Lacans Schemata
Die Struktur des Masochismus am Beispiel des Films Secretary
Lee Holloway (Maggie Gyllenhaal) verharrt mit den Händen auf dem Schreibtisch
Secretary (USA 2002), Drehbuch: Erin Cressida Wilson, Regie: Steven Shainberg
Copyright: Slough Pond, TwoPoundBag Productions, double A Films
Der Film Secretary (USA 2002) ist eine sadomasochistische Liebeskomödie. Was sieht man, wenn man die Handlung mithilfe des Schemas des Masochismus beobachtet, das Lacan in Kant mit Sade vorgestellt hat?1
In Kant mit Sade trägt das Diagramm des Masochismus die Bezeichnung „Schema 2“. Eine Erläuterung findet man in diesem Blog hier, eine überarbeitete Fassung der Übersetzung von Kant mit Sade hier.
Im Schema steht die linke Seite (mit a und $) für das Subjekt, also für den Masochisten oder die Masochistin, die rechte Seite (mit V und S) für den Anderen des Masochisten, für seine Partner (falls man das Wort hier verwenden kann), etwa für seinen Herrn oder seine Herrinnen. Im folgenden Diagramm habe ich die linke Seite deshalb mit „Subjekt“ überschrieben, die rechte mit „Anderer“.
Die Handlung
Lee Holloway (gespielt von Maggie Gyllenhaal), eine junge unsichere Frau, die bei ihren Eltern wohnt, erleidet beim „Ritzen“ einen Unfall, besucht, als sie aus der Klinik kommt, einen Schreibmaschinenkurs und tritt dann ihren ersten Job an: Sie wird Schreibkraft bei dem Rechtsanwalt Edward Grey (James Spader).
Von seinem autoritären Auftreten ist sie fasziniert, und auf seinen Befehl hin hört sie auf, sich zu verletzen. Ihr devotes Verhalten ruft seine Begierden wach, und die beiden beginnen eine einvernehmliche sadomasochistische Affäre. Auf sein Kommando hin beugt sie sich über seinen Schreibtisch und er schlägt sie auf den Hintern. Die Beziehung ist für beide sexuell befriedigend.
Holloway ist mit ihren masochistischen Neigungen einverstanden und entwickelt eine leidenschaftliche Liebe zu Grey. Dieser jedoch findet seine sadistischen Gelüste abstoßend und kehrt zu einem reinen Arbeitsverhältnis zurück. Als es ihr gelingt, ihn zur Wiederaufnahme der sexuellen Beziehung zu provozieren, entlässt er sie.
Von einem Schulfreund ohne sadistische Neigungen bekommt Holloway einen Heiratsantrag; sie willigt ein. Kurz vor dem Hochzeitstermin läuft sie ihrem Verlobten davon und erklärt Grey, dass sie ihn liebe. Er antwortet, er glaube ihr nicht, und unterwirft sie einer Bewährungsprobe. Sie soll an seinem Schreibtisch sitzen bleiben, mit den Handflächen auf der Tischplatte und den Füßen auf dem Boden – solange, bis er zurückkommt.2 Sie erstarrt in der befohlenen Position und verharrt in dieser Haltung tagelang. Ihr Verhalten wird zu einem öffentlichen Ereignis, Verwandte und Bekannte reden auf sie ein, einige ablehnend, die meisten unterstützend; sogar das Fernsehen rückt an.
Von ferne beobachtet Grey das Geschehen und ist von Holloway beeindruckt. Als er zu ihr zurückkommt – sie ist nahezu bewusstlos –, gibt er ihr zu trinken, trägt sie in seine Wohnung und badet sie. Die beiden heiraten und bemühen sich, ihre sadomasochistischen Neigungen in ihren Alltag zu integrieren.
*
Der Film beruht auf der Kurzgeschichte Secretary von Mary Gaitskill, die 1988 veröffentlicht wurde.3 Die Filmadaption stammt von Erin Cressida Wilson (Drehbuch) und Steven Shainberg (Regie). Das Screenplay ist als Buch veröffentlicht worden, siehe hier4; eine Transkription der Dialoge findet man hier.
Auch in der Kurzgeschichte von Mary Gaitskill geht es um eine junge Frau, die, als Sekretärin, bei einem Rechtsanwalt ihren ersten Job antritt, für Tippfehler von ihm auf den Hintern geschlagen wird und die das sexuell erregt. Anders als im Film verliebt sie sich nicht in ihren Arbeitgeber; sie ist es, die die Stelle aufgibt. Die erste Hälfte des Films entspricht in etwa der Kurzgeschichte, die zweite ist eine Erfindung der Drehbuchautorin, die im ersten Teil auch das Thema der Selbstverletzung hinzufügt.5
Lacans Schema des Masochismus
a: das Objekt a
Der Anfang der Pfeillinie, der Platz oben links auf der Seite des Subjekts, ist mit einem kleinen a bezeichnet. Der Buchstabe a symbolisiert das Objekt a, Lacans Version dessen, was in der Psychoanalyse sonst als „Partialobjekt“ bezeichnet wird, etwa Brust oder Kot, ein Objekt, auf das sich die Partialtriebe beziehen. Dieses Objekt ist, in Lacans Perspektive, die phantasmatische Symbolisierung dessen, was das Subjekt von sich opfern muss, wenn es der Sprache und der symbolischen Ordnung unterworfen wird. Damit das Objekt diese Funktion erfüllen kann, muss es etwas sein, wovon das Subjekt sich getrennt hat, und es muss sich auf ein Fehlen beziehen.6 Das masochistische Subjekt identifiziert sich mit dem Objekt a.
Holloway ist devot, sie macht sich zum Instrument für Greys Forderungen. In diesem Sinne ist sie für Grey ein Objekt, das ist offensichtlich. Aber welche Art von Objekt?
Die Annoncen, auf die hin sie sich bewirbt, findet sie in einem Abfalleimer.
(Die Bilder lassen sich hier und im Folgenden durch Anklicken vergrößern.)
