Franz Kaltenbeck
Konsequenzen einer Lüge.
Zu Österreichs neuer Regierung
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NACHTRAG vom 16. Januar 2018:
Eine französische Übersetzung dieses Artikels erschien, leicht verändert, am 15. Januar 2018 in Le monde unter dem Titel „Si l’Autriche avait assomé son passé, elle se serait engagée dans une autre voie“, im Internet hier.
Als vor 18 Jahren der damalige österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel im Einverständnis mit Jörg Haider, dem Parteivorsitzenden der FPÖ, mehrere Mitglieder von dessen Partei in seine Regierung aufnahm, kam es zu scharfen in- und ausländischen Protesten. Die Mitgliedsstaaten der EU reduzierten ihre Kontakte zur österreichischen Regierung auf ein Minimum. Diese Regierung zerbrach zwei Jahre später, drei den Rechtsextremisten angehörige Minister hatten abgedankt. Der Grund für die Proteste gegen die Regierungskoalition der ÖVP Schüssels und der FPÖ Haiders war klar und die Haltung der Europäischen Gemeinschaft war stark. Die Demonstranten, die in Österreich und anderen europäischen Ländern gegen Haider und Schüssel auf die Straße gingen, und die Verantwortlichen der EU waren sich darin einig, dass die Mitglieder einer Partei, die sich von ihre braunen Wurzeln immer noch nicht gelöst hatte, nicht mit der Regierung eines demokratischen Staates Europas betraut werden durften.
Die Nachwirkungen von Österreichs Anschluss an das Dritte Reich wollen aber nicht vergehen. Der von Freud als „dämonisch“ charakterisierte „Wiederholungszwang“ lässt dieses kleine und gemütliche Land im Herzen des Kontinents nicht los. Was treibt Wiederholung an? Etwas, das nicht stattgefunden hat und doch für den Menschen lebenswichtig gewesen wäre, könnte man mit Lacan sagen. Im gegenwärtigen Fall eine schonungslose Konfrontation mit der Geschichte des Landes und seiner Bevölkerung zwischen 1938 und 1945 auf breiter gesellschaftlicher Basis. Sie ist in Deutschland immer noch in Gang, wo Historiker ein bestürzendes Wissen über die Verbrechen des Nationalsozialismus in gut lesbaren Werken an den Tag fördern. Auch in Österreich leisten Historiker ausgezeichnete Forschungsarbeit, aber ihre Arbeiten sind weniger verbreitet als in Deutschland und haben nur wenige gesellschaftliche Stellungnahmen ausgelöst. Kaum ein Schriftsteller widmete sich in den fünfziger und sechziger Jahren dem Problem. Im Schulunterricht der Nachkriegszeit wurde das nur ein paar Jahre zuvor Geschehene praktisch ignoriert, hatten doch die Verantwortlichen der beiden großen Parteien (ÖVP und SPÖ) die Unschuld der Österreicher mit dem Argument plausibel machen wollen, dass dieses Land ein Opfer des gewaltsamen Anschlusses war. Auf die Menschenmassen, die am Heldenplatz ihrem Führer zujubelten, schien man vergessen zu haben. Gedeckt von dieser offiziellen Erklärung konnten die zahlreichen alten Nazis ungestraft mit ihrer, wie sie meinten, heldenhaften Vergangenheit prahlen, und mit ihren falschen Kriegserzählungen das politische Wissen ihrer Kinder verwirren. Nichts führt zu größerer Bosheit und Verdummung wie verkommene politische Mythen und Geschichtsfälschungen. Man denke nur an das Wahlplakat aus dem Jahr 2012, auf dem stand:
“Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe”
Oder an die widerlichen Sprüche von Herbert Kickl, ehemaliger Scharfmachers der FPÖ, Redenschreiber von Jörg Haider und gerade ernannter Innenminister. Von ihm stammt dieser Auswurf:
„Wiener Blut – zu viel Fremdes tut niemand gut.“
Etwas mehr Fremdheit hätte Herrn Kickl vielleicht aus seinem selbstgefälligen Provinzlertum herausgeholfen. Aber das war bei einem in der völkischen Inzucht Aufgewachsenen nicht zu erwarten. Wiener Blut, oft mit fremdem vermischt, ist eben dem rein deutschen Kärntner eine Schande, die an seinen Fingern kleben bleiben dürfte.
