Der Schnitt, das Reale und die Innenacht
Vladimir Kush: Scissors, von hier
In Seminar 6, Das Begehren und seine Deutung (1958/59), führt Lacan den Begriff des Schnitts ein. Darunter versteht er dort die Unterbrechung einer Signifikantenkette, etwa das Ende einer psychoanalytischen Sitzung (vgl. diesen Blogartikel). Seine Hauptthese zum Schnitt lautet in in diesem Seminar: Der Schnitt ist die Manifestation des Realen im Symbolischen (vgl. diesen Blogartikel). Das Symbol der Raute in der Formel des Phantasmas, $◊a, wird von da an als Zeichen für den Schnitt gedeutet (vgl. diesen Blogartikel).
In Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62), greift Lacan das Konzept des Schnitts auf und deutet es um. Er bezieht es jetzt auf die Flächen der mathematischen Topologie, vor allem den Torus, die Kreuzhaube und das Möbiusband. Der Schnitt ist damit der Schnitt in eine Fläche bzw. der eine Fläche erzeugende Schnitt (beispielsweise entsteht das Möbiusband durch einen bestimmten Schnitt in die Kreuzhaube). Als entscheidende Form des Schnitts begreift er nun den Schnitt in Form einer sogenannte Innenacht, auf die er von da an immer wieder zurückkommen wird.1 Von hier aus bestimmt er neu, wie sich im Schnitt das Reale manifestiert: als das Selbe.
Im Folgenden übersetze ich zunächst aus dem Identifizierungsseminar die wichtigste Passage zum Verhältnis von Schnitt, Innenacht und Realem. Danach findet man meine Paraphrase mit einigen erläuternden Hinweisen.
Seminar 9, aus der Sitzung vom 30. Mai 1962
„Der Signifikant determiniert das Subjekt, sage ich Ihnen, insofern dies notwendigerweise das ist, was die psychoanalytische Erfahrung besagt. Aber verfolgen wir die Konsequenzen dieser notwendigen Prämissen.
Der Signifikant determiniert das Subjekt. Hierdurch bekommt das Subjekt eine Struktur, diejenige, die ich Ihnen in diesem Jahr mithilfe des Graphen zu demonstrieren versucht habe, zu zeigen versucht habe, bezogen auf die Identifizierung, das heißt auf etwas, was sich tatsächlich auf die Struktur des Subjekts unserer Erfahrung konzentriert.2 Ich versuche, Sie dazu zu bringen, die Verbindung des Signifikanten mit der Subjektstruktur näher zu verfolgen.
Wohin ich Sie mit diesen topologischen Formeln führe – bei denen Sie bereits gespürt haben, dass es hier nicht einfach um den intuitiven Bezug geht, an den uns der Umgang mit der Geometrie gewöhnt hat –, das ist dies, zu berücksichtigen, dass diese Flächen Strukturen sind.3 Und ich habe Ihnen sagen müssen, dass sie alle in jedem ihrer Punkte strukturell gegenwärtig sind, falls wir dieses Wort ‚Punkt‘ überhaupt so verwenden sollen, ohne das auszusparen, was ich heute hierzu vorbringen werde.
Durch meine vorangehenden Äußerungen habe ich Sie soweit gebracht, dass es jetzt darum geht, in seiner Einheit darzulegen, dass der Signifikant Schnitt ist; es handelt sich darum, das Subjekt und seine Struktur davon abhängig zu machen.
Das ist durch etwas möglich, was ich Sie bitte, zu akzeptieren und mir darin zumindest eine Zeitlang zu folgen, nämlich dass das Subjekt die Struktur einer Fläche hat, zumindest soweit sie topologisch definiert ist.
Es geht also darum zu begreifen – und das ist nicht schwierig –, wie der Schnitt die Fläche erzeugt.