Ihre zweite dienstliche Handlung – nach dem Kaffeekochen – wird folgendermaßen eingeleitet.
Grey: „Ich glaube, ich habe versehentlich meine Unterlagen vom Feldman-Fall weggeworfen. Vielleicht könnten Sie … “
Holloway (eifrig): „Den ganzen Müll durchsuchen?“
Grey: „Ja, Lee, danke.“
Holloway geht. Grey wirft die Donuts, die sie ihm mitgebracht hat, in den Papierkorb und tritt ans Fenster. Fasziniert beobachtet er, wie sie auf dem Hof in einen Müllcontainer klettert und ihn durchwühlt.
Grey wirft Holloways Gabe in den Papierkorb: ein Bild für die Trennung, die Separation, durch die das Objekt a entsteht. Holloway fällt in den Container: sie identifiziert sich mit dem Abfall.
Bereits während des Einstellungsgesprächs soll sie Kaffee kochen. Sie übergießt sich versehentlich mit Wasser, ihre Bluse wird nass.
Am Schluss der Handlung sitzt sie, auf Greys Befehl hin, mehrere Tage lang wie angeschweißt an seinem Schreibtisch. Das heißt: sie geht nicht aufs Klo. Man hört und man sieht, wie ihr Harn auf den Fußboden rinnt. Das Objekt, mit dem sie sich während der Bewährungsprobe identifiziert, ist der Urin. Das entspricht Freuds Behauptung über den Zusammenhang zwischen Urin und Ehrgeiz.7 Holloway versucht, Grey etwas zu beweisen, und der Beweis besteht darin, dass sie eine Art Stillhalterekord aufstellt.
Bei den sexuellen Begegnungen mit Grey muss sie, während er sie schlägt, aus einem Brief vorlesen, den er ihr diktiert hat und der seine Korrekturkringel trägt. In dieser Situation reduziert sich ihr Sprechen darauf, dem, was er geschrieben hat, eine Stimme zu verleihen. Diese Stimme ist vom Autor des Briefes, von Grey, getrennt. Der sadomasochistische Trieb, sagt Lacan, ist der Invokationstrieb, der Stimmtrieb.8 In Kant mit Sade vergleicht er die Stimme als Objekt a mit der Funktion eines Herolds9; während der Schlageszenen macht Holloway sich zu Greys Heroldin.10
Im Alltag identifiziert Holloway sich mit dem analen Objekt, während einer Bewährungsprobe mit dem urethralen Objekt und bei der Inszenierung des sexuellen Phantasmas mit der Stimme als Objekt a.
Unter diesen Objekten hat die Stimme das größte Gewicht. Nicht nur, weil sie beim sexuellen Akt ins Spiel gebracht wird, sondern auch deshalb, weil die Stimme im Verlauf der Filmhandlung erzogen wird.
Grey bestellt Holloway zu sich ins Büro.
Grey: „Okay. Das Telefon klingelt.“
Holloway schaut sich irritiert um: kein Telefon ist zu hören.
Grey: „Gehn Sie dran!“
Holloway: „Tut mir leid …“
Grey: „Brrring! Brrring!“
Holloway versteht. Sie geht zu dem noch immer nicht klingelnden Telefon, nimmt den Hörer ab und sagt: „Hallo, hier ist die Anwaltskanzlei von …“
Grey unterbricht sie: „Hören Sie zu. Sie sind ein großes Mädchen. Ich schätze mal, da verbirgt sich eine kräftigere Stimme in dieser winzigen Kehle.“
Holloway: „Winzig?“
Grey: „Miss Holloway, als ich Sie einstellte, haben Sie mir gesagt, dass Sie gewohnt sind, ans Telefon zu gehen.“
Die Übung wird wiederholt, Holloway spricht lauter.
Grey klatscht heftig in die Hände und sagt: „Sehn Sie, sehn Sie, sehn Sie, das nenn ich Mumm an den Tag legen. Ich hab doch kein Bestattungsunternehmen.“
Holloway, verlegen lächelnd: „Nein.“
Holloways Stimme soll den Tod dementieren. Es ist eine von ihrem Herrn geschulte Stimme, her master’s voice.
Das Objekt a wird bei der Annäherung an das Reale gebildet, sagt Lacan. Wenn das Subjekt damit konfrontiert ist, dass es im Symbolischen nicht repräsentiert ist (wenn es sich also dem Realen annähert), verstümmelt es ersatzweise sich selbst und findet dadurch einen Repräsentanten; durch diese Separation entsteht das Objekt a.11 Im Film wird das prägnant in Szene gesetzt. Nachdem Holloway von Grey zum ersten Mal wegen ihrer Schreibfehler heruntergeputzt worden ist, schneidet sie, wieder allein, ein Stück Stoff aus ihrem Rocksaum und schreibt dazu einen Brief:
„Ein Stück von mir.
Ein kleines Opfer,
Für E. Edward Grey.”
Dann vernichtet sie den Brief.
V: der Wille zum Genießen
Im Schema führt der Pfeil vom Buchstaben klein a auf der Seite des Subjekts, links oben, hin zum Buchstaben groß V auf der Seite des Anderen, rechts oben. V steht für volonté; gemeint ist der volonté de jouissance, der Wille zur Lust, der Wille zum Genießen.12 Das Menschenwesen wird, Lacan zufolge, dadurch zum Subjekt, dass es vom Anderen begehrt werden will – das Begehren ist das Begehren des Anderen. Im Schema steht die obere horizontale Linie, die vom Subjekt zum Anderen führt, für diese Beziehung. Im Masochismus hat das begehrte Begehren des Anderen die Form des Willens zum Genießen.
Wenn Grey mit Holloway spricht, gibt er ihr Anweisungen. Dabei geht es zunächst um Aufträge, wie ein Arbeitgeber sie üblicherweise seinen Angestellten erteilt:
„Schreiben Sie diesen Brief und schicken Sie vier Kopien an O’Malley & Barrett.”
In Lacans Terminologie ist eine Äußerung dieser Art eine demande, eine Forderung, ein Anspruch.
