Lacans Schemata
Das Schema des masochistischen Begehrens
Schema 2 aus: Jacques Lacan, Kant mit Sade
Vor einigen Tagen hielt Mai Wegener im Rahmen des Psychoanalytischen Salons Berlin einen Vortrag über Jacques Lacans Aufsatz Kant mit Sade (vgl. hier ihre Überarbeitung der Übersetzung). Dabei ging es vor allem um das oben wiedergegebene Diagramm; in Kant mit Sade wird es als „Schema 2“ bezeichnet. Im Folgenden findet man meine Deutung dieser graphischen Darstellung. Der Aufsatz Kant mit Sade besteht aus 15 Abschnitten, die durch Leerzeilen getrennt werden; ich zitiere und kommentiere Abschnitt 8.1
Schema 2 entsteht durch eine Vierteldrehung aus Schema 1, dem Schema des sadistischen Phantasmas; meine Erläuterung von Schema 1 enthält dieser Blogartikel.
Den Aufsatz Kant avec Sade gibt es in drei Versionen. Die erste Fassung erschien 1963 in der Zeitschrift Critique2, die zweite, mit größeren Änderungen, 1966 in den Écrits3, die dritte, mit kleineren Korrekturen, 1971 in der ersten Taschenbuchausgabe der Écrits4.
Nachtrag vom 18. Dezember 2017
Inzwischen gibt es eine neue gute Übersetzung von Kant mit Sade:
Jacques Lacan: Schriften. Band II. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2015, S. 289–321,
In diesem Blogeintrag, der 2014 veröffentlicht wurde, konnte sie noch nicht berücksichtigt werden.
Zitierweise
– Die Zitate beziehen sich, wenn nicht anders angegeben, auf die Fassung von 1966. Für Zitate aus der Version von 1963 verwende ich die Wiedergabe in Pas-tout Lacan und die dort angegebene Seitenzählung der Zeitschrift Critique.
– Drei Punkte zu Beginn eines Zitats weisen darauf hin, dass es an das vorangehende Zitat aus der Erläuterung des Schemas in Kant mit Sade lückenlos anschließt.
– In den Zitaten sind Einfügungen in runden Klammern von Lacan, in eckigen Klammern von mir.
– Zahlen in Klammern sind Seitenhinweise; sie beziehen sich auf die Übersetzung von Kant mit Sade in den von Norbert Haas herausgegebenen Schriften II.
– „10:133“ meint: Seminar 10, Version Miller/Gondek, S. 133. Dabei beziehe ich mich auf die offiziellen deutschen Übersetzungen der Seminare. Im Falle von Seminar 6 verweise ich auf die Miller-Ausgabe; Seminar 9 zitiere ich nach der Staferla-Version.
– „Anm. JL“ meint: Anmerkung von Lacan; „Anm. RN“ meint: Anmerkung von mir.
– Die Übersetzung der Passagen aus Kant mit Sade sowie aus den Seminaren 6 und 9 ist von mir.
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Formale Beschreibung
In Schema 2 werden fünf Terme zueinander in Beziehung gesetzt:
– a, oben links, das Objekt a„
– V, oben rechts, der Wille zur Lust, der Wille zum Genießen (volonté de jouissance),
– $, unten links, das durchgestrichene S (S barré) als Symbol für das ausgesperrte Subjekt (sujet barré) oder gespaltene Subjekt (sujet divisé),
– S, unten rechts, das rohe Subjekt der Lust (plaisir),
– d, das Begehren (désir), unten links.
Diese Terme sind vom Schema 1 her bereits bekannt.
Zwischen den fünf Termen gibt es drei Arten von Beziehungen.
– Die linke Seite des Diagramms (mit a, $ und d) ist die Seite des Subjekts, die rechte Seite (mit V und S) die des Anderen (10:133).
– Die Terme werden durch eine Pfeillinie miteinander verbunden, die zwischen der linken Seite und der rechten Seite hin und her wechselt, sodass sich eine Z-förmige Linie ergibt. Sie beginnt oben links mit a, läuft dann nach oben rechts zu V, hierauf nach unten links zu $ und endet unten rechts in S.
– Das kleine d steht unter $, von d zeigt ein kurzer Pfeil senkrecht nach oben zu $.
Auch diese drei Beziehungen sind von Schema 1 her bekannt.
Bei der Vierteldrehung bleiben die Reihenfolge der Terme und der zickzackförmige Kurvenverlauf erhalten, durch die Drehung verwandelt sich das N in ein Z. Beim Übergang von Schema 1 zu Schema 2 rotiert das d nicht mit, mit dem Platz unten links ist es fest verbunden. Die Rotation hat zur Folge, dass die Richtung des von d ausgehenden kurzen Pfeils sich ändert; im Schema des Sadismus zeigt der Pfeil von links nach rechts, in Schema 2 von unten nach oben.
Schema 2 ist eine der zahlreichen Umwandlungen von Schema L, das Lacan zuerst in Seminar 2 vorgestellt hatte (vgl. hierzu diesen Blogbeitrag). In beiden Diagrammen sind die vier Ecken eines Rechtecks mit vier Termen besetzt, deren Beziehung so beschaffen ist, dass die diagonale Verbindung zwischen dem Term oben links und dem unten rechts durch eine quer dazu stehende Achse vermittelt ist, durch die Beziehung zwischen dem Term oben rechts und dem unten links. In Schema L wird die symbolische Verbindung von A zu S durch die imaginäre Verbindung von aꞌ nach a unterbrochen und zugleich ermöglicht; in Schema 2 wird die Beziehung zwischen a und S durch die symbolische Beziehung zwischen V und $ vermittelt.
