Die Signifikantenkette ist keine signifikante Kette
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Ein Rätsel
Norbert Haas schreibt in seinen Lacan-Übersetzungen für chaîne signifiante durchweg „signifikante Kette“.1 Hans-Dieter Gondek folgt ihm darin.
Nun meint der deutsche Ausdruck signifikant aber „wichtig“, „bedeutsam“, „beachtlich“, „bemerkenswert“. Damit hat signifikante Kette die Bedeutung „wichtige“, „bedeutsame“, „beachtliche“, „bemerkenswerte Kette“. Das ist jedoch nicht der gemeinte Sinn.
„Der Schnitt, als Wirkung des Signifikanten, ist für uns zunächst, in der phonematischen Analyse der Sprache, diese zeitliche, genauer sukzessive Linie der Signifikanten gewesen, bei der ich Sie bisher daran gewöhnt habe, sie la chaîne signifiante zu nennen.“2
Die chaîne signifiante ist die Verkettung der Signifikanten im zeitlichen Nacheineinander, also die „Signifikantenkette“.
Alternativ verwendet Lacan auch die Wortbildung chaîne des signifiants, „Kette der Signifikanten“. Im Seminar über die Psychose liest man:
„Beaucoup de choses s’expliquent dans ce registre en tant qu’explicatif, que causal, que coordonnant ce quelque chose qui dans le dernier ressort n’est pas autre chose que la chaîne des signifiants.“3
Und im Seminar Die Bildungen des Unbewussten heißt es:
„Je vous ai dit aussi qu’il y a autre chose qui dans cette occasion est Verwerfung. Il peut y avoir dans la chaîne des signifiants, un signifiant ou une lettre qui manque, qui toujours manque dans la typographie, car il s’agit d’un espace typographique. Il y a des lois topologiques de l’espace typographique. Il y a quelque chose qui manque dans cette chaîne des signifiants.“4
Gelegentlich betont Lacan den partizipialen Charakter und aktiviert damit das Verb signifier, in solchen Fällen ist „signifizierende Kette“ sicherlich eine bessere Übersetzung als „Signifikantenkette“.
Gegenbegriff zu la chaîne signifiante ist la batterie des signifiants.5, also „die Batterie der Signifikanten“ oder „die Signifikantenbatterie“ (Batterie hier im Sinne eines Aggregats gleichartiger Elemente, wie in Geschützbatterie oder Legebatterie, damit ist das synchrone System der Signifikanten gemeint, gewissermaßen ihr Lexikon). Außer der Genitivkonstruktion batterie des signifiants verwendet Lacan die adjektivische Form der Wortbildung; man findet neben der batterie des signifiants auch die batterie signifiante..6
Lacan arbeitet also mit der Gegenüberstellung von, einerseits, chaîne signifiante bzw. chaîne des signifiants und, andererseits, batterie signifiante bzw. batterie des signifiants.
Das Französische geht anders mit Adjektiven um als das Deutsche. Wo im Deutschen Substantive verkoppelt werden, wie in „Signifikantenkette“, verwendet das Französische häufig die Genitivkonstruktion, bisweilen aber auch ein Adjektiv: chaîne signifiante.
In Seminar 18 heißt es über die gerade Linie:
„Aux dernières nouvelles, on sait que le trait de lumière non plus ne la suit pas, tout à fait solidaire de la courbure universelle.“7
Zu deutsch:
„Den neuesten Nachrichten zufolge weiß man, dass auch die Lichtbahn ihr nicht folgt, in völliger Übereinstimmung …“
mit was? mit der universalen Krümmung? keineswegs, sondern:
„… mit der Krümmung des Universums.“
Man übersetzt crème solaire nicht mit „solare Crème“ sondern mit „Sonnencrème“, système nerveux nicht mit „nervliches System“, sondern mit „Nervensystem“, histoire philosophique8 nicht mit „philosophische Geschichte“, sondern mit „Philosophiegeschichte“, éducation sentimentale nicht mit „gefühlsbetonte Erziehung“, sondern mit „Erziehung der Gefühle“ (des Herzens, der Empfindsamkeit oder wie auch immer).