Holloway befolgt Greys Anweisungen umstandslos und ohne Mucks. Sie ist unterwürfig, wie Greys frühere Freundin über sie sagt; mit Lacan: sie begehrt den Anspruch. Holloway befolgt nicht einzelne von Greys Anweisungen, während sie andere in Frage stellt oder sich ihnen entzieht. Mit Leidenschaft befolgt sie alle seine Anweisungen. Seine Forderungen sind für sie das Gesetz.
Im Verlauf der Handlung werden Greys Forderungen aggressiver. Briefe, die sie geschrieben hat, knallt er auf ihre Schreibmaschine und macht Holloway zur Schnecke. Er übt pädagogischen Zwang aus und zeigt seine Aggressivität; aber von da bis zu seinem sexuellen Begehren ist noch ein weiter Schritt.
Allmählich wird der Abstand geringer. Das beginnt damit, dass er ihr Vorhaltungen macht, die sich auf ihren Körper beziehen.
Grey: „Lee, für jemanden, der meine Kanzlei betritt, sind Sie die sichtbare Repräsentation meiner Anwaltstätigkeit, und die Art, wie Sie sich kleiden, ist abstoßend.“
Holloway: „Äh, tut mir leid.“
Grey: „Sie hämmern ständig mit den Füßen auf den Boden und fummeln an Ihren Haaren. Entweder tragen Sie ab sofort ein Haarnetz, oder das mit dem Fummeln hört auf. Und noch etwas, kriegen Sie eigentlich mit, dass Sie dauernd schniefen?“
Holloway: „Ich, was, ich schniefe?“
Grey: „Und was machen Sie mit Ihrer Zunge, während Sie tippen?“
Holloway: „Tut mir leid, das mit dem Schniefen ist mir nicht aufgefallen.“
Grey: „Tja, Sie tun’s.“
Mit dieser Kritik rückt er ihr auf den Leib, aber es wäre unangemessen, von sexueller Belästigung zu sprechen.
Das ändert sich in der folgenden Sequenz. Grey sagt zu Holloway:
„Kommen Sie in mein Büro und bringen Sie den Brief mit.– Legen Sie den Brief auf meinen Schreibtisch.“
Das sind noch gewöhnliche Aufträge. Das ändert sich bald.
Grey: „Sie beugen sich jetzt über den Schreibtisch, sodass Sie direkt auf den Brief sehen können. Gehen Sie mit dem Gesicht ganz dicht heran und lesen Sie laut vor.“
Holloway: „Ehm, ich verstehe nicht ganz.“
Grey: „Da gibt es nichts zu verstehen. Stützen Sie die Ellenbogen auf den Tisch. Beugen Sie sich vor. Gehen Sie ganz dicht an den Brief heran und lesen Sie ihn laut vor.“
Irritiert und fasziniert befolgt sie seine Befehle, und er fängt an, sie mit der Hand auf das Gesäß zu schlagen.
Wenn Grey zu Holloway sagt „Sie beugen sich jetzt über meinen Schreibtisch …“ fällt sein artikulierter Wille mit seinem sexuellen Begehren zusammen und schließlich mit seiner Lust, seiner jouissance. Dieser Wille zum Genießen ist ein pädagogisch-moralischer Zwang, eine Strafe für Schreibfehler.13
Genau das ist es, was Holloway erregt. Ihr Begehren zielt, wie das eines jeden, darauf ab, dass sich das Begehren des Anderen auf sie richtet. Diese Beziehung unterliegt in ihrem Fall einer speziellen Bedingung. Der von Grey symbolisch artikulierte Wille muss mit seiner Lustbefriedigung eins sein. Lacan nennt die Identität von Wille und Lust volonté de jouissance, „Wille zur Lust“ oder „Wille zum Genießen“. Das Begehren von Holloway richtet sich darauf, dass Greys Begehren die Form des Willens zum Genießen annimmt, dass seine Befehle und seine Lust sich verbinden.
Nur vorübergehend gelingt es Grey, den Anderen ohne Riss zu verkörpern, die Einheit von Gesetz und Triebbefriedigung. Seine sadistischen Triebregungen sind ihm peinlich, sie widersprechen seinem Selbstbild, in Lacans Terminologie: seinem Ichideal und seinem Idealich. Grey zeigt ein dominantes Verhalten, aber er ist keineswegs in der Position des allmächtigen Anderen. Letztlich ist er hilflos. Als seine frühere Freundin ihn im Büro sprechen will, versteckt er sich im Wandschrank. Der Wille zum Genießen ist, wie Lacan sagt, ohnmächtig.
Die treibende Kraft der Beziehung ist Holloway; von der Position des Exkrement- und Stimm-Objekts aus versucht sie, Grey in die Position zu bringen, den Willen zur Lust zu verkörpern. Im Schema wird diese Antriebsfunktion durch den Pfeil dargestellt, der von a nach V verläuft.
Grey bietet Holloway das Gegenbild zu ihrem Vater. Ihr Vater, ein Kaufhausangestellter, verehrt sie; zu Beginn der Handlung wird er wegen Alkoholismus entlassen. Lee belauscht den folgenden Dialog zwischen ihren Eltern:
Vater zur Mutter: „Du redest mit mir wie mit einem Kind! Aber ich bin kein Kind! Meinst du, ich weiß nicht, was ich tue?“
Mutter: „Du benimmst dich wie ein Kind! Du benimmst dich nicht wie ein Mann! Die haben dich gefeuert!“
Lee Holloways Perversion ist eine père-version, wie Lacan manchmal sagt, eine Wendung zum Vater; in Freudscher Terminologie: ihr Masochismus beruht auf dem Ödipuskomplex.14 Als sie, um Grey ihre Liebe zu beweisen, tagelang am Schreibtisch erstarrt, erscheint ihr Vater und erteilt ihr seinen Segen:
Vater zu Lee: „Du bist Gottes heiliges Geschenk der Liebe. Du stammst von mir ab, aber du bist nicht ich. Deine Seele und dein Leib gehören dir, und du kannst damit verfahren, wie immer es dir beliebt.“
Lee (selig lächelnd): „Danke, Daddy.“
In derselben Szene, Lee am Schreibtisch, erklärt ihr jemand die masochistischen Züge mancher Mönchsorden. Durch Rhetorik und Inhalt wird angedeutet, dass der Sprecher ein katholischer Geistlicher ist.
