Unärer Zug (I):
primäre Identifizierung
Ishango-Knochen (zwei Abbildungen desselben Knochens), 10 cm, ca. 20.000 Jahre alt, gefunden in der heutigen Demokratischen Republik Kongo
Muséum des sciences naturelles de Belgique
Erweiterte Fassung eines Textes, der zuerst am 3. November 2014 erschien, als Teil des Artikels „ ‚Lacan entziffern‘ in Ziffern“
In Massenpsychologie und Ich-Analyse unterscheidet Freud drei Formen der Identifizierung:
– die präödipale Identifizierung mit dem idealisierten Vater,
– die ödipale regressive Identifizierung mit dem Liebes- bzw. Hassobjekt,
– die Identifizierung mit dem Begehren eines anderen, der kein Liebesobjekt ist1 (vgl. diesen Blogartikel).
Es fällt auf, schreibt Freud, dass die zweite Form der Identifizierung, die mit der geliebten oder ungeliebten Person,
„eine partielle, höchst beschränkte ist, nur einen einzigen Zug von der Objektperson entlehnt.“2
In den Seminaren 8 und 9 greift Lacan Freuds Rede vom „einzigen Zug“ auf und entwickelt von hier aus eine Konzeption des trait unaire, was nicht so sehr „einziger Zug“ meint, als vielmehr „unärer Zug“, „einzelner Zug“ und „einzelner Strich“ (Seminar 8 von 1960/61, Die Übertragung, Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung).3 Er übersetzt „einziger Zug“ zunächst mit „trait unique“, ab dem 6. Dezember 1961 mit „trait unaire“, was man, wie Gerhard Schmitz, mit „unärer Zug“ übersetzen kann (vgl. dessen Übersetzung von Lacans Seminar 17, Die Kehrseite der Psychoanalyse, 1969/70).
Unter der Identifizierung mit einem unären Zug versteht Lacan, anders als Freud, die primäre Identifizierung. In Seminar 12 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse, bezieht sich Lacan auf die „primäre Identifizierung, die Identifizierung des unären Zugs, die Identifizierung des I, von wo aus sich für das Subjekt irgendwo alles ordnet“, als dem Punkt dessen, „was errichtet wird als Intersubjektivität“4. In der schriftlichen Zusammenfassung von Seminar 12 wiederholt Lacan die Zuordnung des unären Zugs zur primären Identifizierung. Es gebe einen „Terminus“, heißt es dort, „den wir in einem anderen Zusammenhang den uinären Zug genannt haben, die Markierung einer primären Identifizierung, die als Ideal funktionieren wird„5. In Seminar 15 spricht er von „diesem berühmten großen I des unären Zugs, demjenigen, von dem man ausgeht, um zu sehen, wie sich in der Entwicklung tatsächlich dieser Mechanismus der Einwirkung des Signifikanten, wie er sich in der Entwicklung herstellt, nämlich die primäre Identifizierung“6.
Lacans Bezugnahme auf Freud ist also, was den „einzigen/unären Zug“ angeht, ziemlich verwickelt: Wenn Freud von der Identifizierung mit dem „einzigen Zug“ spricht, bezieht Freud sich damit auf die ödipale Identifizierung mit dem verlorenen Liebesobjekt. Freud unterscheidet diese Form der Identifizierung von zwei anderen Identifizierungsarten, von der primären Identifizierung und von der hysterischen Identifizierung. Lacan nimmt eine andere Zuordnung vor, er entlehnt von Freud den Ausdruck „einziger Zug“, deutet ihn um in den „einzelnen Zug“ oder „unären Zug“ und setzt die Identifizierung mit dem unären Zug mit der primären Identifizierung gleich.
Die primäre Identifizierung ist die Identifizierung mit einem „unären Zug“, die Einschreibung einer Art Einzelstrich – so lautet die These.
Von Seminar 9 gibt es keine offizielle französische Ausgabe und auch keine deutsche Version. Im Folgenden übersetze ich aus diesem Seminar zwei Passagen zum „unären Zug“.
Zur Übersetzung: Wörter mit Stern* sind im Original deutsch.