In Kant mit Sade heißt es zu Schemata dieses Typs:
„Ausgehend vom Unbewußten ist in der Konstruktion einer subjektiven Anordnung stets eine vierteilige Struktur erforderlich. Dem genügen unsere didaktischen Schemata.“ (145)
Warum muss die Struktur viergliedrig sein? Das wird in Kant mit Sade nicht begründet.
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Gegenstand des Schemas
Die Vierteldrehungen
Die Vierteldrehung in „Kant mit Sade“
In Kant mit Sade wird zunächst Schema 1 vorgestellt, das Schema des sadistischen Phantasmas (Abbildungen zum Vergrößern anklicken). Den Übergang zu Schema 2 bereitet Lacan dadurch vor, dass er die Auffassung kritisiert, zwischen Sadismus und Masochismus gebe es eine Umkehrbeziehung, eine relation de réversion (148 f.).
Worin besteht dann aber der Zusammenhang zwischen Sadismus und Masochismus, fragt Lacan. Der Sadismus schiebt den Schmerz zu existieren – den primären Masochismus – auf den Anderen ab, und darüber entgeht ihm, dass er selbst sich in ein „ewiges Objekt“ verwandelt (149).5 In Schema 1 wird die Identifizierung des Sadisten mit diesem Objekt, dem Objekt a, durch das a unten links angezeigt. Anders als dem Masochisten ist dem Sadisten sein Objektstatus nicht bewusst.
Lacan fährt fort:
„Machen wir uns lieber klar, dass Sade in dem Maße von seinem Phantasma nicht betrogen wird, wie die Strenge seines Denkens übergeht in die Logik seines Lebens.“ (149)
Hieran anschließend stellt Lacan Schema 2 vor. Das Schema zeigt also, wie die Strenge von Sades Denken in die Logik seines Lebens übergeht. Für Lacan ist Sade dann ein strenger Denker, wenn es um Fragen der Ethik geht.6
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Die Vierteldrehung in Seminar 10
Im September 1962 hatte Lacan Kant mit Sade fertiggestellt, im April 1963 wird der Aufsatz veröffentlicht. Dazwischen, am 16. Januar 1963, stellt er in Seminar 10 an der Tafel ein Schema des Sadismus vor, das mit dem aus Kant mit Sade übereinstimmt, bis auf eine Abweichung: In der Seminar-Version des Sadismus-Schemas steht links oben anstelle des V ein d, für désir, Begehren.
In Millers Edition sieht das Schema des Sadismus aus Seminar 10 so aus wie in der Abbildung links (10:133). In der philologisch besten Ausgabe von Seminar 10, der von Michel Roussan, stellt sich das in Seminar 10 präsentierte Schema des Sadismus so dar, wie rechts (das S oben links bezieht sich auf die gesamte linke Seite des Schemas und steht für Sujet, Subjekt, das A oben rechts bezieht sich auf die rechte Seite und meint Autre, Anderer).
Wie verhält sich, am Platz oben links, d (Begehren) zu V (Wille zum Genießen)? Im Falle des Sadismus kann das Begehren „Wille zum Genießen“ genannt werden, heißt es in Kant mit Sade (144, vgl. auch 10:189). Das kleine d (Begehren) verhält sich zum großen V (Wille zum Genießen) wie das Allgemeine zum Besonderen.
In Seminar 10 sagt Lacan am 13. März 1963, also zwei Monate nach der Präsentation des Sadismus-Schemas:
„Der Sadismus ist nicht die Kehrseite des Masochismus. Dies ist nicht das Paar einer Reversibilität. Die Struktur ist komplexer. Obgleich ich heute nur zwei Glieder heraushebe, können Sie nach etlichen meiner wesentlichen Schemata vermuten, dass es sich um eine viergliedrige Funktion, eine Funktion im Geviert handelt. Der Übergang vom einen zum anderen geschieht durch eine Vierteldrehung und nicht durch eine Symmetrie oder Inversion.“ (10:222)
Der Übergang vom Sadismus zum Masochismus vollzieht sich also dadurch, dass das Schema des Sadismus einer Vierteldrehung unterworfen wird.
In beiden Texten, in Kant mit Sade und in Seminar 10, wird das Schema des Sadismus um 90 Grad gedreht. Das Ergebnis dieser Drehung wird unterschiedlich charakterisiert. In Kant mit Sade heißt es, dass es zeigt, wie die Schärfe von Sades Denken in die Logik seines Lebens übergeht. In Seminar 10 sagt Lacan, das gedrehte Schema zeigt den Masochismus. Die beiden Aussagen beziehen sich auf dasselbe Schema. Demnach ist das Schema der Logik von Sades Leben, Schema 2, das Schema des Masochismus..
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Die Masochismen
Sade war in seinem Leben Masochist. Lacan übernimmt diese These von Jean Paulhan. Dieser hatte 1946 eine Studie über Sade veröffentlicht, Le Marquis de Sade et sa complice ou Les Revanches de la pudeur (Der Marquis de Sade und seine Komplizin oder Die Rache der Scham).7 Sades Geheimnis besteht, Paulhan zufolge, darin, dass er Masochist war; Justine war Sade. In Seminar 9 von 1961/62 informiert Lacan seine Hörer darüber, dass er es übernommen hat, einen Artikel über Sade zu schreiben (der dann Kant mit Sade heißen wird) und empfiehlt ihnen bei dieser Gelegenheit die Lektüre von Paulhans Arbeit (auch wenn Paulhan das Wesentliche des Masochismus, wie Lacan sagt, letztlich entgeht); Lacan verweist in derselben Sitzung auf die Konvergenz der Texte von Sade mit denen von Sacher-Masoch.8
Freud unterscheidet drei Formen des Masochismus:
– den erogenen Masochismus (die Schmerzlust als Trieb),
– den femininen Masochismus (die unbewusste Phantasie, durch das Einnehmen einer passiven Position eine Frau zu sein),
– den moralischen Masochismus (das Schuldgefühl, das Strafbedürfnis).9
Welchen Masochismus stellt Schema 2 dar? Einen oder mehrere dieser Masochismen oder den Masochismus schlechthin?