„Weißt du Lee, all das hat eine lange Geschichte im Katholizismus. Die Mönche trugen früher Dornen an ihren Schläfen, und Nonnen nähten sie sich der Einfachheit halber gleich in die Kleidung. Du bist Teil einer großen Tradition. Wer behauptet denn, dass Liebe sanft und zärtlich sein muss?“
Holloway bekommt das Ja-Wort, nicht nur das von Grey, sondern auch den Segen des Vaters und den der Kirche. Letztlich unterwirft sie sich dem Willen eines grausamen Gottes.
$: das verschwindende Subjekt
Vom großen V auf der Seite des Anderen geht der Pfeil zurück zur Seite des Subjekts und dort, links unten, zum durchgestrichenen großen S, also zu $. „S“ meint sujet, Subjekt; der Schrägstrich / steht für den Signifikanten, die Sprache. Das Symbol $ meint im Schema des Masochismus: das hinter dem Signifikanten verschwindende Subjekt, das vom Signifikanten ausgestrichene Subjekt, das Subjekt, das von dem Signifikanten, der es repräsentiert (vom Signifikanten der Identifizierung), nicht wirklich repräsentiert wird und das insofern auf der Ebene der Signifikanten fehlt.15
Signifikanten werden in das Subjekt eingeschrieben: Das Kind unterwirft sich der Sprache und der symbolischen Ordnung und wird hierdurch zum Subjekt als etwas, was hinter den Signifikanten verschwindet, denn die Signifikanten sind die des Anderen. $ meint: auf der Ebene des unbewussten Diskurses hat das Subjekt keinen Repräsentanten (vgl. hierzu diesen Blogartikel). Im Masochismus als einer sexuellen Praktik kann das Verschwinden des Subjekts aus dem Diskurs manifest werden, etwa in der Weise, dass das Sprechen desjenigen, der die dominante Position einnimmt, die Bühne beherrscht und das Subjekt, das in der untergeordneten Position ist, über sich selbst nichts zu sagen hat.
Das masochistische Subjekt nimmt also zwei unterschiedliche Positionen ein, a und $. Es identifiziert sich mit einem Restobjekt, und es ist ein Wesen, das im Diskurs nicht repräsentiert ist. Das kann von ihm beispielsweise so beschrieben werden: „Ich bin für ihn Dreck“ (a) und „Er hört mir nicht zu“ ($).
Die Einschreibung der Signifikanten
Wenn Lee mit der Schwäche ihres Vaters konfrontiert wird, mit seinem Alkoholismus, greift sie zu einer kleinen Werkzeugtasche und ritzt sich mit einem der Instrumente.
Grey spricht sie darauf an:
Grey: “Warum schneiden Sie an sich rum, Lee?“
Holloway: „Keine Ahnung.“
Grey: „Vielleicht weil der Schmerz in Ihrem Inneren von Zeit zu Zeit herauskommen muss und Sie erst, wenn Sie ihn vor Augen haben, merken, dass Sie existieren? Wenn Sie dann sehen, wie die Wunde heilt, schöpfen Sie Trost. Ist es so? “
Holloway: „Ich – so könnte man’s beschreiben.“
Grey unterscheidet hier drei Größen: den Schmerz im Inneren, die Wunde und die Heilung der Wunde. Die Heilung der Wunde hinterlässt häufig eine Narbe. In Lacans Begrifflichkeit geht es beim Schmerz im Inneren um das Genießen (jouissance), bei der Wunde um den Schnitt (coupure) und bei der Narbe um den einzelnen Zug (trait unaire).16 Zu ergänzen sind die Instrumente, mit denen sie sich schneidet: Rasierklingen, Messer, Scheren, Dartpfeile usw.; in psychoanalytischer Perspektive repräsentieren sie den Phallus.17
Die Schnitte, die Lee in ihrem Körper erzeugt, die offenen Wunden, sind im Film nicht zu sehen. Der Regisseur findet dafür eine Metapher. In einer Rückblende erzählt Holloway, wie sie einmal mit ihrer Mutter in der Küche stand, sich, während die Mutter ihr den Rücken zudrehte, zu ritzen versuchte und sich dabei versehentlich lebensgefährlich verletzte. In dieser Sequenz ist die Bildsprache die einer traumatischen Erinnerung (mit Lacan: der „Annäherung an das Reale“): unruhige Handkamera, Überbelichtung, körnige Bilder, neonartige Farben. In einer Detailaufnahme sieht man dann einen Tropfen Blut, der ins Spülwasser gefallen ist. Dieser Blutstropfen repräsentiert die Wunde, den Schnitt.
Die Schnitte verheilen, hinterlassen häufig aber Spuren; Holloways Körper ist von Narben übersät, von traits unaires, von Einzelstrichen.
In ihrer Kniekehle sieht man eine Folge von Pflastern, die auf eine Serie von Schnitten oder Narben verweist.
Holloway fügt sich die Schnitte und Narben selbst zu. Ihr Vater fällt aus, er ist nicht in der Lage, das Gesetz zur repräsentieren; im Ritzen findet sie einen Ersatz.
Im Verlauf der Filmhandlung wird das Ritual der Signifikanteneinschreibung durch Selbstverletzung zwei Transformationen unterzogen. Die erste Umwandlung besteht darin, dass sich das Ritzritual in ein Korrekturritual verwandelt. Wenn Holloway sich vertippt oder Regeln der Orthographie verletzt, wird das von Grey groß herausgestellt. Er kringelt ihre Schreibfehler mit einem roten Filzstift ein und hält ihr eine Standpauke.
An die Stelle ihres Körpers tritt das von ihr beschriebene Blatt Papier. Holloways Schneidwerkzeuge werden durch Greys Schreibwerkzeuge ersetzt, durch die phallischen Filzstifte, die auf seinem Schreibtisch prangen.