Die Strichliste
Eines von Lacans Beispielen für den trait unaire qua Einzelstrich ist die Kerbe auf einem Kerbstock. Zu einem ähnlichen Objekt wie dem oben abgebildeten sagt er:
„Ich bin an einem wirklich außergewöhnlichen Ort gewesen, und vielleicht werde ich mit meinen Bemerkungen ja schließlich dafür sorgen, dass die Wüste sich belebt, ich meine, dass einige von Ihnen sich dorthin begeben, nämlich ins Museum von Saint-Germain. Das ist faszinierend, das ist hinreißend. Und das wird es mehr noch dann sein, wenn Sie versuchen, jemanden zu finden, der bereits vor Ihnen dagewesen ist, denn es gibt keinen Katalog, keinen Plan, und es ist völlig unmöglich, zu wissen, was wo ist und was was ist und sich in der Folge dieser Räume zurechtzufinden.
Es gibt da einen Saal, der Piette-Saal heißt, mit dem Namen des Friedensrichters, der ein Genie war und auf dem Gebiet der Vorgeschichte ganz außergewöhnliche Entdeckungen gemacht hat, nämlich bestimmte kleine Gegenstände, im allgemeinen von sehr geringer Größe, die zum Faszinierendsten gehören, was man sehen kann. (…) Aber durch eine Vitrine hindurch werden Sie sehen können, das ist sehr einfach zu sehen, denn aufgrund der testamentarischen Verfügungen dieses bemerkenswerten Menschen ist man absolut gezwungen, alles in der größten Unordnung zu belassen, mit völlig veralteten Beschriftungen, die auf den Gegenständen angebracht wurden. Dennoch hat man es geschafft, auf Plastikteilen etwas anzubringen, was es einem ermöglicht, den Wert einiger dieser Gegenstände zu ermessen.
Wie soll ich zu Ihnen über das Gefühl sprechen, das mich ergriff, als ich, über eine dieser Vitrinen gebeugt, auf einer dünnen Rippe, offensichtlich der Rippe eines Säugetiers – ich weiß nicht genau, welches, und ich weiß nicht, ob jemand es besser weiß als ich, von der Gattung Reh oder Hirsch –, als ich auf einer Rippe eine Reihe von kleinen senkrechten Strichen [bâtons] sah, zunächst zwei, dann ein kleiner Abstand, danach fünf, und dann fängt es wieder von vorn an. Aha, sagte ich mir – indem ich mich mit meinem geheimen oder öffentlichen Namen anredete –, deshalb also, Jacques Lacan, ist deine Tochter nicht stumm.7 Deine Tochter ist deine Tochter, denn wenn wir stumm wären, wäre sie überhaupt nicht deine Tochter.8 Offenkundig hat das durchaus einen Vorteil, auch wenn wir in einer Welt leben, die mit der eines allgemeinen Irrenhauses gut vergleichbar ist, ein Ergebnis der Existenz von Signifikanten, das, wie Sie noch sehen werden, nicht weniger sicher ist.
Diese senkrechten Striche, die erst sehr viel später erscheinen, mehrere tausend Jahre nach dem Zeitpunkt, als Menschen in der Lage waren, Gegenstände von realistischer Genauigkeit herzustellen, nachdem man im Aurignacien Bisons gemacht hatte, denen wir, vom Standpunkt der Kunst des Malers aus betrachtet, noch immer hinterherlaufen können. (…) Nun, erst sehr viel später finden wir die Spur von etwas, was unzweideutig zum Signifikanten gehört. Und dieser Signifikant ist ganz allein, denn mangels Information denke ich nicht daran, dieser kleinen Abstandsvergrößerung, die es in dieser kleinen Linie von senkrechten Strichen irgendwo gibt, eine spezielle Bedeutung zu geben; das ist möglich, aber darüber kann ich nichts sagen.
Was ich hingegen sagen will, ist dies, dass wir hier etwas auftauchen sehen, worüber ich nicht sage, dass es das erste Erscheinen ist, aber auf jeden Fall ist es ein sicheres Erscheinen von etwas, wovon Sie sehen, dass es sich völlig von dem unterscheidet, was man als qualitative Differenz bezeichnen kann.