Bezogen auf Sade ist der moralische Masochismus gemeint, sein unbewusstes Strafbedürfnis, das geht aus Lacans Erläuterungen von Schema 2 in Kant mit Sade hervor. Aber das ist nur eine von vielen möglichen Anwendungen des Schemas.
Vermutlich zielt Lacan mit dem Schema auf den Masochismus schlechthin. In Seminar 10 fragt er nach der Einheit der drei Masochismen, von daher ist klar, dass dies für ihn ein Problem ist.10
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Exkurs zum femininen Masochismus
Die folgende Erläuterung kann man überspringen; für das Verständnis von Schema 2 ist sie nicht notwendig.
In Seminar 10 sagt Lacan über den „femininen Masochimus“:
„Man wird seiner nur habhaft, wenn man richtig erfasst, dass man im Grunde behaupten muss, dass der feminine Masochismus [masochisme féminin] ein männliches Phantasma sei.“ (10:239, Übersetzung geändert)
Der feminine Masochismus ist ein männliches Phantasma – was ist damit gemeint? Dass Frauen niemals Masochistinnen sind? Will Lacan sagen, „Die Behauptung, es gebe masochistische Frauen, ist eine männliche Phantasie“ – ? Ganz und gar nicht. Es geht nicht darum, ob es masochistische Frauen gibt, sondern ob die sexuelle Position einer Frau letztlich immer masochistisch ist, wie Helene Deutsch annahm.
In der offiziellen Übersetzung findet man an der zuletzt zitierten Stelle nicht „femininer Masochismus“, sondern „weiblicher Masochismus“. Das ist irreführend. Lacan bezieht sich ausdrücklich auf Freuds Terminologie (10:135), und Freud spricht nicht vom „weiblichen Masochismus“, sondern vom „femininen Masochismus“.11 Darunter versteht er Phantasien mit dem manifesten Inhalt, gefesselt, geschlagen, gedemütigt usw. zu werden und mit der unbewussten Bedeutung, dass „sie die Person darin in eine für die Weiblichkeit charakteristische Situation versetzen, also Kastriertwerden, Koitiertwerden oder Gebären bedeuten.“12
Unter femininem Masochismus versteht Freud also Phantasien, deren latente Bedeutung darin besteht, dass das phantasierende Subjekt die Position einer Frau einnimmt. Solche Phantasien hat Freud bei Männern gefunden. Seine Erläuterung des femininen Masochismus beginnt so: „Wir kennen diese Art des Masochismus beim Manne (auf den ich mich aus Gründen des Materials hier beschränke) …“. Ob der feminine Masochismus auch bei Frauen anzutreffen ist, lässt Freud offen.
Von Freuds Begriff des femininen Masochismus ist Helene Deutschs Begriff des femininen Masochismus zu unterscheiden.13 Deutsch bezieht sich mit dem Begriff des femininen Masochismus speziell auf den Masochismus von Frauen, auf die „feminin-passiv-masochistische Einstellung im Seelenleben des Weibes“14, nicht, wie Freud, auf die unbewussten Weiblichkeitsphantasien überwiegend von Männern.
Damit ist klar, was Lacan meint, wenn er sagt, der feminine Masochismus sei im Grunde ein männliches Phantasma. Er referiert hier ganz einfach die Position von Freud. Das, was Freud als „femininer Masochismus“ bezeichnet, ist eine bestimmte Männerphantasie. Freud weist darauf hin, dass sein Material sich auf Männer beschränkt, und Lacan spitzt Freuds Position ein wenig zu: bei dieser Phantasievorstellung handelt es sich um ein männliches Phantasma. „Im Grunde“, fügt er einschränkend hinzu, und lässt damit doch – wie Freud – offen, ob die Phantasie, gefesselt und geschlagen zu werden, auch bei Frauen die unbewusste Bedeutung hat, kastriert zu werden, koitiert zu werden oder zu gebären und damit eine Frau zu sein.
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Das Recht auf Genießen und die Vierteldrehung
Auf den zuletzt zitierten Satz aus Kant mit Sade folgt in der Version von 1966 eine Leerzeile – ein neuer Abschnitt beginnt, der achte Abschnitt.
„Wir möchten unseren Lesern hier eine Aufgabe [devoir] vorschlagen.
Die Delegation des Rechts auf Genießen an alle, die Sade in seiner Republik vornimmt, wird in unserem Graphen nicht übersetzt durch eine Symmetrie-Umkehrung auf der Achse oder im Mittelpunkt, sondern allein durch eine Viertelkreis-Drehung, also:
Schema 2“ (149)
Eine Aufgabe
Mit der Vierteldrehung schlägt Lacan seinen Lesern eine devoir vor, eine Aufgabe, eine Übung, wörtlich: eine Pflicht. Offenbar will er sie mit diesem Kantischen Begriff auf das einstimmen, worum es im Folgenden gehen wird: um die Konfrontation mit dem Willen des Anderen.
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Das Recht auf Genießen
Den Dreh- und Angelpunkt von Kant mit Sade bildet „Sades Maxime“, eine Maxime, die das Recht auf Genießen verkündet. In der Fassung von 1966 lautet sie so:
„Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, kann jeder mir sagen, und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen, ohne daß irgendeine Grenze mich aufhält in der Launenhaftigkeit der Einforderungen, wenn deren Befriedigung nach meinem Geschmack ist.“ (138 f.)