Das ist das, was ich angefangen habe, Ihnen an Beispielen zu erläutern, an dem Tag, an dem ich Ihnen meine Möbiusflächen geschickt habe, wie kleine Papierflieger für irgendein Spiel.4 Ich habe Ihnen außerdem gezeigt, dass diese Flächen, wenn Sie sie auf bestimmte Weise zerschneiden, zu anderen Flächen werden, ich meine zu solchen, die als veränderte Flächen topologisch definiert und materiell fassbar sind. Denn das sind keine Möbiusflächen mehr, eben aufgrund des Schnitts, den Sie entlang der Mittellinie vorgenommen haben, sondern das ist ein Band, das zwar in sich ein wenig verdreht ist, das aber tatsächlich ein Band ist, das, was man Band nennt, so wie dieser Gürtel, den ich hier um die Hüften trage.
Dies, um Ihnen eine Idee davon zu geben, dass es möglich ist, sich diesen Erzeugungsvorgang vorzustellen, der sich gewissermaßen umgekehrt zu einer ersten Evidenz verhält. Sie werden denken, es ist die Fläche, die den Schnitt ermöglicht, und ich sage Ihnen: Es ist der Schnitt, den wir als das auffassen können – wenn wir die topologische Perspektive einnehmen –, wodurch die Fläche erzeugt wird.
Und das ist sehr wichtig. Denn letztlich werden wir hier vielleicht den Punkt erfassen können, an dem der Signifikant in das Reale eintritt, in es eingefügt wird, und an dem wir in der menschlichen Praxis feststellen können, dass der Signifikant deshalb in das Reale eintreten kann, weil das Reale uns, wenn ich so sagen kann, natürliche Flächen anbietet.
Natürlich kann man sich damit amüsieren, diese Genese mit ‚konkreten Handlungen‘, wie man sagt, nachzuvollziehen, um daran zu erinnern, dass der Mensch schneidet und dass unsere Erfahrung weiß Gott eine solche ist, in der herausgestellt worden ist, wie wichtig es ist, dass man mit einer Schere schneiden kann. Eines der grundlegenden Bilder der ersten analytischen Metaphern, nämlich die beiden Daumen, die unter dem Klappern der Schere abspringen, ist sicherlich so, dass es uns dazu anstachelt, nicht das zu vernachlässigen, was es an Konkretem gibt, an Praktischem: die Tatsache, dass der Mensch ein Tier ist, das sich mit Werkzeugen verlängert, an erster Stelle mit einer Schere.
Das ist aber nicht das, wohin ich Sie bringe, und mit Grund. Uns führt der Satz ‚Der Mensch schneidet (coupe)‘ eher zu den semantischen Echos dieser Formulierung: dass er sich verplappert (qu’il se coupe), wie man sagt, dass er versucht, etwas abzukürzen (d’y couper).
Bezogen auf die grundlegende Formel der Kastration, ‚Man wird ihn dir abschneiden‘, ist all dies auf andere Weise zusammenzutragen.
Als Signifikanteneffekt war der Schnitt für uns zunächst in der phonematischen Analyse der Sprache diese zeitliche, genauer sukzessive Linie der Signifikanten, bei der ich Sie bisher daran gewöhnt habe, sie als Signifikantenkette zu bezeichnen.
Aber was geschieht, wenn ich Sie jetzt auffordere, die Linie selbst als ursprünglichen Schnitt anzusehen?
Diese Unterbrechungen, diese Individualisierungen, diese Linienabschnitte, die, wenn Sie wollen, bei passender Gelegenheit als ‚Phoneme‘ bezeichnet wurden, bei denen also unterstellt wurde, dass sie von dem, was vorausgeht, und von dem, was folgt, getrennt sind, wodurch sie eine Kette bilden, die zumindest punktuell unterbrochen ist, diese ‚Geometrie der sensiblen Welt‘, auf die sich zu beziehen ich Sie beim letzten Mal angestiftet habe, mit der Lektüre von Jean Nicod und des Werkes mit diesem Titels –.5 In einem zentralen Kapitel werden Sie sehen, wie wichtig die Analyse der Linie ist, insofern sie, möchte ich sagen, durch ihre intrinsischen Eigenschaften definiert werden kann, und wie viel leichter es für ihn gewesen wäre, wenn er die Funktion des Schnitts als grundlegend in den Vordergrund gestellt hätte, bei der theoretischen Konstruktion, die er mit den größten Schwierigkeiten ausarbeiten muss, mit Widersprüchen, die keine anderen sind als eben die, die grundlegende Funktion zu vernachlässigen.
