Jacques Lacan
Das Objekt der Psychoanalyse. Bericht über das Seminar 1965/66
Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Rolf Nemitz
Ernst Mach: Zeichnung zu: Ders.: Antimetaphysische Vorbemerkungen.
In: Ders.: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Fischer, Jena 9. Aufl. 1922, S. 15
Erste deutsche Übersetzung.
Für Seminar 13, L’objet de la psychanalyse (1965/66), hatte Lacan einen Lehrauftrag der École pratique des Hautes Études (Section sciences économiques et sociales); für das Jahrbuch dieser Hochschule mussten Resümees zu den Veranstaltungen eingereicht werden. Veranstaltungsort war ein Hörsaal der École Normale Supérieure de Paris.
Der Bericht erschien zuerst im Annuaire 1966–1967 der École pratique des Hautes Études (Section sciences économiques et sociales), S. 211–212.
Er wurde nachgedruckt in: J. Lacan: Autres écrits. Seuil, Paris 2001, S. 219–220, unter dem Titel L’objet de la psychanalyse. Compte rendu du séminaire 1965–1966.
Im Internet findet man dieses Compte rendu auf der Seite der ELP, Pas-tout Lacan, hier.
Lacan liest diesen Text noch während des Seminars Das Objekt der Psychoanalyse vor, dort in der Sitzung vom 25. Mai 1966. Er nimmt dabei einige geringfügige verdeutlichende Änderungen vor. Die Übersetzung der vorgelesenen Fassung findet man auf dieser Website hier.
Die Übersetzung wird zweimal gebracht, einmal nur deutsch, dann Satz für Satz französisch/deutsch. Die zweisprachige Fassung enthält in den Anmerkungen zur deutschen Übersetzung Literaturangaben und inhaltliche Erläuterungen. Die Anmerkungen habe ich aus der Übersetzung der Lese-Version dieses Resümees übernommen.
Einschübe in runden Klammern sind von Lacan.
Das Objekt der Psychoanalyse
Deutsch
Zahlen in eckigen Klammern und grauer Schrift, z.B. [219], verweisen auf die Seiten von J. Lacan: Autres écrits. Seuil, Paris 2001.
[219] Das Seminar dieses Jahres hat sich, seiner Linie folgend, mit der Funktion befasst, die in der psychoanalytischen Erfahrung seit langem als Objektbeziehung erfasst wird.
Man vertritt hier die Auffassung, dass sie beim analysierbaren Subjekt das Verhältnis zum Realen beherrscht, und das orale und das anale Objekt sind hier auf Kosten anderer ausgearbeitet worden, deren Status, obgleich manifest, ungewiss bleibt.
Während die ersten unmittelbar auf der Beziehung des Anspruchs beruhen, die den korrigierenden Eingriff durchaus begünstigt, verlangen die anderen eine komplexere Theorie, da eine Spaltung des Subjekts darin unverkennbar ist, die unmöglich einzig durch Bemühungen in guter Absicht reduziert werden kann, da es eben diese Spaltung ist, auf die sich das Begehren stützt.
Diese anderen Objekte, nämlich der Blick und die Stimme (wenn wir das Objekt, das bei der Kastration im Spiel ist, erst einmal zurückstellen), sind mit der Subjektspaltung unauflöslich verbunden und vergegenwärtigen davon im Feld des Wahrgenommenen den als genuin libidinös getilgten Teil. Als solche lassen sie die Wertschätzung einer Praxis zurückgehen, welche droht, sie mithilfe der Spiegelbeziehung zu erfassen, mit den Identifizierungen des Ichs, die man darin respektieren will.
Diese Erinnerung genügt als Begründung dafür, dass wir das Gewicht vorzugsweise auf den Schautrieb gelegt haben und auf das ihm innewohnende Objekt, den Blick.
Wir haben die Topologie entwickelt, die es ermöglich, die Präsenz des percipiens in dem Feld wiederherzustellen, in dem es als Nicht-Wahrgenommenes gleichwohl, wenn nicht sogar allzu sehr, wahrnehmbar ist: in den Triebwirkungen (Exhibition und Voyeurismus).
Diese Topologie, die sich in die projektive Geometrie und in die Flächen der Analysis situs einschreibt, ist nicht so aufzufassen – wie das mit den optischen Modellen bei Freud der Fall ist –, dass sie den Status einer Metapher hätte, sondern vielmehr als Darstellung der Struktur selbst. Sie legt Rechenschaft ab von der Unreinheit des skopischen perceptum, indem sie das wiederfindet, was wir geglaubt hatten, aufzeigen zu können von der Gegenwart des percipiens, unwiderlegbar hinsichtlich der Markierung, die sie |[220] vom Signifikanten trägt, wenn sie sich als etwas zeigt, das in dem niemals begriffenen Phänomen der psychotischen Stimme ausgeprägt ist.
