Lacans Formeln
Metonymie und Metapher
Victor Hugo, Booz endormi, gelesen von Gilles-Claude Thériault
Text zum Mitlesen hier
In Das Drängen des Buchstabens oder die Vernunft seit Freud (1957) erläutert Lacan seine These von der Einwirkung des Signifikanten auf das Signifikat durch die Formeln der Metonymie und der Metapher.1 Wie sind sie zu lesen?
Signifikant, Sperre, Signifikat
Lacans Formeln erinnern an die Formeln der Mathematik, der Physik und der Logik, man kann mit ihnen jedoch weder rechnen noch logische Ableitungen vollziehen. Lacan nennt sie „Algorithmen“, obwohl darunter für gewöhnlich etwas anderes verstanden wird (nämlich Handlungsvorschriften, die es ermöglichen, mit Sicherheit ein Problem zu lösen). Lacans Formeln sind Strukturformeln. Am ehesten lassen sie sich mit den Formeln vergleichen, die in der Chemie üblich sind – auch die Lacanschen „Algorithmen“ geben gewissermaßen die Beziehungen zwischen den Elementen an.
Zur Verwendung solcher Ausdrücke hat Lacan sich möglicherweise von Lévi-Strauss anregen lassen. In dessen Aufsatz Die Struktur der Mythen (1955) findet man beispielsweise die folgende allgemeine Formel für den Mythos2: Fx(a) : Fy(b) ≅ Fx(b) : Fa–1(y).
Lacans Formeln für Metonymie und Metapher bauen auf zwei einfacheren Formeln auf.3
Der erste dieser beiden Ausdrücke knüpft an Saussure an. Dieser hatte erklärt, das sprachliche Zeichen (signe linguistique) bestehe aus einer Vorstellung (concept) und einem Lautbild (image acoustique). In einer Reihe von graphischen Darstellungen hatte er die Vorstellung oben platziert, das Lautbild unten. Den Ausdruck „Vorstellung“ ersetzt er dann durch „Signifikat“ (signifié), den Ausdruck „Lautbild“ durch „Signifikant“ (signifiant). Wenn man das auf Saussures graphische Darstellungen anwendet, ergibt sich: Signifikat über Signifikant.4
Lacan schreibt das Verhältnis von Signifikat und Signifikant mit der folgenden Formel:
S : Signifikant
– : la barre, Querstrich, Sperre, Barre, Balken
s : Signifikat
Lacan macht hierzu einen Lesevorschlag: „Zu lesen als: Signifikant über Signifikat, womit das Über dem Balken entspricht, der die beiden Etagen trennt.“5 Er schreibt die Formel Saussure zu und merkt dabei an, dass man sie in dieser Form bei Saussure nicht findet.
Die entscheidenden Merkmale sind:
– Signifikant und Signifikat gehören unterschiedlichen Ordnungen an.
– Zwischen Signifikant und Signifikat gibt es eine Barriere.
– Die Positionen von Signifikant und Signifikat sind gegenüber Saussure vertauscht; der Signifikant steht oben, das Signifikat unten, womit angedeutet werden soll: Der Signifikant hat den Primat. Diese These übernimmt Lacan von Lévi-Strauss, der 1950 geschrieben hatte:
„Wie die Sprache ist das Soziale eine (und zwar dieselbe) autonome Realität; die Symbole sind realer als das, was sie symbolisieren, der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt es.“6
Der Signifikant hat insofern den Primat, als er das Signifikat bestimmt, auf es einwirkt. Für „Signifikat“ kann man zu diesem Zeitpunkt meist noch „Sinn“ oder „Bedeutung“ einsetzen (eine Differenzierung dieser Ausdrücke nimmt Lacan erst später vor).
Die Formel Signifikant über Signifikat liegt auch noch den Formeln für Metonymie und Metapher zugrunde.