Wenn die Linie selbst Schnitt ist, wird demnach jedes ihrer Elemente der Abschnitt eines Schnitts sein.
Und das ist insgesamt das, wodurch dieses lebendige Element, wenn ich so sagen kann, des Signifikanten eingeführt wird, welches ich als ‚Innenacht‘ (huit intérieur) bezeichnet habe,
nämlich genau die Schlinge (boucle):
Die Linie überschneidet sich selbst. Warum ist das relevant?
Der Schnitt, der im Realen angebracht wird, manifestiert hier, im Realen, was sein Charakteristikum und seine Funktion ist, und das, was es in unsere Dialektik einführt, im Gegensatz zu einer Verwendung, die besagt, dass das Reale das Verschiedene ist.
Das Reale, immer schon habe ich mich hierbei dieser ursprünglichen Funktion bedient, um Ihnen zu sagen, dass das Reale das ist, wodurch das Selbe eingeführt wird, oder genauer, das Reale ist das, was am selben Platz immer wiederkehrt.6 Was heißt das anderes als dies, dass der Abschnitt des Schnitts, anders gesagt der Signifikant – da er, wie wir gesagt haben, immer von sich selbst unterschieden ist, A ist nicht mit A identisch –, dass er kein anderes Mittel hat, das Selbe erscheinen zu lassen, als aufseiten des Realen.
Anders gesagt, wenn ich mich so ausdrücken kann, auf der Ebene eines reinen Subjekts des Schnitts kann der Schnitt nur deshalb wissen, dass er sich geschlossen hat, dass er sich selbst überquert, weil das Reale, insofern es sich vom Signifikanten unterscheidet, das Selbe ist. Anders ausgedrückt: Einzig das Reale schließt den Schnitt. Eine geschlossene Kurve ist das enthüllte Reale, aber, wie Sie ganz grundlegend sehen, der Schnitt muss sich selbst überschneiden, falls ihn nicht bereits etwas unterbrochen hat.
Unmittelbar nach dem Zug / dem Strich (le trait) nimmt der Signifikant diese Gestalt an:
und das ist der Schnitt im strengen Sinne des Wortes.
Der Schnitt ist ein Zug / ein Strich, der sich überschneidet, er ist es erst, nachdem er sich schließt, auf der Grundlage, dass er, indem er sich überschneidet, dem Realen begegnet ist, das einzig als das Selbe konnotiert werden kann beziehungsweise als das, was sich unter der ersten und dann unter der zweiten Schlinge befindet.
Wir finden hier den Knoten, der uns eine Stütze gegenüber dem gibt, was die Ungewissheit, das Schwanken der gesamten identifikatorischen Konstruktion ausmachte.
In der Artikulation von Jean Nicod werden Sie das sehr gut erfassen. Sie besteht darin: Muss man das Selbe erwarten, damit der Signifikant Bestand hat? Wie man es immer geglaubt hat, ohne sich hinreichend bei der grundlegenden Tatsache aufzuhalten, dass der Signifikant, um die Differenz zu dem hervorzubringen, was er ursprünglich bedeutet, nämlich das ‚Mal‘ (fois), dieses eine Mal, das, ich versichre es Ihnen, sich nicht wiederholen kann, durch das jedoch das Subjekt immer dazu genötigt ist, es wiederzufinden, dieses eine Mal fordert also, um seine Signifikantenform zu erlangen, dass der Signifikant sich zumindest einmal wiederholt, und diese Wiederholung ist nichts anderes als die radikalste Form der Erfahrung des Anspruchs (demande).
