Franz Kaltenbeck
Von der „dunklen Autorität“ der Mutter
Vor einigen Monaten erschien die deutsche Übersetzung eines der besten Bücher über und mit Lacan:
Geneviève Morel: Das Gesetz der Mutter. Versuch über das sexuelle Sinthom. Übersetzt von Anna-Lisa Dieter. Turia und Kant, Wien 2017
Am 1. Dezember wird die Autorin in Hamburg ihr Buch vorstellen, im Thalia-Theater um 20 Uhr in der Theaterbar „Nachtasyl“. Mit Anna-Lisa Dieter, Harald Greil, Franz Kaltenbeck, Christine Ratka und Eckhard Rhode. Mehr hier.
Aus diesem Anlass schickte mir Franz Kaltenbeck den folgenden Vortrag, den er 2010 in Wien gehalten hat. RN
Von der „dunklen Autorität“ der Mutter
In seinem Brief 112 vom 6. Dezember 1896 schreibt Freud zum hysterischen Anfall: “alles ist auf den Anderen berechnet, meist aber auf jenen prähistorischen unvergesslichen Anderen, den kein späterer mehr erreicht”. Lacan weist in “Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens” auf die ersten Sprüche hin, die “dem realen anderen seine obskure Autorität verleihen”. Die Mutter kann den Platz dieses “unvergesslichen” oder “realen” Anderen einnehmen und das Leben ihres Kindes mit ihren aus unerfüllten Wünschen hervorgehenden Ansprüchen, aber auch mit rätselhaften Reden schwer belasten. Das wollen wir an klinischen, literarischen und kriminologischen Beispielen zeigen.
Eine Mutter ist nicht nur “gut” oder “schlecht”, wie Winnicott glaubte. Sie kann auch den Platz des “unvergesslichen” oder “realen” Anderen, wie Freud ihn nennt, einnehmen und damit eine “obskure Autorität” ( Lacan) ausüben. Von diesem Platz aus erlässt sie dann manchmal unkontrollierbare Gesetze, hält auch rätselhafte, mit ihren unerfüllten sexuellen Wünschen geladene Reden, die ihre Kind nicht versteht und die sein zukünftiges Leben belasten. Nach einer kurzen Erörterung von Geneviève Morels Ansatz in ihrem Buch Das Gesetz der Mutter soll das an einem klinischen, literarischen und einem kriminologischen Material geseigt werden.
In ihrem Buch « Sexuelle Zweideutigkeit » (Ambiguïté sexuelle, Paris 2000) erforschte Geneviève Morel die Wahl und die Bildung der Geschlechter (sexuation) in der klinischen Struktur der Psychosen, wo Menschen oft ihr anatomisches Geschlecht ablehnen, ja sogar aufgeben, wie im Transsexualismus. Es gibt für Geneviève Morel keine sexuelle Identität a priori. Sie kann sich deswegen jedoch nicht den Autoren der gender theory anschliessen, die aus der Sexualität eine kulturelle Konstruktion machen. Eine solche Theorie vernachlässigt einfach die persönliche Erfahrung des Subjekts bei der Wahl seines Geschlechts. Die tiefe Unsicherheit hinsichtich ihrer Geschlechtlichkeit, welche die meisten Menschen von ihrer frühen Kindheit an empfinden, hat komplexe Gründe. Einerseits fühlen sich die meisten Menschen offensichtlich entweder als Männer oder als Frauen. Sie können dabei hetero- oder homosexuell sein. Daneben gibt es auch Menschen, die mit ihren eigenen Geschlechtsmerkmalen überhaupt nicht einverstanden sind. Das Problem liegt nicht bei ihnen. Im Gegenteil, sie machen uns darauf aufmerksam, dass der Geschlechtsunterschied, also die Tatsache, dass man sich auf Seiten der Männer oder auf Seiten der Frauen als Subjekt einschreibt, gar nicht so selbstverständlich ist. Es gibt zwar einen logischen Apparat für diese Einschreibung. Lacan hat ihn geschaffen und Geneviève Morel erklärt ihn auf allgemeinverständliche Art in ihrem Werk. Andererseits muss man Mann oder Frau werden, ohne sich auf das entgegengesetzte Geschlecht beziehen zu können. Mann und Frau verhalten sich nicht symetrisch, komplementär, antagonistisch, in irgendeinem einem natürlichen Verhältnis oder einem sozialen Rollenspiel zueinander. Eine Frau oder ein Mann kann der Sklave seines Geschlechtspartners sein. Aber diese soziale Beziehung sagt noch lange nichts über die geschlechtliche Beziehung der beiden. Lacan drückte das mit seinem Aphorismus « Es gibt kein sexuelles Verhältnis » (Oder « Es gibt keine sexuelle Beziehung ») kurz und bündig aus. Freud glaubte noch, die aktive Rolle dem Mann und die passive der Frau zuschreiben zu können. Dennoch gab es seit je her viele hoch aktive Frauen. Man sprach vom « schwachen Geschlecht » und hätte doch beobachten können, wieviele Männer ausgesprochenen Schwächlinge sind. Nichts in der Sprache erlaubt uns, ein sexuelles Verhältnis gültig zu behaupten. Auch die Natur des Menschen liefert uns dafür keinen Behelf. Dieses Fehlen einer aussprechbaren oder aufschreibbaren Beziehung zwischen den Geschlechtern hat eine seltsame Folge : Selbst wenn ein Mensch mit einem anderen Menschen, Mann oder Frau, den Beischlaf vollziehen kann, ist es ihm nicht möglich, aus dieser Leistung abzuleiten, ein « richtiger Mann » oder eine « richtige Frau » zu sei, also ein richtiger « genitaler Chrakter », wie das die Post-Freudianer nannten. Das menschliche Liebesleben zieht eigentlich sehr wenig Genuss aus der blossen Genitalität. Ohne gewisse von Freud in das Reich der Perversionen verwiesenen Komponenten wäre das Sexualleben ganz öde. Keine Form des Beischlafs, wie orgastisch sie auch wäre, kann als Modell der geschlechtlichen Beziehung angeführt werden. Die traumatischen Wirkungen der Urszene kommen nicht davon, dass das Kind etwas ihm Verbotenes sieht, sondern weil es nicht weiss, was die Erwachsenen da vor seine Augen tun. Letzten Endes wissen sie es ja nicht einmal selber. Was sie kennen sind ihre Fantasmen. Aufgrund dieses Wissensdefizits ist die Begegnung mit der Sexualität traumatisch und kann daher zu Symptomen führen. Geneviève Morel geht von der Verwandtschaft zwischen der Funktion des Symptoms im Leben eines Menschen und jener Funktion, die es ihm ermöglicht, sich auf der Seite der Männer oder auf der Seite de Frauen einzuschreiben, aus. Lacan schrieb diese beiden Funktionen sehr ähnlich und nannte die Funktion, die zur Einschreibung in die Geschlechterdifferenz dient, die Funktion des Phallus. Geneviève Morel erklärt die Logik dieser Einschreibung und zeigt mit einem reichen klinischen Material, wie die Funktion des Symptoms vielen Psychotikern, denen die phallische Funktion verschlossen bleibt, dennoch eine existentielle Stütze geben kann.
Schon mit ihrem Werk « Die sexuelle Zweideutigkeit » betrat Geneviève Morel psychoanalytisches Neuland, was nach Lacans Tod (1981) kaum einem Autor gelingen wollte. Mit ihrem vor zwei Jahren erschienen Buch « Das Gesetz der Mutter. Versuch über das sexuelle Sinthome » (La loi de la mère. Essai sur le sinthome sexuel) geht sie einen grossen Schritt weiter. Es geht mir hier nicht darum, dieses Buch zu resümieren. Sie finden Rezensionen in unserer Zeitschrift Savoirs et clinique, N° 10, sollten aber vor allem das Buch selbst lesen ! Wir haben uns vielmehr entschieden, seine Ergebnisse an unseren analytischen Erfahrungen, aber auch an unserem eigenen Denken auf die Probe zu stellen. Ich will Ihnen aber doch zuerst sagen, was mir an Geneviève Morels Ergebnissen besonders gefallen hat.
