Das Signifikat: die durch den Signifikanten modifizierte Strebung
Reisterassen in Yunnan, China
Was versteht Lacan unter dem Signifikat?
Fragestellung
In Die Bedeutung des Phallus (1958) schreibt Lacan: Der Phallus
„ist der Signifikant, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, soweit der Signifikant diese konditioniert durch seine Gegenwart als Signifikant.“1
Der Satz ist schwer verständlich. Eine erstes Problem besteht darin, dass der Ausdruck „Signifikant“ hier in drei verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Um sie auseinanderzuhalten, versehe ich sie mit Indizes. Der Phallus
„ist der Signifikant1, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, soweit der Signifikant2 diese konditioniert durch seine Gegenwart als Signifikant3.“
Signifikant1 bezieht sich auf einen bestimmten Signifikanten, auf den Phallus-Signifikanten.
Signifikant2 meint Signifikanten schlechthin, sagen wir: die Sprache unter dem Aspekt ihrer formalen und phonetischen Eigenschaften.
Signifikant3 meint den Signifikanten, insofern er dem Subjekt auf bestimmte Weise gegenwärtig ist.
Die Stelle wird etwas zugänglicher, wenn man sie so umschreibt:
„Die Sprache qua Signifikant ruft Signifikatswirkungen hervor, und zwar dadurch, dass der Signifikant auf bestimmte Weise gegenwärtig ist. Der Phallus ist ein Spezialsignifikant; er bezeichnet die Gesamtheit der durch die Signifikanten hervorgerufenen Signifikatswirkungen.“
Das Zitat enthält mehrere Thesen:
– Die Signifikanten haben Signifikatswirkungen.
– Die Signifikanten haben Signifikatswirkungen durch die Gegenwart der Signifikanten als Signifikanten.
– Die Signifikanten haben nicht nur einzelne Signifikatswirkungen, sondern darüber hinaus einen Signifikatseffekt insgesamt.
– Der Phallus ist ein Signifikant.
– Der Phallus-Signifikant bezeichnet die Signifikatseffekte der Signifikanten in ihrer Gesamtheit.
Was meint hier „Signifikat“? Inwiefern ist das Signifikat ein Effekt? Worin besteht die Gesamtheit der Signifikatseffekte?
Um diese Fragen zu beantworten, gebe ich im Folgenden einen Überblick darüber, was Lacan bis zum Zeitpunkt dieses Vortrags, also 1958, unter „Signifikat“ versteht. Die in den ersten beiden Abschnitten („Annäherung“ und „Vier Konzepte …“) dargestellten Zusammenhänge findet man so ähnlich auch in der Sekundärliteratur; der dritte Abschnitt („Was ist ein Signifikat?“) bringt, soweit ich es überblicke, etwas Neues. Am Schluss komme ich auf den eingangs zitierten Satz zurück.
Der Begriff des Signifikats
Annäherung
Zunächst zur Terminologie.
– Signifié, was in der Regel mit „Signifikat“ übersetzt wird, meint wörtlich „das Signifizierte“.
– In den frühen Texten verwendet Lacan die Ausdrücke „Signifikat“ (signifié) und „Bedeutung“ (signification) häufig synonym.
– Ein dritter Terminus in diesem Wortfeld ist sens (Sinn); sens (Sinn) hat eine weitere Bedeutung als signification; als Synonym für Signifikat verwendet Lacan sens vor allem im Zusammenhang seiner Theorie der Metapher, auf die ich unten noch eingehen werde.2
– Von signification ist signifiance zu unterscheiden, Signifikanz. Lacan versteht darunter die Funktion oder die Wirkung des Signifikanten; er verwendet signifiance als Gegenbegriff zu signification.3
Eine Bedeutung verweist immer auf andere Bedeutungen und nie auf die Sache selbst; Lacan wird nicht müde, diese These seinen Hörern und Lesern einzuschärfen.4
Meist aber geht es ihm, wenn er sich auf Bedeutungen bzw. Signifikate bezieht, um deren Verhältnis zum Signifikanten. Die wichtigsten Thesen hierzu sind:
(1) Die Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat ist grundlegend für die Psychoanalyse – diese These trägt er zuerst 1953 vor, im Discours de Rome5 sowie in Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse6; ausgearbeitet wird dieser Gedanke vor allem in Seminar 3 von 1955/56, Die Psychosen, sowie in dem Aufsatz Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud von 1957.
(2) Die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat hat man sich nicht so vorzustellen, dass der Signifikant ein bereits existierendes Signifikat sekundär repräsentiert.7 Die mit einem Signifikanten verbundenen Signifikate sind heterogen.8 Signifikant und Signifikat stehen in einem dialektischen Verhältnis zueinander.9 In der Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat hat der Signifikant das Primat, den Vorrang.10
(3) Die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat wird von der Psychoanalyse verkannt; sie reduziert das Unbewusste meist auf Signifikate, tatsächlich aber wird es stärker von Signifikanten als von Signifikaten bestimmt.11
Ausgehend von der Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat werden von Lacan verschiedene Grundbegriffe der Psychoanalyse theoretisch rekonstruiert.
– Die Verdrängung ist eine Diskordanz von Signifikant und Signifikat.12
– Das Symptom ist der Signifikant eines verdrängten Signifikats, es besteht aus Signifikanten, unter denen Signifikate in beständiger Bewegung sind.13
– Die Neurose ist eine symbolische Ordnung mit der Duplizität von Signifikat und Signifikant14; wesentlich ist für sie ein letzter Signifikant, der die Quelle einer Bedeutung ist.15
– Die Hysterie ist eine Frage, die um einen Signifikanten zentriert ist, dessen Signifikat rätselhaft ist.16
– In der Psychose fallen Signifikanten und Signifikate auseinander, hier stößt man auf Signifikate ohne Signifikanten (auf unaussprechliche Bedeutungen) sowie auf Signifikanten ohne Signifikat (auf formale Strukturen, etwa Reihenbildungen).17
– Die Deutung hat die Aufgabe, Signifikant und Signifikat zusammenzubringen18; die Psychoanalyse ist ein Entziffern von Signifikanten ohne vorausgesetztes Signifikat.19
Vier Konzepte zum Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat
Das Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat
Der Signifikant hat gegenüber dem Signifikat das Primat; diese These übernimmt Lacan von Lévi-Strauss. Worin besteht für Lacan dieses Primat? Im Psychose-Seminar gibt er hierauf mehrere Antworten:
– Wenn ein Signifikant einen anderen Signifikanten ersetzt, entsteht hierdurch ein neues Signifikat; Lacan nennt diese Bedeutungserzeugung durch Substitution „Metapher“.
– Die Kombination von Signifikanten im zeitlichen Nacheinander hat die Funktion, ein Signifikat zu umkreisen und dabei unzugänglich zu halten. Dieser Mechanismus wird von Lacan als „Metonymie“ bezeichnet.
– Bei der Hervorbringung einer Signifikantenkette im zeitlichen Nacheinander verändert sich mit jedem hinzukommenden Element das Signifikat der gesamten Kette; fixiert wird das Signifikat der Kette rückwirkend, und zwar dadurch, dass ein Signifikant die Funktion des Letztelements hat.
– Topologisch kann die Einwirkung des Signifikanten auf das Signifikat als point de capiton dargestellt werden, als Polsterstich.
In späteren Texten werden diese Thesen ausgearbeitet
Metonymie und Metapher
Roman Jakobson zufolge gehört jedes sprachliche Zeichen zu zwei verschiedenen Systemanordnungen, zur Kombination und zur Substitution. Ein Zeichen erscheint nur in Kombination mit anderen Zeichen. Jedes Zeichen ersetzt mögliche andere Zeichen, die an seiner Stelle hätten ausgewählt werden können. Auf diesen beiden Achsen beruht, Jakobson zufolge, der Gegensatz von Metonymie und Metapher sowie, in der Psychoanalyse, der Gegensatz zwischen, einerseits, Verdichtung und Verschiebung und, andererseits, Identifizierung und Symbolik.20
Lacan greift Jakobsons Thesen im Psychose-Seminar auf21 und deutet sie so: Die Metonymie besteht in einer Signifikantenkombination, die die Funktion hat, ein verschwundenes Signifikat unzugänglich halten. Im Aufsatz Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder Die Vernunft seit Freud (1957) stellt er die Struktur der Metonymie durch diese Formel dar:
f (S … Sꞌ) S ≅ S (–) s.
Sie ist so zu lesen22: Die Funktion (f) des Signifikanten (S rechts neben der linken Klammer), Signifikanten miteinander zu verknüpfen (S …Sꞌ) ist gleichwertig damit (≅), dass zwischen dem Signifikanten (S) und dem Signifikat (s) die Barre, die Sperre (–) aufrechterhalten bleibt. In der Anwendung auf das Feld der Psychoanalyse bezieht Lacan die Metonymie häufig auf den Objektwechsel, sofern er nicht mit einer Umstrukturierung des Begehrens verbunden ist.