Von Saussure übernimmt Lacan damit die Zweigliedrigkeit des Zeichens (Signifikant – Signifikat). Es fehlt die dritte Bezugsgröße des semiotischen Dreiecks, wie meist gesagt wird, der Referent, also der Gegenstand, auf den sich das Verhältnis von Signifikant und Signifikat bezieht; in Lacans Begrifflichkeit: es fehlt der Bezug zum Realen. Lacan wird das korrigieren ab Seminar 13 von 1964/65, Schlüsselprobleme für die Psychoanalyse; von da an gibt es also, neben Signifikant und Signifikat, auch, wie Lacan sich ausdrücken wird, den „Referenten“, die „Denotation“ oder die „Bedeutung“ im Sinne von Freges Unterscheidung von „Sinn“ (Signifikat) und „Bedeutung“ (Referent), wobei Lacan hier teils den deutschen Ausdruck verwendet, also „Bedeutung“, teils die Übersetzung mit „signification“.7 Die von Charles Sanders Peirce ausgearbeitete Version des semiotischen Dreiecks (mit dem „Interpretanten“ als Referent) wird er in Seminar 19 von 1971/72 aufgreifen, … oder schlimmer.8
Zurück zum Drängen des Buchstabens. Um die Einwirkung des Signifikanten auf das Signifikat deutlicher darzustellen und um den Übergang zu den Formeln von Metonymie und Metapher vorzubereiten, transformiert Lacan die erste Formel in folgenden Ausdruck:
f : Funktion
(S) : Signifikant im allgemeinen
1 : ein einzelner Signifikant, eine einzelne Signifikantenkette
– : la barre, Sperre
s : Signifikat, Sinn, Bedeutung
Der erste Teil des Ausdrucks, , lässt sich so lesen: Die allgemeine Funktion (f) des Signifikanten (S) besteht darin …
Der zweite Teil, , kann so gelesen werden: Ein einzelner Signifikant (1) ist mit einer Sperre verbunden (–), die dafür sorgt, dass das Signifikat (s) „unten“ bleibt, dass es unzugänglich bleibt.
Insgesamt also: Die allgemeine Funktion des Signifikanten besteht darin, dass ein einzelner Signifikant mit einer Sperre verbunden ist, die dafür sorgt, dass das Signifikat – der Sinn, die Bedeutung – unzugänglich ist. Die Barre oder Sperre steht dafür, dass sich angesichts des Signifikanten die Frage stellt „Was bedeutet das?“ Man könnte die Sperre also auch durch ein Fragezeichnen repräsentiern.
An die Stelle der gängigen Sichtweise, dass Signifikate durch Signifikanten ausgedrückt werden (Gedanken durch Worte), tritt die umgekehrte Suchrichtung; es wird nicht gefragt, durch welchen Signifikanten wird dieses Signifikat ausgedrückt?, sondern: welches Signifikat hat ein gegebener Signifikant? Hinzu kommt die These, dass es in dieser Beziehung eine Sperre gibt, eine Barriere – der Signifikant führt das Signifikat keineswegs demonstrativ mit sich. Es ist klar, dass sich der Wechsel vom Expressionsmodell zum Entzifferungsmodell der psychoanalytischen Praxis verdankt. Ausgangspunkt sind hier gesprochene Wörter (die „freien Assoziationen“ des Analysanten), die Frage ist, welche unbewussten Bedeutungen sich dahinter verbergen, der Zugang zu den unbewussten Bedeutungen ist durch die Abwehr versperrt.
Ein prägnantes Beispiel für die von dieser Formel dargestellte Struktur ist ein Gebilde, das Freud als „Deckerinnerung“ bezeichnet.9 Deckerinnerungen sind scheinbar harmlose, nichtssagende Erinnerungen, die durch einen Assoziationsweg mit wichtigen Erinnerungen verbunden sind, jedoch so, dass es einen „Widerstand“ gibt (wie Freud in Bezug auf die Deckerinnerung sagt), durch den die andere Erinnerung unzugänglich ist. Der harmlosen Erinnerung entspricht in der Formel die 1, der Widerstand wird durch die Sperre repräsentiert, also durch den „Bruchstrich“, die wichtige Erinnerung ist das unter die Sperre gedrückte Signifikat, dargestellt durch das kleine s.
Freud erläutert die Deckerinnerung am Beispiel der frühesten Kindheitserinnerung eines seiner Patienten: Auf einer Wiese spielen drei Kinder. Eines davon ist der Patient selbst im Alter von zwei oder drei Jahren, ein anderes sein etwas älterer Vetter, das dritte seine gleichaltrige Cousine. Die Kinder pflücken gelbe Wiesenblumen, das Mädchen hat den schönsten Strauß. Die beiden Jungen entreißen ihm die Blumen. Das Mädchen läuft zum Haus und bekommt von der Bäuerin zum Trost ein Stück Brot. Die Jungen werfen die Blumen weg und verlangen ebenfalls Brot. Sie bekommen eine Scheibe, das Brot schmeckt köstlich.
