Lacans Seminarmedien. Notiz zu Kittler
Am Tisch neben Lacan eine Stenotypistin an einer Stenographiermaschine
Seminar 18 von 1971, „Über einen Diskurs, der nicht vom Schein wäre“
Wie wurden die Seminare, die Lacan – auf der Grundlage von Notizen – gesprochen hat, zu etwas Geschriebenem? Und wie wurde das Geschriebene verbreitet?
In Draculas Vermächtnis (1982) schreibt Friedrich Kittler:
„Alle Seminare Lacans sind über Mikrophon aufs Band gesprochen. Das brauchten subalterne Hände dann nur rückzuspulen und abzuhören, um einen kleinen Medienverbund zwischen Recorder, Kopfhörer, Schreibmaschine aufzubauen und dem Meister rückmelden zu können, was er gesagt hatte. Seine Worte, gerade noch gesprochen – pünktlich vor Beginn der nächsten Seminarsitzung lagen sie ihm schon als Typoskript vor.“1
Nein, so war es nicht. Ab 1953 – also seit dem ersten Seminar – beschäftigt Lacan Stenotypistinnen, um das Seminar zu transkribieren (nicht zu verwechseln mit Gloria Gonzáles, seiner Sekretärin). Sie arbeiten mit Stenographiermaschinen, d.h. sie tippen das, was sie hören, unmittelbar in eine spezielle Schreibmaschine; das Foto zu Beginn des Artikels zeigt ein solches Arrangement.
Die Tasten einer Stenographiermaschine entsprechen einem vereinfachten Phonemsystem; es gibt keine Kleinbuchstaben, zwei Tasten müssen gleichzeitig angeschlagen werden.
Die Stenotypistin verwandelt das, was sie hört, mithilfe dieser Maschine in eine Art Phonemtext; beispielsweise wird die Wortfolge „un petit temps“ von ihr als „EN PTI TAN“ eingegeben. Als Schreibfläche gehört zur Stenographiermaschine eine schmale Papierrolle, wie man sie für Registrierkassen verwendet.
Links: Papierband einer Stenographiermaschine
Mitte: phonetischer Entsprechung
Rechts: ortographischer Schreibung2
Lacans Stenotypistinnen haben die Anweisung, alles genau so mitzuschreiben, wie sie es hören, und nichts auszulassen. In einem zweiten Arbeitsschritt wird das Schriftband von ihnen mit einer gewöhnlichen Schreibmaschine abgeschrieben und dabei wird der Text von ihnen orthographisiert, aus „EN PTI TAN“ wird „un petit temps“. Beim Abschreiben stellen sie mithilfe von Kohlepapier mehrere Durchschläge her.3
Stenotypien ließ Lacan von sämtlichen Seminaren herstellen, von 1953 bis 1980.4 Von den Seminaren 11 bis 16 gibt es außerdem eine von der École freudienne de Paris in Auftrag gegebene Steonotypie, und in diesem Fall ist der Name der Stenotypistin bekannt: Solange Faladé. Von den Seminaren 17 bis 26 gibt es weitere Stenotypien, von anderen Auftraggebern und Stenotypistinnen.5 Ob diese Stenographien ebenfalls per Maschine hergestellt wurden oder aber handschriftlich, ist mir nicht bekannt.
Im Seminar spricht Lacan nicht nur, er zeichnet auch an der Tafel und er hängt vorgefertige Zeichnungen aus. Von diesen Zeichnungen wurden meines Wissens nur wenige Fotografien hergestellt. Die Diagramme in den veröffentlichten Seminaren sind deshalb bisweilen unzuverlässig. Beispielsweise stammt das Schema L, das man in Millers Version von Seminar 2 findet (Das Ich in der Theorie Freuds usw., 1954/55) aus dem später veröffentlichen Poe-Aufsatz; der publizierte Text des Seminars passt nicht immer zur Zeichnung.6
Tonaufnahmen der Seminare wurden von Lacan erst spät akzeptiert; es kursieren Geschichten, dass er Tonbandgeräte, die im Hörsaal aufgestellt wurden, zunächst mit Fußtritten versehen hat.7 Das erste Seminar, von dem es eine Tonaufnahme gibt, ist Seminar 6 von 1958/598, das erste Seminar, von dem man eine Audiodatei im Internet findet, ist Seminar 9 von 1961/62.9 Von einem bestimmten Zeitpunkt an dienten Tonaufnahmen dazu, die mithilfe der Stenotypie erzeugte Transkription an schwierigen Stellen zu überprüfen10; für Seminar 12 von 1964/65 ist das belegt.11 Wer diese Korrekturen vornahm, ist nicht bekannt; Lacan war es nicht.12 Auch nach der Verwendung von Tonbandgeräten bleibt das Stenotypie-System erhalten, für die Seminare 11 bis 16 wird es sogar doppelt eingesetzt: durch Lacan und durch die EFP.