Sie zieht aus der ziemlich verwickelten Struktur des Unbewussten und der Triebe einen Knoten, der den meisten Analytikern entgangen ist. Zuerst wertet sie den prä-ödipalen Lacan auf, der bekanntlich die Theorie der Objektbeziehung wieder ins Lot brachte, indem er sie in eine Theorie der Beziehung zum Objektmangel umwandelte. Den Autor der Seminare Die Objektbeziehung und Die Bildungen des Unbewussten der Jahre 1956 – 1958 bringt Geneviève Morel mit dem der späten Seminare, vor allem mit dem Seminar über Joyce (Le Sinthome, 1975-1976) in Verbindung, in welchem er seiner Theorie der weiblichen Sexualität um einen wichtigen Gedanken erweitert. In einer spasshaften, aber nichtsdestoweniger ernsten Auslegung der biblischen Schöpfungsgeschichte stellt er fest, dass dort nicht Gott die Wesen auf der Erde benennt, sondern Adam, also ein Mensch. Für die Schöpfung selbst war dem nicht so, wie uns das der Heilige Augustinus klar sagt. Gotte konnte mit keiner menschlichen Stimme befehlen : ‘Es werde Licht’. Die Benennung der irdischen Wesen überlässt er jedoch Adam. In welcher Sprache nannte dieser, was um ihn war ? Gewiss nicht in der Gottes, sondern in der Sprache Evas, (Evie), der Mutter der Lebewesen. Eva hatte jedoch in dieser ihrer Sprache der Schlange geantwortet, die sie dazu verführt hatte den Apfel vom Baum der Erkenntnis zu essen. Adam verwendet also die von der Erbsünde befleckte Sprache, als er die Wesen auf der Welt benannte. Während die göttliche Sprache kein materielles Substrat haben kann, da Gott mit ihr ja erst dieses Substrat und die ganze Welt schaffen muss, ist Evies Sprache sehr wohl materiell, sie enthält sogar die Spuren des Genusses beim Verzehren der verbotenen Frucht. Diese doppelte Sprache (jene Gottes und jene Evies) nennt Geneviève Morel « den Übergang des göttlichen Symbols zur Genesis des Symptoms » (S. 89). Adam regrediert in dieser Geschichte zum Sohn seiner Gefährtin, er kann ja nur ihre Sprache sprechen. Und das ist eben die Muttersprache. Diese ist nicht rein sondern symptomatisch. Der Name-des-Vaters, den Lacan im Jänner 1958 in seine Vatermetapher einträgt um damit Freuds Ödipuskomplex in ein neues Licht zu rücken wird nun, im Jahre 1975 selbst zum Symptom. Das Kind hört also nicht eine reine Sprache, aus der das symptomatische Geniessen herausgefiltert worden wäre. Die Psychoanalyse kann sich daher nicht darauf beschränken, die Pflegehandlungen, die Zärtlichkeit, die Liebe, das Begehren der Mutter zu untersuchen, sie darf keineswegs die Wirkungen ihres Sprechens vernachlässigen. Und wenn man spricht, begnügt man sich nicht damit zu kommunizieren. Für Geneviève Morel kann die Mutter nicht mehr als die stille Trägerin des mütterlichen Begehrens aufgefasst werden, die dem Kind lernt mit ihrem Fort und Da fertig zu werden, indem sie ihm zeigt, was sie sich eigentlich wünscht : den Phallus ihres Mannes. Die Mutter spricht und sie spricht manchmal krudes Zeug. Sie kümmert sich gar nicht immer darum, dass sie zu ihrem Kind spricht. Ihr Sprechen wird im Körper und im Geist ihres Kindes ein Echo finden. Das Echo der Triebe. Zwischen der Mutter und ihrem Kind werden nicht nur die Zeichen der Zärtlichkeit und die Handlungen der Pflege ausgetauscht. Geneviève Morel besteht darauf, dass in ihrer Begegnung zwei Welten aufeinander treffen : die des Zeitalters der Kindheit und die der weiblichen Sexualität. Die frühe Kindheit schafft eine eigene, dem Erwachsenen oft verschlossene Welt. Die weibliche Sexualität ist ihrerseits von der « präödipalen Vorzeit des Mädchens » mitbestimmt, die Freud mit der minoisch-kretischen Kultur vergleicht, welche erst hinter der griechischen aufgedeckt werden musste. Die Mutter-Kind-Beziehung verläuft also mit dem neuen Ansatz Genevive Morels in zwei Richtungen : In die Richtung auf das Archaische zu aber auch in die entgegengesetzte Richtung zur Ultramoderne einer vom Geniessen ungefilterten Sprache. Das Kind findet sich nicht nur in die Linie seiner Vorfahren eingeschrieben, die zu dem symbolischen Apparat des sozialen Anderen gehören, es wird auch mit den Ansprüchen und mit dem Geniessen der weiblichen Sexualität konfrontiert. Diese Bindungen können so sublime und zugleich schmerzliche Mutter-Kind-Beziehungen ergeben, wie sie im Werk André Gides zum Ausdruck kommen, dem Geneviève Morel ein grosses Kapitel ihres Buches widmet. Die damit einhergehende Abhängigkeit kann aber auch, umgekehrt, zur subjektiven Katastrophe führen, denn die Mutter übt auch Macht über ihr Kind aus und zwar mittels « obskurer mütterlicher Gesetze » . Woher stammt diese Macht ?
Wir haben schon erwähnt, dass Geneviève Morel den Lacan der präodipalen Phasen in ihrem Buch aufwertet und in ein neues Licht rückt. Sie hat den Titel ihres Buchs der 10. Vorlesung des Seminars V Die Bildungen des Unbewussten entnommen. Er lehrt dort (franz. Ausg, S. 188), dass das Kind sich von Haus aus in einer Welt entwickelt, in der das Sprechen herrscht, also in einer von der symbolischen Ordnung konstituierten Welt. Dort trifft das Kind sein erstes Objekt, die Mutter. Sie ist auch sein « erster Anderer ». Diesen Ausdruck zitiert Lacan offensichtlich aus Freuds Brief 112 an Fliess. In der Welt der symbolischen Ordnung ist das Begehren des kleinen Subjekts dem Gestz des Anderen unterworfen. Das Begehren des Subjekts wird von seinem Anspruch getragen und dieser muss mehr oder weniger glücklich die Signifikante Kette durchqueren, damit der Andere ihn hört. Das Kind hat seine Mutter durch das « fort-da » symbolisiert und dadurch an den Platz des Anderen gebracht. Sein Anspruch (seine Absicht) kann sich nur über die signifikante Kette bei diesem Anderen bemerkbar machen. Es muss schreien und dadurch, dass die Mutter kommt, verwandelt sich sein Schrei, wenn alles gut geht, in einen Ruf. Aber dadurch, dass das Kind die Mutter durch die erste Symbolisierung zum Subjekt gemacht hat, unterwirft es sich auch ganz unter « das Gesetz ». Lacan geht mit diesem Begriff an dieser Stelle sehr vorsichtig um, weil er das Gesetz ja dem Vater vorbehalten will. Er sagt aber dann ganz ausdrücklich, was Geneviève Morel zitiert : « Das Gesetz der Mutter, das ist wohl verstanden die Tatsache, dass die Mutter ein sprechendes Wesen ist und das legitimiert mich genug, dass ich sage das Gesetz der Mutter ». (Im Originaltext steht das in Kursiv). Er setzt dann fort : « Nichtsdestoweniger ist dieses Gesetz, wenn ich so sagen darf, unkontrolliert ». Unkontrolliert aber umso strenger, könnte man sagen. Denn dieses Gesetz wird aufrecht erhalten, weil das Begehren des Kindes ganz und gar von jenem anderen abhängt, den die gute oder die schlechte Mutter verkörpert. Das Kind hat sie zwar in der ersten Symbolisierung selbst als Subjekt in der signifikanten Kette eingesetzt und ihr somit Gesetzesmacht gegeben, aber ab dieser Einsetzung ist es selbst nur mehr assujet (unterworfenes Subjekt). Folgerichtig setzt Lacan das Subjekt am Ausgangspunkt jenes Vektors seines Graphen ein, den er die Intention nennt ; es handelt sich um die Intention des Kindes nach der Befriedigung seiner Bedürfnisse (Hunger, Durst, Pflege, Wärme,…). Viel später wird Lacan aus dem Kind ein « Objekt a » der Mutter machen. Als solches unterstützt es das Begehren der Mutter, die es sogar in ihr Fantasma einschliessen kann, mit allen pathologischen Konsequenzen, die sich daraus ableiten. Aber dass das Kind auch ein Objekt a der Mutter ist, damit hat es nichts Besonderes auf sich ; es kommt ihm sogar zugute. Seine Unterwerfung unter das Gesetz der Mutter war für Lacan dagegen ein Greuel. Denn er sagt auch vom Kind, dass es sich zuerst als ein « assujet , als eine unterworfenes Subjekt entwickelt, weil es sich tief den Kaprizen der Mutter unterworfen fühlt, von denen es abhängt. Die Vatermetapher sollte dieses Greuel aus der Welt schaffen. Als ich bei ihm in Analyse war, erzählte ich ihm einmal den folgenden Traum. Ich lag in meiner Wiege und meine Eltern standen beide um mich herum. Meine Mutter redete wirres Zeug, während mein Vater, zum Ausgehen bereit, in einem sehr eleganten Anzug und weissen Glacéhandschuhen, mir einen Scheck ausstellte. Der kleine Traum war natürlich ganz auf das zugeschnitten, von dem ich damals glaubte, dass es Lacan gefallen könnte. Die Eleganz des Vaters, als Vetreter des Gestzes sollte das wirre Gerede der Mutter wettmachen. Der Traum gefiel Lacan auch tatsächlich, denn er enthält eine ironische Stelle. Mehr denn je brauchte ich damals Geld, um meine Analyse zu bezahlen. Mein Vater war also in der bescheidenen Rolle, mit seinem Scheck meinen Geldmangel zu beheben, während das eigentlich Interessante eigentlich in der wirren Rede meiner Mutter lag. Seit jeher interessiere ich mich eigentlich nur für Diskurse, die ich nicht im vorhinein verstehe, vor allem jenen der Psychoanalyse, aber auch dem einiger Dichter und Philosophen. Als ich bei der Vorbereitung dieses Exposés Geneviève Morels Buch wieder zur Hand nahm, entdeckte ich, dass ich mehrere Stellen nicht richtig verstanden hatte.