Die Delegation des Rechts auf Genießen nimmt Sade in seiner Republik vor – gemeint ist ein Einschub in Sades Philosophie im Boudoir (1795), nämlich die Streitschrift Franzosen, noch eine Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt, worin Sade die sexualpolitische Verfassung der von ihm angestrebten Republik vorstellt. Die Maxime ist Lacans Zusammenfassung, sie wird von Sade nicht wörtlich so vorgebracht (zur Genealogie der Maxime vgl. diesen Blogeintrag).
An dieser Maxime interessiert Lacan die Ähnlichkeit mit Kants kategorischem Imperativ. Sie bezieht sich nicht nur auf den Charakter der Allgemeinheit, sondern auch darauf, dass für Sade wie für Kant das Gute vom Wohlbefinden und vom Nützlichen abgekoppelt ist.
In der Fassung von 1963 fehlt der Einschub „kann ein jeder mir sagen“, hier heißt es stattdessen:
„Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, werde ich sagen zu wem ich Lust habe, und ich werde …“15
Das überraschendste Element von Sades Maxime ist, in der Fassung von 1966, der Einschub „kann jeder zu mir sagen“. Nicht: „Ich kann es jedem sagen“, sondern: „Jeder andere kann es mir sagen.“ Das Subjekt, das die Maxime artikuliert, delegiert das Recht auf Genießen an den Anderen. Sades Maxime ist, in der Version von 1966, masochistisch. Der Herr, dem sich der Verkünder der Maxime in dieser Fassung unterwirft, ist nicht ein bestimmter Anderer, sondern „jeder“, jeder beliebige andere.
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Die Struktur der Vierteldrehung
Die Delegation des Rechts auf Genießen an einen jeden, an die Anderen, wird im Graphen so übersetzt, dass das Schema des sadistischen Phantasmas im Uhrzeigersinn um 90 Grad gedreht wird.
Die Vierteldrehung des Schemas wird in Kant mit Sade doppelt motiviert. Sie ist zum einen dadurch veranlasst, dass Lacan von Sades sadistischen Phantasien zu dessen Leben übergeht. Sie wird außerdem dadurch begründet, dass in Sades Maxime das Recht auf Genießen an den Anderen delegiert wird.
Damit ist klar, was Lacan meint, wenn er sagt, dass die Strenge von Sades Denken in die Logik seines Lebens übergeht. Die Strenge seines Denkens, das ist Sades Ethik, die sich in seiner Maxime konzentriert. Die Maxime delegiert das Recht auf Genießen an den Anderen. Genau darauf aber beruht die Logik von Sades Leben.
Das Konzept der Rotation hält an zwei von Freuds Thesen fest:
– Der Masochismus geht aus dem Sadismus hervor und kann in den Sadismus übergehen.
– Der Übergang vom Sadismus in den Masochismus beruht auf der Wendung gegen die eigene Person, mit Lacan: darauf, dass der Wille zum Genießen auf die Seite des Anderen wandert und das ausgesperrrte Subjekt auf die linke Seite, die des Subjekts.
Bei der Rotation bleibt die fundierende Platzstruktur erhalten; die beiden linken Plätze sind weiterhin die des Subjekts, die beiden rechten die des Anderen, das kleine d unten links bleibt an seinem Platz. Zur Verdeutlichung habe ich in der Abbildung rechts zu Schema 2 die Überschriften „Subjekt“ und „Anderer“ hinzugefügt. Damit orientiere ich mich an Lacan, der in Seminar 10 im Schema des Sadismus die linke Seite offenbar mit „S“ für Sujet und die rechte offenbar mit „A“ für Autre überschrieben hatte (vgl. weiter oben die Abbildung aus der Roussan-Version von Seminar 10).
Die Rotation führt dazu, dass die Elemente anders auf die Plätze verteilt sind. Zwei Unterschiede stechen hervor.
– Der Wille zum Genießen, V, wandert auf die rechte Seite, auf die des Anderen, er tritt dem Subjekt (also der linken Seite) jetzt als fremder Wille gegenüber.
– Das ausgesperrte Subjekt, $, rutscht auf die linke Seite, auf die des Subjekts – das Subjekt (die linke Seite) übernimmt diejenige Funktion, die im sadistischen Phantasma von einem dem Subjekt gegenüberstehenden Individuum realisiert wird, vom Opfer.
Der Übergang vom Sadismus zum Masochismus wird durch eine Beziehung dargestellt, die nicht achsensymmetrisch ist und auch nicht punktsymmetrisch, sondern bei der es sich um eine Rotation handelt.
Achsensymmetrisch ist die Beziehung zwischen Spiegelbildern; mit der Zurückweisung der Achsensymmetrie zwischen Sadismus und Masochismus ist gemeint: Sadismus und Masochismus sind keine Spiegelbilder. Sie stünden dann in einem Spiegelverhältnis, wenn im Masochismus das Subjekt genau die Position einnähme, die im Sadismus vom Anderen besetzt wird und umgekehrt. Lacan bezieht sich hier möglicherweise auf die Ansicht, dass der Sadismus eine instinkthafte Aggressivität ist und der Masochismus dessen Umkehrung (vgl. 10:133), also eine instinkthafte Schmerzlust.
Punktsymmetrisch wären die beiden Schemata dann, wenn das d bei der Drehung mitwandern würde, wenn es also nach der Vierteldrehung oben links stehen würde, und wenn außerdem die linke Seite nicht die des Subjekts wäre und die rechte die des Anderen. Mir ist nicht klar, welche Auffassung über das Verhältnis zwischen Sadismus und Masochismus damit zurückgewiesen wird.