Die Assoziationen des Patienten führen zu seiner ersten Liebe: Er ist siebzehn, verbringt die Ferien auf dem Lande und verliebt sich in die fünfzehnjährige Tochter der Familie. Er hält seine Liebe geheim, das Mädchen reist nach wenigen Tagen ab. Er gibt sich Phantasien hin, wie die Umstände hätten sein müssen, dass er sie hätte heiraten können.
Freud merkt seinem Patienten gegenüber an, dass die Darstellung der Liebe hinter seinen sonstigen Erfahrungen zurück bleibe. Er antwortet: „Nein, keineswegs. Die Darstellung der Liebe ist ja die Hauptsache daran. Jetzt verstehe ich erst! Denken Sie doch: einem Mädchen die Blume wegnehmen, das heißt ja: deflorieren.“10
Für das Symbol 1 können wir einsetzen: „die Jungen entreißen dem kleinen Mädchen die Blumen“. Das kleine s entspricht dem Ausdruck „die Ferienliebe deflorieren“.
Das lässt sich so schreiben:
Im Ausdruck „Deckerinnerung“ entspricht das Element „Deck-“ der Sperre oder Barre, sofern man „Deckerinnerung“ so versteht, dass die Erinnerung etwas verdeckt.
Metonymie und Metapher
In der antiken Rhetorik beziehen sich die Begriffe „Metonymie“ und „Metapher“ auf Wortersetzungen. Ausgangspunkt ist die Situation eines Redners, der einen schlichten Text vor sich hat und der dessen Wirkung steigern möchte; die Wirkungssteigerung erfolgt unter anderem dadurch, dass er Worte ersetzt. „Metonymie“ meint hier einen Austausch von Worten, bei dem die Bedeutung des ersetzten Wortes und die Bedeutung des ersetzenden Wortes in einer Beziehung der Nachbarschaft stehen; aus „ich trinke Wein“ wird „ich trinke ein Glas“; die Flüssigkeit Wein steht zum Glasbehälter in einer Beziehung der Nachbarschaft. Bei einer Metapher wird ein Wort durch einen Ausdruck ersetzt, der sich auf etwas Ähnliches bezieht; aus „seine neue Freundin“ wird „seine neue Göttin“, das gemeinsame Merkmal ist die Verehrung.
Lacan versteht unter „Metonymie“ und „Metapher“ etwas anderes, unter „Metonymie“ die Nachbarschaftsbeziehung von Signifikanten, unter „Metapher“ die Ersetzungsbeziehung zwischen ihnen. Zu dieser Umdeutung der Begriffe hat er sich von Roman Jakobson anregen lassen, genauer von dessen Opposition von Kombination (plus Kontiguität) und Substitution (plus Similarität) und dadurch, dass Jakobson die Kombination bzw. Kontiguität dem metonymischen Weg zurechnet (bzw. dem metonymischen Mechanismus), die Substitution bzw. Similarität dem metaphorischen Weg (dem metaphorischen Mechanismus); vgl. diesen Blogartikel.
Die Formel der Metonymie
f : Funktion
S : Signifikant
(S … Sˈ) : Kombination von Signifikanten beliebiger Anzahl
≅ : entspricht
(–) : Aufrechterhalten der Sperre, der Barre
s : Signifikat, Sinn
Der Ausdruck hat eine linke und eine rechte Seite, die durch das Symbol ≅ miteinander verbunden sind. Die linke Seite der Formel liest man am besten so, dass man hin- und herspringt, etwa in dieser Weise: Wenn Signifikanten miteinander kombiniert werden (S … S), heißt das für die Funktion (f) des Signifikanten (S rechts von der Klammer) Folgendes (≅).
Die Funktion des Signifikanten ist das Signifikat, der Sinn. Man könnte die linke Seite deshalb auch so lesen: Wenn Signifikanten miteinander kombiniert werden, heißt das für die Funktion des Signifikanten, nämlich für das Signifikat, Folgendes.