Jeder dieser Striche [traits] ist mit seinem Nachbarn keineswegs identisch. Aber sie funktionieren nicht deshalb auf unterschiedliche Weise, weil sie sich voneinander unterscheiden, sondern deshalb, weil die Signifikantendifferenz anders ist als alles, was sich auf die qualitative Differenz bezieht, wie ich Ihnen mit den kleinen Dingen gezeigt habe, die ich vor Ihnen habe herumkreisen lassen. Die qualitative Differenz kann die Selbigkeit des Signifikanten gelegentlich sogar bekräftigen. Diese Selbigkeit wird eben dadurch gebildet, dass der Signifikant als solcher dazu dient, die Differenz in reinem Zustand zu konnotieren, und der Beweis dafür besteht darin, dass das Ein bei seinem ersten Erscheinen die Vielzahl als solche bezeichnet.
Anders gesagt: Ich bin Jäger, denn wir befinden uns wahrscheinlich auf der Stufe von Magdalénien IV. Gott weiß, ein Tier zu fangen, das war damals nicht sehr viel einfacher als es heutzutage für diejenigen ist, die als Buschmänner bezeichnet werden. Das war wirklich ein Abenteuer! Es scheint, dass man das Tier, nachdem man es getroffen hatte, lange verfolgen musste, um zu sehen, wie es der Wirkung des Giftes erlag. Ich habe eines getötet, das ist ein Abenteuer. Ich töte ein weiteres, das ist ein zweites Abenteuer, das ich vom ersten durch bestimmte Merkmale unterscheiden kann, das ihm darin aber wesentlich ähnlich ist, dass es auf derselben allgemeinen Linie markiert ist. Beim vierten kann sich Verwirrung einstellen: was unterscheidet es beispielsweise vom zweiten?
Der Marquis de Sade, in Marseille in der Rue Paradis mit seinem kleinen Diener eingeschlossen, ging auf dieselbe Weise vor, hinsichtlich der Schläge, die er bezog, wie unterschiedlich sie auch sein mochten, in Gesellschaft dieses Partners oder auch mit einigen Komparsen, die sich wiederum voneinander unterschieden. Dieser exemplarische Mensch – dessen Beziehungen zum Begehren sicherlich von einer Glut gekennzeichnet sein mussten, die wenig üblich ist, was auch immer man davon denken mag – markierte am Kopfende seines Bettes, so sagt man, mit kleinen Strichen jeden der Schläge, um es klar zu sagen, auf deren Ausführung er drängte, an diesem einzigartigem vorübergehenden Rückzugsort (retraite). Sicherlich muss man in das Abenteuer des Begehrens selbst tief verwickelt sein – zumindest nach allem, was der übliche Gang der Dinge uns über die gewöhnlichste Erfahrung der Sterblichen lehrt –, um das Bedürfnis zu haben, die Abfolge seiner sexuellen Vollzüge auf solche Weise festzuhalten.“9
Der senkrechte Strich heißt im Französischen auch batôn, „Stock“, „Stab“. Dazu gibt es im Deutschen eine Entsprechung. Der Strich, mit dem ein Lehrer am Heftrand einen Fehler markiert, hieß früher auch „Knüppel“.
An der zitierten Stelle bezeichnet Lacan den trait ausdrücklich als Signifikanten; er rechnet ihn also zur Ordnung des Symbolischen.
In Seminar 11 fasst er die Argumentation aus Seminar 9 so zusammen:
„Im Gegensatz dazu verwenden wir in unserem Vokabular das Symbol des schräggestrichenen S [$] für das Subjekt, sofern es zweitkonstituiert ist in bezug auf den Signifikanten. Aus Gründen der Anschaulichkeit will ich Sie daran erinnern, daß die Sache sich auf die einfachste Weise in jenem einzigen Zug / trait unaire darstellen läßt. Der erste Signifikant, das wäre die Kerbe, die beispielsweise markiert, daß das Subjekt ein Tier getötet hat, woraus folgt, daß in seinem Gedächtnis keine Verwirrung aufkommen wird, wenn es zehn weitere getötet haben wird. Es wird sich nicht entsinnen müssen, welches zu welchem gehört, denn von diesem einzigen Zug ausgehend wird es sie zählen können.
Das Subjekt selbst zeichnet sich durch diesen einzigen Zug aus und zunächst markiert es sich als Tätowierung, der erste der Signifikanten. Sobald dieser Signifikant, dies Eine, instituiert ist – ist es möglich, ein Eines zu zählen. Das Subjekt situiert sich als solches auf der Ebene nicht des Einen, sondern eines Einen, auf der Ebene des Zählens.“10
Das Subjekt verortet sich nicht auf der Ebene des Einen im Sinne der Totalität, sondern des abzählbar Einzelnen.