Gewiss setzt das Kind seine Mutter selbst an die Stelle des Anderen. Hat es aber eine andere Wahl, als das zu tun ? Vergessen wir nicht, dass Lacan den Anderen als den Ort der Sprache und des Gesetzes definiert. Im Seminar über die Objektbeziehung können wir lesen, was die Mutter da ersetzt, wenn sie an diesen Ort tritt. In der 11. Vorlesung korrigiert Lacan die damals herrschende Auffassung von der Frustrierung, die er vom deutschen Begriff der « Versagung » unterscheidet. Freud verwendet ja den letzteren und Lacan erklärt ihn mit den Beispielen der Aufkündigung eines Vertrags oder dem Bruch eines Versprechens. Die Frustrierung ist auf keinen Fall das gleiche. Man kann die Frustrierung auch nicht als Verweigerung des Befriedigungsobjekts definieren. Für Lacan kommt die Frustrierung mit dem Ruf ins Spiel, denn er leitet ja in das Sprechen, in die symbolische Ordnung ein. Warum ist der Ruf so grundlegend für die symbolische Ordnung ? Weil das, worum gerufen wurde, zurückgestossen werden kann. Wenn ich rufe, will ich, dass man mir etwas gibt. Das Objekt der Gabe fehlt mir also noch. Ist es da, so ist es nur mehr Zeichen der Gabe, das heisst so gut wie nichts und eigentlich kein Objekt der Befriedigung mehr. Lacan bagatellisiert nun keineswegs, dass es eine Befriedigung der Lebensbedürfnisse geben muss. Was er behauptet ist vielmehr folgendes : Die Befriedigung, die bei der Frustrierung in Frage gestellt wird, kommt aus dem grundlegend enttäuschenden Charakters der symbolischen Ordnung. Was das Kind einschlafen lässt, « ist seine Enttäuschung, seine Frustrierung, die Verweigerung, die es gelegentlich ausgestanden hat » (Séminaire IV, S. 183). Für Lacan ist die Dialektik des Objekts – dessen An- und Abwesenheit - schmerzhaft. Wenn das Kind sich der Brust zu seiner Befriedigung bemächtigt, erstickt es dieses grundlegend symbolische Spiel. Ich habe Ihnen diese Vorgänge (stark verinfacht) in Erinnerung gebracht, weil sie zeigen, welche Macht die frustrierende Mutter hat. Schon die symbolische Ordnung wirkt enttäuschend. Wenn nun die Mutter dem Kind ihre Gabe verweigert, kann sie diese Enttäuschung dem Kind deuten, erklären, sie aber, im Gegenteil, auch noch verstärken. Da sie ja im Prinzip in ihrer Verweigerung keine Schranken kennen muss, ist die Mutter « ursprünglich allmächtig », eine Allmacht die das Kind in der Anorexie nachahmen kann (Séminaire IV, p. 185). Auf die Erkenntnis der Möglichkeit dieser Allmacht antwortet das Kind in der paranoïden und in der depressiven Position, die Melanie Klein entdeckt hat.
Bevor wir nun zur Klinik übergehen, fassen wir noch einmal zusammen, was Geneviève Morel zum Gesetz der Mutter sagt :
- sie bemüht sich von vornherein ein zähes Missverständnis auszuschalten. Sie setzt weder die Mutter an die Stelle des Vaters, noch erhebt sie deren Gesetz über das seine. Übrigens gibt es kein Gesetz des Vaters, sondern nur ein Gesetz, für dessen Respekt und Wahrung er in seinem Namen und mittels der Metaphorisierung des Begehrens der Mutter zu sorgen hat, nämlich das Inzestverbot. Er kann sich nur dadurch bei seinen Kindern Respekt verschaffen, dass er seine Frau als Objekt und Ursache seines Begehrens nimmt, eine «père-version » zwischen ihr und ihm einleitet und dadurch eine Wendung seiner Kinder zu ihm als Vater herstellt.
- Geneviève Morel weist darauf hin, dass Lacan selbst, in seinem Seminar Le Sinthome (1975-1976) das Symptom dem Namen des Vaters übergestülpt hat.
- Die Mutter spricht oder sie verweigert die Gabe ihres Sprechens. Geneviève Morel gibt in jedem ihrer Fallbeispiele das Sprechen, man kann manchmal auch sagen - die Sprüche - jener Mütter wieder, die für ihre Kinder Gesetzeskraft erlangten.
- Die Worte der Mutter schreiben sich in das Unbewusste des Kindes ein. Sie sind auch von ihrem unbefriedigten sexuellen Begehren geladen.
- Mehr noch, die Worte der Mutter werden vor allem dadurch zu Worten mit Gesetzeskraft für das Triebleben des Kindes, wenn sie für das junge Subjekt durch ihre Zweideutigkeit verrätselt und unverständlich wirken. Die Zweideutigkeit des Sprechens ist ein Träger des sexuellen Geniessens.
- Geneviève Morel zeigt, dass viele Subjekte, ob sie nun einfache Patienten eines psychiatrischen Krankenhauses sind, wo sie mit ihnen im Rahmen einer Krankrenvorstellung spricht, ob Analysantinnen und Analysanten oder grosse Schriftsteller, auf das « Gesetz der Mutter » mit der Schöpfung eines Symptoms (Sinthome) antworten. In diesem verwenden sie das signifikante Material, das sie dem Sprechen der Mutter entnommen haben, um es in ein ihr Leben strukturierendes Gebilde zu verwandeln. Sie reparieren damit die fehlende Bindung zwischen dem Symbolischen, Imaginären und dem Realen im Knoten des Subjekts.
Das Gesetz des Schweigens
Antoine unterhält eine ausgesprochene Hassliebe zu seiner Mutter. Er ist über dreissig, lebt zwar weit von ihr entfernt, kann sich aber nicht von ihr trennen. Am meisten hasst er an ihr, dass sie « arm an Worten » ist. Bis zu seinem 18. Lebensjahr, enthielt sie ihm die Wahrheit über seinen Vater vor. Sie liess ihn glauben, dass der Mann, der mit ihr lebte, sein leiblicher Vater sei. Dass Antoines älterer Bruder einen anderen Vater hatte, war wohl bekannt. Der Mann seiner Mutter hatte ihre beiden vorehelichen Söhne anerkannt. Als seine Chancen, mit seiner Frau selbst Kinder zu haben, nach einer extra-uterinen Schwangerschaft von Antoines Mutter zerbrachen, liess er seine Vatermaske fallen, ohne aber Antoine die Wahrheit zu sagen. Er wechselte mit dem Knaben einfach kein Wort mehr, obwohl sie beide manchmal ganze Tage lang im Wald Holz schneiden mussten. Antoine kam aus einem sehr bescheidenen Hause. Sein « Pseudo-Vater », so nannte er ihn, weil er ihn aufgegeben hatte, war ein ein Hilfsarbeiter, seine Mutter eine Putzfrau.