Der rechte Ausdruck lässt sich so lesen: Der Signifikant (S) ist verbunden mit einer Sperre (–), die dafür sorgt, dass das Signifikat (s) von den Signifikanten aus unzugänglich bleibt.
Das ergibt insgesamt: Wenn Signifikanten miteinander kombiniert werden, heißt das für die Funktion des Signifikanten, dass der Signifikant eine Sperre aktiviert, die dafür sorgt, dass das Signifikat, also der Sinn, von den Signifikanten aus unzugänglich bleibt.
Eine Veranschaulichung dieser Struktur außerhalb des Feldes der Psychoanalyse ist die Erfahrung, die man bisweilen macht, wenn man in einem Lexikon nach der Bedeutung eines Ausdrucks sucht, also nach dem Signifikat eines Signifikanten. Man wird von Artikel zu Artikel zu Artikel geschickt (von Signifikant zu Signifikant zu Signifikant), ohne dass die Bedeutung jemals klar wird.
Im Rahmen der Psychoanalyse ist das typische Beispiel für eines der S in der Klammer eine Forderung, ein Anspruch. Die Klammer (S … S) kann dann als Symbol für die Wiederholung eines Anspruchs gelesen werden. In der Wiederholung des Anspruchs manifestiert sich das unbewusste Begehren. Aus diesem Grunde erklärt Lacan im Aufsatz über das Drängen des Buchstabens, „dass das Begehren des Menschen eine Metonymie ist“11.
Man kann (S … S) allgemeiner als Symbol für den Wiederholungszwang lesen. Die Formel besagt dann: Die Signifikanten des Wiederholungszwangs haben die Funktion, einen bestimmten Sinn, nämlich das Begehren, unbewusst zu halten.
Die von der Formel dargestellte Struktur lässt sich durch die Bemerkungen erläutern, mit denen Freud den Begriff des Wiederholungszwangs einführt. Nach Hinweisen zur Entwicklung der Deutung in der Psychoanalyse, zum Widerstand und zur Widerstandsdeutung schreibt er:
„Dann aber wurde es immer deutlicher, dass das gesteckte Ziel, die Bewußtwerdung des Unbewußten, auch auf diesem Wege nicht voll erreichbar ist. Der Kranke kann von dem in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück der Vergangenheit zu erinnern.“12
Freud gibt folgende Beispiele: Der Analysierte erzählt nicht, dass er gegen die Autorität der Eltern trotzig und ungläubig war, sondern verhält sich auf eben diese Weise gegenüber dem Psychoanalytiker. Er erinnert sich nicht daran, dass er in seiner kindlichen Sexualforschung steckengeblieben war, sondern jammert in der Analyse, dass ihm nichts gelingt und bringt einen Haufen verworrener Träume vor. Er erinnert sich nicht daran, dass er sich gewisser Sexualbetätigungen geschämt hatte, sondern er zeigt, dass er sich wegen der Behandlung schämt, und sucht sie geheim zu halten.13
Die Wiederholung tritt an die Stelle der Erinnerung an das Verdrängte. Mit einigen kleinen Änderungen kommt man von hier zu Lacans Formel der Metonymie: Die Wiederholung hat die Funktion, dafür zu sorgen, dass die Sperre aufrechterhalten bleibt, die dafür sorgt, dass der Sinn der Signifikanten, das verdrängte Begehren, nicht in der Erinnerung auftaucht.
Man könnte die Formel so ausfüllen:
Die Formel der Metapher
f : Funktion
S : Signifikant
: Ersetzung von Signifikant S durch Signifikant Sˈ
≅ : entspricht
(+) : Überschreiten der Sperre, der Barre; Neues
s : Signifikat, Sinn
Die linke Seite liest man auch hier am besten so, dass man hin- und herspringt. Das ergibt dann etwa: Wenn ein Signifikant (Sˈ) einen anderen Signifikanten (S unter dem „Bruchstrich“) ersetzt, heißt das für die Funktion (f) des Signifikanten (S rechts von der Klammer) Folgendes (≅).
Der rechte Ausdruck kann so gelesen werden: Der Signifikant (S) ist mit einem Überwinden der Barre, der Sperre verbunden (+) und es kommt zur Erschaffung eines neuen (+) Signifikats (s).