Das Substitut für die Narben, die sie sich selbst zufügt, sind die roten Linien, mit denen Grey ihre Briefe schmückt; sein Korrekturkringel realisiert die Funktion des einzelnen Zugs. Holloways isolierter Schmerz verwandelt sich in die affektive Beziehung zwischen ihr und Grey. Ihn erregt es, wenn er Rechtschreibfehler findet und zum Filzstift greifen kann; sie ist beschämt und verängstigt, wenn er sie zur Rede stellt – später, wenn sie allein ist, ist sie auch ein wenig empört.
Verglichen mit dem Ritzritual sind beim Korrekturritual die Seiten vertauscht. Anlass für die Einschreibung des „einzelnen Zugs“ ist beim Korrekturritual nicht mehr das Versagen des Anderen, des Vaters, sondern das Versagen des Subjekts – Holloways Verletzung einer Schreibregel. Der Agent der Einschreibung ist nicht mehr das Subjekt, also Holloway, sondern der Andere; Grey, der Rechtsanwalt, verkörpert das Schreibgesetz, er übernimmt die Funktionen des Schrift-Richters und des Schrift-Polizisten.
Die zweite Transformation der Signifikanteneinschreibung vollzieht sich durch die Umwandlung des Korrekturrituals in ein Schlagritual. Die Oberfläche, in die der Signifikant eingeschrieben wird, ist jetzt wieder Holloways Körper. An die Stelle ihrer Klingen und von Greys phallischen Stiften tritt Greys schlagender Arm. Die Funktion des einzelnen Zugs wird von den Flecken realisiert, die ihren Hintern zieren. Während der Schlageszenen sieht man vor allem Holloways Gesicht, wie es darauf wartet, was als nächstes passieren wird. Sie genießt nicht primär den Schmerz, sondern die Ungewissheit im Warten auf den nächsten Schlag, sie genießt das Begehren.
Zwischen dem Korrekturritual und dem Schlagritual gibt es eine direkte Verbindung. Holloway muss, während Grey ihr den Hintern versohlt, einen Brief vorlesen, der seine Korrekturkringel trägt.
Grey schlägt sie mit der Hand, nie mit einer Gerte oder einem ähnlichen phallischen Instrument; die Aktion des Schlagens ist im Film unauffällig, sie wird vom Regisseur nicht groß in Szene gesetzt. Das ist bemerkenswert, denn außerhalb der sexuellen Szenen wird Grey deutlich durch phallische Attribute charakterisiert. Dazu gehören, neben den roten Filzstiften, die Dartpfeile auf seinem Schreibtisch; sie stellen die Verbindung zu Holloways Werkzeugtäschchen her, in dem sich ebenfalls ein Dartpfeil befindet. Dazu gehört außerdem, überdeutlich, die Spritze, mit der Grey seine Orchideen künstlich befruchtet (wohl auch eine Anspielung auf den Ausdruck faire catleya für „faire l’amour“ in Prousts Un amour de Swann).
Die Drehbuchautorin erzählt, dass sie gezögert hatte, den Auftrag anzunehmen, Gaitskills Geschichte in ein Drehbuch umzuschreiben. Der Grund, aus dem sie schließlich zustimmte, war, so berichtet sie, ein sexuelles Erlebnis in der Nacht vor dem Gespräch mit dem Regisseur. Ihr Freund schlug sie beim Sex zum ersten Mal mit einer Reitgerte. Zwar habe sie im Bett immer die passive Position eingenommen, diese Erfahrung habe ihr jedoch einen neuen Horizont eröffnet.18
Der Regisseur stattet Grey sorgfältig mit einer Serie von phallischen Attributen aus, jedoch nicht in den Schlageszenen; die Drehbuchautorin hat, wie sie sagt, die Bedeutung der Peitsche oder Gerte offenbar am eigenen Leib kennengelernt, im Drehbuch finden diese Instrumente keinen Platz. Ich schließe daraus, dass das phallische Schlaginstrument in den sexuellen Szenen bewusst weggelassen wird, dass es zensiert wird. Immerhin gibt es in einer der komischsten Szenen des Films eine Anspielung auf das fehlende Gerät. Holloway kniet auf Greys Schreibtisch, der mit Stroh bedeckt ist, Grey legt ihr einen Sattel auf und schiebt ihr eine Möhre zwischen die Zähne (die Szene parodiert eine Fotografie von Helmut Newton, Saddle I). Der Sattel evoziert die Vorstellung der Gerte. Das ist die Absicht des Regisseurs: direkt vor dieser Szene sind peitschende Schläge zu hören.
Das Verschwinden des Subjekts beruht auf dem Verschwinden des Phallus, und die Suche nach dem Phallus ist immer die Hauptquelle des Komischen, wie Lacan sagt.19
Das Verschwinden des Subjekts
Wenn Grey seine Befehle an Holloway richtet, verschwindet sie auf der Ebene des Diskurses: sie kann ihm nichts über sich sagen.
Grey (erregt): „Schauen Sie sich das an. Sehen Sie das?“
Holloway: „Was?“
Grey: „Dieser Brief enthält drei Tippfehler. Bei einem handelt es sich, wie ich glaube, um einen Rechtschreibfehler.“
Holloway: „Oh, das tut mir leid.“
Grey: „Das ist auch nicht das erste Mal. Über die anderen habe ich hinweggesehen, da sie erst ein paar Wochen hier waren. Das muss sich auf jeden Fall ganz schnell ändern.“
Holloway: „Ich …“
Grey: „Wissen Sie, wie ich dadurch vor den Leuten dastehe, die diese Briefe erhalten?“
Holloway: „Es tut mir leid, ich bin …“
Grey: „Schreiben sie das nochmal, und dies Mal richtig, ja!“ (Er rauscht davon und knallt die Tür zu.)