Während der letzten beiden Jahre im Gymnasium stellte sich Antoine immer beunruhigendere Fragen über seinen Vater, bis ihm seine Mutter enlich gestand, dass sie ihn gar nicht mit diesem Mann gezeugt hatte. Wer war dann aber sein leiblicher Vater, wollte er wissen. Seine Mutter erklärte ihm, dass sie das nicht wisse. Sie habe, als sie 18 Jahre alt war, mit einem Unbekannten geschlafen, von dem sie nichteinmal den Namen wisse. Er sei die Frucht dieser flüchtigen Begegnung. Eine « wahre Katastrophe » für sie, die ja schon als Vierzehnjährige einen ausserehelichen Sohn auf die Welt gebracht hatte. Antoine empfand diese Enthüllung wie einen KO-Schlag und unterzog seine Mutter immer wieder Verhören, um doch noch einen Hinweis auf die Identität seines Erzeugers harauszufinden. Weder sie noch ihre zahlreichen Schwestern wollten oder konnten ihm antworten. Antoine war für sie ein U-Boot. Da seine Mutter eines Tages einfach mit ihm aus der Gebärklinik gekommen war und niemand wusste, wer sein Vater war, betrachteten ihn alle als « die Kreatur (s)einer Mutter ». Seinen Bruder konnte jeder ganz gut in die Familie einordnen. Als Antoine heranwuchs, wurde sein Verhalten für diese Leute immer seltsamer. Im letzten Jahr vor der Matura spielte er mit dem Gedanken, die Klasse zu wiederholen, um im nächsten Jahr eine glänzende Reifeprüfung zu bestehen, mit der er in den Ausbildungsgang für eine Elite-Hochschule eintreten hätte können. Er war in den Augen der Seinen überhaupt gar nichts und wollte jemand werden, er wollte ihnen zeigen, dass auch er einen Platz in der Welt gefunden habe. Ihnen, und allen voran seiner Mutter, war das ganz gleichgültig, sie hatten mit seinen Ansprüchen einfach nichts zu tun.
Im selben Jahr trug sich auch etwas ganz Eigenartiges zwischen ihm und seiner Mutter zu. Er litt an einer schweren Akné, unter deren Pickeln seine Barthaare zum Vorschein kamen. Er konnte sich aber wegen dieser Hautläsionen nicht rasieren. Daher verlangte er von seiner Mutter Geld, um zum Hautarzt zu gehen. Sie verweigerte ihm ohne jede Erklärung, die Bezahlung des Honorars, worauf er nicht mehr mit ihr sprach und damit sein Schweigen gegen das ihre wendete. Plötzlich war sie bereit, sein Gesicht zu epilieren. Ich fragte ihn, ob er sich von ihr wie ein Mädchen behandelt fühlte. Nicht wie ein Mädchen sondern wie ein Monster, war seine Antwort. Seine Antwort überraschte mich. Die Akné und das darunter wuchernde Barthaar hatten sein Gesicht ohne Zweifel verunziert, er war aber sicher nicht hässlich. Heute ist er jedenfalls ein schöner Mann. Seine Mitschüler verfolgten ihn als Schwulen, was er damals noch nicht war. Der Begriff des « Monsters » musste also anders verstanden werden. Er kam sicher daher, dass er als die « Kreatur seiner Mutter » keinen Platz in seiner Umgebung fand, er war ein Ausgestossener, einer, den man nicht als Seinesgleichen anerkennen wollte. Ein Monster gehört weder der Natur an noch der Menschheit an. Es ist eine Zwischenstufe zwischen Tier und Mensch. Auch geschlechtslose Menschen nennt man manchesmal Monster. Schliesslich auch Täter, die unbeschreibliche Verbrechen begehen. Er hatte schon als Jugendlicher sein Geschlecht gewählt aber als zukünftiger Homosexueller empfand er kein Begehren für Mädchen. Eher interessieren sich gewisse einsame Mädchen für ihn. Seine Mutter versuchte also ihr « Monster » mit ihren eigenen kosmetischen Prozeduren zum Menschen zu machen. Er liess sie eine Zeit lang gewähren, da ja auch er vorhatte, sich ein neues Gesicht zu schaffen. Auch sein bald aufgegebenes Vorhaben, die Maturaklasse zu wiederholen, um ein glänzendes Abschlusszeugnis zu bekommen, ging in die Richtung der tabula rasa eines Neuanfangs. Seine Ambivalenz liess ihn immer wieder zum Komplizen seiner Mutter werden.
Der Monstersignifikant fiel erst nach mehreren Jahren in seiner Analyse. Diese dreht sich am Anfang um seine gerade wahrgenommene Homosexualität. Er hoffte zudem, von seiner Mutter loszukommen, und seiner Mutter das Wissen über seinen leiblichen Vater herauszulocken, denn er glaubte noch immer, dass sie ihm etwas verheimlichte. Er band sich an einen jungen Mann für den er die liebende und sorgende Mutter spielte, die er selbst nie hatte. Als sein Freund ihm untreu wurde, glitt er in eine schwere Depression. Es stand fortan ausser Zweifel : Antoine leidet an Melancholie. Er behauptete immer wieder, dass er mit seinem Freund eine noch nie dagewesene Liebe gelebt hätte. In Wirklichkeit hatte er in seinem Freund jenes narzissische Bild gefunden – und verloren, mit dem er hoffte, über die Indifferenz seiner Familie hinwegzukommen. Mit ihm wollte er eine eigene und ideale Familie gründen. Ein zweiter Weg, die Stütze im Symbolischen zu finden, die ihm seine Mutter und ihre Familie verwehrt hatten, glaubte er in einer Art Sendung zu finden. Er hatte zwar gleich am Anfang unserer analytischen Arbeit eine Prüfung bestanden, aufgrund deren er als Beamter in ein Ministerium eintreten konnte. Aber diese langweilige Arbeit gab ihm keineswegs die Möglichkeit, in der symbolischen Ordnung Fuss zu fassen. Er hält das Ideal der Republik hoch, will Lehrer an einer Oberschule werden, um seinen Schülern die Inhalte seines Ideals zu vermitteln und um seiner Familie zu zeigen, dass er es ohne sie zu einem Namen gebracht habe. Um Oberschullehrer zu werden, muss man in Frankreich eine der beiden Prüfungen ablegen, die als Wettbewerbe zwischen einer grossen Anzahl von Kanditaten ablaufen. Eine kleine Minderheit wird aufgrund ihrer Ergebnisse ausgewählt. Seit Jahren schreibt er sich nun für diese Prüfung ein und nimmt er an den dazu erforderlichen Vorlesungen teil. Sobald der Prüfungstermin naht, erfasst ihn eine so furchtbare Angst, dass er nicht einmal am schriftlichen Teil des Wettbewerbs teilnehmen kann. Er zieht sich dann zurück und versinkt in eine schwere Depression mit gewalttätigen Selstmordideen.
Als es wiedereinmal mit ihm so weit war, schlug ich ihm vor, nocheinmal seine Lebenschronik während der letzten beiden Jahre vor seiner Reifeprüfung durchzuarbeiten. Es handelte sich ja auch um die letzten beiden Jahre, die er im Haus seiner Mutter verbracht hatte. Dort herrschte damals das Gesetz des Schweigens. Seine Mutter verweigerte ihm ohne jede Diskussion, das Honorar des Dermatologen zu bezahlen und er strafte sie dafür mit seinem Mutismus. Der Versuchung, nicht zur Matura zu gehen, um sie ein Jahr später glänzend zu bestehen, konnte er widerstehen. Ich habe seine Idee, die mittelmässigen Resultate so zu löschen mit der gewaltsamen Gesichtskosmetik, zu der sich seine Mutter bereit fand, in Zusammenhang gebracht. In beiden Fällen ging es darum, alte Spuren zu löschen und etwas Neues (ein glänzendes Zeugnis, eine neue Haut) an ihre Stelle zu setzen. Das Alte galt als ungenügend und im Falle der wild unter den Pickeln wachsenden Barthaaren als « monstruös »). Mit dem Wort Monster, war der Groschen gefallen. War das nicht der Signifikant, der ihn an seine Mutter band ? Die Gesichtglättung selbst hatte ihn ja auf den Signifikanten « Monster » gebracht. Sie hat eine Kehrseite, und das ist auch ihre Wahrheit : Das wiederolte und traumatische Verweigern seiner Einschreibung in den Familienkreis. Sie hinterliess die Leere unter der er leidet. Das Aufschieben der Reifeprüfung hatte eine ganz ähnlich Funktion wie das Löschen der mittelmässigen Resultate. Es versprach ihm eine glänzende Zukunft und gewährte ihm doch zugleich die Verlängerung seines Aufenthalts bei seiner Mutter. Ich erklärte ihm nun die Funktion des alljährlichen Wettbewerbs, um Lehrer an einer höheren Schule zu werden. Einerseits winkte ihm das hehre Ideal der Republik und das Fussfassen in deren Ordnung. Andererseits konnte er die Schwelle der Prüfung nicht überschreiten, aus Angst vor der Trennung von seiner Mutter. Da traf er, wie aus Zufall, auf der Universität eine junge Studentin, die sich auf dieselbe Prüfung vorbereitete. Er nannte sie die Hexe, weil sie so zielstrebig ihr Ziel verfolgte. Sie hatte sich in ihn verliebt, obwohl er ihr klar gesagt hatte, dass er an Frauen nicht interessiert ist. Da sie ihn aber so oft wie möglich sehen wollte, brachte sie ihn auch zum erstenmal dazu, an einem jener Probegalopps für die gefürchtete Prüfung teilzunehmen. Das war für ihn schon ein bedeutender Sieg über seine Angst. Die Ausfällung des Monstersignifikanten hatte ihre Wirkung getan. Er konnte sich von seiner Mutter trennen.