Zusammen also: Wenn ein Signifikant einen anderen Signifikanten ersetzt, heißt das für die Funktion des Signifikanten, dass der Signifikant mit dem Überwinden der Sperre verbunden ist und ein neuer Sinn geschaffen wird.
Das ist nahe beim Metaphernverständnis von Claude Lévi-Strauss:
„Die Wirkungskraft der Symbole würde in eben dieser ‚induzierenden Eigenschaft‘ bestehen, die den – in Bezug aufeinander – formal homologen Strukturen eigenete […]. Die poetische Metapher ist ein bekanntes Beispiel für diesen induzierenden Vorgang; aber ihr gewohnter Gebrauch erlaubt es ihr nicht, über das Psychische hinauszugehen. In diesem Zusammenhang heben wir die Intuition Rimbauds hervor, welcher sagte, dass sie auch zur Veränderung der Welt dient.„14
Zur Erläuterung der Metapher bezieht Lacan sich auf eine Zeile, die er in einem Lexikon gefunden hat, offenbar im Artikel „Metapher“. Es geht um einen Vers aus einem Gedicht von Victor Hugo, Booz endormi (Der eingeschlafene Boas, 1859), aus dem ersten Band des Gedichtzyklus La Légende des siècles.
Sa gerbe n’était pas avare ni haineuse15
Seine Garbe war nicht geizig noch hasserfüllt16
Das Gedicht bezieht sich auf das Buch Ruth der hebräischen Bibel. Dort wird erzählt, dass die Witwe Ruth, eine Moabiterin, mit ihrer Schwiegermutter Naomi nach Bethlehem zieht. Dort arbeitet sie als Ährenleserin bei Boas, einem reichen Bauern. Als Boas schläft, legt sie sich, einem Rat ihrer Schwiegermutter folgend, zu seinen Füßen. Boas nimmt sie zur Frau. Sie bekommt einen Sohn, der dann der Großvater von König David wird. In Hugos Gedicht wird Boas als reich, alt und gerecht dargestellt.
Lacan deutet die ersten beiden Worte des Verses, „seine Garbe“, als Metapher. Nie würde man von einem Ährenbündel sagen, es sei geizig und hasserfüllt oder es sei nicht geizig und nicht hasserfüllt. „Seine Garbe“ ist also nicht wörtlich zu nehmen. Vielmehr sind die Attribute „nicht geizig noch hasserfüllt“ auf Boas zu beziehen. Die Ausgangsformulierung für den Ersetzungsvorgang lautet demnach: „Boas war nicht geizig noch hasserfüllt“.
Lacan betont, dass die Substitution nicht etwa so funktioniert, dass Boas mit einer Garbe verglichen wird; er wird mit ihr vielmehr gleichgesetzt. Hierdurch entsteht Lacan zufolge der Poesie-Charakter der Zeile, der „poetische Funke“17.
„Der schöpferische Funke der Metapher […] entspringt zwischen zwei Signifikanten, von denen der eine sich an die Stelle des anderen gesetzt hat, indem er in der Signifikantenkette seinen Platz einnahm, wobei der verdeckte Signifikant durch seine (metonymische) Verbindung mit dem Rest der Kette gegenwärtig bleibt.“17
Der getilgte Signifikant „Boas“ bleibt metonymisch präsent, durch den Kontext der Erzählkette, und außerdem durch das Possessivpronomen „seine“.
Der entscheidende Punkt dabei ist für Lacan: Die Ersetzung von „Boas“ durch „seine Garbe“ sorgt dafür, dass „Boas“ eine neue Bedeutung erhält, die Bedeutung der Fruchtbarkeit. Damit wird die Vaterschaft von Boas angekündigt.18
In diesem Zusammenhang greift Lacan Jakobsons Begriff der Similarität auf, verwendet ihn jedoch anders. Zwischen „Boas“ und „seine Garbe“ gibt es eine Similariät, die Similarität ist jedoch nicht semantisch, sagt Lacan, sondern syntaktisch, sie besteht einzig darin, dass in der syntaktischen Struktur des Satzes die Signifikanten „Boas“ und „seine Garbe“ beide die Position des grammatischen Subjekts einnehmen.19
Wenn man das in die Formel der Metapher einfügt, erhält man:
Was heißt das für die Psychoanalyse? Der Vorgang der Ersetzung ist grundlegend für das Unbewusste, Lacan kann den Begriff der Metapher deshalb in zahlreichen Zusammenhängen ins Spiel bringen, etwa bei der Rekonstruktion des Ödipuskomplexes. In Lacans Deutung geht es dabei um die Substitution des Signifikanten „Begehren (nach) der Mutter“ durch den Signifikanten „Name-des-Vaters“; hierzu hat er eine weitere Formel entwickelt, die Formel der Vatermetapher.