Ihre Existenz im Diskurs reduziert sich auf ein „Was?“, auf eine Entschuldigungsformel und auf das „ich bin .…“. Zwar kann sie „ich“ sagen, und insofern gibt es im Diskurs einen Repräsentanten des Subjekts, das Personalpronomen der ersten Person Singular. Sie kann den Satz über das, was sie ist, jedoch nicht zu Ende bringen, und in diesem Sinne verschwindet sie auf der Ebene des manifesten Diskurses.
In Holloways Beziehung zu Grey geht es nicht nur darum, dass sie als ein Wesen abgeschafft wird, das eigene Wünsche artikulieren kann. Die Beziehung greift tiefer ein, sie zielt darauf ab, ihr Begehren ganz und gar zu vernichten. Auf Greys Vorhaltungen hin versucht sie, nicht mehr mit den Haaren spielen, nicht mehr zu schniefen, nicht mehr mit dem Fuß zu klopfen – sie bemüht sich, all die kleinen Ticks zu unterdrücken, in denen sich ihr Begehren manifestiert.
Das, worunter sie verschwindet, sind Greys Befehle. Grey gibt Holloway telefonisch Anweisungen, was und wie viel sie zu Hause essen darf:
„Ein Löffel von dem Kartoffelpüree, ein Stück Butter und vier Erbsen. Und soviel Eiskrem, wie Sie essen möchten.“
Selbst ihr Hunger wird ihr genommen und in die Ausführung eines Befehls umgewandelt.
Während der sexuellen Begegnungen muss sie sich vornüber beugen, er hingegen steht. Durch diesen Gegensatz wird sie zu derjenigen, die ihrer Würde beraubt ist, des aufrechten Gangs. Wenn er sie dann auf den Hintern schlägt, geht es nicht nur um den Schmerz. Das Schlagen dient vor allem dazu, sie zu demütigen, sie zu erniedrigen, ihr die Anerkennung zu entziehen, sie auf der symbolischen Ebene abzuschaffen.
Während der Liebesprobe, als sie regungslos am Schreibtisch verharrt, verwandelt sich ihr gesamter Körper in die Realisierung von Greys Befehl. Sie wird zu einem Zeichen und geht damit an den Rand der Selbstzerstörung. Eine Reporterin kommentiert das Geschehen so:
„Wir berichten heute vom dritten Tag des sogenannten Lee Holloway Hungerstreiks. Sie haben vermutlich gehört, dass es Mitbürger gibt, die sich fragen, ob Mrs. Holloway sogar bereit ist, sich zu Tode zu hungern.“
Holloway verschwindet als Subjekt, als Wesen, das eigene Wünsche artikulieren kann. Sie verschwindet unter Signifikanten, unter den Befehlen des Anderen. Und einige ihrer Mitbürger deuten den Masochismus wie Freud als Manifestation des Todestriebs. Der Film setzt in Szene, dass der Todestrieb nicht, wie Freud annimmt, eine physiologische Grundlage hat, sondern dass er auf das Sprechen zurückzuführen ist: dadurch, dass das Leben im Sprechen des Anderen entfremdet ist, ist es mit dem Tod verbunden.
Zu Beginn des Films wird das Verschwinden des Subjekts auch im Bild dargestellt, auf der imaginären Ebene. Als Holloway im Müllcontainer nach Greys Unterlagen sucht, plumpst sie in den Behälter; einen Moment lang verschwindet sie aus dem Blick von Grey und aus dem des Zuschauers.
Das Verschwinden des Subjekts unter dem Signifikanten ist ambivalent. Dadurch, dass Holloway sich bedingungslos Greys Befehlen unterwirft, gewinnt sie seine Anerkennung und wird darüber hinaus sogar zu einer lokalen Berühmtheit. Lacan betont diese Dialektik des Masochismus: Durch die Demütigung erfolgt die Anerkennung.20 Genau dadurch, dass Lee sich bemüht zu verschwinden, drückt sie den Dingen ihren Stempel auf.21 Eine Schwäche des Schemas besteht darin, dass es diese Seite des Masochismus nicht deutlich herausstellt; für die Handlung des Films ist sie jedoch entscheidend.
Lee Holloway nimmt also zwei unterschiedliche Positionen ein. Zum einen identifiziert sie sich mit dem Exkrementobjekt und dem Stimmobjekt (a). Zum anderen ist sie diejenige, deren Wünsche im Diskurs nicht repräsentiert sind ($) – bis zum Umschlag ins Gegenteil.
Dieser Umschlag erfolgt, als die Heirat mit dem Schulfreund Realität zu werden droht. Holloway antwortet darauf, indem sie zwei Forderungen an Grey richtet. Die erste Forderung hat die Gestalt einer Liebeserklärung, mit ihr erhebt sie einen Liebesanspruch: indirekt fordert sie von Grey, dass er sie liebt. Ihre zweite Forderung bezieht sich auf den Liebesakt:
Grey: „Put both your hands on the desk, palms down.”
Holloway: „I want to make love.”
S: das rohe Subjekt der Lust
Der Pfeil führt vom Symbol $ auf der Seite des Subjekts, links unten, zum Buchstaben groß S auf der Seite des Anderen, rechts unten. S steht auch hier für sujet, Subjekt. Dieses Subjekt ist nicht durchgestrichen; im Schema ist damit gemeint „das rohe Subjekt der Lust“, umgangssprachlich formuliert: der Lüstling.22 Die Lust, um die es geht, ist das „Schmerzgenießen“, die „Schmerzlust“, wie Freud sagt.23 Dieses Subjekt ist insofern „roh“, als es ungespalten ist, als es (in der Perspektive des masochistischen Subjekts) ungehemmt seine Lust befriedigt.
Im Schema ist das Schmerzgenießen auf der Seite des Anderen verortet. Damit ist gemeint: Der Masochist versucht, seinen Schmerz zu teilen, so wie ein Gut24; er schreibt dem Anderen zu, dass er das Leiden genießt, ohne Riss.
Das S steht am Ende der Pfeillinie, d.h. auf diesen Punkt läuft die gesamte Triebdynamik hinaus. In Freuds Begrifflichkeit: S ist das Triebziel.