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Freud zum Verhältnis von Sadismus und Masochismus
Freud begreift den Masochismus als passiven und den Sadismus als aktiven Trieb. Er nimmt zunächst an, dass der Masochismus immer aus dem Sadismus entsteht, dass er also durchweg sekundären Charakter hat. Er vermutet außerdem, dass beide Strebungen stets zusammen auftreten: wer Lust daran empfindet, anderen Schmerzen zuzufügen, sei auch in der Lage, Schmerz als Lust zu genießen.16 In Triebe und Triebschicksale (1915) beschreibt Freud die Umwandlung von Sadismus in Masochismus als ein Triebschicksal, das auf der Verkehrung ins Gegenteil beruht, auf der Wendung gegen die eigene Person; der Masochist, sagt Freud hier, genießt das Wüten gegen seine Person mit, beim Übergang vom Sadismus zum Masochismus kommt es also zu einem Wechsel des Triebobjekts, nicht des Triebziels.17 In „Ein Kind wird geschlagen“ (1919) erklärt Freud, dass sich der Übergang vom Sadismus zum Masochismus durch die Wirkung des Schuldgefühls vollzieht.18
Später kommt Freud zu der Auffassung, dass es zwei Grundformen des Masochismus gibt, den primären oder erogenen Masochismus und den sekundären Masochismus. Ausgangspunkt ist der Todestrieb, ein ungeschiedener Sadismus-Masochismus. Unter dem Einfluss der Lebenstriebe wird der Todestrieb auf die Außenwelt umgelenkt und so zum Sadismus. Ein Teil des Todestriebs macht diese Umgestaltung nicht mit; er verbleibt im Organismus und wird durch sexuelle Miterregung, also durch die Lebenstriebe, gebunden. Dieser sexuell gebundene Todestrieb ist der primäre erogene Masochismus. Der Sadismus kann introjiziert werden, und auf diese Weise, also durch Regression, verwandelt er sich in den sekundären Masochismus. Dieser tritt in zwei Formen auf, als femininer Masochismus und als moralischer Masochismus. Unter dem femininen Masochismus versteht Freud nicht den Masochismus von Frauen, sondern masochistischen Phantasien von Neurotikern und Perversen, vor allem von Männern, in denen sie sich als Frauen imaginieren. Der moralische Masochismus ist das unbewusste Schuldgefühl, das sich in dem Bestreben äußert, bestraft zu werden.19
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Die Terme
V: der Wille zum Genießen
… „V, dem Willen zum Genießen, kann nicht länger bestritten werden, dass seine Natur darin besteht, in den moralischen Zwang überzugehen, den die Präsidentin de Montreuil erbarmungslos über das Subjekt ausübt, für dessen Spaltung es, wie man sieht, nicht erforderlich ist, in einem einzigen Körper vereinigt zu sein.
(Es sei festgehalten, dass diese Spaltung erst vom Ersten Konsul [Anm.] besiegelt wird, dadurch, dass sie zu einer administrativ bestätigten Geisteskrankheit [aliénation] wird.)“
[Anm. JL:] „Man möge das nicht so verstehen, als schenkten wir hier der Legende Glauben, er habe sich in Sades Inhaftierung persönlich eingeschaltet. Vgl. Gilbert Lély, Vie du Marquis de Sade. Bd. II, S. 577–580 [Leben und Werk des Marquis de Sade, Rauch, Düsseldorf 1961, S. 414 f.], sowie die Anmerkung auf der Seite 580 [diese Anmerkung fehlt in der deutschen Aussgabe]..“20
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Der Wille des Anderen zum Genießen …
Auf dem Platz des Anderen oben rechts steht nach der Vierteldrehung das V, der Wille zum Genießen oder Wille zur Lust (V für volonté, Wille). Das Begehren des Anderen stellt sich als Wille zum Genießen dar (10:189).
In der Rede vom „Willen zum Genießen“ bezieht sich „Wille“ auf den symbolisch artikulierten Willen, auf den Anspruch, genauer auf das Gesetz. Wenn mir jemand sagt „Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, und ich werde davon Gebrauch machen“, ist dies eine vom Anderen kommende Artikulation des Willens zur Lust.
Begehren und Gesetz sind dasselbe, sagt Lacan, und zwar in dem Sinne, dass ihnen ihr Objekt gemeinsam ist, nämlich die Mutter (vgl. 10:135-137, 188). Dies gilt in doppeltem Sinne. Das Gesetz (das Inzestverbot) richtet sich auf das Objekt des Begehrens des Vaters, auf die Mutter. Und: Das Gesetz hat zur Folge, dass das Begehren um das Begehren nach der Mutter herum organisiert ist.
Für den Masochisten oder die Masochistin geht es darum, diesen Zusammenhang von Begehren und Gesetz spürbar zu machen. In Seminar 10 sagt Lacan:
„Wenn Begehren und Gesetz zusammen vorzufinden sind, dann ist es die Absicht des Masochisten, sichtbar zu machen – und ich füge hinzu, auf seinem kleinen Schauplatz, denn diese Dimension darf niemals vergessen werden –, dass das Begehren des Anderen als Gesetz gilt.“ (10:137)
Im Falle des Masochismus ist das Begehren des Anderen identisch mit dem Gesetz, allerdings nur auf einem kleinen Schauplatz, im Rahmen des Phantasmas. „Wille zum Genießen“ ist eine Formel für die Einheit von Gesetz (Wille) und Begehren.
Der Wille zum Genießen nimmt die Form des moralischen Zwangs an, der Strafe für die Übertretung eines sittlichen Gebots.