Die Metapher besteht für Lacan darin, dass ein Signifikant durch einen anderen Signifikanten ersetzt wird, was zur Folge hat, dass ein neues Signifikat entsteht. In Das Drängen des Buchstabens schreibt er das so:
Die Funktion (f) des Signifikanten (S rechts neben der linken Klammer), einen Signifikanten (S unter dem „Bruchstrich“) durch einen anderen Signifikanten (Sꞌ) zu ersetzen (–), ist gleichwertig damit (≅), dass ein Signifikant (S) eine neue (+) Bedeutung (s) erzeugt, was darauf beruht, dass die Sperre/Barre überwunden wird (+).23
Die rückwirkende Bestimmung des Signifikats einer Signifikantenkette durch das Ende der Kette
Mit dem Konzept der Metapher versucht Lacan, die Bedeutungserzeugung in der Dimension der Synchronie zu begreifen, der Sprachstruktur. Der Signifikant greift auch auf der diachronen Ebene in das Signifikat ein, im zeitlichen Nacheinander des Sprechens. Lacans These hierzu lautet: Das letzte Element einer Signifikantenkette – gewissermaßen der Punkt – determiniert rückwirkend das Signifikat des Satzes. Er erläutert das am Beispiel einer Szene aus Racines Drama Athalia. Der Heerführer Abner sagt zu Joad, dem Hohepriester: „Ja, ich komme in seinen Tempel, den Ewigen anzubeten.“
„Ja, ich komme in seinen Tempel … Vergessen Sie nicht, was für eine Person das ist, die sich hier ein wenig drängelnd präsentiert, es ist jener, der Abner heißt. Es handelt sich um einen Offizier der Königin namens Athalia, die der Geschichte ihren Titel gibt und die alles, was sich da abspielt, hinreichend dominiert, um die Hauptperson zu sein. Wenn einer ihrer Soldaten anfängt, Ja, ich komme in seinen Tempel … zu sagen, weiß man nicht im geringsten, wozu das führen wird. Das kann genauso gut mit gleichgültig was zu Ende gehen – Ja, ich komme in seinen Tempel, … den Hohepriester festzunehmen zum Beispiel. Es muß wirklich zu Ende sein, damit man weiß, worum es geht. Der Satz existiert nur vollendet und sein Sinn kommt ihm nachträglich. Wir müssen ganz am Ende angelangt sein, das heißt bei diesem famosen Ewigen.
Wir sind da, in der Ordnung der Signifikanten, und ich hoffe, daß ich Sie habe spüren lassen, was das ist, die Kontinuität des Signifikanten. Eine Signifikanteneinheit hat eine gewisse durchlaufende Schleife zur Voraussetzung, die deren verschiedene Elemente situiert.“24
Das Signifikat des Satzes wird durch die Abfolge der Signifikanten bestimmt, Peter schlägt Paul meint etwas anderes als Paul schlägt Peter, insofern wirkt der Signifikant auf das Signifikat ein. Aber nicht nur das. Mit jedem Signifikanten, der hinzukommt, verändert sich die Bedeutung des Satzes: Peter schlägt hat eine andere Bedeutung als Peter schlägt Paul und Peter schlägt Paul meint etwas anderes als Peter schlägt Paul etwas vor; das Signifikat gleitet unter den Signifikanten. Vom letzten Element der Signifikantenkette gibt es eine Rückkoppelungsschleife zum Signifikat der gesamten Kette; im Beispiel Peter schlägt Paul etwas vor ist „vor“ in einer Schlussposition, dadurch verändert es rückwirkend die Bedeutung von „schlägt“ und fixiert zugleich das Signifikat des gesamten Satzes.
Topologie: Der Polsterstich bzw. Stepppunkt
In Sassures Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft findet man nebenstehende Zeichnung.25 A steht für die vage Masse der Vorstellungen, B für die chaotische Masse der Laute. Die senkrechten gestrichelten Linien repräsentieren die Sprache. Das Schema zeigt, dass die Sprache drei Funktionen hat: sie zerteilt die Vorstellungsmasse in diskrete Einheiten, in Signifikate (z.B. in die Begriffe Baum, Strauch, Haus usw.), sie zerteilt die Lautmasse in diskrete Einheiten, in Signifikanten (etwa in die Phonemfolgen (baʊ̯m), (ʃtraʊ̯x), (haʊ̯s), und sie sorgt dafür, dass Signifikate und Signifikanten einander entsprechen, dass sie „Zeichen“ bildet (dass beispielsweise die Lautfolge (baʊ̯m) sich auf den Begriff Baum bezieht).
Das Schema beruht auf der Vorstellung, dass Signifikant und Signifikat Punkt für Punkt einander entsprechen, und Lacan kritisiert diese Unterstellung – das Signifikat eines Satzes ist eine Gesamtbedeutung. Sie ergibt sich nicht durch die Addition der einzelnen Wortbedeutungen, sie wird vielmehr rückwirkend dadurch fixiert, dass die Kette ein Ende hat. Trotz dieses Einwands lässt Lacan sich von der Zeichnung zu einer topologischen Metapher anregen, zum Bild des point de capiton, des Polsterstichs oder Stepppunkts. In Lacans Umdeutung stehen die beiden horizontalen Wellen für Polster und Bezug, die senkrechten gestrichelten Linien repräsentieren den Stich, der dafür sorgt, das Polster und Bezug nicht gegeneinander verrutschen.
Die Polsterstichfunktion ist für Lacan die Funktion von Spezialsignifikanten. Diese greifen in das chaotische Signifikat ein, sodass es fixiert wird und sich dabei zugleich verändert. Auch diesen Gedanken illustriert er durch die Szene aus Athalia, aus der ich bereits zitiert habe. In seiner Antwort auf Abner bringt Joad, der Hohepriester, der den Aufstand plant, die Gottesfurcht ins Spiel. Daraufhin ist Abner wie verwandelt; er schließt sich Joad an. Lacan erklärt das so: Abners zahlreiche und im Widerstreit miteinander liegende Befürchtungen werden durch Joads Intervention gegen eine einzige Furcht ausgetauscht, gegen die Gottesfurcht, die nicht eigentlich eine Furcht ist, sondern Mut und Treue zu einer Sache.
Das Wort „Gottesfurcht“ ist für Lacan ein Signifikant. Die konfusen Befürchtungen des Heerführers bilden für ihn das chaotische Signifikat. Der Signifikant „Gottesfurcht“ interveniert in dieses Signifikat: er fixiert es und er modifiziert es. Anders gesagt: der Signifikant „Gottesfurcht“ fungiert als Polsterstich.
Im Feld der Psychoanalyse, sagt Lacan, gibt es eine kleine Anzahl von Signifikanten mit Polsterstich-Funktion. Der wichtigste unter ihnen ist der Name-des-Vaters (auch „symbolischer Vater“ genannt), in Freudscher Begrifflichkeit: der Vater als Repräsentant des Inzestverbots.26
Die Integration der Konzepte
In Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, versucht Lacan, seine verschiedenen Thesen über das Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat miteinander zu verbinden.
In der Sitzung vom 6. November 1957 stellt er den Polsterstich durch die nebenstehende Zeichnung dar.27 Eine der beiden Pfeillinien steht für die Signifikantenkette, die andere für die Kette der Signifikate; das Schema soll illustrieren, dass die beiden Ketten an genau zwei Punkten miteinander verbunden sind. Späteren Erläuterungen des Schemas kann man entnehmen, dass die von links nach rechts führende Pfeil für die Signifikantenkette steht, der hufeisenförmig von rechts nach links führende Pfeil für die Kette der Signifikate. In der Sekundärliteratur ist strittig, was hier mit point de capiton gemeint ist, der rechte Schnittpunkt, der linke Schnittpunkt oder, wie ich annehme, die gesamte Figur.
Noch in derselben Sitzung wird das Schema des Polsterstichs umgedeutet und ausgebaut (siehe Abbildung rechts). Die beiden langen Pfeillinien stehen jetzt für Signifikantenketten. Die von mir blau gefärbte, von rechts nach links verlaufende Linie stellt die Kette des konkreten oder rationalen Diskurses vor, das Sprechen im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Für den konkreten Diskurs ist charakteristisch, dass er mit festen Semantemen verbunden ist und dass sich in ihm nur wenige Sinnschöpfungen ereignen. Der konkrete Diskurs entspricht Freuds Sekundärprozess, als Bewegung einer Signifikantenkette aufgefasst. Die grüne, nahezu kreisförmig von links nach rechts verlaufende Linie steht für eine Kette von Signifikanten, die für die Effekte von Metapher und der Metonymie durchlässig ist, bis hin zur Ebene der Phoneme; auf dieser Signifikantenlinie sind Sinnschöpfungen durch Substitutionen möglich. Diese Linie entspricht Freuds Primärprozess.