Die Liebesprobe am Schreibtisch erinnert an die Kreuzigung Christi: Hände und Füße werden fixiert; Verwandte und Bekannte versammeln sich am Ort des Geschehens; der Vorgang ist ein öffentliches Ereignis; es gibt einen Streit um das Kleid25; aus dem Körper tritt Flüssigkeit aus26; nach drei Tagen kommt es zur „Auferstehung“. Auch die Kreuzigung gilt als Liebesbeweis, als Beweis für die Liebe Gottes.27 Wenn Grey Holloway danach in seinen Armen hält, ähnelt das einer Pietà; er trägt sie in seine Wohnung, eine Treppe hoch: nach oben. Das Bild ihres nackten Körpers mit dem hervortretenden Brustkorb und den Narben erinnert an Darstellungen des gekreuzigten Christus. Von einem der Besucher wird der Bezug zum Christentum ausdrücklich hergestellt.
Über das Sadesche Phantasma sagt Lacan:
„Das Leiden ist hier als eine Stase [Stauung] aufgefaßt, die bekräftigt, daß das, was ist, nicht in das Nichts zurückzukehren vermag, aus dem es hervorgegangen ist.
Es ist hier tatsächlich die Grenze, die das Christentum anstelle aller anderen Götter errichtet hat in Gestalt jenes exemplarischen Bildes, das insgeheim alle Fäden unseres Begehrens an sich zieht – das Bild der Kreuzigung.“28
Das Bild der Kreuzigung zieht alle Fäden des Begehrens an sich, auch die Fäden des Begehrens von Holloway und von Grey, auch die Fäden des Begehrens der Zuschauer.
Das Schema des Masochismus behauptet: Das Leiden des masochistischen Subjekts ist nicht das entscheidende Leiden. Das, worum es letztlich geht, ist das Leiden, das dem Anderen als rohem Subjekt der Lust zugeschrieben wird. Mit wem also versucht Lee Holloway, ihr Leid zu teilen?
Mit ihrer Mutter. Das ist für Lee nicht sichtbar, die Mutter ist für sie ein selbstverständlicher und manchmal lästiger Hintergrund. Für den Zuschauer ist leicht zu erkennen, dass die Mutter im Film die Position einnimmt, sich für ihre Tochter aufzuopfern.
Die Mutter ist Lee gegenüber bedingungslos loyal, entweder besorgt oder, meist, demonstrativ begeistert. Ihre Hauptbeschäftigung besteht darin, Lee von A nach B zu transportieren und auf sie zu warten.
Lee hat angefangen, für Grey zu arbeiten und entdeckt, auf dem Parkplatz neben der Kanzlei, ihre Mutter im Auto.
Lee: „Was willst du hier?“
Mutter (strahlend): „Naja, ich warte hier auf dich, Schätzchen.“
Lee: „Ich muss noch fünf Stunden arbeiten.“
Mutter (strahlend): „Ich weiß.“
Als Grey das mitbekommt, befiehlt er Lee, allein nach Hause zu laufen. Prompt marschiert sie zum Parkplatz, auf dem ihre Mutter im Auto auf sie wartet, und erklärt ihr, sie werde zu Fuß gehen.
Im gesamten Film zeigt Holloways Mutter ihrer Tochter gegenüber eine heroische Ergebenheit. Sie unterstützt sie in ihren Exzessen: als Lee am Schreibtisch festklebt, bringt sie ihr eine Mahlzeit.13 Die Mutter geht für Lee in dieser dienenden Funktion auf, sie fungiert für Lee als „rohes“, als ungespaltenes Subjekt. Die Mutter ist kein gemischter Charakter und sie wird karikaturhaft gespielt; dadurch ist sie auch für den Zuschauer ein Wesen, das sich darauf reduziert, ihrer Tochter zu dienen – auch für den Zuschauer ist die Mutter ein „rohes Subjekt“, ein Subjekt ohne Spaltung.
Im Schema des Masochismus hat das S seinen Platz am Ende des Z-förmigen Pfeils, das rohe Subjekt der Lust auf der Seite des Anderen ist das Triebziel. In der Filmhandlung spielt die Mutter nur eine Nebenrolle. Falls das Schema stimmt, muss es noch jemanden geben, mit dem Lee ihr Leid teilen will, jemanden, der für die Handlung wichtiger ist als die Mutter.
Als Lee Holloway während der Liebesprobe am Schreibtisch festklebt, gibt sie einer Zeitung ein Interview. Am nächsten Tag liest Grey, was Lee gesagt hat. Damit verlässt sie ein weiteres Mal die Position des verschwindenden Subjekts, des Subjekts, das auf der symbolischen Ebene nicht repräsentiert ist; ermöglicht wird das durch die Intervention eines Dritten. Grey liest, was Holloway der Journalistin über ihre Beziehung zu ihm zu sagen hat:
„Auf die eine oder andere Weise habe ich immer gelitten. Ich wusste nicht genau, warum. Aber ich weiß, dass ich jetzt nicht mehr solche Angst davor habe, zu leiden. Ich fühle mehr, als ich jemals gefühlt habe. Und ich habe jemanden gefunden, mit dem ich all das teilen kann. Mit dem ich spielen kann und den ich lieben kann, und das auf eine Art, die ich als richtig empfinde. Ich hoffe, er weiß, dass ich mitbekomme, dass auch er leidet. Und dass ich ihn lieben will.“
In Grey hat Holloway jemanden gefunden, mit dem sie ihr Leid teilen kann. Sie weiß, dass er leidet, und er und alle anderen sollen wissen, dass sie es weiß. Das Leiden, auf das die gesamte Triebdynamik hinausläuft, ist das Leiden, das sie Grey zuschreibt. Während sie am Schreibtisch festgeschweißt ist, schläft er bei sich zu Hause statt im Bett auf dem Fußboden: er teilt ihren Schmerz.
