Lacans Formeln
Orale und anale Kodierung des Liebesanspruchs
Gustav Mahler: Das irdische Leben (zwischen 1892 und 1898).
Gesungen von Christa Ludwig
Text aus der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808)
Lacan zufolge wird der unbewusste Liebesanspruch oral oder anal kodiert. Was ist damit gemeint?
Im Graphen des Begehrens stellt die obere Querlinie (die von „Genießen“ nach „Kastration“ führt) den unbewussten Liebesanspruch dar. Der Liebesanspruch ist die Forderung, von der Mutter oder dem Vater oder einem Geschwisterteil geliebt zu werden. Liebe ist ambivalent, der Liebesanspruch ist zugleich ein Todeswunsch. Beim Untergang des Ödipuskomplexes ist diese ambivalente Forderung verdrängt worden (vgl. diesen Blogartikel).
Der Schnittpunkt oben rechts ($◊D) repräsentiert den Code des Unbewussten, d..h. den Trieb, soweit er im Unbewussten durch Ansprüche repräsentiert ist, durch bestimmte Forderungen. Ein oraler Anspruch ist z..B. „Gib mir zu essen!“. Ein analer Anspruch ist etwa „Jetzt aber schnell aufs Töpfchen!“ (vgl. diesen Blogartikel).
Nimmt man beide Elemente zusammen, ergibt sich: Der Liebesanspruch wird in einem Triebvokabular artikuliert, er wird oral oder anal kodiert.
Orale Codierung des Liebesanspruchs
In dem Lied „Das irdische Leben“ aus der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn wird der orale Anspruch als Code für den Liebesanspruch in Szene gesetzt.
„Mutter, ach Mutter, es hungert mich!
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!“
„Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!
Morgen wollen wir ernten geschwind!“
Und als das Korn geerntet war,
rief das Kind noch immerdar:
„Mutter, ach Mutter, es hungert mich!
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!“
„Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!
Morgen wollen wir dreschen geschwind!“
Und als das Korn gedroschen war,
rief das Kind noch immerdar:
„Mutter, ach Mutter, es hungert mich!
Gib mir Brot, sonst sterbe ich!“
„Warte nur! Warte nur, mein liebes Kind!
Morgen wollen wir backen geschwind!“
Und als das Brot gebacken war,
lag das Kind auf der Totenbahr’!
„Gib mir Brot!“, das ist ein oraler Anspruch.
Aus dem Zusammenhang der Bedürfnisbefriedigung ist er herausgelöst. Mag sein, dass kein Brot da ist. Aber die Mutter hat genug zu essen, um die Zeit vom Ernten bis zum Backen zu überbrücken, da hätte es wohl auch für das Kind noch gereicht. Es geht ihm nicht darum, seinen Hunger zu stillen. Es ist auf das fixiert, was fehlt, auf das Brot. „In der Liebe gibt man, was man nicht hat“, sagt Lacan. Wenn die Mutter dem Kind gäbe, was sie nicht hat – Brot –, hätte es den Beweis dafür, dass sie es liebt. „Gib mir Brot!“ ist ein oral kodierter Liebesanspruch.
Der orale Anpruch des Kindes und damit der Liebesanspruch liefert das Kind dem guten Willen der Mutter aus. Beständig wiederholt sie ihr „Warte nur“, immer aufs Neue konfrontiert sie das Kind mit einem Zeitabstand, in Lacans Terminologie: mit einem Intervall und mit einem Signifikanten für das Intervall. Für das Kind ist dieser Wiederholungszwang ein Rätsel. Was will die Mutter? Welchen Rolle spielt es selbst in dem, was die Mutter will?
Auf diese Ungewissheit antwortet das Kind, indem es stirbt.
Das ist, wie gesagt, unrealistisch. Wir sind im Reich der Phantasie. Das Kind antwortet auf das Rätsel des Begehrens des Anderen damit, dass es den an die Mutter adressierten Liebesanspruch in eine Todesphantasie umwandelt. Es bringt, wie Lacan es formuliert, sein eigenes Schwinden an die Stelle, an der es den Mangel des Anderen erfuhr.1
Diese Phantasie ist eine Szene: auf der einen Seite das tote Kind, auf einer Bahre liegend, auf der anderen Seite das frisch gebackene Brot. Das Bild hat die Struktur des Phantasmas ($ ◊ a). Das Kind ist tot, ein verschwundenes Subjekt ($). Die Bahre hat einen Rand, sie repräsentiert den Schnitt (◊). Das Brot ist vom Kind abgetrennt, für immer unerreichbar; das Brot fungiert als orales Objekt a, als Objekt, das repräsentiert, was das Kind verloren hat. Das Kind bringt die beiden Arten des Fehlens – das Rätsel des Begehrens der Mutter und seinen eigenen Tod – dadurch zur Deckung, dass es dieses Objekt ins Spiel bringt: das auf immer verlorene Brot.