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Im Jahr 2000 war das Meiste einfach. Schüssels moralischer und politischer Fehler rief kraftvollen Protest auf der Straße sowie richtige Maßnahmen bei den europäischen Regierungen hervor und führte zwei Jahre später zum Zusammenbruch der geächteten Koalition von Schwarz und Braun. Siebzehn Jahre später und nach einem Jahrzehnt der Wirtschaftskrise liegt einiges anders und viel im Nebel. Nur der von der Unschulds-Lüge ausgelöste Wiederholungszwang drängte weiter unbeirrbar auf seine Durchsetzung.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen vereidigte das neue Regierungsbündnis des konservativen Bundeskanzlers Sebastian Kurz (ÖVP) und des ehemaligen Neonazis Heinz-Christian Strache (FPÖ) en bloc. Die von früheren SS-Leuten gegründete ultra-nationalistische und rassistische Partei bekam dabei das Innen-, Außen- und Verteidigungsministerium, Posten, die für die Kontrolle der Armee und des Geheimdienstes, also für die Sicherheit des Landes, wichtig sind. Viel politischen Mut hat Van der Bellen dabei nicht bewiesen. Noch weniger aber Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission. Ihm ist das Programm von Kurz und Strache fast vollständig genehm. Die europäischen Staatschefs schwiegen zu deren Machtergreifung. Das Duo ist ihnen wahrscheinlich zu unbedeutend, um seineshalber eine weitere politische Krise in Europa heraufzubeschwören. Ob sie recht haben, bleibt dahingestellt.
Nur Italien wehrt sich gegen die Provokation der beiden Komplizen, den deutschsprachigen Südtirolern einen österreichischen Reisepass anzubieten. Warum nicht gleich auch den Anhängern des ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orban, damit Kakanien wieder entstehe? Während der vergangenen Jahrzehnte hatte den Österreichern ja ihr Kleinheitswahn genützt, einer wirksamen Entnazifizierung zu entkommen. Heute bläht sich ihre Regierung wie ein Frosch auf, der so groß sein möchte wie ein Ochse.
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Nach der Niederlage des FPÖ-Kandidaten bei den Präsdentschaftswahlen wollte Strache nicht zu kurz kommen und der ungeduldige Kurz brauchte ihn, um Kanzler zu werden. Das kann man verstehen. Aber sind diese Brüder eines zu billigen Ehrgeizes nicht Figuren des heraufziehenden Welt-Ungeists, fühlen sie sich nicht bestätigt von einem Staatenbund, vor dem sich sogar Herr Juncker fürchtet, hatte er doch Kurz, als dieser bei ihm in Brüssel vorstellig wurde, davor gewarnt, sich auch bei der Visegrád-Gruppe (Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn) anzubiedern? Das liege wahrlich fern von ihm, beteuerte Kurz, aber was hilfts, Strache schielt trotz seines europäischen Lippenbekenntnisses noch weiter nach Osten, nämlich bis zu Putin hin, dessen totalitäre Kontrolle über den russischen Staat von Polens Machthabern schon fleißig imitiert wird. Die PiS, die ultrakonservative Mehrheitspartei, kontrolliert dort bereits die Ernennung der Richter. „Wir befinden uns von jetzt an der Schwelle der Umwandlung unserer Nation in einen Polizeistaat“, behauptet Jarosław Kurski, der Chefredakteur der Gazeta Wyborcza (Libération, 21. 12. 2017). Man möchte all denen, die die österreichische Regression gleichgültig lässt, gern recht geben, hat aber doch das Gefühl, dass Kurz und Strache gut ins Bild dessen passen, was da im Osten heraufzieht: Von Staats-Dunkelmännern angezettelt, die außer ihrer Vergangenheit im Ostblock vor allem ihren Hass auf Fremde gemein haben, ist die Visegrád-Gruppe für Österreichs Reaktionäre Alibi und Vorbild zugleich. Man sieht ja, dass es anders nicht geht, als die wenigen Fremden, die noch da sind, zu schikanieren, einzusperren, um sie dann auszuweisen, damit anderen die Lust vergehe, das Mittelmeer unter Einsatz ihres Lebens zu überqueren.
Der schicke Typ brauchte den Wolf im Schafspelz nicht nur, um die Mehrheit zu gewinnen, sondern auch, um sie zu behalten. Die eiserne Faust im Samthandschuh kann da nur nützen. In anderen Ländern wird den Flüchtlingen mit Ausweisung gedroht: wetten, dass Kickl die Drohung mit Waffengewalt wahrmachen wird?
Aber Strache vereinigt noch zwei Vorteile für Kurz. Strache verkörpert den heute gut verkäuflichen Faschismus, mit dem er offiziell natürlich nichts mehr auf dem Hut hat. Dafür gibt es mehrere Indizien; hier nur zwei davon.