Bei Adjektiven, die, wie in chaîne signifiante, auf dem Partizip Präsens beruhen, ist es nicht anders. Was ist ein dîner dansant? Natürlich kein „tanzendes Abendessen“, sondern ein „Abendessen mit Tanz“. Und beim Partizip-Perfekt-Adjektiv? Dasselbe, man übersetzt fête costumée nicht mit „kostümierte Party“, sondern mit „Kostümparty“ oder mit „Kostümfest“ oder mit „Verkleidungsparty“.
Aber kann man nicht sagen: Das deutsche Adjektiv signifikant ist mehrdeutig, es meint einerseits „gewichtig“, „bedeutsam“ und andererseits „aus Signifikanten bestehend“, und in signifikante Kette hat es eben nicht die Bedeutung „gewichtig“, sondern „aus Signifikanten bestehend“? Ich denke nicht. Zwar kann man für das Erbe des Vaters auch sagen: väterliches Erbe, man suggeriert damit nicht, dass das Erbe fürsorglich oder bestimmend wie ein Vater auftritt; väterlich meint nicht nur „in der Art eines Vaters“, sondern auch „von einem Vater stammend“. Brüderliches Fahrrad hingegen kann man für das Fahrrad des Bruders nicht sagen; die Bedeutung „in der Art eines Bruders“ ist so stark, dass sie die Bedeutung „von einem Bruder stammend“ blockiert. Die signifikante Kette gehört zur Ordnung des brüderlichen Fahrrads, nicht des väterlichen Erbes.
Nachtrag vom 5. Dezember 2014
Am Rande der Tagung „Sprachen der Psychoanalyse“ in München bringt mich jemand auf eine Idee, was Haas und Gondek dazu gebracht haben könnte, „chaîne signifiante“ mit „signifikante Kette“ zu übersetzen: Weil Lacan auch von chaîne insignifiante und von chaîne désignifiante spricht.
Das ist einleuchtend. Wenn Lacan von chaîne insignifiante spricht, „insignifikante Kette“, muss der Gegenbegriff „signifikante Kette“ lauten und nicht etwa „Signifikantenkette“. Aber tut er das?
Um das festzustellen, habe ich die letzte Stunde damit verbracht, eine Menge PDF-Dateien zu durchsuchen: Dateien der Écrits, der Autres écrits, von Pas-tout Lacan und sämtlicher 25 Seminare. Folgende Begriffe habe ich eingegeben: „chaîne insignifiante“, „chaîne désignifiante“ und „chaîne dé-signifiante“, außerdem die drei Pluralformen, „chaînes insignifiantes“ usw. Der Befund ist negativ. Nirgendwo spricht Lacan von einer „insignifikanten Kette“ und nirgendwo von einer „designifikanten Kette“.
„Chaîne signifiante“ ist kein Antonym zu „insignifikante Kette“.
Nachtrag vom 17. Dezember 2020
Wie konnte ich das nur übersehen? In der Übersetztung des Encore-Seminars durch Norbert Haas, Vreni Haas und Hans-Joachim Metzger wird chaîne signifiante mit „Signifikantenkette“ übersetzt – Sitzung vom 16. Januar 1973, S. 55.
Verwandte Beiträge
- Notizen zur Tagung „Sprachen der Psychoanalyse“
- Eine Batterie von Signifikanten
- Der Begriff des Signifikanten
Anmerkungen
- Vgl. etwa: J. Lacan: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud (1957). Übersetzt von Norbert Haas. In: Lacan.: Schriften II. Walter-Verlag, Olten und Freiburg im Breisgau 1975, S. 15-55.
- Seminar 9, Sitzung vom 30. Mai 1962, meine Übersetzung nach Version Staferla.
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Le séminaire, livre 3, Les psychoses (1955/56), Sitzung vom 21. März 1956, Hervorhebung von mir, Version Miller S. 202, dt. Übersetzung Miller/Turnheim S. 212.
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Le séminaire, livre 5, Les formations de l’inconscient (1957/58), Sitzung vom 8. Januar 1958, Hervorhebung von mir, Version Miller S. 146, dt. Übersetzung Miller/Gondek S. 171.
- Etwa in: J.L.: A la mémoire d’Ernest Jones. Sur sa théorie du symbolisme (1959). In: Ders.: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 697-717, hier: 700.
- J.L.: Subversion du sujet et dialectique du désir dans l’inconscient freudien (Vortrag von 1960). In: Écrits, a.a.O., S. 793-827, hier: S. 806.
- Sitzung vom 12. Mai 1971; Version Miller, S. 123, meine Übersetzung und meine Hervorhebung.