Die Zahl und die absolute Differenz
Ich kehre zurück zum Identifizierungs-Seminar. In einer späteren Sitzung heißt es:
„Hier bekommt die Tatsache ihren Wert, dass ich direkt entlang dem Faden des Freudschen Fortschreitens dazu gebracht worden bin, die Funktion des einzigen Zugs auf eine Weise zu artikulieren, die mir notwendig zu sein schien, insofern sie die Entstehung der Differenz in einer Operation erscheinen lässt, von der man sagen kann, dass sie auf der Linie einer immer weitergehenden Vereinfachung verortet ist. In einem Bestreben, das zur Strichliste führt, das heißt zur Wiederholung des anscheinend Identischen, wird das geschaffen, wird das freigelegt, was ich nicht als das Symbol bezeichne, sondern als den Eintritt ins Reale als geschriebener Signifikant. Und eben das ist es, was der Terminus des Primats der Schrift besagen will: der Eintritt ins Reale, das ist die Form dieses vom primitiven Jäger wiederholten Strichs, der absoluten Differenz, insofern sie da ist.
Sie werden auch keine Mühe haben – Sie werden es finden, wenn Sie Frege lesen, auch wenn Frege, mangels einer hinreichenden Theorie des Signifikanten, diesen Weg nicht beschreitet –, Sie werden keine Mühe haben, im Text von Frege zu finden, dass die besten Analytiker der Funktion der Einheit, insbesondere Jevons und Schröder, den Akzent genau auf die Funktion des unären Zugs / des Einzelstrichs gesetzt haben, auf dieselbe Weise wie ich. Das bringt mich dazu zu sagen, dass wir hier Folgendes zu artikulieren haben, dass ich Sie – indem ich die Polarität dieser Funktion der Einheit umkehre, wenn ich so sagen darf, indem ich die vereinigende Einheit* zugunsten der distinktiven Einheit aufgebe, zugunsten der Einzigkeit* –, dass ich Sie an den Punkt führe, an dem es darum geht, Schritt für Schritt zu definieren, zu artikulieren, wie der Status des Subjekts, insofern es mit diesem einzigen Zug verbunden ist, damit verbunden ist, dass dieses Subjekt in seiner Struktur dort konstituiert ist, wo der Sexualtrieb, im Verhältnis zu allem, was dem Körper zukommt, seine privilegierte Funktion hat.“11
Der einzige Zug wird hier nicht mehr einfach als Signifikant bezeichnet. Es handelt sich bei ihm um einen Signifikanten, der in das Reale eintritt. Er ist etwas Geschriebenes, und das heißt hier: ein in das Reale eingetretener Signifikant.
Der einzige Zug ist nicht die vereinigende Einheit, sondern die distinktive Einheit. Lacan übersetzt das mit „Einzigkeit“ ins Deutsche – allerdings falsch. Der trait unaire ist kein „einziger Zug“ – es gibt mehrere davon –, sondern ein „einzelner Zug“, ein „unärer Zug“. Es geht, wenn man so sagen darf, um die „Einzelnheit“ im Sinne von „ein Einzelnes sein“, nicht um die „Einzigkeit“.
Der unäre Zug ist die absolute Differenz, die auf das inhaltsleere Verschiedensein reduzierte Differenz. Er steht am Punkt der Umwandlung eines Zeichens (das sich auf das Ding bezieht) in einen Signifikanten (der sich auf andere Signifikanten bezieht).
„Ein Signifikant unterscheidet sich von einem Zeichen vor allem darin – und das habe ich versucht, Sie spüren zu lassen –, dass die Signifikanten zunächst nur die Gegenwart der Differenz als solcher manifestieren und nichts anders. Die erste Sache, die er also impliziert, ist die, dass die Beziehung des Zeichens zur Sache (chose) ausgelöscht ist.“12
Der unäre Zug ist also die absolute Differenz, sofern sie ins Reale eingetreten ist, sofern sie etwas „Geschriebenes“ ist.