Die Entsagung
Kommen wir nun zu einem literarischen Beispiel, Theodor Fontanes 1894-1895 erschienem Roman Effi Brist. Thomas Mann hielt ihn für ein chef d’œuvre des 19. Jahrhunderts. Samuel Beckett las ihn mit seiner cousine Peggy Sinclair, seiner ersten grossen Liebe. Er hatte sie 1928 in Dublin getroffen, etwas später auf Schloss Laxenburg bei Wien und danach öfter in Kassel besuchte, wo sie bei ihrem jüdischen Vater, einem Kunsthändler lebte. Peggy Sinclair, das Modell mehrerer Frauenfiguren Becketts, starb 1933 an Tuberkulose. Die letzten Jahre in Deutschland waren wegen der wachsenden Macht der Nazis besonders schwer für ihre Familie. Peggy Sinclaire soll bei der Lektüre von Effi Briest geweint haben. Beckett verewigte seine Geliebte, wie sie Fontanes Roman las, in seinem Stück Krapps letztes Band.
Das Buch ist so bekannt, dass ich mich mit einer kurzen Inhaltsangabe begnügen kann.
Effi ist ein hübsches, eigenwilliges 17 jähriges Mädchen aus einer preussischen Adelsfamilie des späten 19. Jahrhunderts. Der Roman beginnt am Tage, da der um 20 Jahre ältere Geert Freiherr von Instetten, ein ehemaliger Verehrer ihrer Mutter, um ihre Hand anhält. Während der kurzen Verlobung schreibt er ihr täglich, doch Effi macht sich nur wenig aus seinen konventionellen Briefen und als ihre Mutter sie betroffen fragt, ob sie ihn denn nicht liebe, erklärt sie ihr, dass ihre Liebe für Geert sich nicht von der für ihre übrige Umgebung unterscheide, in die sie selbst die ihr wichtigen Bewohner von Hohen-Cremmen, ihrem Heimatort, einschliesst. Etwas später wird Luise, ihre Mutter zu Herrn von Briest, ihrem Mann sagen : « sie gehört nicht zu denen, die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind ». Nach der Hochzeitsreise nach Italien, etabliert sich das junge Paar im Badeort Kessin an der Ostseeküste Hinterpommerns ein, wo Instetten das Amt eines Landrates ausübt. Effi kann sich an diesem Ort und in ihrem neuen Heim, einem geräumigen dunklen Haus nicht glücklich fühlen. Nur ein eigenbrödlerischer Apotheker gewinnt ihr Vertrauen. Die Landadeligen, die in der kessiner Gegend wohnen, behandeln sie mit kühler Distanz. Im Hause des Landrats treibt ein unter rätselhaften Umständen verstorbener Chinese nachts seinen Spuk, ein Aberglaube, von dem sie Johanna, die Haushälterin, nicht abbringen kann und den Instetten seltsamer Weise nicht zerstreuen will. Nur Instettens Hund Rollo schützt sie, wenn sie Angst hat. Nach neun Monaten gebärt Effi eine Tochter, Anni. Bei einem Spaziergang trifft sie im Kirchgarten die arbeitslose Roswitha und heuert sie als Kindermädchen an. Im Frühjahr danach berichtet sie ihrer Mutter, dass Major von Crampas, ein neuer Landwehrbezirkskommandeur ins gesellschaftlich so notdürftige Kessin versetzt wurde. Seine Frau sei aber immer verstimmt und eifersüchtig. Er, ein Frauenheld, ein « Damenmann », das ziemliche Gegenteil von Instetten, hatte mit diesem beim Militär gedient. Er fühlt sich gleich von Effis Reizen angezogen und beginnt ihr den Hof zu machen. Zuerst entzieht sie sich ihm. Instetten lässt seine junge Frau jedoch immer wieder allein. So auch auf einer Winterfahrt am Meer, bei der Crampas während eines Stück Weges in ihren Schlitten steigt, nachdem Instetten ein anderes Gefährt nehmen musste. Effi und Crampas durchqueren so einen dunklen Waldweg und er « überdeckt sie mit heissen Küssen ». Als Instetten sie zuhause empfängt, « beobachtet er sie scharf ». Der Erzähler lässt offen, ob der Landrat seine Frau der Untreue verdächtigt oder nicht. Dass sie mit Crampas eine längere Liebesbeziehung eingegangen ist, deutet der Erzähler in diesem Stadium des Romans nur an. Der Leser erfährt es explizit erst später, und zwar aus einem Abschiedsbrief an Crampas, den sie vor ihrer Übersiedlung nach Berlin schreibt, wo Instetten zum Ministerialrat ernannt wurde . Genau dieses zweideutige Offenlassen des erotischen Geschehens trägt zur unheimlichen Spannung dieses Buches bei. Instetten schickt seine Frau also nach Berlin, um dort eine Wohnung zu finden. Sie schützt eine Krankheit vor, um nicht mehr nach Kessin zurückfahren zu müssen. Crampas, der seine Frau und seine Kinder nicht verlassen kann, fügt sich in sein Schicksal. Effi geniesst die Hauptstadt, die ihrer Weltoffenheit entspricht und fühlt sich freier. Sie vergisst ihr Verhältnis mit Crampas. Die Ehe mit ihrem Mann verläuft harmonisch. Ihre Tochter wächst heran. Sechs Jahre vergehen. Nach einer Krankheit schickt sie ihr Arzt zur Kur nach Bad Ems. Während dieser Tage verletzt sich ihre in Berlin beim Vater gebliebene Tochter am Kopf und Roswitha öffnet ein Nähkästchen, um dort einen Verbandstoff zu suchen. Instetten findet in diesem Kästchens Crampas Liebesbriefe an Effi. Er fordert den Major zum Duell und tötet ihn. Er verbietet Effi das Haus, lässt sich von ihr scheiden und nimmt ihr auch ihr Kind. Effi kann auch nicht zu ihren Eltern zurückkehren, denn auch diese diese haben sie verstossen. Sie zieht in eine dunkle Berliner Kleinwohnung, in der sich bald Roswitha in alter Treue einfinden wird.
Eines Tages trifft Effi zufällig ihre Tochter im Bus, entzieht sich aber ihren Blicken. In einem Brief fleht sie Instetten an, ihr doch einemal Anni auf Besuch zu schicken. Als ihre Tochter erscheint, jedoch völlig entfremdet vor ihr steht und immer wieder ihren Gehorsam gegenüber Innstetten, ihrem Vater, beteuert, schickt Effi sie enttäuscht und wütend zu diesem zurück und verfällt mehr und mehr in Schwermut und Krankheit. Ihr Arzt schreibt ihren Eltern und bittet diese, sie doch wieder in ihrem Hause aufzunehmen. Effi darf zu ihren Eltern nach Hohen-Cremm zurück, wo sie sich zu erholen scheint. Sie vergibt ihrem Mann und schliesst mit ihren Eltern Frieden. In Wirklichkeit kann sie sich aber nicht von ihrem Leid erholen und stirbt nach einigen Monaten an gebrochenem Herzen.
