Lacans Sentenzen
„Das einzige, dessen man schuldig sein kann, ist, nachgegeben zu haben bei seinem Begehren.“
Die Wege des Begehrens
In L’amour fou von 1937 schreibt André Breton:
„Es geht darum, die Wege des Begehrens nicht wieder hinter sich zuwuchern zu lassen.“1
Im Seminar über die Ethik der Psychoanalyse (1959/60) sagt Lacan:
„Ich behaupte, daß es nur eines gibt, dessen man, zumindest in analytischer Perspektive, schuldig sein kann, und das ist, nachgegeben zu haben bei seinem Begehren.“2
Hat Lacan sich für seine Sentenz von Breton anregen lassen? Das ist gut möglich – er hatte L’amour fou gelesen3, er kannte Breton persönlich4, und immer wieder verwendet er einen von Breton geprägten Ausdruck: „das bisschen Realität“5.
Bretons Satz ist programmatisch. Für ihn besteht die Aufgabe des Surrealismus darin, die bereits gebahnten Wege des Begehrens freizuhalten.
Lacans Bemerkung hat, auf einer ersten Ebene der Bedeutung, erklärenden Charakter. Je größer die Heiligkeit, desto stärker das Schuldgefühl – wie lässt sich das begreifen? Auf dieser Frage gibt der Satz eine Antwort. Das Schuldgefühl entsteht dadurch, dass man in der Frage des Begehrens nachgegeben hat, dass man, statt das Begehren zu realisieren, das Gute getan hat. Lacan fordert hier keineswegs, in Sachen des Begehrens niemals nachzugeben; dafür, das Begehren nicht zu verwirklichen, gibt es oft ausgezeichnete Gründe.
„Gehen wir weiter. Es [das Subjekt] hat von seinem Begehren oft aus gutem Grund abgelassen, oder gar aus den besten. Das kann uns nicht weiter erstaunen. Seit die Schuld existiert, also lange schon, hat man bemerkt, daß die Frage des guten Beweggrundes, der guten Absicht (…) die Leute nicht um einen Schritt weitergebracht hat. (…) Die Dinge im Namen des Guten zu tun und, mehr noch, im Namen des Wohls des anderen ist weit davon entfernt, nicht allein vor Schuld, sondern vor allen Arten innerer Katastrophen Schutz zu bieten. Insbesondere schützt es uns nicht vor der Neurose und deren Folgen.“6
Wenn man das Begehren zurückstellt, aus welchen Gründen auch immer, erspart man sich damit keineswegs Schuldgefühle, im Gegenteil, man verstärkt sie.
Das ist klassischer Freud. Das Unbehagen in der Kultur entsteht dadurch, dass die Kultur Aggression in Schuldgefühl umwandelt. In dem Maße, in dem es der Kultur gelingt, immer größere soziale Einheiten hervorzubringen (in Lacans Sprache: das Gute zu verwirklichen), wächst auch das Schuldgefühl.
Lacans Bemerkung ist jedoch nicht nur deskriptiv und erklärend gemeint, sie hat auch normativen Charakter, sie bezieht sich darauf, was man tun soll.
In Seminar 5, Die Bildungen des Unbewussten, hatte er es so formuliert:
„Ich habe gestern abend einfach nur auf die Originalität des Moments hingewiesen, das in der Begutachtung der Phänomene des Menschen das Voranstellen dieses privilegierten Elements namens Begehren durch die gesamte Freudsche Disziplin konstituiert.
Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß bis Freud dieses Element an sich stets reduziert und von irgendeiner Seite her vorzeitig elidiert worden war. So daß behauptet werden kann, daß bis Freud jede Untersuchung der menschlichen Ökonomie mehr oder weniger von einer Sorge um Moral, Ethik in dem Sinne ausgegangen ist, daß es weniger das Begehren zu untersuchen galt als es schon jetzt zu reduzieren und zu disziplinieren. Nun, mit den Wirkungen des Begehrens im sehr weiten Sinne – das Begehren ist keine Nebenwirkung – haben wir es in der Psychoanalyse zu tun.“7
Die Aufgabe der Psychoanalyse besteht darin, das Begehren zu untersuchen. Hierzu muss sie sich sich einer bestimmten Ethik zu widersetzen, derjenigen, die bewirkt, dass das Begehren von vornherein reduziert und diszipliniert wird.
In Seminar 7 heißt es dann: Der Psychoanalyse
„ist eine Revision der Ethik möglich, ist ein ethisches Urteil möglich, das sich in der folgenden Frage darstellt, die den Wert eines Jüngsten Gerichts hat – habt Ihr konform mit Eurem Begehren gehandelt, das Euch innewohnt?“8
Die Revision der Ethik durch die Psychoanalyse stellt sich nicht in einem Imperativ dar, sondern in einer Frage. Es geht nicht um ein „Handle so, dass … !“, sondern um ein „Hast du so gehandelt, dass … ?“
Die Frage bezieht sich nicht auf die Zukunft, sondern auf die Vergangenheit. Die Frage hat den Wert eines Jüngsten Gerichts, sie ermöglicht es, ein Urteil über die Vergangenheit zu fällen.