Inwiefern ist diese Differenz absolut? Ich verstehe das so: sie ist die das Signifikantensystem fundierende Differenz, die radikale (d.h. an der Wurzel liegende) Differenz. Sie ist absolut (nämlich losgelöst), also sie fundierend ist, aber nicht fundiert.
Lacan bezieht sich auf Gottlob Freges Die Grundlagen der Arithmetik. Zur Frage des Zahlbegriffs zitiert Frege die folgende Bemerkung von William Stanley Jevons:
„Zahl ist nur ein andrer Name für Verschiedenheit. Genaue Identität ist Einheit, und mit Verschiedenheit entsteht Mehrheit.“13
Der Mathematiker Ernst Schröder wird von Frege mit dem folgenden Satz zitiert:
„Die Anforderung, Dinge zu zählen, kann vernünftigerweise nur gestellt werden, wo solche Gegenstände vorliegen, welche deutlich voneinander unterscheidbar, z.B. räumlich und zeitlich getrennt und gegeneinander abgegrenzt erscheinen.“14
Die Zahl beruht auf dem „Ein“, auf der Addition von Einheiten, und das Ein ist letztlich nichts anderes als die pure Verschiedenheit. Der unäre Zug ist zugleich Identität und Differenz.
Lacan bringt im Seminar Die Identifizierung (1961/62) den Primat der Schrift mit der absoluten Differenz zusammen – offenkundig hat Derrida sich für die Grammatologie (1968) von Lacan anregen lassen, speziell von diesem Seminar. Hat er es besucht? Nicht dass ich wüsste, aber die Seminarstenotypien zirkulierten unter Seminarteilnehmern.
Der Narzissmus der kleinen Differenzen
Im Seminar über die Identifizierung heißt es:
„Bezogen auf die erste Tatsache, die Verbindung des Subjekts mit diesem unären Zug (trait unaire), werde ich heute – da ich denke, dass der Weg hinreichend artikuliert ist – den Endpunkt setzen, indem ich Sie daran erinnere, dass diese Tatsache, die in unserer Erfahrung so wichtig ist und die von Freud herausgestellt wurde, in Bezug auf das, was er als Narzissmus der kleinen Differenzen bezeichnet, dass dies dasselbe ist wie das, was ich die Funktion des unären Zugs nenne“11.
Der unäre Zug, der trait unaire, entspricht Freuds „Narzissmus der kleinen Differenzen“. In Massenpsychologie und Ich-Analyse hatte Freud geschrieben, kurz vor der Darstellung der drei Formen der Identifizierung:
„Nach dem Zeugnis der Psychoanalyse enthält fast jedes intime Gefühlsverhältnis zwischen zwei Personen von längerer Dauer – Ehebeziehung, Freundschaft, Eltern- und Kindschaft – einen Bodensatz von ablehnenden, feindseligen Gefühlen, der nur infolge von Verdrängung der Wahrnehmung entgeht. Unverhüllter ist es, wenn jeder Kompagnon mit seinem Gesellschafter hadert, jeder Untergebene gegen seinen Vorgesetzten murrt. Dasselbe geschieht dann, wenn die Menschen zu größeren Einheiten zusammentreten. Jedesmal, wenn sich zwei Familien durch eine Eheschließung verbinden, hält sich jede von ihnen für die bessere oder vornehmere auf Kosten der anderen. Von zwei benachbarten Städten wird jede zur mißgünstigen Konkurrentin der anderen; jedes Kantönli sieht geringschätzig auf das andere herab. Nächstverwandte Völkerstämme stoßen einander ab, der Süddeutsche mag den Norddeutschen nicht leiden, der Engländer sagt dem Schotten alles Böse nach, der Spanier verachtet den Portugiesen. Daß bei größeren Differenzen sich eine schwer zu überwindende Abneigung ergibt, des Galliers gegen den Germanen, des Ariers gegen den Semiten, des Weißen gegen den Farbigen, hat aufgehört, uns zu verwundern.“15
In Das Unbehagen in der Kultur war Freud darauf zurückgekommen:
„Es wird den Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, daß er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen ‚Narzißmus der kleinen Differenzen‘, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird. Das überallhin versprengte Volk der Juden hat sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben; leider haben alle Judengemetzel des Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen Genossen zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf die Liebe begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen, obwohl die Religion bei ihnen Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt war. Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.“16
Der Narzissmus der kleinen Differenzen bezieht sich auf die pure Verschiedenheit – auf den unären Zug. Umgekehrt formuliert: Der klinische Aspekt des „einzelnen Zug“ ist die feindselige Einstellung gegenüber anderen, sei es als einzelner gegenüber anderen einzelnen, sei es als Mitglied einer Gruppe gegenüber anderen Gruppen. Implizit heißt das: Basis für die Verachtung anderer Gruppen ist die Identifizierung als Einzelner.