Wie der Nationalsozialismus bahnt sich auch der Faschismus unserer Tage mit Doppelzüngigkeit und Zynismus seinen Weg. Für das Dritte Reich demonstrierte Karl Kraus in seiner Dritten Walpurgisnacht an Hitlers Rhetorik diesen Einsatz der ruchlosen Lüge und des Zynismus gegen hilflose Juden. An Doppelzüngigkeit kann es auch Strache nicht gebrechen. Er legt die Hand aufs Herz, wenn es gilt, der Europäischen Gemeinschaft Treue zu schwören, will aber zugleich seine Europa-Skepsis kaum verschleiern. Vor allem nicht die seiner Partei. Denn seine frühere Sehnsucht nach Großdeutschland hat er durch kalte Realpolitik ersetzt. Anstatt die Europäische Union für ihre immer härtere Abschottungspolitik gegen die Immigranten zu tadeln, dient er sich dem Kremlchef an, plädiert gegen die von der Europäischen Union und anderen verhängten Sanktionen wegen der Aggression Russlands in der Ukraine. Er gibt sich für einen Patrioten aus, lässt sich aber von fremden Herrschern faszinieren, die ein paar hundert Kilometer östlich von Wien schon den Übergang zum Polizeistaat üben.
Strache hilft Kurz aber auch, die niedrigsten Triebe der Gesellschaft nach außen, gegen die Fremden, zu wenden, um von den Opfern, die sie bringen muss, abzulenken: Hass, Gewalt und Kleinlichkeit gegen die Fremden als innenpolitischer Kitt sind geschätzte Rezepte der Partei der Ex-Nazis. Nichts anders haben Kurz, Strache und Kickl auf Lager, als den Flüchtlingen ihren Pass und ihr Taschengeld abzunehmen, das Sozialminimum, das sie vom österreichischen Staat erwarten dürfen, auf ein Drittel der Zahlung an die echten österreichischen Armen zu reduzieren! Kurz, die Fremden vor den edlen Staatsbürgern zu demütigen und zu diskriminieren.
Österreichs Sendung wäre es, seine östlichen Nachbarn, die Ungarn, Tschechen, Slowaken und Polen, zur Vernunft, das heißt von ihren fremdenfeindlichen und totalitären Tendenzen abzubringen. Das wäre der Sinn des viel beschworenen Brückenbaus, dessen Tugend dieses Land noch immer beansprucht, sich in Wirklichkeit aber mit einer engherzigen und egoistischen Einmauerung begnügt.
Die wahre Sendung Österreichs wäre es, die noch demokratischen Mächte zu Lösungen für das Problem der Flüchtlinge zu inspirieren, diplomatische Wege zu suchen, den Krieg einzudämmen, den Hunger zu lindern, die politische Gewalt zu bekämpfen, Umstände, die das Leben in vielen Gebieten Afrikas und Asiens für die Armen unmöglich machen. Vor diesen Übeln fliehen sie ja. Kurz und Strache haben aber kein besseres Mittel gefunden, ihre Popularität zu erhalten, als die Flüchtlinge für ihr Unglück noch einmal zu bestrafen. Das zieht beim Volk, glauben sie! Damit werden sie aber einmal mehr die Chance vertun, zu zeigen, dass Österreich aus seiner Vergangenheit die notwendigen Konsequenzen gezogen hat.
Sollten alle diejenigen, welche die Gefahr erkennen, die der Regierungsantritt von Kurz und Strache ankündigt, nicht zusammenarbeiten, um ihr entgegenzutreten?
Über den Autor
Franz Kaltenbeck ist Psychoanalytiker in Paris und Lille, Mitgründer von ALEPH (Association pour l’étude de la psychanalyse et de son histoire), Herausgeber von Savoirs et clinique. Revue de psychanalyse.
Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Reinhard Priessnitz. Der stille Rebell. Aufsätze zu seinem Werk (Droschl, Graz 2006); Sigmund Freud. Immer noch Unbehagen in der Kultur? (Mitherausgeber, diaphanes, Zürich 2009); David Foster Wallace: Dichter, Denker, Melancholiker (In: Y – Revue für Psychoanalyse, 1/2012); Lesen mit Lacan. Aufsätze zur Psychoanalyse (Parodos, Berlin 2013); Michael Turnheim: Jenseits der Trauer (Mitherausgeber, Zürich, diaphanes 2013); David Foster Wallace au-delà du principe de plaisir (In: Savoirs et clinique. Revue de psychanalyse, Nr. 15, 2012)
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