Lacan spricht demnach nicht durch ein Mikrophon in einen „gedankenlosen Speicher“13, sondern diktiert einer Frau, die Stenotypistin ist, die den Sinn teilweise versteht und die eben jene Fähigkeiten hat, die Mina Murray dabei ist zu erwerben, Harkers Verlobte in Stokers Dracula.14 Die Aufgabe ist für sie einfach, da Lacan langsam und deutlich spricht. Sie ist für sie zugleich quälend, da sie nur wenig versteht.15
Das Seminar wurde auch von Hörern auf Band aufgenommen; die erste Tonaufzeichnung gibt es offenbar von Seminar 6 (Das Begehren und seine Deutung, 1958/59).8 Vor allem seit der Erfindung des Kassettenrekorders in den 1970er Jahren häufen sich im Hörsaal die Aufnahmegeräte. Seither gibt es drei letzte Grundlagen für die Publikation der Lacan-Seminare: Stenotypien, Tonaufnahmen und Abschriften von Tonaufnahmen.
Auf den Aufnahmen hört man, dass Lacan auf ungewöhnliche Weise spricht: sehr langsam, überaus artikuliert – „exaltiert“ ist das Adjektiv, das sich einem aufdrängt, aber besser wäre es, diesen Duktus als „schriftnah“ zu bezeichnen oder als „verschriftend“. Wenn die technische Qualität einer Aufnahmen gut ist, verstehe selbst ich, der ich Mühe habe, dem schnellen und verschliffenen Umgangsfranzösisch zu folgen, nahezu jedes Wort. Ich weiß nicht, ob Lacan bei Vorträgen auf diese Sprechweise umschaltete, oder ob er auch sonst in seinem Sprechen dem Aufschreibesystem entgegendrängte.
Weiter liest man bei Kittler:
„Bekanntlich steuert Jacques-Alain Miller den Medienverbund, der Lacans Seminare, eins nach dem anderen und über den Tod hinaus, transkribiert und vertextet.“16
Für Lacans Seminare ist charakteristisch, dass ihre Verschriftung und „Vertextung“ gerade nicht in einem zentralisierten Medienverbund erfolgt.
Miller steuert die offizielle Publikation der Seminare im Verlagssystem. Dabei gibt es keine „Transkription des Tochtermanns“17, wie Kittler schreibt; mit der Transkription der Seminare – der Metamorphose vom Gesprochenen zum Geschriebenen – hat der Schwiegersohn nichts zu schaffen. Millers Tätigkeit ist die eines Redakteurs und Herausgebers: Transkriptionen, die er nicht in Auftrag gegeben hat und die ihm fertig vorliegen, werden von ihm redaktionell bearbeitet und und das Ergebnis wird von ihm in einer Zeitschrift und in Büchern veröffentlicht, in Verlagen, die an den Buchhandel angeschlossen sind. Die Verlage für die Buchveröffentlichungen der Seminare sind Le Seuil und Martinet. Die Zeitschrift heißt Ornicar? Bulletin périodique du champ freudien, sie wurde 1975 gegründet und erscheint ebenfalls bei Le Seuil; hier veröffentlichte Miller seine Versionen der Seminare 22 bis 24.
Millers Eigentumsrecht wird durch die technische Entwicklung jedoch unterlaufen; die medialen Produktivkräfte sprengen die medialen Produktionsverhältnisse.
Die von Lacan in Auftrag gebenenen Stenografien wurden von ihm in einer Bibliothek hinterlegt und den Mitgliedern der Société française de psychanalyse zugänglich gemacht, solange er deren Mitglied war. Es gab mehrere Durchschläge und Lacan verschenkte sie. Dies ist ein erster „Medienverbund“, nennen wir ihn das Durchschlag-System. Mit ihm hat Lacan schon früh dafür gesorgt, dass die Seminare nicht nur gehört, sondern auch gelesen wurden.
Von Beginn an gab es mehrere parallele Transkriptionen der Seminare; neben der von Lacan in Auftrag gegebenen Fassung waren dies Transkriptionen, die Hörer aus eigener Initiative erstellt hatten, einige dieser Transkriptionen haben erläuternde Anmerkungen. Die Vervielfältigung dieser Texte erfolgte zunächst durch Matrizen18, die Abzüge zirkulierten im Umfeld von Lacans Hörerschaft. Als Miller das erste Seminar veröffentlicht – 1973 – ist diese Form der Reproduktion und Distribution seit 20 Jahren in Betrieb. Sie läuft neben Millers Verlagssystem weiter her und nimmt durch den Übergang vom Hektografiergerät zum Fotokopierer und die Verbreitung von Copyshops einen rasanten Aufschwung (meiner Erinnerung nach kamen Kopierläden Anfang oder Mitte der 1970er Jahre auf). In einer Reihe von Pariser Copyshops und Buchhandlungen konnte man inoffizielle Transkriptionen aller Lacan-Seminare erwerben. Das zweite System beruht also technisch auf Hektografien und Fotokopien; die Distribution erfolgt, statt durch Verlage und Buchhandlungen, durch Kopierläden und ebenfalls durch Buchhandlungen, jedoch nur durch einige und dort unter dem Ladentisch. Das dritte System sind Millers Seminarpublikationen.