Das Ichideal
Lacan fährt an der zuletzt zitierten Stelle aus dem Identifizierungs-Seminar so fort:
„Denn das ist nichts anderes als die Tatsache, dass ausgehend von einer kleinen Differenz – und ‚kleine Differenz‘ zu sagen, bedeutet nichts anderes als diese absolute Differenz, über die ich zu Ihnen spreche, diese Differenz, die von jedem möglichen Vergleich abgelöst ist –, dass ausgehend von dieser kleinen Differenz, insofern sie dieselbe Sache ist wie das große I, das Ichideal, dass sich ausgehend davon, ob das Subjekt als Träger dieses einzigen Zugs konstituiert ist oder nicht, die gesamte narzisstische Strebung akkommodieren kann.“17
Freuds zweite Form der Identifizierung ist die regressive Identifizierung mit dem verlorenen Liebes- und Hassobjekt des Ödipuskomplexes; sie besteht in der Übernahme eines „einzelnen Zugs“. Dieser einzelne Zug ist für Lacan ein unärer Zug und er beruht, ihm zufolge, auf der „kleinen Differenz“ in Freuds Rede vom „Narzissmus der kleinen Differenzen“. Die Differenz ist so klein, dass sie, wenn man so sagen darf, auf die Differenzhaftigkeit reduziert ist, auf einen Unterschied, der nicht mehr anzeigt als einen Unterschied überhaupt. Der einzelne Zug im Sinne von Freud – die Übernahme eines bestimmten Merkmals – beruht auf der absoluten Differenz, auf der Differenz schlechthin, auf dem trait unaire.
Durch die Übernahme eines unären Zugs, durch die Konstituierung einer kleinen Differenz, entsteht das Ichideal. In Lacans optischem Modell steht für das Ichideal der Buchstabe I, im „Grafen des Begehrens“ das Symbol I(A); der Buchstabe groß I kann auch als Einzelstrich gedeutet werden.
Eines der Themen von Seminar 9 ist der Eigenname. Die Identifizierung mit dem Eigennamen ist eine der Formen, wie man sich mit dem einzigen Zug des Anderen identifizieren kann.18
Ausgehend vom „unären Zug“, von der kleinen Differenz als Grundlage des Ichideals, kann sich die gesamte narzisstische Strebung akkommodieren. Lacan spricht hier über das Verhältnis zwischen dem symbolischen Ichideal, I(A), und dem imaginären Ideal-Ich, i(a). Die Akkommodation der narzisstischen Strebung an das Ichideal war Gegenstand des „optischen Modells“ mit dem umgekehrten Blumenstrauß; das Ichideal wird hier durch den Buchstaben I oben rechts repräsentiert, das Ideal-Ich durch die mit i(a) bezeichnete Vase sowie durch iꞌ(a), das Spiegelbild dieser Vase (vgl. diesen und diesen und diesen Blogartikel). Lacan deutet den Narzissmus der kleinen Differenzen anders als Freud. Freud sieht es so: eine kleine Differenz wird narzisstisch besetzt. Bei Lacan ist es umgekehrt: eine kleine Differenz interveniert in die narzisstische Beziehung und strukturiert sie um.
Zusammenfassung in eigenen Worten
(Ergänzung vom 29. November 2015)
Letzte Grundlage für das Funktionieren der Sprache als Signifikantensystem ist die Differenz (Signifikanten sind differentiell organisiert, sagt Saussure), die Differenz als solche, die absolute Differenz.
Die absolute Differenz liegt jedem Signifikanten zugrunde.
Lacan nennt die Differenz als solche „trait unaire“: unärer Zug, einzelner Zug, Einzelstrich, Unärstrich.