Was der Signifikant – inkarniert – ist, das sind all die Male, die der Anspruch sich wiederholt. Und wäre es nicht vergeblich, dass der Anspruch sich wiederholt, gäbe es keinen Signifikanten, da keinen Anspruch. Wenn Sie das hätten, was der Anspruch in seine Schlinge einschließt, gäbe es kein Bedürfnis nach einem Anspruch. Kein Bedürfnis nach einem Anspruch, wenn das Bedürfnis befriedigt ist.“7
Paraphrase mit Erläuterungen
[Text in eckigen Klammern und grüner Schrift: meine Erläuterungen.]
[? Grün unterlegte Passagen in eckigen Klammern, die mit einem Fragezeichen beginnen, beziehen sich auf das, was ich nicht verstanden habe.]
Signifikant, Subjekt, Identifizierung
Der Signifikant determiniert das Subjekt und hierdurch bekommt das Subjekt eine Struktur.
Eine Form, wie der Signifikant das Subjekt determiniert, ist die Identifizierung; die Struktur des Subjekts konzentriert sich gewissermaßen in der Identifizierung.
Der Schnitt und die Fläche
Der Signifikant ist Schnitt; wenn das Subjekt durch den Signifikanten bestimmt wird, muss deshalb erläutert werden, inwiefern die Struktur des Subjekts durch den Schnitt determiniert wird. [„Schnitt“ ist ein Grundbegriff der mathematischen Topologie, Flächen werden hier dadurch klassifiziert, welche Arten von Schnitten bei ihnen möglich sind.]
Hierzu wird die Struktur des Subjekts als Fläche aufgefasst, als Fläche im Sinne der Topologie. Man muss also das Verhältnis von Subjektstruktur und Signifikant als Verhältnis von Fläche und Schnitt rekonstruieren. [D.h. ohne das Konzept des Schnitts hat der topologische Zugang zur Struktur des Subjekts wenig Sinn. Wer in der Psychoanalyse vom Schnitt nicht reden will, sollte von topologischen Flächen schweigen – und umgekehrt.]
Diese Beziehung verläuft umgekehrt, als man es sich vorstellt. Spontan denkt man, die Fläche ermögliche den Schnitt. Tatsächlich aber – d.h. topologisch gesehen – erzeugt der Schnitt die Fläche. Lacan erläutert das am Beispiel eines Möbiusbandes. Wenn man es entlang der Mittellinie zerschneidet, verwandelt es sich in ein Band, das zwar in sich gewunden ist, das aber kein Möbiusband mehr ist. Kurz: Der Schnitt erzeugt die Fläche, hier die des in sich gewundenen Bandes.
Der Schnitt als Eintritt des Signifikanten in das Reale
Damit lässt sich vielleicht erfassen, wie der Signifikant in das Reale eintritt.
In der menschlichen Praxis stellt es sich so dar, dass der Signifikant deshalb in das Reale eintreten kann, weil das Reale uns gewissermaßen natürliche Flächen anbietet. [Dies ist eine spontan sich aufdrängende, aber irreführende Vorstellung.]
Auf das Verhältnis von Schnitt und Realem kann man sich auf der Ebene von „konkreten Handlungen“ beziehen: Der Mensch ist ein Werkzeuge gebrauchendes Tier, wobei er mit den Werkzeugen seine Organe verlängert [Werkzeuge sind „Organprojektionen“ oder „Organverlängerungen“, wie Ernst Kapp in den Grundlinien einer Philosophie der Technik (1877) sagte]. Eines dieser Werkzeuge ist die Schere, sie ist ein grundlegendes Element der psychoanalytischen Erfahrung [die Kastration als Drohung, dass etwas abgeschnitten wird oder die Vorstellung, dass etwas abgeschnitten worden ist, vgl. diesen Blogbeitrag]. Das ist jedoch nicht die Richtung, die Lacan verfolgt.