Worunter leidet Grey? Unter seinen sadistischen Neigungen. Er findet sich widerlich. Holloway und Grey bilden kein perfekt sich ergänzendes Paar, ihre Positionen sind nicht komplementär. Grey will die Position, in die sie ihn bringen will, nicht annehmen; er will nicht ihr perfekter sadistischer Herr sein. Mit Lacan: zwischen dem Schema des Sadismus und dem des Masochismus gibt es keine Achsensymmetrie, d.h. kein Spiegelverhältnis.29
Als Grey die sexuelle Beziehung zu Holloway aufgibt, versucht er, seine Gelüste durch sportliche Übungen unter Kontrolle zu bringen. Holloway sieht ihn auf einem Laufband in seiner Wohnung und bei Klimmzügen in der Kanzlei. Als sie zu ihm stürzt, um ihm ihre Liebe zu erklären, liegt er im Büro auf dem Boden und macht Sit-ups. Mit der sportlichen Selbstquälerei wird Greys Leiden am Trieb in ein sichtbares Element der Filmhandlung übersetzt; wenn Holloway ihn bei seinen Fittnessübungen beobachtet, sieht sie, ins Filmische übersetzt, wie er leidet.
Grey hat für Holloway also zwei Funktionen. Er verkörpert die Einheit von Gesetz und Begehren, von Wille und Genießen. Er ist außerdem derjenige, mit dem sie ihr Leiden teilen will. Dass Grey von seinen Neigungen gequält wird, macht ihn für sie unwiderstehlich.
Nun ist Grey aber kein „rohes Subjekt der Lust“, wie die Mutter in der Sicht von Lee und in der Darstellungsweise des Films. Grey ist ein gespaltenes Subjekt, in Lacans Formelsprache: nicht S, sondern $. Er versucht, seine sadistischen Neigungen zu unterdrücken, das ist ein wesentliches Element der Handlung. Kann man gleichwohl behaupten, Grey sei für Lee ein Wesen, das in seinem Leiden aufgeht, ohne Riss, ein „rohes Subjekt der Lust“?
Am Ende der Liebesprobe wird Lee aus ihrer Erstarrung am Schreibtisch dadurch erlöst, dass Grey ihr zu trinken gibt und sie badet. Diese Szenen verbinden den Masochismus mit dem Trauma der Entwöhnung. Sie deuten aber auch an, dass das Triebziel für Lee darin besteht, dass Grey sich für Holloway aufopfert und mit dieser Funktion ganz und gar einverstanden ist – wie ihre Mutter. Die père-version ist auch eine mère-version und die Mutter hat in diesem Phantasma die Funktion des rohen Subjekts der Lust.
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Anmerkungen
- Das Schema ist abgedruckt in Kant mit Sade, Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 149.
- In der deutschen Synchronfassung fehlt der Befehl, die Füße auf dem Boden zu lassen.
- Vgl. Mary Gaitskill: Secretary. In: Dies.: Bad Behavior. Poseidon Press, New York 1988, S. 131-147. Deutsch: Sekretärin. In: Dies.: Schlechter Umgang. Übersetzt von Nikolaus Hansen. Rowohlt, Reinbek 1989, S. 140-157.
- Erin Cressida Wilson: Secretary. A Screenplay. Soft Skull Press, Brooklyn, New York 2003.
- Vgl. die Hintergrundinformationen zur Entstehung des Drehbuchs in: Erin Cressida Wilson: Introduction. In: Dies.: Secretary. A Screenplay, a.a.O., S. iii-vii.
- Der Begriff des Objekts a in diesem Sinne wird von Lacan in Seminar 10 eingeführt.
- Vgl. S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 221, Fn.; ders.: Zur Gewinnung des Feuers (1932). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9, a.a.O., S. 445-454.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 166.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, S. 142.
- Die Stimme als Objekt a wird von Lacan in Seminar 10 eingeführt, in der Sitzung vom 22. Mai 1963.
- Vgl. Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 89.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 144, 150; Seminar 10, Version Miller, S. 176 f., 192.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, S. 150.
- „Père-version“ findet man in den von Lacan veröffentlichten Texten nur im Préface à «L’Éveil du printemps» (1974), in: Lacan: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 563. In den Seminaren verwendet er den Ausdruck zuerst in Seminar 22, Sitzung vom 21. Januar 1975.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, S. 145, 150.
- Den Begriff des Schnitts führt Lacan in Seminar 6 ein, Sitzung vom 20. Mai 1959; in dieser Sitzung verweist er auch darauf, dass der Schnitt eine Narbe, ein Stigma, eine Markierung zurücklässt.
Vom trait unaire spricht Lacan zuerst in Seminar 9, Sitzung vom 6. Dezember 1961. Er bezieht sich damit auf Freuds Rede vom „einzelnen Zug“ (Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Freud: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 100). Mit der Übersetzung als trait unaire deutet Lacan den Begriff als „einzelner Zug“ oder „Einzelstrich“. - Lacan entwickelt seinen Begriff des Phallus vor allem in den Seminaren 5, 6 und 8 sowie in dem Aufsatz Die Bedeutung des Phallus; vgl. hierzu diesen Blogartikel.
- Vgl. Wilson, Introduction, a.a.O.
- Vgl. Seminar 6, Version Miller, S. 275.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 292.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 150.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, S. 146, 150.
- „Schmerzgenießen“: Freud: Triebe und Triebschicksale (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer, Taschenbuch Verlag 2000,S. 92. „Schmerzlust“: Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 345 f.
- Vgl. Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 228.
- Holloway sitzt in einem Brautkleid am Schreibtisch und verunreinigt es durch ihren Urin. Das Kleid gehört der Mutter ihres Verlobten; diese erscheint während der Liebesprobe und verlangt von Holloway das Kleid gereinigt zurück.
In allen vier Evangelien wird erzählt, dass die Kriegsknechte die Kleider des verurteilten Jesus unter sich aufteilten. - Nach dem Johannesevangelium stach ein Kriegsknecht den gekreuzigten und bereits toten Jesus mit einem Speer in die Seite; Blut und Wasser traten aus (Johannes 19, 34).
- Vgl. „Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.“ Johannes 3, 16, Einheitsübersetzung
- Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 314.
- Vgl. Kant mit Sade, Schriften II, S. 149.