Der linke Kreuzungspunkt, γ, steht für die Botschaft. Der Sinn, der in der phonemischen (grünen) Kette durch Substitutionen erzeugt wird, tritt an dieser Stelle in der Kette des rationalen Diskurses ans Licht, etwa in Form eines Versprechers. Der rechte Kreuzungspunkt, α, repräsentiert den Code, d.h. eine Anhäufung der bisherigen Sinnschöpfungen.28 Der Code ist im Anderen als Ort des Sprechens verortet, im verstehenden Adressaten als einem unvermeidlichen Bezugspunkt jeden Sprechens, selbst noch des Monologs.
Die untere Querverbindung, zwischen β und βꞌ, steht für einen Kurzschluss, der dafür sorgt, dass der konkrete oder rationale Diskurs den Kontakt mit der phonemischen Kette vermeidet, was zur Folge hat, dass keine neuen Bedeutungen erzeugt werden. In Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache heißt dieser Typ des Sprechens „leeres Sprechen“, im Schema wird es durch die Verbindung δꞌ-β-βꞌ-δ repräsentiert.
Der Punkt βꞌ steht für das „metonymische Objekt“, anders gesagt, für das verschwundene Signifikat. Um dieses verschwundene Signifikat dreht sich der konkrete Diskurs, aufgrund des Kurzschlusses β-βꞌ meist in der Weise, dass der Zugang zu ihm versperrt bleibt.
Das Schema verbindet also die Topik des Polsterstichs mit den Konzepten von Metapher und Metonymie. Bei der weiteren Ausarbeitung des Schemas wird es mit der rückwirkenden Bestimmung des Signifikats einer Signifikantenkette durch das letzte Element verbunden.
Das nebenstehende Diagramm zeigt diese nächste Entwicklungsstufe des Polsterstichs. Die hufeisenförmige Linie (1-2-3) steht für die Intention des Subjekts; die von links nach rechts zeigende Linie (I-II-III) repräsentiert die Signifikantenkette.29 Die drei Segmente der beiden Linien entsprechen drei Phasen, die von beiden Linien gleichzeitig durchlaufen werden; Segment arabisch 1 wird gleichzeitig mit Segment römisch I realisiert usw. Der erste Abschnitt der Intentionslinie, Abschnitt 1, repräsentiert das Bedürfnis des Subjekts. Das erste Segment der Signifikantenlinie, Abschnitt I, repräsentiert die Signifikanten, die vom Subjekt hierbei mobilisiert werden.
„Der Signifikant progrediert zugleich mit der Intention, bis beide diese Kreuzungen erreichen, A und M, deren Nützlichkeit, um den retroaktiven Effekt des sich schließenden Satzes zu verstehen, ich Ihnen bereits unterstrichen habe.“30
In der zweiten Phase wird die Signifikantenkette über M hinaus fortgesetzt (Segment II wird realisiert). Bevor sie auf den Punkt A trifft, ist ihre Bedeutung noch schwankend; Lacan parallelisiert das mit dem tastenden Sprachgebrauch des Kindes. Die von A zu M führende Pfeillinie repräsentiert die Rückwirkung des Satzendes auf die Botschaft (message), auf das Signifikat des Satzes. Der Schnittpunkt A bezieht sich also nicht nur auf den Anderen als Sitz des Codes; im Verhältnis zur Signifikantenkette I-II steht A zugleich für das Ende eines Satzes.
Lacan betont, dass die Polsterstich-Metapher problematisch ist:
“Die Aufspießung, von der ich spreche, der Steppunkt, ist nur eine mythische Angelegenheit, denn niemand hat jemals eine Bedeutung auf einen Signifikanten spießen können. Was man umgekehrt machen kann, ist, einen Signifikanten auf einen Signifikanten spießen und sehen, was das gibt. In diesem Fall geschieht stets etwas Neues, das mitunter genauso unerwartet ist wie eine chemische Reaktion, nämlich die Entstehung einer neuen Bedeutung.“31
Das Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat wird nicht dadurch realisiert, dass ein einzelner Signifikant das Signifikat fixiert. Der Signifikant interveniert in das Signifikat auf dem Umweg über die Beziehungen zwischen den Signifikanten; er erzeugt neue Signifikate durch Substitution von Signifikanten (Metapher) und er versperrt den Zugang zum Signifikat durch Kombination (Metonymie).
Was ist ein Signifikat?
Bedeutungen beziehen sich auf Bedeutungen; der Signifikant hat insofern den Vorrang gegenüber dem Signifikat, als Signifikantenbeziehungen den Zugang zum Signifikat versperren oder neue Signifikate erschaffen. Aber was versteht Lacan unter einem Signifikat? Im Folgenden zeichne ich nach, wie sich der Begriff von Seminar 2 bis Seminar 5 entwickelt.
Seminar 2
Worin besteht die Bedeutung, das Signifikat eines Traums?
„Sie haben gestern abend hören können, wie jene Illusion exponiert wurde, die bei den Lesern Freuds nicht selten anzutreffen ist, daß man immer dasselbe Signifikat wiederfindet, und zwar ein Signifikat von ziemlich kurzer Reichweite, so als ob das Begehren des Traums / der Traumwunsch, den Freud uns in der Traumdeutung* bezeichnet, sich am Ende in der Form der in der Tat kurzen Liste von Trieben zusammenfassen ließe.
Damit istʼs nichts.“(268)32
Manche verstehen unter dem Signifikat den Traumwunsch bzw. das Begehren des Traums und letztlich den Trieb. Lacan weist die Vorstellung zurück, dass das Begehren des Traums sich auf eine Liste von Trieben reduzieren lässt. Hält er es gleichwohl für möglich, dass das Signifikat in einem Wunsch besteht, einem Begehren, einem Trieb? Das bleibt hier offen.
Seminar 3
Lacan fasst einige Ergebnisse von Seminar 2 zusammen:
„Sie erinnern sich, daß es in der Linguistik den Signifikanten und das Signifikat gibt, und daß der Signifikant im Sinne des Materials der Sprache aufzufassen ist. Die Falle, das Loch, in das man nicht fallen darf, ist zu glauben, daß das Signifikat die Objekte sind, die Sachen. Das Signifikat ist etwas ganz anderes – das ist die Bedeutung (signification), von der ich Ihnen erklärt habe, dank dem heiligen Augustinus, der genauso gut Linguist ist wie Herr Benveniste, daß sie immer auf die Bedeutung verweist, das heißt auf eine andere Bedeutung.“ (41 f.)33
Das Signifikat ist nicht die Sache sondern die Bedeutung – Signifikat (signifié) und Bedeutung (signification) werden hier ausdrücklich gleichgesetzt. Man könnte auch übersetzen mit „Signifiziertes“ (signifié) und „Bedeutungsgebung“ (signification).
Später im Seminar bemüht sich Lacan, Saussures Unterscheidung von Signifikant und Signifikat auf die drei Register des Imaginären, des Symbolischen und des Realen zu beziehen.
„Und dann gibt es die Bedeutung, welche immer auf die Bedeutung verweist. Freilich, der Signifikant kann sich darin verfangen von dem Augenblick an, wo Sie ihm eine Bedeutung geben, Sie einen anderen Signifikanten als Signifikanten schaffen, etwas in dieser Bedeutungsfunktion. Deshalb kann man von der Sprache sprechen. Aber die Aufteilung Signifikant-Signifikat wird sich immer reproduzieren. Dass die Bedeutung ihrem Wesen nach imaginär ist, daran ist nicht zu zweifeln. Sie ist, wie das Imaginäre, letztlich immer schwindend, denn sie ist streng gebunden an das, was Sie interessiert, das heißt an das, worin Sie sich verfangen haben. Wüßten Sie, daß Hunger und Liebe dasselbe sind, so wären Sie, wie alle Tiere, wirklich motiviert. Aber dank der Existenz des Signifikanten reißt Sie ihre kleine persönliche Bedeutung – die auch ganz hoffnungslos gattungsgebunden ist, menschlich, allzu menschlich – viel weiter fort.“ (66)
Lacan wechselt hier von der Unterscheidung zwischen Signifikant und Bedeutung umstandslos zur Unterscheidung zwischen Signifikant und Signifikat; hier werden Bedeutung und Signifikat gleichgesetzt:
Die Bedeutung, also das Signifikat, ist imaginär und zwar deshalb, weil sie an das gebunden ist an das, „was Sie interessiert“, an das, was einen „wirklich motiviert“, nämlich an Hunger und Liebe. Mit Hunger und Liebe sind hier offenbar natürliche Bedürfnisse gemeint. Die Bedürfnisbefriedigung wird, Lacan zufolge, durch die Beziehung zu Bildern gesteuert und ist in diesem Sinne imaginär. Unter Bedeutung werden hier, in erster Annäherung, die Interessen und Motive verstanden. Das signifié ist das Signifizierte, das worauf das Sprechen abzielt, das, was einen interessiert. Diese „kleine persönliche Bedeutung“ wird durch den Signifikanten umgeformt und bekommt dadurch eine ganz neue Tragweite.