Das Kind auf der Bahre und das Brot, das für das Kind unerreichbar ist – das ist das Bild, das sich am Schluss der Mutter bietet. Damit nimmt sie den Platz des begehrenden Subjekts ein – das Begehren (d) stützt sich auf das Phantasma ($ ◊ a). Das Lied erzählt von der Verwandlung der Mutter, deren Begehren rätselhaft ist, in eine Mutter, deren Begehren durch diese Szene ein Objekt gefunden hat.
Anale Codierung des Liebesanspruchs
Andreas Altmann schildert in seiner Autobiographie, wie er als Kind, im Kampf um die Liebe seiner Mutter, seinen Körper einsetzte. Durch Nägelbeißen, Nasenbohren, Haarausreißen, immer bis zum Bluten, versuchte er, ihre Zuwendung zu gewinnen. Der Erfolg war bescheiden. Kaum waren die Wunden verheilt, wandte die Mutter sich wieder ihrem Lieblingsobjekt zu, und das war keineswegs er.
„Mein Körper holte noch einmal aus. Mit seiner letzten Trumpfkarte. Ein eher gefährliches Unternehmen, das in seiner Radikalität nur bewies, wie mich nach ihr und ihrer Liebe hungerte: Ich verweigerte den Stuhlgang. Spürte ich den Druck, hielt ich inne und presste die Pobacken zusammen. Bis zur nächsten Druckwelle. Die heftiger kam und heftigeren Gegendruck forderte. Selbst mitten im Unterricht, mitten beim Sport. ‚Andreas muss Scheiße verdrucken‘ war die bald gefundene Wendung meiner Klassenkameraden, wenn sie mich – mittendrin zur Salzsäule erstarrt – dastehen sahen.
Das kümmerte mich nicht. Was zählte, war die Anteilnahme meiner Mutter. Sie sollte mich erstarren und leiden sehen. Und sie sah mich, ganz unvermeidlich. Aber erst, als ich im Bett lag und mich nicht mehr rühren konnte. Jetzt hatte ich sie da, wo ich sie haben wollte. Nah, mit warmer Stimme, mit Fragen, die nur mich betrafen. Ich erzählte ihr, dass ich seit sieben Tagen nicht mehr auf dem Klo war. Und diese abwesende Frau kam plötzlich wieder in mein Leben, legte ihre Frauenhände auf meinen steinharten Bauch und bekam Angst, tatsächlich Angst. Und suchte nach einem Nachttopf, zündete den Gasboiler an, holte mich aus dem Bett und setzte mich auf den jetzt mit heißem Wasser gefüllten Pott. Die Wärme sollte meinen Unterleib aufweichen, ihn zur Herausgabe überreden.
Mutter blieb an meiner Seite. Stunden, vermute ich. Sie saß neben mir und wartete. Und irgendwann – ich presste und wimmerte – kam die Belohnung. Als ich erschöpft zur Seite kippte, sah ich den Topf ebenfalls kippen, und sah die Wurst, stahlhart und von feinen Blutrinnsalen überzogen, auf den Teppich des Badezimmers schwemmen. Und Mutter hielt zu mir, wiegte mich, ließ die Blutwurst liegen, bis ich ausgeheult hatte.“2
Der Liebesanspruch ist die Forderung, dass der Andere für einen „da ist“, die Forderung nach Anwesenheit des Anderen vor dem Hintergrund seiner Abwesenheit. Um die Anwesenheit der Mutter zu erzwingen, bringt das Kind den Analtrieb ins Spiel: heldenhaft hält es den Kot zurück. Mit Erfolg. Durch die Kotverhaltung kommt die „abwesende Frau“ wieder in sein Leben. Sie „blieb an meiner Seite“, wie er schreibt. Allerdings nur für einen Moment.
