am Main 1986, S. 217-226.
- Die Traumdeutung (1900). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 578.
- S. Freud: Das Unbewusste (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 118-173, hier: S. 132 f.
- L’inconscient, une étude psychanalytique. Der Vortrag wurde in zwei Fassungen veröffentlicht, eine erste Version in Les Temps modernes, 17. Jg. (1961), Nr. 183, S. 81-99, eine zweite, längere Fassung in: Henri Ey (Hg.): L’Inconscient. VIe Colloque de Bonneval. Desclée, De Brouwer, Paris 1966, S. 95-130.
- Vgl. Schriften II, hg. v. Norbert Haas, S. 243. Rheinberger übersetzt hier double inscription mit „doppelte Inschrift“.