In einer der Folgesitzungen heißt es:
„Bei der Neurose bleibt man immer in der symbolischen Ordnung, mit dieser Duplizität des Signifikats und des Signifikanten, die dasjenige ist, was Freud übersetzt als neurotischen Kompromiß.“ (126)
Der neurotische Kompromiss ist das Symptom als Kompromiss zwischen dem Trieb und dem Verbot des Über-Ichs. Lacan deutet hier den Trieb als Signifikat (als das Signifizierte)und das Über-Ich als Signifikant.
„Das Signifikat (signifié), das sind nicht die ganz rohen Dinge, schon da gegeben in einer auf die Bedeutung (signification) hin offenen Ordnung. Die Bedeutung, das ist der menschliche Diskurs, sofern er immer auf eine andere Bedeutung verweist. Saussure bildet in seinen berühmten Linguistikvorlesungen ein Schema ab mit einem Fließen, das die Bedeutung ist, und einem anderen, das der Diskurs ist, das, was wir vernehmen.“ (142)
An dieser Stelle hat der Ausdruck „Bedeutung“ (signification) einen gegenüber dem Ausdruck „Signifikat“ (signifié) leicht verschobenen Akzent. Signification zielt hier primär auf den Verweisungscharakter der signifiés; möglicherweise meint Lacan mit „Bedeutung“ (signification) vor allem die Beziehung von Signifikat zu Signifikat, von signifié zu signifié, ohne dass signification und signifié von ihm in dieser Phase streng unterschieden werden.
Das Signifikat bzw. die Bedeutung, ist keine natürliche Bedeutung; das Signifikat, die Bedeutung beruht immer schon auf dem Diskurs, damit auf den Signifikanten; das Signifikat ist Bedeutung-eines-Diskurses.
„Wenn die Psychoanalyse uns etwas lehrt, wenn die· Psychoanalyse etwas Neues darstellt, so liegt das gerade daran, daß die Entwicklung des Menschen in keiner Weise direkt deduzierbar ist aus der Konstruktion, aus den Interferenzen, aus der Zusammensetzung der Bedeutungen, das heißt aus den Instinkten.“ (224)
Die Bedeutungen werden hier mit den Instinkten gleichgesetzt: Die Entwicklung des Menschen ist nicht ableitbar aus der Zusammensetzung der Bedeutungen, das heißt aus den Instinkten.
Eine Seite später liest man:
„Es gibt keine andere wissenschaftliche Definition der Subjektivität als von der Möglichkeit her, den Signifikanten für Endzwecke handzuhaben, die rein signifikant sind und nicht signifikativ, das heißt, die keinerlei direkte Beziehung ausdrücken, die der Ordnung des Appetits angehören würde.“ (225)
Mit „signifikativ“ meint Lacan: auf die signification bezogen, auf die Bedeutung. Das, was „signifikativ“ ist, bezieht sich auf die Ordnung des Appetits.
In der folgenden Sitzung heißt es:
„Das Interesse, das Begehren, das Verlangen, welches das Subjekt einer Bedeutung entgegenbringt, führt dazu, deren Typus, deren Gußform, deren Präformation im Register der Instinktbeziehungen zu suchen, in denen dieses Subjekt korrelativ zum Objekt erscheint. Daher die Konstruktion der Theorie der Instinkte, Fundamente, auf denen die analytische Entdeckung beruht. Tage und Vorlesungen lang habe ich mit allen Mitteln versucht, Sie ahnen zu lassen, was wir vorläufig die Autonomie des Signifikanten werden nennen können, daß es nämlich Gesetze gibt, die ihm eigen sind.“ (232)
Dies ist, denke ich, eine Schlüsselstelle, um Lacans Begriff des Signifikats bzw. des Signifizierten (signifié) sowie der Bedeutung (signification) zu verstehen. Das Subjekt bringt der Bedeutung ein Interesse, ein Begehren, ein Verlangen entgegen. Das Signifikat ist hier das Signifizierte als das, worauf sich das Begehren richtet, Begehren hier in einem allgemeinen Sinn, der auch den Trieb und das Bedürfnis umfasst. Das Signifikat, das Signifizierte ist hier das Angestrebte, das Begehrte, das Objekt des Begehrens.
Das könnte einen dazu bringen, sagt Lacan, die Gußform der Bedeutung im Instinkt zu sehen. Es kommt jedoch darauf, die Autonomie des Signifikanten zu sehen. Lacan unterscheidet deshalb an anderen Stellen den imaginär gesteuerten Instinkt vom Trieb, der durch Signifikanten bestimmt wird. Heißt das, die Bedeutung ist auf den Trieb zu beziehen, nicht auf den Instinkt?
Kurz darauf heißt es:
„Die Beziehung des Begehrens versteht sich zunächst als wesentlich imaginär. Von da her geraten wir hin zum Katalog der Instinkte, ihrer Äquivalente und ihres Ineinandermündens. Halten wir lieber inne, um uns zu fragen, ob das nur biologische Gesetze sind, die eine gewisse Anzahl von Bedeutungen für das menschliche Subjekt instinkthaft interessant machen. Was ist darin der Anteil, der vom Signifikanten kommt?
Tatsächlich greift der Signifikant, mit dem Spiel und dem Drängen, die ihm zu eigen sind, in alle Interessen des Menschen ein – so tief, so primitiv, so elementar wir sie auch annehmen mögen.“ (233 f.)
Unter dem Begehren versteht Lacan zu diesem Zeitpunkt noch Antriebe oder Strebungen jeder Art: Bedürfnis, Instinkt, Trieb, Wunsch, Interesse, Motiv. Wenn das Begehren durch Bilder reguliert wird, also imaginären Charakter hat, wird es als Instinkt bezeichnet.
Auch hier verbindet Lacan den Begriff des Instinkts mit dem der Bedeutung; er fragt: handelt es sich um biologische Gesetze, die eine bestimmte Anzahl von Bedeutungen instinkthaft interessant machen? Die Antwortet ist negativ, diese Sichtweise würde die Einwirkung des Signifikanten auf die Interessen verkennen. Man muss sehen, dass die Bedeutung nicht rein biologisch bestimmt wird, sondern auch durch die Einwirkung des Signifikanten.
Das Signifikat ist demnach das Begehrte, wobei festzuhalten ist, dass das Begehren durch die Einwirkung des Signifikanten modifziert wird.
Immer noch in derselben Sitzung sagt Lacan:
„Es gibt eine andere Form von Abwehr als jene, welche eine verbotene Strebung (tendance) oder Bedeutung hervorruft.“ (239, Übersetzung geändert)
Die Strebung wird hier mit der Bedeutung parallelisiert. Das „oder“ ist mehrdeutig. Es könnte sich um eine Reihung handeln: eine Strebung oder aber eine Bedeutung. Es könnte aber auch eine Erläuterung gemeint sein: eine Strebung, auch Bedeutung genannt.
Die folgende Passage setzt einen anderen Akzent:
„Was gibt es Ursprünglicheres als direkten Ausdruck einer Bedeutung, das heißt eines Begehrens, als das, was Freud über seine letzte kleine Tochter berichtet? – jene, die seither einen so interessanten Platz in der Analyse eingenommen hat – Anna. Anna Freud – die Dinge sind, Sie sehen es, im Reinzustand – spricht in ihrem Schlaf – Erdbeer, Hochbeer, Eierspeis, Papp. Das ist etwas, das Signifikat im Reinzustand zu sein scheint.“ (269 f.)
Bedeutung und Begehren werden hier gleichgesetzt. Eine Bedeutung ist ein Begehren, aber nicht das Begehren schlechthin, sondern ein bestimmtes Begehren, ein Begehren, das sich auf etwas Bestimmtes richtet. Der Begriff des Signifkats bzw. der Bedeutung schwankt zwischen dem Begehren, das sch auf etwas Bestimmtes richtet und dem Begehrten.