Ausgangspunkt für die Rekonstruktion des Masochismus ist also der Andere. In Seminar 10 sagt Lacan über den Masochismus:
„Man hat es geschafft, sich davon freizumachen, die Betonung auf das zu legen, was auf den ersten Blick am stärksten unserem Finalismus zuwider ist, nämlich die Tatsache, dass die Funktion des Schmerzes in den Masochismus eingreift. Man hat es geschafft, richtig zu begreifen, dass dies nicht das Wesentliche daran ist. Man hat es in der analytischen Erfahrung geschafft, Gott sei Dank, zu erkennen, dass der Andere gemeint ist, dass die masochistischen Manöver in der Übertragung auf einer Stufe anzusiedeln sind, die nicht ohne Bezug mit dem Anderen sind.“ (10:221)
Freud hatte den Masochismus doppelt charakterisiert, durch die Lust am Schmerz und durch die Beziehung zum anderen, nämlich durch die Lust daran, gedemütigt zu werden.21 Die Deutung von Sadismus und Masochismus als Beziehungen zum Anderen wurde von Sartre befördert; in Das Sein und das Nichts (1943) erscheinen Sadismus und Masochismus als grundlegende Formen des Verhältnisses zum Anderen. In L’aggressivité en psychanalyse (1948) und im Discours de Rome (1953) verweist Lacan zustimmend auf diese Untersuchungen.22
Soweit es im Masochismus um den Schmerz geht, muss man sich also klarmachen, dass es sich um den Schmerz handelt, der vom Anderen zugefügt wird. Man denke beim erogenen Masochismus an die sexuelle Praktik, sich vom Anderen schlagen zu lassen. Derjenige, der geschlagen wird, fragt sich beständig, wann der nächste Schlag kommen wird und wie stark der Schlag sein wird. Mit diesen Fragen bringt er den Anderen ins Spiel – den Anderen, insofern dessen Schläge nicht berechenbar sind und der unter diesem Aspekt ein radikal Anderer ist, ein Anderer mit großem A.
In Seminar 10 ruft Lacan Freuds Katalog der Masochismen in Erinnerung: erogener Masochismus, femininer Masochismus, moralischer Masochismus, und fährt dann fort:
„Damit der Ausdruck Masochismus einen Sinn annehmen kann, sollte man eine etwas einheitlichere Formel dafür finden. Mit der Behauptung, das Über-Ich sei die Ursache des Masochismus, würden wir diese befriedigende Intuition nicht zu sehr verlassen, bis auf dies, das noch berücksichtigt werden muss, was ich Sie heute über die Ursache gelehrt habe. Sagen wir darauf, dass das Über-Ich an der Funktion dieses Objekts als Ursache beteiligt ist, so wie ich es heute eingeführt habe.“ (10:136)
Bei der Theoretisierung des Masochismus sollte man vom moralischen Masochismus ausgehen. Lacan folgt hier Freud, der in Das ökonomische Problem des Masochismus erklärt hatte, er sei die in gewisser Hinsicht wichtigste Erscheinungsform des Masochismus.23 Die Grundbedeutung für den Genusswillen auf der Seite des Anderen ist demnach das, was Freud als den Sadismus des Über-Ichs bezeichnet.24 Allerdings ist das Über-Ich nicht einfach die Ursache des Masochismus. Vielmehr muss man sich, wenn man den Masochismus begreifen will, auf den Zusammenhang zwischen dem Über-Ich und dem Objekt a beziehen: das Über-Ich ist beteiligt an der Entstehung des Objekts a als Ursache des Begehrens.
Im Encore-Seminar wird Lacan es so formulieren:
„Das Über-Ich, das ist der Imperativ des Genießens – Genieße!“ (20:9)
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… in Sades Denken
Der Wille zum Genießen hat in Sades Denken die Gestalt der anfangs zitierten Maxime. Die Komponente „Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen“ verknüpft den Willen, das Gesetz („Ich habe das Recht“) mit dem Genießen. Der zweite Bestandteil, „und ich werde von diesem Recht Gebrauch machen“ kündigt die Umsetzung des Gesetzes in einer Handlung an.
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… in Sades Leben
Im Falle von Sades Leben ist die Andere, die den Willen zur Lust manifestiert, Sades Schwiegermutter, die mächtige, reiche und entschlossene Madame de Montreuil; da ihr Gatte Präsident eines Finanzgerichtshofs war, wurde sie als Präsidentin tituliert.
Madame de Montreuil initiierte mehrere Haftbefehle gegen Sade, darunter den königlichen Haftbefehl ohne Gerichtsverfahren (lettre de cachet), auf dessen Grundlage er von 1777 bis 1790 in Vincennes und in der Bastille eingesperrt war. Der Wille zum Genießen ist in ihrem Fall nicht nur, wie in Sades Maxime, ein Diskurs; er nimmt die Form des moralischen Zwangs an, also einer Moral, die mit Zwangsmitteln durchgesetzt wird, mit Polizei und Gefängnis. Madame de Montreuil ist erbarmungslos, sie übt nicht die christliche Tugend der Barmherzigkeit.
Madame de Montreuil spielt in Sades Leben die Rolle eines nicht verinnerlichten Über-Ichs.
1803, während der Konsulatszeit von Napoleon, wird Sade erneut eingesperrt, zunächst ins Gefängnis von Bicêtre, dann, noch im selben Jahr, in Charenton, wo er bis zu seinem Tode im Jahr 1814 eingeschlossen sein wird. Die Einrichtung in Charenton ist ein asile, in heutiger Begrifflichkeit: eine psychiatrische Anstalt. Mit den vom König unterzeichneten lettres de cachet ist es seit der Revolution vorbei, sie werden ersetzt durch Verwaltungsakte, in denen unliebsame Personen für geisteskrank erklärt und interniert werden.25
Die Funktion des Willens zum Genießen muss also nicht durch ein konkretes Individuum verwirklicht werden. Es ist auch möglich, dass sie von einer Institution oder Organisation realisiert wird, von einem Sozialsystem, in dem die Plätze wechselnd besetzt werden.
In der Fassung von 1963 lautet die zuletzt zitierte Passage:
„V, der Wille zum Genießen, den die Präsidentin de Montreuil manifestiert, in ihrer Unerbittlichkeit, die ohnmächtig ist (impuissante), für Sade jede Chance zu verschließen (dafür brauchte es immerhin den Ersten Konsul).“26
Lacan betont hier, dass Madame de Montreuil zwar unerbittlich, aber keineswegs allmächtig ist; letztlich ist sie impuissante, ohnmächtig, impotent.