Die psychoanalytische Ethik ist eine Ethik der Selbsterkenntnis, sie zielt dabei auf eine tragische Erfahrung: auf die Erfahrung, dass das bewusste oder unbewusste Schuldgefühl dadurch hervorgerufen wurde, dass man von seinem Begehren abgelassen hat.9
In Die Stellung des Unbewussten (1964) formuliert Lacan die ethische Position so:
„Die Psychoanalyse hätte besser daran getan, ihre Ethik zu vertiefen und, sich an die Einsicht der Theologie haltend, einem Weg zu folgen, den Freud als notwendig bezeichnet hat. Zum mindesten hätte ihre Deontologie in der Wissenschaft sie müssen spüren lassen, daß sie für die Präsenz des Unbewußten auf diesem Feld die Verantwortung trägt.“10
Die Ethik der Psychoanalyse bezieht sich auf die Verantwortung der Psychoanalytiker. Wofür sind sie verantwortlich? Dafür, dass das Unbewusste im Feld der Wissenschaft präsent ist.
In Seminar 12 formuliert er 1965 die ethische Aufgabe des Psychoanalytikers so:
„Psychoanalytiker zu sein [ist] eine verantwortungsvolle Position, die verantwortungsvollste von allen, weil sie diejenige ist, der die Operation einer radikalen ethischen Konversion anvertraut ist, diejenige, die das Subjekt in die Ordnung des Begehrens einführt“11.
Wessen kann ein Psychoanalytiker also schuldig sein? Dessen, vor der Entzifferung des Begehrens des Analysanten zurückzuschrecken und sich stattdessen der Normierung des Anspruchs zu widmen. Warum weicht er vor der Entzifferung des Begehrens des Analysanten zurück? Weil er in der Entzifferung des eigenen Begehrens nachgelassen hat.
Zur Abbildung
Das von Man Ray aufgenommene Foto stammt aus Bretons L’amour fou.12 Es ist beschriftet mit: „Tafel 8. – … dessen Stiel … in einen kleinen Frauenschuh auslief, der dazu gehörte“ (die Auslassungspunkte findet man im Original).
Die Abbildung zeigt einen Holzlöffel, den Breton auf einem Flohmarkt erstanden hatte. Erwerb und Bedeutung des Löffels sind Thema des dritten Teils von L’amour fou13; die Beschriftung des Fotos zitiert diesen Text. Für Breton ist der Löffel ein Fall von „konvulsivischer Schönheit“, ein Begriff, den er im ersten Teil von L’amour fou umreißt.
Verwandte Beiträge
Anmerkungen
-
André Breton: L’Amour fou (1937). Gallimard, Paris 1989, S. 38, meine Übersetzung. Vgl. ders.: L’Amour fou. Übersetzt von Friedhelm Kemp. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994, S. 30.
-
Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 380, Übersetzung geändert.
Im Original:
„Je propose que la seule chose dont on puisse être coupable, au moins dans la perspective analytique, c’est d’avoir cédé sur son désir.“
Céder sur quelque chose bedeutet: „bezogen auf etwas nachgeben“, „in einer Sache nachgeben“.
- Céder sur les pris: „bei den Preisen nachgeben“.
- Céder sans cesse sur le secondaire pour rester fort sur l’essentiel: „Beim Nebensächlichen immer wieder nachgeben, um beim Wesentlichen fest zu bleiben“ (Montherland).
Vgl. hier. -
Vgl. die Hinweise auf den Roman in Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 188 f., sowie in Seminar 22, Sitzung vom 11. März 1975, Kleiner-Übersetzung S. 47.
-
Vgl. Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1996, S. 132, 251.
In Seminar 21 wird Breton von Lacan als „mein alter Freund“ tituliert (Sitzung vom 23. April 1974).
-
Lacan entnimmt die Wendung dem Titel von André Bretons Schrift Introduction au discours sur le peu de réalité (1927), „Einführung in die Rede über das Bisschen an Realität“.
Lacan bezieht sich auf diese Formulierung in: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, in: Schriften I, S. 66; Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften I, S. 121; Die Ausrichtung der Kur und die Prinzipien ihrer Macht, in: Schriften I, S. 200; À la mémoire d’Ernest Jones, in: Écrits, S. 706; Seminar 8, Version Miller/Gondek, S. 377; Seminar 11, Version Miller/Haas, S. 66 (Haas übersetzt mit „Kleinwenig Realität“); Seminar 13, Sitzung vom 8. Juni 1966; Seminar 18, Version Miller, S. 149; Seminar 20, Version Miller/Haas u.a., S. 102; Seminar 21, Sitzung vom 11. Juni 1974, letzter Satz.
-
Seminar 5, Sitzung vom 5. März 1958, Version Miller/Gondek, S. 297.
-
J. Lacan, Die Stellung des Unbewussten, Schriften III, hg. v. N. Haas, S. 205-230, hier: S. 211. Der Aufsatz, der auf einem Vortrag und Diskussionsbeiträgen von 1960 beruht, wurde 1964 geschrieben und 1966 veröfffentlicht.
-
Seminar 12, Sitzung vom 5. Mai 1965; Version Staferla 15.5.2010, S. 541,
-
Gallimard-Ausgabe, a.a.O., S. 48; Suhrkamp-Ausgabe, a.a.O., Tafeln zwischen S. 48 und 49.