Eher kommt man voran, sagt er, wenn man sich auf die Verwendung von couper (schneiden) in bestimmten Formulierungen bezieht, wie qu’il se coupe, dass er sich verplappert, oder, dass er versucht d’y couper, eine Abkürzung zu nehmen. [Das ist jedoch nur eine Anspielung, noch keine theoretische Rekonstruktion. Ich nehme an, dass die Anspielung auf die Selbstüberschneidung einer Linie vorausweist.]
Der Schnitt und der Signifikant
Lacan hatte das Konzept des Schnitts ursprünglich [in Seminar 6] als Signifikanteneffekt bestimmt und auf die Signifikantenkette bezogen, auf die sukzessive Linie von Signifikanten. Diese Linie besteht aus einzelnen Abschnitten, die beispielsweise als Phoneme gedeutet werden können, und die von dem, was ihnen vorausgeht, und dem, was ihnen folgt, getrennt sind, wodurch die Kette zumindest punktuell unterbrochen ist. [Diese Unterbrechungen sind Schnitte; vgl. diesen Blogartikel.]
Lacan nimmt jetzt eine Umdeutung vor. Unter „Schnitt“ soll nicht mehr die Unterbrechung zwischen den Linienabschnitten verstanden werden, sondern die Linie der Signifikanten insgesamt, also die Signifikantenkette. Nun gilt also die Signifikantenkette insgesamt als der ursprüngliche Schnitt. Oder einfacher: „Die Linie selbst“ ist der Schnitt. [Achtung, das „selbst“ ist wichtig – wann ist eine Linie „sie selbst“? Diese Fragestellung bildet den Hintergrund der folgenden Bemerkungen, und die Antwort lautet: „Selbst“ ist ein Verhältnis – ein „Selbstverhältnis“, wie man auch sagt. Man muss also fragen, wie und wo die Linie sich auf sich selbst bezieht.]
Die Segmente der Linie [also die einzelnen Signifikanten, etwa einzelne Phoneme oder einzelne Ansprüche] sind dann Abschnitte des Schnitts.
Schnitt und Innenacht
Eine Form der Linie ist die sich selbst überschneidende Linie, eine Schlinge (boucle).
[In der oberen Zeichnung ist die geschlossene Linie – gewissermaßen der Rand der Tropfens – der Abschnitt eines Schnitts; der Abschnitt des Schnitts bildet hier eine Schlinge.]
Lacan nennt die sich selbst überschneidende Linie [wenn sie außerdem geschlossen ist, also keine losen Enden hat] Innenacht (huit intérieur). [Vgl. diesen Blogartikel.]
[Lacan beschreibt die Innenacht so, dass sie aus zwei Schlingen besteht, einer inneren und einer äußeren; die innere wird durch den Tropfen gebildet, die äußere durch das Herz. In der Zeichnung unten habe ich die innere Schlinge grün gefärbt und die äußere blau.]
Die Innenacht ist ein „lebendiges Element des Signifikanten“ [insofern vielleicht, als sie, qua Doppelschleife, die Wiederholung darstellt, und damit auf die Aktivität des Signifikanten].
Der Schnitt im Realen
Was bringt uns das Konzept der Innenacht, also der sich selbst überschneidenden geschlossenen Linie?
Dieses Konzept hilft, die Beziehung zwischen dem Signifikanten [also dem Symbolischen] und dem Realen zu begreifen.
Unter dem Realen versteht Lacan nicht etwa das Verschiedene, sondern das Selbe. [Man muss sich hier daran erinnern, dass es in diesem Seminar um die Identifizierung geht und insofern um das Selbe.] Hierauf hatte Lacan sich immer schon [seit Seminar 2] mit der Formel bezogen, dass das Reale das ist, was an derselben Stelle immer wiederkehrt. [Der psychoanalytische Bezugspunkt der Formel ist also die Frage nach dem Verhältnis von Identifizierung und Wiederholung.]
Der Signifikant hingegen ist immer von sich selbst unterschieden, A ist nicht A. [Dies war eines der Themen von Seminar 9; vgl. diesen Blogartikel].
Die Innenacht ist eine Linie, die sich selbst überschneidet.