Der Wille zum Genießen scheitert; in Seminar 10 formuliert Lacan es so:
„Der Wille zum Genießen beim Perversen ist wie bei jedem anderen ein Wille, der scheitert, der auf seine eigene Grenze, seine eigene Bremse selbst in der Ausübung des Begehrens stößt.“ (10:189)
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Die Spaltung des Subjekts
Der Wille zum Genießen (V) führt zur Spaltung des Subjekts. Der von V ausgehende Pfeil richtet sich auf $ und S, auf zwei Existenzweisen des Subjekts, auf das ausgeperrte bzw. gespaltene Subjekt ($) und auf das rohe Subjekt (S).
In Seminar 10 sagt Lacan zum Schema des Sadismus:
„Das sadistische Begehren, mitsamt allem, was es an Rätsel beinhaltet, ist nur von der Schize, der Spaltung her artikulierbar, die er, der andere, beim Subjekt einzuführen als Ziel verfolgt, indem er ihm bis zu einer gewissen Grenze das auferlegt, was nicht ausgehalten werden kann – zu der Grenze genau, an der bei diesem Subjekt eine Teilung, eine Kluft zwischen seiner Existenz als Subjekt und dem, was es erleidet, dem, worunter es, in seinem Körper, leiden kann, erscheint.“ (10:134)
Das sadistische Begehren versucht, beim Subjekt eine Spaltung einzuführen zwischen der Existenz als Subjekt und dem Leiden seines Körpers. Unter der „Existenz“ des Subjekts versteht Lacan die Konstituierung des Subjekts durch den Bezug zur Sprache und zum Sprechen, die ihm äußerlich sind, ex-sistent. Offenbar gilt dasselbe für den Anderen im Masochismus: er versucht die Spaltung des Subjekts herbeizuführen $, wobei die beiden Seiten der Spaltung die Existenz als Subjekt und das Leiden sind. In einem erotischen Schlageritual könnte die Spaltung etwa darin bestehen, dass der Geschlagene sich fragt, ob er die Schläge aushalten kann.
Die Spaltung des Subjekts muss nicht in einem einzigen Körper vereinigt sein. In der dritten Fassung des Aufsatzes, der von 1971, schreibt Lacan corps (Körper) zum ersten Mal groß: „sa division n’exige pas, d’être réunie dans un seul Corps“. Der Begriff „Körper“ bezieht sich bei Lacan meist auf das Imaginäre, auf die Einheit des Körperbildes, vielleicht will er mit der Großschreibung darauf hinweisen. Möglicherweise ist gemeint: der Körper stiftet hier keine Einheit, sondern ist Grundlage der Spaltung.
Erst unter der Herrschaft von Napoleon als Erstem Konsul wird die Subjektspaltung besiegelt, und zwar dadurch, dass Sade offiziell für geisteskrank erklärt wird. Der französische Begriff für Geisteskrankheit ist aliénation, zu deutsch: Entfremdung. Durch einen Akt der staatlichen Verwaltung wird Sade für ein Subjekt erklärt, der sich selbst fremd ist und also gespalten ist.
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S: das rohe Subjekt der Lust (plaisir)
… „Diese Spaltung vereint hier als S das rohe Subjekt, das den Heroismus verkörpert, der dem Pathologischen eigen ist, in der Art der Treue zu Sade, die von denjenigen bezeugt wurde, die seinen Exzessen zunächst entgegenkamen, seine Frau, seine Schwägerin – sein Diener, warum nicht? – und weitere ihm Ergebene, die aus seiner Geschichte ausgelöscht sind.“ (150)
Das rohe Subjekt der Lust (plaisir) …
Der Buchstabe S steht für das „rohe Subjekt“. Das „rohe Subjekt“ ist, wie es im Aufsatz an früherer Stelle heißt, das „rohe Subjekt der Lust [plaisir] (das ‚pathologische‘ Subjekt)“ (146).
Dem gespaltenen Subjekt, auf der linken Seite des Schemas, steht auf der rechten Seite das ungespaltene Subjekt gegenüber, ein Wesen, das für das masochistische Subjekt die Funktion hat, das ungehemmte Lustsubjekt zu verkörpern.
Das „rohe Subjekt der Lust“ gehört zum „Pathologischen“, es ist „das ‚pathologische’ Subjekt“. Mit dieser Begrifflichkeit bezieht Lacan sich auf Kant. In der Kritik der praktischen Vernunft spricht Kant vom „pathologisch affizierten Willen“ und vom „pathologisch bestimmbaren Selbst“. „Pathologisch“ meint bei Kant nicht „krankhaft“, sondern „gefühlsmäßig“, „sinnlich“. Die Sinnlichkeit ist das Vermögen, Sinnesempfindungen und Gefühle zu haben; sie ist dem „Pathos“, dem Leiden zuzurechnen, insofern nämlich, als sie — in Kants Perspektive — das Vermögen ist, etwas zu erleiden, nämlich Reize zu empfangen, die von außen kommen. Das „pathologische“ Subjekt ist also das Subjekt, das nach Lusterfüllung strebt, nach Glück, und das sich damit (von Kant aus gesehen) letztlich von außen bestimmen lässt, statt sich durch die Vernunft selbst zu bestimmen.
S meint also das Subjekt der Lust im Sinne von plaisir, das Subjekt, dessen Handlungen durch das Luststreben motiviert sind und das deshalb, Kant zufolge, keinen guten Willen hat. In psychoanalytischer Perspektive ist es das Subjekt, das vom Lustprinzip beherrscht wird – und von nichts sonst.