Die Schwankung lässt sich auflösen, wenn man fragt, worauf sich das Begehren richtet. Das Begehren des Kindes besteht darin, begehrt zu werden, schreibt Lacan im Psychose-Aufsatz von 1958.34
Wie begreift Lacan an der zuletzt zitierten Stelle den Zusammenhang zwischen Bedeutung und Signifikat? Verwendet er die Termini hier synonym oder ist gemeint: Das Signifikat ist der Ausdruck einer Bedeutung?35
Eine explizite Zuordnung zwischen Bedeutung und Begehren nimmt Lacan auch in der folgenden Bemerkung vor:
„die Elementarbedeutungen, welche wir Begehren nennen, oder Gefühl, oder Affektivität, diese Fluktuationen, diese Schatten, sogar Resonanzen, besitzen eine gewisse Dynamik, die sich nur auf der Ebene des Signifikanten erklärt, sofern er strukturierend ist.“ (308)
Begehren, Gefühl und Affektivität sind elementare Bedeutungen. Diese Bedeutungen werden durch den Signifikanten strukturiert; der Signifikant verleit diesen Bedeutungen eine bestimmte Dynamik.
Anschließend kommentiert Lacan Saussures Zeichnung mit den beiden Wellen. Die obere Welle steht bei Saussure für Gedanken oder Vorstellungen.
„Das ist das, was wir unsererseits provisorisch die gefühlsmäßige Masse des Stroms des Diskurses nennen werden, konfuse Masse, in der Einheiten in Erscheinung treten, Inseln, ein Bild, ein Objekt, ein Gefühl, ein Schrei, ein Ruf. Das ist ein Kontinuum, während darunter der Signifikant ist als reine Kette des Diskurses, Aufeinanderfolge von Worten, wo nichts isolierbar ist.“ (308)
Der Rohstoff, der durch die Sprache in Signifikate verwandelt wird, ist die gefühlsmäßige Masse des Stroms des Diskurses, dazu gehören Bilder, Objekte, Gefühle, Schreie, Appelle.
In den Mythen geht es um Signifikanten, die die Funktion haben, die chaotische Menge der Signifikate in eine Ordnung zu bringen. Wie das funktioniert, erläutert Lacan an Racines Tragödie Athalia. Der Hohepriester Joad sagt zu dem unentschlossenen Feldherr Abner:
„In Ehrfurcht seinem heiligen Willen unterworfen,
Fürchte ich Gott, lieber Abner, und habe sonst keine Furcht.“36
Joads Anrufung der Gottesfurcht hat zur Folge, dass Abners konfuse Gefühlslage sich ordnet und er sich Joad (der den Aufstand gegen die Königin plant) anschließt.
Lacan begreift die Strebungen, Affekte und Bilder, die sich in Abners widerstreiten, als Signifikate, Joads Rede von der Gottesfurcht als Signifikanten. Der Signifikant „Gottesfurcht“ hat für Abner die Funktion, Ordnung in seine wirren Signifikate zu bringen und ein neues Signifikat zu erzeugen, so dass er weiß, was er zu tun hat, eine neue Gefühlslage, die auf etwas Bestimmtes ausgerichtet ist.
Einige Signifikanten sind darauf spezialisert, die Ordnung der Signifikate herzustellen. Sie werden von Lacan points de capitons genannt, „Stepppunkte“ oder besser „Polsterstiche“.37 Ein wesentlicher point de capiton ist der Name des Vaters, die Kategorie der Vaterschaft als Schlüsselsignifikant des patrozentrischen Verwandtschaftssystems.
Zusammenfassung
In Seminar 3 versteht Lacan unter dem Signifikat bzw. dem Signifizierten (signifié) oder der Bedeutung (signification) Strebungen verschiedener Art: Interessen, Motive, Triebe, Begierden, Bedürfnisse, Gefühle, Affekte (z.B. die Befürchtungen des Feldherrn Abner aus Athalia), aber auch das von diesen Strebungen Angezielte, das Begehrte.
Entscheidend ist für ihn, dass diese Antriebe beim Menschen keinen rein biologischen oder physiologischen Charakter haben, dass sie vielmehr durch den Signifikanten strukturiert sind, wodurch sie eine spezielle Dynamik erhalten. Das Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat besteht demnach darin, dass der Signifikant in die Strebungen, in die natürlichen Bedeutungen eingreift und sie modifiziert. Das Signifikat, so kann man hieraus schließen, ist eine durch den Signifikanten modifizierte Strebung, manchmal auch deren Objekt. In Freuds Begrifflichkeit: das Signifikat beruht auf einem Triebschicksal.38
Seminar 4
In Seminar 4 kommt Lacan auf Saussures Wellenschema zurück und vereinfacht es zum Schema zweier Parallelen.
„Ich habe den Verlauf des Signifikanten oder des konkreten Diskurses zum Beispiel und den Verlauf des Signifikats, worin und als was sich die Kontinuität des Erlebens, der Fluß der Strebungen bei einem Subjekt und zwischen den Subjekten darstellt, bereits in eine Art parallele Übereinanderlegung versetzt.
_______________________ Signifikant
_______________________ Signifikat
Schema der Parallelen“ (53)39
Das Signifikat stellt die Kontinuität des Erlebens dar, den Fluss der Strebungen, sowohl beim einzelnen Subjekt als auch zwischen Subjekten.
Einige Sätze später heißt es:
„Dieses Schema beinhaltet, daß das, was Signifikant von etwas ist, in jedem Augenblick Signifikant von etwas anderem werden kann, und daß alles, was sich in der Lust auf … (envie), der Strebung (tendance) und der Libido des Subjekts darstellt, stets vom Abdruck eines Signifikanten bezeichnet ist – was nicht ausschließt, daß es vielleicht etwas anderes im Trieb (pulsion) oder in der Lust auf … geben könnte, etwas, das nicht vom Abdruck des Signifikanten gezeichnet ist, aber wir haben keinen Zugang dazu. Der Signifikant wird in die natürliche Bewegung (mouvement) eingeführt, ins Begehren (désir) oder in den demand, ein Wort, auf das die englische Sprache wie auf einen primitiven Ausdruck eines Verlangens (appetit) zurückgreift, wobei sie es als Forderung (exigence) qualifziert, obgleich das Verlangen als solches nicht von den eigenen Gesetzen des Signifikanten geprägt ist.“ (53, Übersetzung geändert nach Version Staferla)
Die Passage bezieht sich auf eine Reihe von Strebungen, die nicht näher voneinander abgegrenzt werden: Lust-auf-etwas, Trieb, Begehren, Appetit. Lacan nennt sie auch die „natürlichen Bewegungen“. Der Begriff mouvement, Bewegung, geht zurück auf das lateinische Verb movere, aus dem auch „Motiv“ hervorgegangen ist, der Beweggrund. Statt von Strebungen kann man auch von natürlichen Motiven sprechen.
In die natürlichen Strebungen oder natürlichen Motive wird der Signifikant eingeführt. Anders gesagt, die Strebungen oder Motive werden durch die Anpassung an die Bedingungen des Sprechens umgeformt. Die Libido ist keine natürliche Strebung, sondern eine durch die Einwirkung des Signifikanten umgeformte Strebung.
Im Trieb oder in der Lust-auf-etwas gibt es auch eine Dimension, so vermutet Lacan, die nicht vom Signifikanten geprägt ist. „Wir“, d. h. die Psychoanalytiker, haben jedoch keinen Zugang zu ihr.
Szenenwechsel. Was ist der Heilige Geist?
„Er ist ganz gewiß das, was Freud uns unter dem Wort Todestrieb gebracht hat. Es handelt sich um jene Grenze des Signifikats, die von keinem Lebewesen je erreicht wird (…).“ (53)
Der Todestrieb ist die Grenze des Signifikats, des Signifizierten – unter dem Signifikat wird hier offenbar der Trieb verstanden.
Kurz danach heißt es:
„Was der Existenz des Signifikanten, seiner Anwesenheit in der Welt, zugrunde liegt, werden wir in unser Schema als eine wirksame Oberfläche des Signifikanten einfügen, worin dieser gewissermaßen das widerspiegelt, was man das letzte Wort des Signifikats, das heißt des Lebens, des Erlebten, des Stromes der Emotionen und des libidinösen Stromes, nennen kann.“ (54)
Das Signifikat, das vom Signifikanten Signifizierte ist das Leben, das Erlebte, der Fluss der Emotionen und der Libido, sofern sie vom Signifikanten geprägt sind.
Zusammenfassung
Auch in Seminar 4 ist das signifié (Signifikat, Signifiziertes) eine Strebung: Kontinuität des Erlebens, Fluss der Strebungen, Lust-auf-etwas, Trieb, Begehren, Appetit, Leben, Erlebtes, Emotionen, Libido – all dies Antriebe sind Signifikat unter der Voraussetzung, dass der Signifikant auf sie eingewirkt hat. Diese Tendenzen haben vermutlich auch eine natürliche Dimension, unabhängig vom Signifikanten, zu ihr hat der Psychoanalytiker jedoch keinen Zugang.