Auf der Basis von Schreibmaschine (später PC) und Fotokopierer, also im zweiten System, gibt es mehrere große Editionsprojekte. Dazu gehört die vollständige Ausgabe sämtlicher Seminare durch die Association freudienne internationale (später umbenannt in Association lacanienne internationale), außerhalb des Buchhandels.
Außerhalb des offiziellen Verlagssystems gibt es inzwischen sogar eine kritische Ausgabe der Seminare, eine Edition mit textkritischem Apparat; sie hat die mediale Form von Büchern mit CD im Selbstverlag und wird ebenfalls nicht über den Buchhandel vertrieben. (Bislang gibt es diese Version für die Seminare 9, 10, 12, 13 und 14; Autor ist der bereits erwähnte Michel Roussan.)
Mit der Entwicklung des World Wide Web in den 1990er Jahren – also nach der Veröffentlichung von Kittlers Aufsatz – hat sich, neben dem Durchschlagsystem, dem System Hektografiergerät/Fotokopierer und Millers Verlagsbuchhandelssystem ein vierter Medienverbund etabliert, auch dieser an Miller vorbei: die Verbreitung der Seminare über das Internet, in Verbindung mit PC und Drucker. Heute kann man im Netz zu jedem Seminar mehrere Versionen von Transkriptionen abrufen, etwa auf der Seite der École lacanienne de psychanalyse oder auf der Seite gaogoa.free.fr. Im Internet findet man auch Tonaufnahmen vieler Seminare, vor allem auf der Website von Patrick Valas. Und schließlich gibt es im Netz, auf der Grundlage anonymer Transkriptionen, eine nahezu vollständige inoffizielle Übersetzung der Seminare ins Englische (Seite „Lacan in Ireland“, Übersetzer: Cormac Gallagher); das Medium ist hier die an das Internet angeschlossene PDF-Datei einer Fotokopie. Bei Karnac Books, einem Londoner Verlag, kann man diese Übersetzungen sogar im Verlagsbuchhandel erwerben (siehe z.B. hier); die Grenze, die Miller im Verlagssystem gezogen hat, ist an diesem Punkt durchlässig, zumindest im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland.
Und schließlich gibt es, fünftens, eine CD mit Transkriptionen aller Seminare, also den Medienverbund von Personalcomputer und CD-ROM. Leider ist es mir nicht gelungen, in den Besitz dieses Datenträgers zu kommen. Kann mir jemand weiterhelfen?
NACHTRAG vom 20.3.2018: Ja, mir konnte geholfen werden – danke, Arndt Himmelreich!
Hier findet man die von der ALI herausgegebenen Lacan-Seminare – alle Seminare (auf Französisch) in einer einzigen durchsuchbaren PDF-Datei.
Anmerkungen
- Friedrich Kittler: Draculas Vermächtnis (1982). In: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Reclam, Leipzig 1993, S. 11–57, hier: S. 11.
- Aus: Stécriture, Anhang, Rencontre avec la sténotypiste, S. VI, von hier.
- Vgl. das Interview mit einer von Lacans Stenotypistinnen, Frau M., in: Rencontre avec la stenotypiste, im Anhang zur Stécriture-Version von Seminar 8, Le transfert, S. IV –VIII, auf der Webseite der ELP hier.
- Vgl. den Hinweis auf der Website der École lacanienne de psychanalyse, einleitend zu „Séminaire – Version J.L. et non J.L.“, hier.
- Vgl. Elisabeth Roudinesco: Jacques Lacan. Bericht über ein Leben, Geschichte eines Denksystems. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1996, S. 759–766.
- Vgl. Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 310 ff.
- Vgl. Seminar 12, Version Roussan, S. 6.
- Vgl. Roudinesco, a.a.O., S. 760.
- Vgl. die Internetseite von Patrick Valas, hier.
- Vgl. das erwähnte Interview mit der Stenotypistin Frau M. im Anhang zur Stécriture-Version von Seminar 8, hier, sowie Seminar 12, Version Roussan, S. 6.
- Vgl. die Vorbemerkungen von Roussan zu seiner Ausgabe dieses Seminars.
- Vgl. Roussan, Seminar 12, Vorbemerkung.
- Kittler, a.a.O., S. 15.
- Vgl. Kittler, a.a.O., S. 29–31.
- Vgl. das Interview mit Frau M., a.a.O.
- Kittler, a.a.O., S. 14.
- A.a.O., S. 14.
- Vgl. Roudinesco, a.a.O., S. 606.