Fontanes Buch hat noch heute grossen Erfolg. Der Roman wurde mehrmals verfilmt. Es handelt sich bei ihm nicht nur um einen Schicksals- und Gesellschaftsroman des niedergehenden preussischen Adels. Er hat auch eine politische Dimension. Im selben Jahr (1895) veröffentlicht, wo Freud seinen Entwurf schreibt, nimmt Fontane intuitiv ein Wissen vorweg, das in der Psychoanalyse erst artikuliert wurde – zum Teil von Freud, von Lacan, und schliesslich von Geneviève Morel. Denn in Effi Briest geht es nicht allein um Hysterie.
Schon im ersten Kapitel erfährt man, dass Geert von Instetten gerade zu Besuch in Hohen-Cremmen weilt, und um Effis Hand anhalten wird. Bevor Effi noch ihren Freundinnen Hertha, Bertha und Hulda die unglückliche Liebesgeschichte zwischen ihm, der damals Leutnant war, und ihrer Mutter nach vielen Anläufen erzählt, fällt das Schlüsselwort : « Entsagung ». Der junge Leutnant war so oft bei Belling, dem Vater ihrer « Mama » zu Gast, weil er sich in diese verliebt hatte. Die Gefühle zwischen den beiden jungen Leuten waren gegenseitig. Doch der Leutnant war zu jung und hatte ausserdem in Herrn von Briest, dem adeligen Gutsherrn und zukünftigen Vater Effis einen unbezwingbaren Rivalen. Instetten nahm sich zwar nicht das Leben, « aber ein bisschen war es doch so », wie Effi ihren Freundinnen erklärte. Er zog sich zurück, studierte Juristerei und wurde Landrat. Effis Mutter unterwarf sich dem Willen ihres Vaters und heiratete Briest.
Das Wort « Entsagung » wird von Effi dreimal ausgesprochen, unter anderem in Form einer Verneinung : « Eine Geschichte mit Entsagung ist nie schlimm ». Also ist sie schlimm, hätte Freud repliziert. Nun ist « Entsagung » natürlich nicht dasselbe wie « Versagung ». Effis Mutter war zur Entsagung gezwungen worden. Als sie im fünften Kapitel ihrem Mann gegenüber Zweifel darüber äussert, ob ihre Tochter Geert von Instetten lieben könne – « sie gehört nicht zu denen, die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind »,– wirft sie ihrem Mann auch vor : « Mir gegenüber hast du’s immer bestritten, dass die Frau in einer Zwangslage sei ». Dass sie zur Entsagung gezwungen wurde, ändert aber nichts daran, dass sie sich damit den Wunsch versagen musste, Geert von Instetten zu heiraten und auf ihre Liebe verzichtete, wie Effi sagt. Freud erkannte in der Versagung die Wurzel der Neurose :
« Die psychoanalytische Arbeit hat uns den Satz geschenkt : Die Menschen erkranken neurotisch infolge der Versagung. Die Versagung der Befriedigung für ihre libidinösen Wünsche ist gemeint (…) Denn zur Entstehung der Neurose bedarf es eines Konflikts zwischen den libidinösen Wünschen eines Menschen und jenem Anteil seines Wesens, den wir sein Ich heissen, der Ausdruck seiner Selbsterhaltungstriebe ist und seine Ideale von seinem eigenen Wesen einschliesst » (GW X, S. 370).
Im Gegensatz zu Freuds hysterischen Patientinnen scheint Frau von Briest, Effis Mutter kaum von Krankheit geplagt zu sein. Sie macht zwar öfter einer gewissen Unzufriedenheit mit ihrem Mann Luft, der auf jede schwierige Frage nur antwortet : ‘Ja weisst du, Luise … Das ist wirklich ein zu weites Feld’. Sie scheint in ihrer Ehe die Hosen anzuhaben und nicht so unglücklich zu sein. Jedenfalls verhandelt sie mit ihrem Schwiegersohn, ihrem ehemaligen Geliebten in den « ernsteren Dingen », die da sind : « Festsetzungen wegen der Hochzeit, Ausstattungs- und Wirtschafts-Einrichtungsfragen ». Auch kann man ihr nicht unterstellen, ihr Begehren spät über ihre Tochter als ihre Stellvertreterin (par procuration) auszuleben, wie das manche Mütter wirklich tun. Das ginge gar nicht, denn als Effi einen der ersten täglichen Briefe ihres Verlobten ungelesen in ihrer Tasche vergisst, ist ihrer Mutter auch schon klar, dass sie sich nicht in Instätten verliebt hat.
Effi scheint eher eine Gabe ihrer Mutter an Instetten zu sein, eine Reparationszahlung. Effis später von ihr beklagte Weichheit ihres eigenen Charakters bringt sie gar nicht auf die Idee, sich ihrer Mutter, deren Geschöpf sie ja ist, entgegen zu stellen. Frau von Briest behandelt ihre Tochter nicht nur als Objekt einer Kompensierung, sie versetzt sie auch in eine unmögliche Lage : In einer Nacht voll Angst, die sie in Abwesenheit Instettens nur in Gesellschaft seiner Haushälterin verbringen muss, wirft sie sich selbst vor : « Ach ich tauge doch gar nicht für eine grosse Dame. Die Mama, ja, die hätte hierher gepasst, die hätte, wie’s einer Landrätin zukommt, den Ton angegeben… » (88). Die Mutter hat also ein eisernes Gesetz über das Schicksal ihrer Tochter erlassen und zwar nicht nur, weil sie nur das Beste für sie wünschte, wie man es so oft von Müttern hört. Schon im fünften Kapitel prophezeit sie ihrem Mann gegenüber, dass die Ehe schlecht ausgehen könnte. Effi ist vergnügungssüchtig und ehrgeizig. Instetten werde als Karrieremacher ihren Ehrgeiz befriedigen, sie aber zugleich langweilen und damit beleidigen. « Und dann weiss ich nicht, was geschieht. Denn so weich und nachgiebig sie ist, sie hat auch was Rabiates und lässt es auf alles ankommen ». Auch diese Voraussage gehört zu ihrem harten Gesetz. Frau von Briest ist nicht nur Gesetzgeberin sondern auch Richterin ! Nachdem Effi von ihrem Mann verstossen wurde, erhält sie einen Brief ihrer Eltern, ein richtiggehendes Urteil, das von der gleichnamigen Erzählung Franz Kafkas (1912) gar nicht so weit entfernt ist. Wir können Dir keinen stillen Platz in Hohen-Cremmen anbieten, schreibt sie, und zwar nicht so sehr weil wir uns Deiner schämen, sondern « weil wir Farbe bekennen und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht ersparen, unsere Verurteilung Deines Tuns, des Tuns unseres einzigen und von uns so sehr geliebten Kindes, aussprechen wollen » (315). Effi muss es mit ihrem Leben bezahlen, dass sie, im Unterschied zu ihrer Mutter, nicht auf ihr Begehren verzichtet hat. Ihre Mutter verurteilt ihre Tochter, da diese ihr nur so lange gehorcht bis sie dem Charme des Major Crampas erliegt. Diese Mutter hasst das Begehren ihrer Tochter wie ihr eigenes.
Um diese Mutter richtig einzuschätzen, muss man die Passagen ernst nehmen, in welchen vom Spuk im Hause des Ratsherrens die Rede ist. Dass es in einem populären Roman des ausgehenden 19. Jahrhunderts Geister gibt, wird niemand erstaunen. Fontane scheint mit dem Spuk im letzten Stockwerk von Instettens Kessiner Hauses jedoch mehr zu bezwecken, als den Leser mit einem harmloses Schaudern erregen zu wollen.