Also geht es beim Selbst der Selbstüberschneidung um das Reale. Einzig das Reale schließt den Schnitt, verwandelt die offene Kurve in eine geschlossene Kurve; in der Geschlossenheit der Kurve [in ihrem Selbst-Bezug] enthüllt sich das Reale. [Nicht die Innenacht insgesamt ist das Reale – die Innenacht steht für den Signifikanten, insofern er sich wiederholt; das Reale ist offenbar der Punkt, am dem die Innenacht sich selbst überschneidet, sich auf sich selbst bezieht, ein Selbst konstituiert.]
Man kann den Signifikanten demnach schrittweise so entwickeln.
– Die erste Form ist der Zug / der Strich (le trait) [also eine offene Kurve ohne Selbstüberschneidung, z.B. der Strich einer Strichliste].
– Die nächste Form ist der Schnitt, das heißt eine Kurve, die sich selbst überschneidet.
Das kann man so darstellen:
oder auch so:
– Die sich selbst überschneidende Linie ist wiederum die Grundlage für die Innenacht. [Der Übergang zur Innenacht wird an der übersetzten Stelle nicht näher ausgeführt, immerhin ist klar: Ein entscheidendes Charakteristikum der Innenacht ist die Selbstüberschneidung, damit das Selbstverhältnis und damit der Bezug auf das Reale.]
[? Bei der Innenacht sind zwei Formen der Geschlossenheit im Spiel, zum einen als Selbstüberschneidung der Linie, zum anderen als Verbindung der beiden Enden der Linie. Mir ist nicht klar, wie Lacan den Zusammenhang sieht.]
[In der Innenacht gibt es, wenn man die Linie wie eine Ameise verfolgt, zwei Überkreuzungsereignisse. Die Linie verläuft zunächst über sich selbst, dann unter sich selbst (oder umgekehrt). Sie bezieht sich also doppelt auf das Reale.]
Unter den beiden Schleifen liegt das Reale. [? Ist gemeint „unterhalb“ der beiden Überkreuzungsereignisse?]
Die Wiederholung
Dieser Knoten [nämlich die Innenacht] liefert eine Stütze gegenüber dem Schwanken der Identitätskonstruktion. Das Problem entsteht dadurch, dass der Signifikant nicht mit sich identisch ist. Wie kann er dann mit dem Selben zusammengebracht werden? [Wie kann in einer Psychoanalyse, die sich auf den Signifikanten bezieht, also auf die Differenz, das mit dem Begriff der Identifizierung verbundene Konzept des Selben theoretisch rekonstruiert werden?]
Der Signifikant kann das erste Mal, das er ursprünglich bedeutet hatte, nicht wiederholen. Das Subjekt ist jedoch gewissermaßen verpflichtet, es wiederzufinden. Dies hat zur Folge, dass der Signifikant sich wiederholt, und erst durch die Wiederholung, die zumindest einmal erfolgen muss, wird er überhaupt erst Signifikant [hat hier Derrida sein Konzept der ursprünglichen Wiederholung entliehen?]. Der Anspruch (demande) [die Forderung als Form des Signifikanten] wird radikal in der Wiederholung erfahren. Allerdings ist die Wiederholung vergeblich [weshalb die Wiederholung wiederholt wird]. Wenn der Anspruch erfüllt werden würde, wenn das Bedürfnis befriedigt werden würde, gäbe es kein Bedürfnis nach [weiterem] Anspruch.
[In der Sitzung vom 6. Juni 1962 modifiziert Lacan das Konzept der Selbstüberschneidung der Innenacht; die Selbstüberschneidung, heißt es hier, sei eine offene Möglichkeit. In seinen beiden Hauptbeispielen für die Innenacht, Innenacht auf dem Torus und Innenacht auf der Kreuzhaube, gibt es keine Selbstüberschneidung, sie ergibt sich erst bei Projektion dieser drei- oder vierdimensionalen Kurve in die Fläche. Dass dieser Überschneidungspunkt normalerweise, d.h. auf den topologischen Flächen, nicht existiert, ist sicherlich eine geplante Pointe, schließlich ist das Reale ja das nicht Symbolisierbare. Das Reale ist das Selbe, ist die Selbstüberschneidung der Linie, und zwar genau insofern, als diese Selbstüberschneidung unmöglich ist.]