Die absolute Forderung nach einer Theorie des Begehrens zu diesen beiden Punkten bringt uns zur Korrektur von Abweichungen der Praxis, zur notwendigen Selbstkritik der Position des Analytikers, zu einer Selbstkritik, die sich auf die Risiken bezieht, die mit seiner eigenen Subjektivierung verbunden sind, wenn er ehrlich antworten will, und sei es einzig auf den Anspruch.
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Französisch/deutsch
Zahlen in eckigen Klammern und grauer Schrift, z.B. [219], verweisen auf die Seiten von J. Lacan: Autres écrits. Seuil, Paris 2001.
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[219] Le séminaire de année s’est occupé, suivant sa ligne, de la fonction longtemps repérée dans l’expérience psychanalytique au titre de la relation dite d’objet.
Das Seminar dieses Jahres hat sich, seiner Linie folgend, mit der Funktion befasst, die in der psychoanalytischen Erfahrung seit langem als Objektbeziehung erfasst wird.
On y professe qu’elle domine pour le sujet analysable sa relation au réel, et l’objet oral ou anal y sont promus, aux dépens d’autres, dont le statut pourtant manifeste, y demeure incertain.
Man vertritt hier die Auffassung, dass sie beim analysierbaren Subjekt das Verhältnis zum Realen beherrscht, und das orale und das anale Objekt sind hier auf Kosten anderer ausgearbeitet worden, deren Status, obgleich manifest, ungewiss bleibt.
C’est que si les premiers reposent directement sur la relation de la demande, bien propice à l’intervention corrective, les autres exigent une théorie plus complexe, puisque n’y peut être méconnue une division du sujet, impossible à réduire par les seuls efforts de la bonne intention : étant la division même dont se supporte le désir.
Während die ersten unmittelbar auf der Beziehung des Anspruchs beruhen, die den korrigierenden Eingriff durchaus begünstigt, verlangen die anderen eine komplexere Theorie, da eine Spaltung des Subjekts darin unverkennbar ist, die unmöglich einzig durch Bemühungen in guter Absicht reduziert werden kann, da es eben diese Spaltung ist, auf die sich das Begehren stützt.
Ces autres objets, nommément le regard et la voix (si nous laissons à venir l’objet en jeu dans la castration), font corps avec cette division du sujet et en présentifient dans le champ même du perçu la partie élidée comme proprement libidinale.
Diese anderen Objekte, nämlich der Blick und die Stimme (wenn wir das Objekt, das bei der Kastration im Spiel ist, erst einmal zurückstellen), sind mit der Subjektspaltung unauflöslich verbunden und vergegenwärtigen davon im Feld des Wahrgenommenen den als genuin libidinös getilgten Teil.
Comme tels, ils font reculer l’appréciation de la pratique, qu’intimide leur recouvrement par la relation spéculaire, avec les identifications du moi qu’on y veut respecter.
Als solche lassen sie die Wertschätzung einer Praxis zurückgehen, welche droht, sie mithilfe der Spiegelbeziehung zu erfassen, mit den Identifizierungen des Ichs, die man darin respektieren will.
Ce rappel suffit à motiver que nous ayons insisté de préférence sur la pulsion scopique et sur son objet immanent : le regard.
Diese Erinnerung genügt als Begründung dafür, dass wir das Gewicht vorzugsweise auf den Schautrieb gelegt haben und auf das ihm innewohnende Objekt, den Blick.
Nous avons donné la topologie qui permet de rétablir la présence du percipiens lui-même dans le champ où il est pourtant perceptible, quand il ne l’est même que trop dans les effets de la pulsion (exhibition et voyeurisme).
Wir haben die Topologie entwickelt, die es ermöglich, die Präsenz des percipiens in dem Feld wiederherzustellen, in dem es als Nicht-Wahrgenommenes gleichwohl, wenn nicht sogar allzu sehr, wahrnehmbar ist: in den Triebwirkungen (Exhibition und Voyeurismus). 1
Cette topologie qui s’inscrit dans la géométrie projective et les surfaces de l’analysis situs, n’est pas à prendre comme il en est des modèles optiques chez Freud, au rang de métaphore, mais bien pour représenter la structure elle-même.
Diese Topologie, die sich in die projektive Geometrie und in die Flächen der Analysis situs2 einschreibt, ist nicht so aufzufassen – wie das mit den optischen Modellen bei Freud der Fall ist3 –, dass sie den Status einer Metapher hätte, sondern vielmehr als Darstellung der Struktur selbst.4
Elle rend compte de l’impureté du perceptum scopique, en retrouvant ce que nous avions cru pouvoir indiquer de la présence du percipiens, irrécusable de la marque qu’elle |[220] emporte du signifiant, quand elle se montre monnayée dans le phénomène jamais conçu de la voix psychotique.