Lacans Modell für den einzigen Zug ist der Kerbstock, also die Strichliste. Jeder Strich ist im Verhältnis zu den anderen Strichen zugleich identisch und different. Er ist mit den anderen identisch, insofern jeder mit jedem anderen ausgetauscht werden kann, er unterscheidet sich von den anderen, insofern er eine andere Stelle besetzt.
Damit ein Mensch zu einem sprechenden Wesen wird, muss die Differenz in das Reale des Körper eingeschrieben werden, und zwar die Differenz schlechthin. Das heißt, die körpergebundenen Erregungsabläufe müssen an die Differenz-schlechthin angepasst und entsprechend modifiziert werden.
Das Einschreiben der absoluten Differenz in die Erregungsabläufe des Körpers nennt Lacan „Identifizierung mit dem unären Zug“.
Die Identifizierung mit dem einzelnen Zug ist die Identifizierung als je Einer, als zählbar Einzelner. Diese Identifizierung ist zugleich die Herstellung einer Differenz, die Unterscheidung von anderen.
Bei der Identifizierung mit dem unären Zug geht es um das, was Freud als „Narzissmus der kleinen Differenz“ bezeichnet, die feindselige Einstellung gegen andere.
Die Identifizierung mit dem unären Zug ist die primäre Identifizierung.
Die Identifizierung mit dem unären Zug ist die Grundlage des Ichideals.
Eine der Formen der Übernahme eines unären Zugs ist die Identifizierung mit dem Eigennamen.
Verwandte Beiträge
- Unärer Zug (II): der Grund der Wiederholung
- SI-Phi – Nachtrag zur Erläuterung des optischen Modells
- Ich – Ideal-Ich – Ichideal: der Zauberspiegel
- Mein einzelner Zug
Anmerkungen
-
Vgl. S. Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 61-134, darin Kapitel VII, „Die Identifizierung“, S. 98-103.
-
Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 100.
-
Über den „einzigen Zug“ spricht Lacan erstmals in Seminar 8, in der Sitzung vom 7. Juni 1961, Version Miller/Gondek S. 433.
-
Seminar 12, Sitzung vom 6. Januar 1965; meine Übersetzung nach Version Staferla.
-
J. Lacan: Problèmes cruciaux pour la psychanalyse. Compte rendu du séminaire 1964-1965. In: Ders.: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 199-202, hier: S. 200.
-
Seminar 15 von 1967/68, Der psychoanalytische Akt, Sitzung vom 6. Dezember 1967; Version Staferla 25.10.2015, S. 31, meine Übersetzung.
-
Anmerkung des Übersetzers: Anspielung auf die Redewendung Et voilà pourquoi votre fille est muette! „Deshalb also ist ihre Tochter stumm!“ Die Wendung bezieht sich ironisch auf eine scheinbare Evidenz oder auf eine falsche Schlussfolgerung; sie stammt aus Molières Komödie Der Arzt wider Willen.
-
A.d.Ü.: Die Verwandtschaftsbeziehung Vater-Tochter – und damit die abzählbare Generationenfolge – ist an die Sprache gebunden: an die Verwandtschaftsterminologie.
-
Seminar 9, Sitzung vom 6. Dezember 1961, die Fettschreibung ist von mir. Meine Übersetzung nach Version Staferla.
-
Seminar 11, Sitzung vom 22. April 1965; Version Miller/Haas, S. 148.
-
Seminar 9, Sitzung vom 28. Februar 1962. Meine Übersetzung nach Version Staferla.
-
Seminar 9, Sitzung vom 6. Dezember 1961 ; meine Übersetzung nach Version Staferla.
-
William Stanley Jevons: The principles of science: a treatise on logic and scientific method (1874). 3. Auflage. Macmillan, London 1879, S. 156. Zit. n. Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik (1884). Reclam jun., Stuttgart 1987, § 35, S. 86.
-
Ernst Schröder: Lehrbuch der Arithmetik und Algebra für Lehrende und Studirende. Bd. 1: Die sieben algebraischen Operationen. Teubner, Leipzig 1873, S. 3. Zit. n. Frege, Die Grundlagen der Arithmetik, a.a.O., S. 86.
-
Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, a.a.O., S. 95.
-
S. Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 191-270, hier: S. 242 f.
-
Vgl. Seminar 9, Sitzungen vom 20. Dezember 1961 und vom 10. Januar 1962.