Die Ausstoßung des Kots wird vom Sohn verhindert, um auf diese Weise dem Anderen den analen Anspruch abzunötigen, der Mutter die Forderung, das Exkrement herzugeben.3
Es geht ihm nicht um den gewöhnlichen Anspruch, nicht um die habitualisierte Erwartung an das Kind, rechtzeitig aufs Klo zu gehen. Nicht einfach ihre Forderung will er, sondern ihre angstvolle Forderung. Im analen Anspruch, den die Mutter an ihn richtet, soll eine Erwartung mitschwingen, die von Angst erfüllt ist. Der Liebesanspruch zielt, über die Anwesenheit der Mutter hinaus, auf ihr Begehren. Ihr Begehren zeigt sich in ihrer Angst, die Beziehung ist sadomasochistisch getönt.
Der Vorgang ist sexualisiert, er geht einher mit der Verbindung zweier Körper. Die Darmentleerung beginnt damit, dass die Mutter dem Sohn die Hände auf den Bauch legt, und sie endet damit, dass sie ihn wiegt.
Als das Exkrement endlich zum Vorschein kommt, ist das eine „Belohnung“, ein Geschenk des Sohnes an die Mutter. Die Hergabe des Kots begründet die Ordnung der Geschenks, das hat Freud entdeckt.4
Die Anwesenheit der Mutter – und damit ihre mögliche Abwesenheit – wird vom Kind beantwortet mit der Ablieferung eines Objekts. Wenn die Mutter abwesend ist, wird das Objekt einbehalten, so dass es in der Abwesenheit verharrt; wenn sie anwesend ist, wird es hinausgepresst und abgetrennt, so dass es in die Anwesenheit kommt.
In Altmanns Geschichte geht es, wie im Irdischen Leben, um ein Warten. Dort richtet das Kind einen Anspruch an die Mutter und muss warten. Bei Altmann wendet sich die Mutter mit einem Anspruch an das Kind, und auch sie muss, einige Stunden lang, beunruhigt warten.
Die Szenen, in denen die beiden Erzählungen kulminieren, sind verblüffend ähnlich. Das Lied vom irdischen Leben endet mit einem Arrangement aus liegendem Kind, Bahre und frischem Brot, alles unter dem Blick der Mutter. Altmann evoziert ein Ensemble aus liegendem Kind, Topf und frischem Kot, auch hier: unter dem Blick der Mutter. Beide Mal geht es darum, durch Darbietung einer bestimmten Szene eine Mutter, deren Begehren rätselhaft ist, in eine Mutter zu verwandeln, deren Begehren im Kind sein Ziel gefunden hat.
Die „Blutwurst“ bleibt liegen, auf dem Teppich des Badezimmers. Die Besonderheit des Begehrens, von dem Altmann berichtet, besteht darin, dass es in einem analen Objekt symbolisiert wird, das nicht weggeschafft wird. Der Topf ist umgestürzt, das sorgt dafür, dass die Immobilität des Darminhalts, die das Kind zuvor erzwungen hatte, sich wiederholt.
Altmanns Darstellung dreht sich übrigens nicht nur um das anale Objekt, sondern auch um den Phallus und um den Schautrieb. Die Mutter sollte ihn „erstarren und leiden sehen“. Diese Position heißt bei Lacan „der Phallus sein“, das Objekt des Begehrens der Mutter sein, der imaginäre Phallus sein; dies ist für Lacan die grundlegende neurotische Position. Das Begehren der Mutter soll die Form des Mit-Leidens annehmen, wie in der Hypochondrie. Das Objekt des Begehrens der Mutter wird vom Kind als erigierter Penis imaginiert, darauf verweist die Rede vom „erstarren“. Das Kind setzt seinen Körper mit dem Organ gleich. Um den Blick der Mutter auf sich zu ziehen, exhibiert es seine Ganzkörpererektion.
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Anmerkungen
- Vgl. Seminar 11, Sitzung vom 27. Mai 1965; Version Miller/Haas, S. 225.
- Andreas Altmann: Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend. Piper, München u.a. 2011, S. 14 f.
- Vgl. zum Folgenden Lacans Bemerkungen über analem Anspruch und anales Begehren in Seminar 8, Sitzung vom 15. März 1961; Version Miller/Gondek, S. 255–259.
- Vgl. S. Freud: Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik (1917). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 123–132.