Seminar 5
In der Sitzung vom 13. November 1957 fordert Lacan seine Hörer auf, einen seiner Aufsätze zu studieren:
„Darauf muß ich bestehen, daß Sie alle die Beispiele zur Kenntnis nehmen, die ich in L’Instance de la lettre (Das Drängen des Buchstabens) angegeben habe, für das, was ich die wesentlichen Funktionen des Signifikanten nenne, insofern durch diese die Pflugschar des Signifikanten im Realen das Signifikat aushebt, es buchstäblich evoziert, es hervortreten läßt, es handhabt, es erzeugt. Es handelt sich um die Funktionen der Metapher und der Metonymie.“(32)40
Die Pflugschar des Signifikanten hebt im Realen das Signifikat aus, das Signifizierte. Unter dem Realen versteht er hier vermutlich die natürlichen Antriebe, Motive, Begierden usw. Der Signifikant durchpflügt diesen Boden und hierdurch entsteht das Signifikat. Unter dem Signifikat versteht Lacan demnach die sprachlich strukturierten Gefühle, Begierden, Triebe, Libidoflüsse usw.
Kurz nach dieser Sitzung, im Dezember 1957 und Januar 1958, schreibt Lacan den Aufsatz Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht. Das Subjekt, heißt es hier, stellt im Unbewussten die Frage nach seiner Existenz; es stellt sie mithilfe von diskreten Elementen:
„Dies ist entscheidend, denn genau diese Elemente haben wir in der linguistischen Analyse als Signifikanten zu isolieren, und genau da sind sie im Reinzustand in ihrer Funktion zu begreifen am unwahrscheinlichsten und wahrscheinlichsten Punkt zugleich. (…)
– am wahrscheinlichsten Punkt, weil nur da auf unzweideutige Weise ihre Funktion, die Bedeutung (signification) in das Signifikat (signifié) einzuführen, dem sie ihre Struktur aufzwingen, erscheinen kann.
Denn gewiß, die Furchen, die der Signifikant in der realen Welt aufwirft, holen, um sie breiter zu machen, die aufklaffenden Stellen, die diese jenem als seiend anbietet, so daß eine Ambiguität fortbestehen kann, will man feststellen, ob der Signifikant da nicht etwa dem Gesetz des Signifikats folgt.“41
Signifikat bzw. Signifiziertes (signifié) und Bedeutung (signification) werden hier ausnahmsweise deutlich voneinander unterschieden. Die Signifikanten haben die Funktion, in das Signifikat, in das Signifizierte die Bedeutung einzuführen. Unter dem Signifikat versteht Lacan an der zitierten Stelle die „reale Welt“ (eine Auffassung, der er ansonsten widerspricht), also vermutlich die vorsprachlichen Strebungen. Die reale Welt des Signifikats ist durch aufklaffende Stellen gekennzeichnet: damit könnten die Körperöffnungen gemeint sein.
In die reale Welt des Signifizierten führt der Signifikant die Bedeutung ein: dadurch, dass die Strebungen, die Signifikate, vom Signifikanten geprägt werden, entstehen Bedeutungen.
Die Terminologie ist also instabil. Zunächst heißt es: Der Signifikant greift in das Reale ein und erzeugt hierdurch das Signifikat. Kurz danach schreibt er: Der Signifikant greift in das Signifikat ein und erzeugt hierdurch die Bedeutung. Gemeint ist dasselbe und das Argument ist klar: Der Signifikant greift in die natürlichen Strebungen ein und verwandelt sie. Die vom Signifikanten geprägten Strebungen werden mal als Signifikat bzw. Bedeutung, mal als Bedeutung im Unterschied zum Signifikat bezeichnet.
Auch in Seminar 5 bezieht Lacan sich auf das Schema des Polsterstichs:
„Nun kann aber das, was wir hier auf seiten des Anspruchs in Betracht ziehen müssen, gerade nicht mit der Befriedigung des Bedürfnisses zusammengeworfen werden, da eben die Ausübung eines jeden Signifikanten die Manifestation dieses Bedürfnisses verwandelt. Mit Hilfe des Signifikanten wird ihm ein Minimum an Verwandlung – an Metapher, um alles zu sagen – beigebracht, weshalb das, was bedeutet wird, etwas jenseits des rohen Bedürfnisses ist, durch den Gebrauch des Signifikanten neu modelliert ist. Seitdem, seit diesem Anfang ist das, was in die Schöpfung des Signifikats eintritt, nicht reine und schlichte Übersetzung des Bedürfnisses, sondern Aufnahme, Wiederaufnahme, Neumodellierung des Bedürfnisses, Erschaffung eines Begehrens anders als das Bedürfnis. Es ist das Bedürfnis plus der Signifikant. Genauso wie der Sozialismus, wie Lenin sagte, wahrscheinlich etwas sehr Sympathisches ist, aber die perfekte Gemeinschaft hat überdies die Elektrifizierung, genauso gibt es hier im Ausdruck des Bedürfnisses überdies den Signifikanten.“ (106)
Das Bedürfnis wird in Ansprüchen artikuliert, in Forderungen nach Bedürfnisbefriedigung (und nach Liebe). Durch den Anspruch auf Bedürfnisbefriedigung wird das Bedürfnis nicht einfach repräsentiert. Dadurch, dass das Bedürfnis durch den Filter des Anspruchs hindurch muss, wird es verwandelt. Nach der Artikulation des Anspruchs ist es kein natürliches Bedürfnis mehr, sondern ein Begehren, das sich vom Bedürfnis unterscheidet, ein durch den Signifikanten transformiertes Bedürfnis. Die Verwandlung des Bedürfnisses durch den Anspruch ist eine Metapher, im Sinne von: eine Neuschöpfung. So wie der Kommunismus Sowjetmacht plus Elektrifizierung ist, so ist das Begehren Bedürfnis plus Signifikant.
Mit dieser Argumentation nähert Lacan den Begriff des durch den Signifikanten verwandelten Begehrens an den Begriff des Signifikats an. In Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten hatte er ausgeführt, dass die Metapher eine Neuschöpfung ist, und zwar die Neuschöpfung eines Signifikats bzw. eines Sinns. In der zuletzt zitierten Passage ist das, was durch die Metapher neu erzeugt wird, ein Begehren, das sich vom natürlichen Bedürfnis unterscheidet. Offenbar ist das Signifikat bzw. der Sinn identisch mit dem durch den Signifikanten umgewandelten Bedürfnis, zumindest sind beide mit bloßem Auge kaum voneinander zu unterscheiden.
In einer späteren Sitzung verweist Lacan auf das nebenstehende Schema, das ich in diesem Artikel bereits vorgestellt habe, und erläutert den Punkt M.
„Es hängt nämlich mit der Natur und mit dem Effekt des Signifikanten zusammen, daß das, was hier in M ankommt, sich als Signifikat präsentiert, das heißt als etwas, das aus der Transformation, der Brechung des Begehrens durch seinen Durchgang durch den Signifikanten, gemacht ist. Aus diesem Grunde sind diese beiden Linien überkreuzt. Das hat das Ziel, Sie die Tatsache spüren zu lassen, daß das Begehren sich durch den Signifikanten ausdrückt und durch ihn hindurchgeht.“ (173)
Am Punkt M überkreuzt sich die Linie des Signifikanten (I-II-III) mit der Linie der Intention oder des Begehrens (1-2-3); der Begriff des Begehrens hat zu diesem Zeitpunkt des Seminars noch nicht die engere Bedeutung, die er wenige Sitzungen später erhalten wird, er meint hier noch Strebungen jeder Art: Bedürfnisse, Triebe, Lust auf etwas usw. Das Signifikat ist am Punkt M lokalisiert, was heißen soll: das Signifikat entsteht dadurch, dass das Begehren durch den Signifikanten umgeformt wird – das Signifikat ist eine durch den Signifikanten verwandelte Strebung.
Welches Signifikat hat der Signifikant Mutter, d.h. die Mutter als Wechsel von Anwesenheit und Abwesenheit?
„Die Mutter geht, die Mutter kommt. (…) Die Frage ist (für das Kind) – welches ist das Signifikat? Was ist das, was sie, diese da will? Ich hätte gern, daß ich es bin, den sie will, aber es ist schon deutlich, daß es nicht nur mich gibt, den sie will.“ (203)
Als Signifikat bezeichnet Lacan hier das, was die Mutter will, nicht ihre Strebung, sondern den Gegenstand dieser Strebung, den Gegenstand oder den Zielpunkt ihres Willens, als Signifizierte.
In einer späteren Sitzung heißt es über die Frau:
„Die Tatsache, daß sie wie im übrigen auch der Mann sich in die Welt des Signifikanten einschreiben muß, wird bei ihr durch dieses Begehren unterstrichen, das als Signifikat stets in einem gewissen Abstand, in einer Randzone zu was auch immer bleiben muß, das sich auf ein natürliches Bedürfnis beziehen könnte.“ (337 f.)