Sie legt Rechenschaft ab von der Unreinheit des skopischen perceptum, indem sie das wiederfindet, was wir geglaubt hatten, aufzeigen zu können von der Gegenwart des percipiens, unwiderlegbar hinsichtlich der Markierung, die sie hier vom Signifikanten trägt, wenn sie sich als etwas zeigt, das in dem niemals begriffenen Phänomen der psychotischen Stimme ausgeprägt ist.5
L’exigence absolue, en ces deux points, d’une théorie du désir nous reporte à la rectification des fléchissements de la pratique, à l’autocritique nécessaire de la position de l’analyste, qui va aux risques attachés à sa propre subjectivation, s’il veut répondre honnêtement fût-ce seulement à la demande.
Die absolute Forderung nach einer Theorie des Begehrens zu diesen beiden Punkten bringt uns zur Korrektur von Abweichungen der Praxis, zur notwendigen Selbstkritik der Position des Analytikers, zu einer Selbstkritik, die sich auf die Risiken bezieht, die mit seiner eigenen Subjektivierung verbunden sind, wenn er ehrlich antworten will, und sei es einzig auf den Anspruch. 6
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Anmerkungen
- Lacan verwendet hier und im nächsten Satz die scholastische lateinische Terminologie:
percipiens = das Wahrnehmende, d.h. das wahrnehmende Subjekt,
perceptum = das Wahrgenommene, also das wahrgenommene Objekt.
In seinem Aufsatz über Merleau-Ponty hatte Lacan geschrieben:
„Wo aber ist das Primum, und warum vorurteilen, es sei bloß ein percipiens, wenn hier sich abzeichnet, dass es seine Elision ist, die dem perceptum des Lichts selbst seine Transparenz verleiht. (…) Wie dem auch sei, wir haben an anderer Stelle, insbesondere hinsichtlich des Sujets der verbalen Halluzination, Anspruch erhoben auf das Privileg, welches dem perceptum des Signifikanten zukommt in der zu bewirkenden Konversion der Beziehung des percipiens zum Subjekt.“ (J. Lacan: Maurice Merleau-Ponty (1961). Übersetzt von Hans-Joachim Metzger. In: Ders.: Schriften III. Hg. v. Norbert Haas. Walter, Olten u.a. 1980, S. 237–249, hier: S. 243; die „andere Stelle“ ist Lacans Aufsatz Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht (geschrieben 1957/58, veröffentlicht 1959).) In: J. Lacan: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 9–71. - „Analysis situs“ ist ein älterer Name für die mathematische Topologie. Die Flächen der Analysis situs bzw. Topologie, die Lacan ab Seminar 9, Die Identifizierung (1961/62), behandelt, sind vor allem Torus, Kreuzhaube, Klein’sche Flasche und Möbiusband.
Die projektive Ebene der projektiven Geometrie ist mit einer Kreuzhaube äquivalent. - Im letzten Kapitel der Traumdeutung vergleicht Freud den seelischen Apparat mit einem Mikroskop oder Fernrohr (vgl. ders.: Die Traumdeutung. Studienausgabe, Bd. 2. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000,S. 512–520.). Der optische Apparat besteht aus Linsensystemen und „ideellen Örtlichkeiten“ (virtuellen Bildern), die auf konstante Weise angeordnet sind und vom Licht in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden. Analog bestehe der seelische Apparat aus einer Reihe von Instanzen oder Systemen, die eine feste Anordnung haben und die, wie das Licht, von der Erregung bei bestimmten psychischen Vorgängen in einer bestimmten Reihenfolge durchlaufen werden. Der Apparat lässt sich, Freud zufolge, darauf reduziern, dass die Anordnung der Systeme eine Richtung hat – die psychische Tätigkeit gehe vom Wahrnehmungsende aus, von inneren oder äußere Reizen, und sie ende in Innervationen, im Motilitätsende. Das allgemeinste Schema des psychischen Apparats habe also folgendes „Ansehen“ (a.a.O., S. 514, 515 und 517):
Freud: Schemata des psychischen Apparats (Traumdeutung)
- Dass die topologischen Flächen nicht den Status von Metaphern haben, hatte Lacan in den Sitzungen vom 30. März und vom 4. Mai 1966 von Seminar 13 ausgeführt.
- Vgl. J. Lacan: Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht (1958). In: Ders.: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 9–71.
Mit der Markierung durch den Signifikanten könnte gemeint sein, dass die halluzinierte Stimme abgebrochene Sätze formuliert: „Nun will ich mich …“, „Sie sollen nämlich …“, „Das will ich mir …“ (a.a.O., S. 20). - Unter demande (Anspruch, Forderung, Bitte) versteht Lacan meist eine symbolisch artikulierte Forderung. Im Feld des Schautriebs lautet der Anspruch: „Lass sehen!“; bei der Analyse von Las meninas hatte Lacan ihn der Infantin in den Mund gelegt (11. Mai 1966, S. 28 f. von Version J.L.; 18. Mai 1966, S. 47 von Version J.L.). Die Antwort auf diesen Anspruch war: „Du siehst mich nicht von wo aus ich dich erblicke.“ (18. Mai 1966, S. 49 von Version J.L.) Damit wird der Übergang vom Anspruch zum Begehren vollzogen und vom Sehen zum Blick.