[Zusammenfassung]
[Die Innenacht steht für den Signifikanten. Sie stellt daran heraus, dass ein Signifikant nur dann Signifikant ist, wenn er sich mindestens einmal wiederholt; dies wird durch die Kreisverdopplung illustriert. Die Innenacht bezieht die Signifikantenwiederholung auf die Kastration – die Innenacht ist der Schnitt in eine Fläche (besser gesagt: der eine Fläche generierende Schnitt), und der Begriff des Schnitts verweist auf die Kastration und damit auf die Transformation der Sexualität durch die Sprache. Projiziert man die Innenacht in den zweidimensionalen Raum, zeigt sie eine Selbstüberschneidung. Das Selbst der Überschneidung, also der Überschneidungspunkt, verweist auf das Reale – die Wiederholung beruht auf etwas Realem, sie ist der Versuch, etwas Unsymbolisierbares zur Sprache zur bringen. Und eben hierauf bezieht sich der Schnitt im Sinne der Kastration: das Unsymbolisierbare beruht auf dem Eingriff des Symbolischen in die Sexualität.]
[Oder so: Das Reale ist das Unmögliche, also das, was zu symbolisieren unmöglich ist. Das Reale ist das Selbe (Freuds Wiederholung des ursprünglichen Befriedigungserlebnisses), und aufgrund der Differentialität der Signifikanten ist das Selbe unmöglich. Topologisch dargestellt ist das Selbe das Zurückkommen einer Linie auf sich selbst, die Selbstüberschneidung. In der Ordnung der Topologie repräsentiert die Innenacht die Signifikantenlinie. Auf den topologischen Flächen ist die Selbstüberschneidung der Innenacht unmöglich, also real. Dass die Selbstüberschneidung das von der Innenacht Angezielte, aber Verfehlte ist – also das Reale –, sieht man bei der Projektion in die zweidimensionale Ebene; die Signifikantenkette – also das Symbolische – wird hier durch die geschlossene Linie repräsentiert und das Reale durch den Schnittpunkt.]
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- Die Signifikantenkette ist keine signifikante Kette
Anmerkungen
- Auf die Innenacht stößt man in den Seminaren 9 bis 13, 15 und 20. In den Écrits findet man sie im Aufsatz Die Wissenschaft und die Wahrheit, einer Vorlesung von 1965, die 1966 veröffentlicht wurde. In den Autres écrits bezieht Lacan sich auf die Innenacht in der Proposition du 9 octobre 1967 sur les psychanalyste de l’École, die 1968 im Druck erschien.
- Mit dem „Graphen“ ist hier nicht, wie sonst meist, der sogenannte Graph des Begehrens gemeint; Lacan bezieht sich hier vielmehr auf die Darstellung der topologischen Flächen.
- Gemeint sind die Flächen der mathematischen Topologie, vor allem Torus, Kreuzhaube und Möbiusband.
- Auf das Möbiusband bezieht Lacan sich zuerst in der Sitzung vom 28. März 1962 dieses Seminars.
- Jean Nicod (1893–1924) war ein französischer Logiker und Philosoph. Seine Thèse La géométrie du monde sensible (1923) war 1962 von Presses universitaire de France neu herausgebracht worden. Lacan hatte sich in der vorangegangenen Sitzung (23. Mai 1962) auf diese Arbeit bezogen.
- Zuerst in Seminar 2 von 1954/55, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, wo es heißt, die Sterne seien real, da man sie immer am selben Platz wiederfindet (Sitzung vom 25. Mai 1955; Version Miller/Metzger, S. 303). Als Formel zuerst in Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung, in der Sitzung vom 1. Juli 1959; Version Miller, S. 565.
- Seminar 9, Sitzung vom 30. Mai 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.