Das Begehren wird hier mit dem Signifikat gleichgesetzt. Das Begehren als Signifikat ist jenes Begehren, das sich durch die Einwirkung des Signifikanten vom natürlichen Bedürfnis unterscheidet.
Das Signifikat und der Mangel
In einer der letzten Sitzungen des Seminars verbindet Lacan den Begriff des Signifikats mit dem des Mangels:
„Weit davon entfernt, daß das System des Anspruchs perfekt sei, in vollem Ertrag oder in vollem Gebrauch, wird auf seinem Hintergrund die Wirkung des Signifikanten auf das Subjekt eingeführt, die Prägung (marque) des Subjekts durch den Signifikanten und die Dimension des Mangels, eingeführt in das Subjekt durch diesen Signifikanten.
Dieser eingeführte Mangel wird als solcher im System des Signifikanten symbolisiert als Wirkung des Signifikanten auf das Subjekt, das heißt das Signifikat. Im eigentlichen Sinne kommt das Signifikat nicht so sehr aus den Tiefen, als ob das Leben in Bedeutungen erblühte, sondern aus der Sprache und aus dem Signifikanten, der in das Leben jene Art Wirkung eindrückt, die sich Signifikat nennt.“ (545 f., Übersetzung geändert)
Der Begriff des Signifikats wird hier revidiert: der Begriff wird aufgespalten. Das Signifikat ist erstens das durch Signifikanten umgewandelte Bedürfnis. Das Signifikat ist zweitens der hierbei entstehende Mangel. Die Einprägung des Signifikanten in das Leben hat eine bestimmte Wirkung, diese Wirkung ist das Signifikat. Die Einprägung des Signifikanten in das lebendige Subjekt, also die Bildung des Signifikats, läuft darauf hinaus, in das Subjekt die Dimension des Mangels einzuführen; das Signifikat in dieser zweiten Bedeutung ist der Mangel. Der durch den Signifikanten in das Subjekt eingeführte Mangel wird durch einen Signifikanten symbolisiert, durch den Phallus.
Im Grafen des Begehrens wird diese Aufspaltung durch die Symbole s(A) und d repräsentiert (Schema zum Vergrößern anklicken).42 Das Symbol s(A) meint: „Signifikat des Anderen“, das vom Anderen kommende Signifikat, d.h. das durch den Anspruch transformierten Bedürfnis. Der Buchstabe d steht für désir, Begehren; durch die Einprägung des Signifikanten in die Bedürfnisse, also durch die Bildung des Signifikats (s(A), entsteht ein Mangel; das Begehren ist die Form, in der dieser Mangel bestrebt ist, sich jenseits des Anspruchs Anerkennung zu verschaffen, durch Beziehung zum Begehren des Anderen und durch den Phallus-Signifikanten.
s(A) ist der Schnittpunkt dreier Linien: der von $ ausgehenden Bedürfnislinie (grün), der Linie des Anspruchs auf Bedürfnisbefriedigung (blau) und der Linie der Einwirkung des Anderen auf das Signifikat. Das Begehren, d (gelb), ist jenseits des Signifikats des Anderen verortet, im oberen Teil des Grafen.
Zusammenfassung
Im Seminar 5 knüpft Lacan an den Gedanken an, den er in den vorangegangenen Seminaren bereits entwickelt hatte: Der Signifikant greift in die natürlichen Strebungen ein und modifiziert sie; die umgewandelte Strebung ist das Signifikat, das Signifizierte.
Folgende Bestimmungen werden in hinzugefügt:
– Der Weg, auf dem der Signifikant in den Antrieb eingreift, ist der Anspruch, d.h. die Forderung nach Bedürfnisbefriedigung und nach Liebe (nach Anwesenheit).
– Die Umwandlung des Bedürfnisses durch den Anspruch ist eine Metapher, sie führt zur Neuschöpfung eines Signifikats.
– Bedürfnis, Signifikat und Begehren werden im Verlauf des Seminars zunehmend schärfer unterschieden, am Ende des Seminars werden sie so verwendet: Der Signifikant greift durch den Anspruch in das natürliche Bedürfnis ein; durch die Intervention des Signifikanten verwandelt sich das Bedürfnis in das Signifikat; die Umwandlung der Bedürfnisse durch den Signifikanten hat einen Gesamteffekt: den Mangel, das Begehren ist letztlich der Mangel.
– Es gibt einen Signifikanten, der diesen Mangel symbolisiert; dies ist der Phallus.
Freud und Sartre als Quellen dieses Signifikatsbegriffs
Lacan ist auch bei Begriff des Signifikats Freudianer. Für Freud besteht die Bedeutung eines Symptoms im unterdrückten Trieb. Für Lacan heißt das:
– Der Trieb (die Strebung, das Begehren usw.) wird durch die Sprache transformiert.
– Der unterdrückte Trieb ist kein natürlicher Trieb, sondern ein radikal durch die Sprache umgewandelter Trieb.
– Das Begehren (der Begriff wird von Lacan zu diesem Zeitpunkt nicht vom Trieb unterschieden) ist intersubjektiv verfasst, es bezieht sich auf den Anderen und besteht letztlich im Begehren, begehrt zu werden. In Freudscher Terminologie: die Libidobesetzung ist zugleich aktiv und passiv.
Die Verbindung von Freuds Konzeption der Symptombedeutung mit Saussures Begriff des Signifikats übernimmt Lacan von Sartre. In dessen Skizze einer Theorie der Emotionen (1939) heißt es:
„Die psychoanalytische Deutung begreift das bewusste Phänomen als die symbolische Verwirklichung eines von der Zensur verdrängten Begehrens. Halten wir fest, dass für das Bewusstsein dieses Begehren nicht in seiner symbolischen Realisierung enthalten ist. Soweit es durch unser Bewusstsein und in ihm existiert, ist es einzig das, wofür es sich ausgibt: Emotion, Wunsch nach Schlaf, Diebstahl, Lorbeerphobie usw. Wenn es anders wäre und wenn wir auch nur ein implizites Bewusstsein unseres wahren Begehrens hätten, wären wir unaufrichtig und der Psychoanalytiker fasst es nicht so auf. Daraus folgt, dass die Bedeutung (signification) unseres bewussten Verhaltens diesem Verhalten völlig äußerlich ist oder, wenn man das lieber will, das Signifikat vom Signifikanten gänzlich abgeschnitten.“43
Sartre referiert hier die von ihm abgelehnte Theorie der Psychoanalyse. Das verdrängte Begehren gilt demnach dem Psychoanalytiker als Signifikat, das bewusste Verhalten als Signifikant. Ich weiß nicht, ob dies der erste Versuch ist, Saussures Begriffe auf die Psychoanalyse anzuwenden, aber sicherlich ist es ein sehr frühes Unternehmen dieser Art. Auch den Begriff des Schnitts, der später bei Lacan eine große Rolle spielen wird, wird hier bereits angedeutet: das Signifikat ist vom Signifikanten abgeschnitten.
Satre zufolge begreift der Psychoanalytiker das Verhältnis zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten als ein Kausalverhältnis, bei dem das Signifikat die Rolle der Ursache spielt, der Signifikant die der Wirkung.44 Darin zeigt sich der Abstand zwischen dieser Auffassung der Psychoanalyse und Lacan. Lacan sieht es umgekehrt: der Signifikant verursacht das Begehren, das Signifikat.
Die Bedeutung des Phallus
Die zu Beginn zitierte Bemerkung über den Phallus wird damit, denke ich, nachvollziehbar. Der Satz lautete: Der Phallus
„ist der Signifikant, der bestimmt ist, die Signifikatswirkungen in ihrer Gesamtheit zu bezeichnen, soweit der Signifikant diese konditioniert durch seine Gegenwart als Signifikant.“
Der Signifikant, die Sprache, wirkt auf das kleine Menschenwesen ein.
Die Einwirkung der Sprache führt zu einer Modifikation der natürlichen Bedürfnisse. Das Subjekt passt sich an die Bedingungen des Sprechens an; hiedurch verändert sich seine Antriebsstruktur.
Der Weg, auf dem dies geschieht („die Gegenwart des Signifikanten als Signifikant“) ist der Anspruch, die Forderung nach Bedürfnisbefriedigung und nach Liebe.
Die durch den Signifikanten umgewandelte Strebung bezeichnet Lacan als „Signifikat“. Das Signifikat ist also eine Wirkung, ein Effekt der Einprägung des Signifikanten in das Bedürfnis. Für das durch den Signifikanten transformierte Bedürfnis reserviert Lacan in Seminar 5 zunehmend den Begriff des Begehrens; das Signifikat ist das Begehren.