Es gibt da einerseits den einem verstorbenen Chinesen angelasteten Spuk. Effi hört in der Nacht einen « sonderbaren Ton » (66) : « Erst klang es , wie wenn lange Schleppenkleider über die Diele hinschleiften, und in meiner Erregung war es mir ein paamal, als ob ich kleine weisse Atlasschuhe sähe. Es war, als tanze man oben, aber ganz leise ». Während Effi spricht, sieht Johanna, die Haushälterin Instettens, « in den Spiegel hinein, um die Mienen Effis besser beobachten zu können ». Diese Bemerkung wird nicht weiter ausgeführt, weist aber darauf hin, dass Johanna ein Doppelspiel mit ihr treibt. Dann gibt sie ihrer Herrin eine banale Aufklärung : « Nun aber wissen wir, dass es die Gardinen sind. Der Saal ist etwas multrig und stockig und deshalb stehen die Fenster immer auf… » Diese streifen dann im Wind über den Boden, was den seltsamen Lärm erklärt. Effi versteht nicht, warum die Haushälterin die Gardinen nicht einfach abnimmt oder abschneidet. So teilt der Spuk und seine Erklärung eine Eigenschaft : beide haben den Charakter eines Fetischs – ob es sich nun um Atlasschuhe oder um die über den Boden streifenden Gardinen handelt. Jedenfalls will der Baron das Phänomen nicht durch Beseitigung seiner Ursache aus der Welt schaffen. Es hängt nur durch das kleine Bildchen eines Chinesen zusammen, das auf der Lehne eines Sessels im Spuksaal hängt. Instetten zeigt Effi das Grab des verstorbenen Chinesen zwischen zwei Dünen und erzählt ihr, dieser Chinese sei der Diener und Freund eines Chinafahrers, des Kapitän Thomsens, gewesen. Thomsens Enkelin Nina, sollte sich auf dessen Wunsch verheiraten, auch mit einem Kapitän. Sie verschwand aber am Abend vor der Hochzeit, nachdem sie noch mit dem Chinesen getanzt hatte, niemand wusste wohin und was da vorgefallen war. Zwei Wochen später war der Chinese tot. Der Leser darf die Hypothese bilden, dass der Chinese in das Verschwinden des Mädchens verwickelt war und dafür sterben musste. Darüber hinaus kann er aber auch erahnen, dass Effi eben Nina, das verschwundene Mädchen über den Saalboden gehen hört und manches Mal sogar ihren Schatten an sich vorbeihuschen sieht. Jedenfalls hat Nina mit der Heldin gemein früh verheiratet worden zu sein und auch früh fortzugehen. Es ist, als wäre das Mädchen Effis Doppelgängerin, die ihr in der Zeit voraneilt.
Die zweite Quelle intensiver Angst ist eine Figur des Alptraums. Effi fürchtet sich schon lange vor « der weissen Frau ». In einer Chronik der Hohenzollern liest sie, dass die weisse Frau auf das Bett Napoleons zugeschritten sei, als dieser im Schloss Eremitage übernachtete. Der Kaiser habe bis zu seinem Lebensende mit Entrüstung von diesem maudit château gesprochen. Mit der weissen Frau, vor der sich sogar der grosse Napoleon fürchtete, deutet der Erzähler ohne Zweifel auf das mütterliche Über-Ich hin, welches das Verderben ihrer Tochter besiegelt.
In Effi Briest ist Fontane eine Frauenfigur geglückt, die mit Madame Bovary verglichen wurde. Die Wirkung des Romans liegt aber nicht nur in der Zeichnung seiner Heldin sondern in dem, das selbst dem genialeren Flaubert nicht gelungen ist. Fontane schafft in Effi Briest die mütterlich Sprachwelt, welche die Heldin entfremdet. Das Geschehen und die Handlungen sind auf ein Minimum reduziert. Weder Effi noch der von ihrer Mutter ihr zum Mann erkorene Instetten sind freie, autonome Personen, sondern in ein Universum getaucht, in dem die Mutter die Fäden zieht. Effis Tragik besteht darin, dass sie sich in ihrem Elternhaus schon wie im Himmel fühlt. Die tödliche Doppeldeutigkeit im Vergleich zwischen Hohen-Cremmen und dem Himmel kann ihrer Mutter nicht entgehen. Effi selbst ahnt bereits vor ihrer Verlobung, dass man sie in die Kälte hinausschicken wird. Sie selbst ist weltoffen, ja geradezu kosmopolitisch. Nach der unglücklichen Begenung mit ihrer Tochter hält sie eine Hasstirade auf Instetten : « Er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam ».
Fontane konzipierte sein Buch als Schicksalsroman. Daher ist es voll von Zeichen, die den tragischen Ablauf ankündigen. Diese Zeichen konstituieren aber auch die Rede und das Gesetz von Effi Briests Mutter.
Die Ohrfeige
Effis Satz, dass alles was klein ist, grausam ist, bekommt angesichts der deutschen Geschichte in den nächsten beiden Generationen einen tiefen politischen Sinn. Er gilt aber auch für mein letztes Beispiel, auf das ich bei meiner Arbeit in einem Gefängnis Nordfrankreichs gestossen bin.
Charles hat zwei Frauen getötet. Die erste, als er 23 Jahre alt war, die zweite 17 Jahre später. Beide Verbrechen fanden in vergleichbaren Umständen statt. Er wurde wegen der esrsten Tat zu der relativ milden Strafe von 11 Jahren Haft in Belgien verurteilt ; für den späteren Mord verbüsst er nun in Frankreich eine lebenslängliche Strafe und kann erst nach 22 Jahren nach dem Urteil seine Entlassung beantragen.
Charles kennt seinen Vater nicht. Dieser Mann verliess seine Mutter, nachdem er seinen Sohn Charles mit ihr gezeugt hatte. Dieses Fallenlassen löste in ihr einen unbeschreiblichen Hass aus, den sie auf ihren Sohn ablud. Zuerst gab sie ihn glücklicherweise zu einer Pflegemutter, doch ab seinem dritten Lebensjahr nahm sie ihn zu sich und machte aus ihm ihren Sklaven. Er musste ihr, ihrem Lebensgefährten und seiner Halbschwester dienen. Das Kochen, Aufräumen, Waschen und Reinigen waren seine Aufgaben. Während er arbeitete, trank seine Mutter. Sie schlug und folterte ihn noch dazu. Jeder seiner Fehler wurde mit Schlägen bestraft. Da er keine Mehlspeisen essen durfte, sammelte er die Kuchenbrösel ein, aber auch das war ihm verboten. Er durfte nicht am Tisch der anderen essen und musste im Keller schlafen. Eines Tages schüttete ihm die Mutter das heisses Öl auf die Beine, weil ihr die darin gebratenen pommes frittes nicht schmeckten. Sie brachte ihn ins Krankenhaus, damit ihn die Ärzte verbänden, liess ihn aber nicht dort. Er hätte ja verraten können, was sie ihm angetan hatte. Sein Stiefvater sah dem Treiben der Mutter zu und die Schulbehörden stellten keine Fragen. Später lieferte sie ihn an einen reichen Pädophilen aus. Bei seinem ersten Prozess leugneten seine Eltern jede Misshandlung ; vor dem Schwurgericht in Frankreich, mussten sie jedoch zugeben, was sie dem Knaben angetan hatten.
Als er 16 Jahre alt war, wollte ihn seine Mutter los werden und führte ihn in ein Büro der Fremdenlegion. Zu früh ! Ein Jahr später war es dann so weit. Charles war bei der Legion, patria nostra , glücklich ; verglichen mit seiner Kindheit war das ein Paradies für ihn. Er blieb 5 Jahre in Korsika, als Taucher und Scharfschütze. Er wurde auch für den Gebrauch von Stechwaffen ausgebildet.
Eines Tages galt es, bei einer Übung zur Verminung eines Flugzeugträgers 400m tief zu tauchen. Als er seine zweite Sauerstofflasche öffnete, musste er feststellen, dass sie leer war. Er hatte vergessen, sie zu füllen. So glitt er in den Tiefenrausch hinüber und liess sich sinken. Sein Kamarad merkte es jedoch, teilte seinen Sauerstoff mit ihm und sie konnten auftauchen.Charles hatte jedoch eine Lungenverletzung und eine chronische Bronchitis von dem Unfall davongetragen und musste abmustern.
Damit begann ein chaotisches Zivilleben. Eines Abends traf er eine um zwanzig Jahre ältere Frau. Sie tranken und gingen miteinander ins Bett. Beim Beischlaf begann sie zu lachen. Er wollte wissen, warum. Anstatt zu antworten, gab sie ihm eine Ohrfeige. Da zog er sein Messer und bohrte es ihr ins Herz, wie er das auf den Kriegsschauplätzen mit manchem seiner Feinde getan hatte.
Er verliess den Schauplatz des Verbrechens, doch als er eine Strasse überqueren wollte, hielt ein Wagen der Gendarmerie neben ihm und fragte ihn, woher er komme. Er deutete zu dem erleuchteten Fenster, hinter dem sein Opfer verblutete. Weil er ihnen verdächtig war, nahmen die Gendarmen ihn fest und führten ihn in die verlassene Wohnung zurück.
Er wurde nicht nur des Mordes, sondern auch der Vergewaltigung beschuldigt. Die Untersuchungsrichterin schloss aber dank der Polizeiphotos den Tatbestand der Vergewaltigung aus und er kam mit einer recht mässigen Strafe davon.