Welches Signifikat wird hierbei geschaffen? Lacans Antwort lautet zunächst: der Phallus. In diesem Punkt wird er seine Theorie im Lauf der Zeit jedoch umbauen. Er wird, wie erwähnt, Freges Unterscheidung von Sinn und Bedeutung aufgreifen („Sinn“ qua Signifikat, „Bedeutung“ qua Referent) und er wird sagen: Der Phallus ist Bedeutung und nicht Sinn, anders gesagt: der Phallus repräsentiert den Referenten, die Jouissance.
Ein anderer Anwendungsfall für den Begriff der Metapher ist das Symptom: Das Symptom ist eine Metapher, heißt es in Das Drängen des Buchstabens, und dies zu sagen, sei keine Metapher.20 Mit Freud: Das Symptom ist eine „Ersatzbildung“21; beispielsweise erklärt sich die Tierphobie des „Wolfsmanns“ Freud zufolge dadurch, dass der Liebesanspruch an den Vater durch die Angst vor dem Wolf ersetzt wird.22 Welches neue Signifikat wird durch die Symptom-Metapher kreiert? Das ist mir nicht klar.
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Anmerkungen
- J. Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957). In: Ders.: Schriften. Band I. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2016, S. 582–626; die Formeln der Metonymie und der Metapher findet man hier auf S. 609 f.
- Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen (1955). In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969, S. 226–254, hier: S. 251.
- Vgl. Das Drängen, a.a.O., S. 587 und 609.
- Vgl. Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. v. Ch. Bally und A. Sechehaye. Übersetzt von Herman Lommel. De Gruyter, Berlin 1967, Erster Teil, Kapitel 1, § 1.
- Das Drängen, a.a.O., S. 587.
- Claude Lévi-Strauss: Einleitung in das Werk von Marcel Mauss (1950). In: Marcel Mauss: Soziologie und Anthropologie. Band I. Übersetzt von Henning Ritter. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1978, S. 7–42, hier: S. 26.
- Die Begriffe „Referent“ und „Denotation“ verwendet Lacan zuerst in Seminar 13, Sitzung vom 2. Dezember 1964; auf Freges Unterscheidung von „Sinn“ und „Bedeutung“ bezieht er sich zuerst in der Sitzung vom 2. Juni 1965.
- Sitzung vom 21. Juni 1972, nach einem Referat von François Recanati über die Peircesche Semiotik in der Sitzung vom 14. Juni 1972.
- Vgl. Sigmund Freud: Über Deckerinnerungen (1899). In: Ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Bd. 1. Imago, London 1952, S. 529–554, PDF hier.
- Freud, Über Deckerinnerungen, a.a.O., S. 546 f.
- Das Drängen, a.a.O., S. 625.
- S. Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 213–272 hier: S. 228, Hervorhebungen von Freud.
- Vgl. S. Freud: Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten. Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse II (1914). In: Ders.: Studienausgabe. Ergänzungsband, Schriften zur Behandlungstechnik. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 205–215, hier: S. 210.
- C. Lévi-Strauss: Die Wirksamkeit der Symbole (1949). In: Ders.: Strukturale Anthropologie. Übersetzt von Hans Naumann. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1969, S. 204–225, hier: S. 222.
- Eigentlich: „Sa gerbe n’était point avare ni haineuse“.
- Vgl. Seminar 3 von 1955/56, Die Psychosen, Sitzung vom 2. Mai 1956, Version Miller/Turnheim S. 258 f.; Das Drängen, a.a.O., S. 599.
- Das Drängen, a.a.O., S. 599.
- Vgl. Das Drängen, a.a.O., S. 600 f.
- Vgl. Die Psychosen, a.a.O., S. 258 f.
- Vgl. Das Drängen, a.a.O., S. 625.
- S. Freud: Die Verdrängung (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 103–118, hier: S. 114.
- Vgl. Freud, Die Verdrängung, a.a.O., S. 115.
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