Die Strebungen werden durch den Signifikanten nicht nur umgewandelt; ihre Transformation ist, in genetischer Betrachtung, mit einem Verlust verbunden, einem Opfer, strukturell gesehen: mit einem Mangel. Die Gesamtheit der durch den Signifikanten erzeugten Signifikatswirkungen ist der Mangel.
Der durch den Signifikanten (die Sprache) hervorgerufene Mangel wird durch einen Spezialsignifikanten bezeichnet: durch den Phallus.
Der Phallus-Signifikant ist dazu bestimmt; er wird vom Kind nicht spontan gebildet, sondern durch die symbolische Ordnung tradiert, insbesondere durch den Patrozentrismus des Verwandtschaftssystems.
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Anmerkungen
- Die Bedeutung des Phallus, Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 126. Der Vortrag wurde am 8. Mai 1958 gehalten und 1966 zuerst veröffentlicht. – Im Original: „Car c’est le signifiant destiné à désigner dans leur ensemble les effets de signifié, en tant que le signifiant les conditionne par sa présence de signifiant.“ Écrits, 690.
- Auf Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung bezieht Lacan sich erst später, erstmals in Seminar 12, in der Sitzung vom 2. Juni 1965.
- Vgl. in Seminar 3: „Eine ganze phänomenologische Anmaßung, die weit über das Feld der Psychoanalyse hinausgeht, und die dort nur herrscht, sofern sie auch anderswo herrscht, beruht auf der Verwechslung des Bereichs der Signifikanz (signifiance) und des Bereichs der Bedeutung (signification). Von Arbeiten ausgehend, die als Untersuchungen über die Funktion des Signifikanten äußerst rigoros sind, gleitet die vorgeblich psychologische Phänomenologie hinüber zum Bereich der Bedeutung.“ (Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 227, Übersetzung geändert; Turnheim übersetzt signifiance mit „Bedeuten“.)
In Das Drängen des Buchstabens heißt es: „Sꞌ bezeichnet in dem Kontext den produktiven Term der signifikanten Wirkung (oder Signifikanz) (…)“ (Schriften II, hg. v. N. Haas, S. 41)
In Seminar 12 übersetzt Lacan Freges Begriffsopposition von „Sinn“ und „Bedeutung“ mit sens und signifiance (Sitzung vom 16. Juni 1965). - Vgl. etwa Seminar 1, Version Miller/Hamacher, S. 328; Variantes de cure-type, Écrits, S. 352; Das Freud’sche Ding, S. 32 f.; Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 42, 142, 163; Das Drängen den Buchstabens, Schriften II, S. 22.
- J. Lacan: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 137.
- Schriften I, hg. v. N. Haas, S. 114, Vortrag von 1953, veröff. 1956.
- Vgl. Seminar 1, S. 328; Das Drängen, Schriften II, S. 22.
- Vgl. Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 338.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 263 f.
- Vgl. etwa Das Seminar über E. A. Poes „Der entwendete Brief“, Schriften II, S. 28, 46.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 260, 305; Über eine Frage, die jeder möglichen Behandlung der Psychose vorausgeht, Schriften II, S. 103.
- Vgl. Einführung zum Kommentar von Jean Hyppolite über die „Verneinung“ von Freud, Schriften III, hg. v. N. Haas, S. 182.
- Vgl. Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, Schriften I, S. 122; Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 171.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 126.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 294 f.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 226.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 16, 30, 42, 68, 120 f., 236.
- Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 96.
- Jeunesse de Gide, Écrits, S. 747 f.
- In Two aspects of language and two types of aphasic disturbances (1956) schreibt Jakobson:
„A competition between both devices, metonymic and metaphoric, is manifest in any symbolic process, either intrapersonal or social. Thus in an inquiry into the structure of dreams, the decisive question is, whether the symbols and the temporal sequences used are based on contiguity (Freud’s metonymic ‚displacement‘ and synecdochic ‚condensation‘) or on similarity (Freud’s ‚identification and symbolism‘).” (In: Ders. und Morris Halle: Fundamentals of language. Mouton & Co, ’s-Gravenhage (Den Haag) 1956, darin Teil II, S. 53-82, hier: S. 80 f.)
Die veröffentlichte deutsche Übersetzung dieser Passage enthält einen Fehler: „displacement“ wird hier mit „Verdrängung“ ins Deutsche gebracht, statt, wie es richtig wäre, mit „Verschiebung“ („Verdrängung“ wäre repression). Man liest hier:
„Eine gewisse Rivalität zwischen den metonymischen und metaphorischen Darstellungsweisen kommt bei jedem symbolischen Prozeß, gleichgültig ob es sich um einen intrapersonellen oder um einen sozialen handelt, zum Vorschein.
So ist es auch bei der Untersuchung von Traumstrukturen eine entscheidende Frage, ob die Symbole und die zeitliche Reihenfolge auf Kontiguität (Freuds metonymische ‚Verdrängung‘ und synekdocheische ‚Verdichtung‘) oder auf Similarität (Freuds ‚Identifizierung‘ und ‚Symbolismus‘) beruhen.“ (R. Jakobson: Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen (1956). Übersetzt von Georg Friedrich Meier, Überarbeitung der Übersetzung durch Wolfgang Raible. In: R. Jakobson: Aufsätze zur Linguistik und Poetik. Hg. v. Wolfgang Raible. Ullstein, Frankfurt am Main u.a. 1979, S.117–141, im Internet hier; der zitierte Satz findet sich auf S. 137 f. Diese Übersetzung beruht auf der Übersetzung von Fundamentals of language durch Georg Friedrich Meier, die, unter dem Titel Grundlagen der Sprache, 1960 im Akademie-Verlag erschien.)
Meine Übersetzung:
„Eine Rivalität zwischen den beiden Mechanismen, metonymischen und metaphorischen, manifestiert sich in jedem symbolischen Prozess, sei er intrapersonal oder sozial. So lautet bei der Erforschung der Struktur der Träume die entscheidende Frage, ob die Symbole und die verwendeten zeitlichen Sequenzen auf Kontiguität beruhen (Freuds metonymische ‚Verschiebung‘ und synekdocheische ‚Verdichtung‘) oder auf Ähnlichkeit (Freuds ‚Identifizierung und Symbolik‘).“
- Zuerst in der Sitzung vom 2. Mai 1956.
- Für die Entzifferung der Formeln stütze ich mich auf Nancy/Lacoue-Labarthe und modifiziere sie etwas. Vgl. Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe: Le titre de la lettre. (Une lecture de Lacan). Galilée, Paris 1973, S. 100.
- Die beiden Formeln findet man in Schriften II, S. 40 f.
- Seminar 3, Version Miller/Gondek, S. 310, Übersetzung geändert.
- Ferdinand de Saussure: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft (1916). Hg. v. Charles Bally u. Albert Sechehaye. De Gruyter, Berlin 1967, S. 133.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 308–317.
- Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 15.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 31.
- Vgl. Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 104–107.
- Seminar 5, Version Miller/Gondek, 105.
- Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 229.
- Die Seitenangabe in Klammern bezieht sich auf Seminar 2 von 1954/55, Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Version Miller/Metzger.
- Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf Seminar 3 von 1955/56, Die Psychosen, Version Miller/Turnheim.
- Über eine Frage, die jeder möglchen Behandlung der Psychose vorausgeht, Schriften II, S. 87.
- In Seminar 4 weist Lacan darauf hin, dass die genannten Objekt für Anna Freud allesamt verboten sind; ihr Begehren ist das Begehren nach etwas Unmöglichem, und die Unmöglichkeit besteht in einem Verbot, das auf die symbolische Ordnung verweist. (Vgl. Seminar 4, Version Miller/Gondek, S. 216 f.)
- Zitiert in Seminar 3, Version Miller/Turnheim, S. 313.
- Vgl. Seminar 3, Version Miller/Gondek, S. 310-317.
- Vgl. S. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915).
- Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf Seminar 4 von 1956/57, Die Objektbeziehung, Version Miller/Gondek.
- Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich hier und im Folgenden auf Seminar 5 von 1957/58, Die Bildungen des Unbewussten, Version Miller/Gondek.
- Schriften II, S. 82 f.
- Diagramm aus Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens, Schriften II, S. 193; die Färbung ist von mir.
- Jean-Paul Sartre: Esquisse d’une théorie des émotions (1939). Hermann, Paris 1995, S. 61, meine Übersetzung.- Dt.: J.-P. Sartre: Skizze einer Theorie der Emotionen. Übersetzt von Traugott König. In: Ders.: Die Transzendenz des Ego. Philosophische Essais 1931-1939. Rowohlt, Reinbek 1994, S. 255-322, hier: S. 284.
- A.a.O., frz. S. 65, dt. S. 286 f.