Wieder begann er herumzuirren. Er konnte zwar arbeiten, traf mehre Frauen aber es war ihm offensichtlich unmöglich sich irgendwo niederzulassen. Nachdem er in mehreren Provinzen gelebt hatte, entschied er sich für den Süd-Westen. Wiedereinmal verbrachte er einen Abend mit einer Prostituierten. Sie tranken und fuhren in einen Wald. Nach dem Geschlechtsverkehr wollte sie ihn erpressen : sie würde zur Polizei gehen und ihn wegen Vergewaltigung anzeigen, sollte er ihr nicht mehr Geld geben. Da verwirrten sich seine Gedanken ; er dachte an das, was geschehen würde, sollte sie ihre Drohung wahr machen. Er wurde seines Unglücks gewahr, ein Abgrund tat sich vor ihm auf. Es war ihm unmöglich, in seinen Geist Klarheit zu schaffen. Wieder nahm er sein Messer und erstach die Frau.
Die Polizei konnte ihn erst drei Jahre später als Täter identifizieren, und zwar aufgrund der Reifenspur, die er mit seinem Wagen hinterlassen hatte. Charles wurde wegen seines Rückfalls zur Höchststrafe verurteilt. Sein Anwalt konnte zwar seine traumatische Kindheit erweisen, das Gericht erkannte jedoch ihm jedoch keinerlei mildernde Umstände an.
Neben seinen Leiden und seinen Taten kann man in Charles’ Geschichte drei bemerkenswerte Momente unterscheiden. 1) die Fehlhandlung beim Tauchen, die ihm fast sein Leben gekostet hätte. Obwohl er mir erklärte, dass er in der Ausbildung genau gelernt hatte, sein Tauchmaterial vor jedem Einsatz zu überprüfen, wollte er den suizidären Charakter dieser Fehlhandlung nicht zugeben.
2) Als er nach seiner ersten Tat in Belgien von den Gendarmen aufgehalten wurde, hätte er nicht auf das erleuchtete Fenster deuten müssen, hinter welchem der Totschlag stattgefunden hatte. Warum tat er das aber ? Er antwortete mir, er habe eben seine Ehre. So ehrsam sind Sie wieder nicht ! Nach dem zweiten Mord liefen Sie drei Jahre frei herum, entgegnete ich ihm.
3) Die Untersuchungsrichterin schloss, im Widerspruch zu den Gendarmen die Vergewaltigung der ersten Frau aus und zeigte ihm so, dass nicht alle Frauen wie seine Mutter sind.
In allen drei Augenblicken handelte er also gegen seine eigenen Interessen und wendete er seine Agressionen gegen sich selbst, als gäbe es für ihn kein Entrinnen aus einem Schicksal, das in seiner frühen Kindheit mit äusserster Gewalt begonnen hatte.
Die Weihnachtsfeiertage sind für Charles immer sehr unangenehm. Als Kind musste er seine Familie bedienen und durfte den Feiern höchstens zuschauen. Ich besuchte ihn also und fragte ihn, ob er bei der Fremdenlegion geblieben wäre, wenn er nicht seinen Tauchunfall erlitten hätte. Nein, sagte er, er hätte andere Lebenserfahrungen gesucht. Seine Kindheit hatte man ihm ja schon geraubt. Dann sprachen wir über seine Kriegshandlungen als Scharfschütze. Er hatte immer die Aufgabe, die Chefs der feindlichen Truppen auszuschalten. Wie eine Schlange müsse man den Feind am Kopf treffen. Schliesslich wollte ich wissen, ob er denn bei den Kampfhandlungen keine Angst hatte.
Nein, er habe nie Angst gehabt, seit seinem fünfzehnten Lebensjahr, als seine Mutterihm eine Ohrfeige gab. (Ich horchte auf). Damals hatte er aufgehört, Angst zu haben. Er schützte sich nicht mehr mit seinen Händen, er bedeckte seinen Kopf (sic) nicht mehr !
Von da an hatte nicht er Angst, sondern seine Mutter ! Sie rief sofort ihren Lebensgefährten an und schrie ins Telephon : Er rebelliert ! Der Bruder der Mutter, ein Zuhälter, kam auch gleich, bedrohte und schlug ihn. Charles trug eine offene Schädelwunde davon. Da beschlossen sie, sich seiner zu entledigen und wollten ihn bei der Fremdenlegion abgeben. Das war noch zu früh.
Das Gesetz von Charles Mutter nimmt in dieser zufälligen Begebenheit eine dramatische Wendung. Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr war er einfach das Opfer brutalster Kindesmisshandlung. Er war buchstäblich der Sklave seiner Mutter. Nach der Ohrfeige, die sie dem heranwachsenden Knaben nun gab, schaut er ihr ins Gesicht, weil seine Hände seinen Kopf nicht mehr beschützen müssen. Und er sieht Angst in ihren Augen. Angst und Feigheit. « Alles was klein ist, ist grausam », kann man mit Fontane sagen. Er schlägt nicht zurück, oder doch, die Falsche : Jahre später, in Belgien, ersticht er eine Frau, die seine Mutter hätte sein können. Die Ohrfeige war zufällig, der Zeitpunkt, zu dem sie fiel, aber nicht. Charles hatte keine keine Angst mehr. Gerade die Kontingenz dieses Zwischenfalls weist darauf hin, dass die Ohrfeige zu den Ursachen seines ersten Frauenmords gehörte.
Zusammenfassung
Wie wir schon einleitend festgestellt haben, steht das Gesetz der Mutter, wie Geneviève Morel es in ihrem Buch erläutert, nicht dem Gesetz gegenüber, das der Vater vertritt und dessen Hüter er ist. Der Vater repräsentiert ja nur ein Gesetz, das der symbolischen Ordnung. Er ist nicht dessen Autor. Er ist kein Gesetzgeber. Dagegen diktieren viele Mütter ihren Kindern ihr eigenes Gesetz. Ein solches Gesetz kann zu den sublimsten Schöpfungen der Menschheit führen, wie zum Beispiel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit aber auch zu Unglück und Verbrechen.
Ich habe drei Beispiele solcher von Müttern in dunkler Autorität erlassenen Gestzen gegeben : das Gesetz des Schweigens, mit welchem Antoines Mutter ihrem Sohn jedes Gespräch über seine Herkunft verweigerte und ihn sozusagen zu einem ungeschriebenen Blatt machen wollte. Weil ihm auch seine Angehörigen den Platz unter ihnen verwehrten, fühlte er sich als Monster und versuchte daher seinen von nichts gestützten Namen durch eine Prüfung im Anderen der Republik zu verankern. Das wollte ihm lange nicht gelingen.
Effi Briest musste die Folgen der Entsagung und des Verzichts ihrer Mutter auf ihr Begehren auf sich nehmen. Ihre Mutter begnügte sich nicht damit, sie ihrem ehemaligen Geliebten als Trostgeschenk zu vermachen, sie tauchte auch in Effis Unbewusstem als « weisse Frau » auf, eine Figur, die selbst den grossen Napoleon erschreckt hatte. Schliesslich schwang sich diese Mutter sogar noch zur Richterin ihrer Tochter auf.
Dass misshandelte Kinder oft Gewaltakte begehen, ist der Gerichtspsychiatrie bestens bekannt. Charles hat uns aber eine Art Kausalgesetz geliefert. Eben die Ohrfeige, mit der die sadistische Macht seiner Mutter zusammengebrochen war, tauchte in seinem ersten Frauenmord wie ein blutiges Triebecho wieder auf.
Alle Rechte für diesen Beitrag bei Franz Kaltenbeck
Über den Autor
Franz Kaltenbeck ist Psychoanalytiker in Paris und Lille, Mitgründer von ALEPH (Association pour l’étude de la psychanalyse et de son histoire), Herausgeber von Savoirs et clinique. Revue de psychanalyse.
Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Reinhard Priessnitz. Der stille Rebell. Aufsätze zu seinem Werk (Droschl, Graz 2006); Sigmund Freud. Immer noch Unbehagen in der Kultur? (Mitherausgeber, diaphanes, Zürich 2009); David Foster Wallace: Dichter, Denker, Melancholiker (In: Y – Revue für Psychoanalyse, 1/2012); Lesen mit Lacan. Aufsätze zur Psychoanalyse (Parodos, Berlin 2013); Michael Turnheim: Jenseits der Trauer (Mitherausgeber, Zürich, diaphanes 2013); David Foster Wallace au-delà du principe de plaisir (In: Savoirs et clinique. Revue de psychanalyse, Nr. 15, 2012)
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