Inwiefern geht es diesem Subjekt um Lust (plaisir), inwiefern steht es unter der Herrschaft des Lustprinzips? In Das ökonomische Problem des Masochismus definiert Freud das Lustprinzip neu, es besteht nicht im Streben nach Spannungsverminderung, sondern beruht auf dem Wirken der Lebenstriebe, der Libido; hierbei kann die Steigerung der Spannung, also auch die Unlust, als lustvoll empfunden werden.27 In Triebe und Triebschicksale spricht Freud vom „Schmerzgenießen“28, in Das ökonomische Problem des Masochismus von der „Schmerzlust“29.
Zu beachten ist, dass das Schema das masochistische Phantasma darstellt; der Buchstabe S bezieht sich nicht auf die vom masochistischen Subjekt erfahrene Lust und nicht auf die vom Anderen erfahrene Lust, sondern auf die Lust, die das masochistische Subjekt dem Anderen zuschreibt.
Im Ethik-Seminar heißt es:
„Das Randphänomen des Masochismus hat etwas gleichsam Karikaturistisches, das die Forschungen der Moralisten Ende des XIX. Jahrhunderts hinreichend bloßgelegt haben. Die Ökonomie des masochistischen Schmerzes gleicht letztlich der Ökonomie der Güter. Man möchte den Schmerz teilen, wie man eine Menge übriger Sachen teilt, und es ist schon richtig, sich nicht darum zu prügeln. (…)
Die Einheit, die auf allen Feldern, auf denen die Psychoanalyse den Masochismus mit einem Etikett versehen hat, deutlich wird, verdankt sich dem, was auf allen diesen Feldern den Schmerz am Charakter eines Guts partizipieren läßt.“ (7:288)
Die Ökonomie des masochistischen Schmerzes besteht darin, dass versucht wird, den Schmerz zu teilen. Die Einheit der verschiedenen Formen des Masochismus (erogener Masochismus, femininer Masochismus, moralischer Masochismus) beruht darauf, dass der Schmerz, wie ein Gut, geteilt wird.
Wenn im Schema die Lust auf der Seite des Anderen platziert wird, meint dies offenbar auch: das masochistische Subjekt versucht, den Schmerz zu teilen. Dieses Merkmal ist dem erogenen, dem femininen und dem moralischen Masochismus gemeinsam: Andere werden, wie im Deutschen der schöne Ausdruck lautet, „in Mitleidenschaft gezogen“.
Das auf der Seite des Anderen verortete Subjekt der Lust ist ungespalten: es hat, in der Sicht des masochistischen Subjekts, kein Unbewusstes. Das masochistische Subjekt nimmt die Spaltung ganz und gar auf sich und bezieht sich auf den Anderen als reines Lustwesen. Zu den Lüsten, die es dem Anderen zuschreibt, gehört auch die Schmerzlust.
Der Andere hat im Schema also zwei Funktionen: Er ist für den Masochisten der „Wille zum Genießen“ und das „rohe Subjekt der Lust“. Die beiden Funktionen können von einem Individuum realisiert werden, aber auch auf unterschiedliche Individuen verteilt sein; jede dieser Funktionen kann von einem oder mehreren Individuen erfüllt werden. Die Funktionen müssen nicht einmal durch konkrete Individuen verwirklicht werden, es ist auch möglich, dass sie von einer Institution wahrgenommen werden.
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… in Sades Leben
In Sades Leben wird der Platz des rohen Lustsubjekts von denjenigen besetzt, die ihn in seinen Exzessen unterstützt haben: von seiner Ehefrau30, seiner Schwägerin31, seinem Diener32 und einigen anderen. Lacan betont die Beteiligung des Dieners – „sein Diener, warum nicht?“ –, vielleicht um darauf aufmerksam zu machen, dass damit die Beziehung von Herr und Knecht ins Spiel kommt, die für Lacan, im Anschluss an Hegel und Kojève, das Paradigma der Intersubjektivität darstellt.
In welchem Sinne verkörpern diese Unterstützer das „rohe Subjekt“?
Dem pathologischen, dem lustsuchenden Subjekt ist ein bestimmter Heroismus eigen. Im Falle von Sade zeigt er sich darin, dass diejenigen, die für ihn diese Position einnahmen, ihm die Treue hielten.
Welche Lust des „rohen Subjekts“ ist gemeint, die sexuelle Lust, die es während der Orgien empfindet? Die Befriedigung, die es dadurch gewinnt, dass es Sade die Treue hält? Die Befriedigung der unterstellten Schmerzlust, die durch die Aktionen der Präsidentin zu erwarten ist?
In der Fassung des Aufsatzes von 1963 heißt es:
„S, der moralische Wille, auf heroische Weise ins Feld des Pathologischen übergegangen, um sich gegen den vorangehenden zu erheben, obwohl sie unter seiner Abhängigkeit waren, all diejenigen, die Sade treu waren, bis dahin, ihm in seinen bizarrsten Exzessen zu folgen, seine Frau, seine Schwägerin – sein Diener, warum nicht? – und weitere ihm Ergebene, die aus seiner Geschichte ausgelöscht sind“33.
Der Buchstabe S steht demnach für den moralischen Willen im Gegensatz zum Genusswillen, wie er von der Präsidentin verkörpert wird. Dieser moralische Wille ist auf das Feld des Pathologischen übergegangen. Von Kant aus lässt sich der moralische Wille des rohen Subjekts so beschreiben: es ist der Wille eines Subjekts, dass sich in seinem Handeln von der Maxime leiten lässt „Halte deinem Ehemann, Schwager, Herrn die Treue!“ Es befolgt diese Maxime nicht deshalb, weil es sie für verallgemeinerungsfähig hält, sondern weil dies mit Lust verbunden ist.
Der moralische Wille ist „auf heroische Weise“ in das Feld des Pathologischen übergegangen. Der Heroismus dieser Gruppe besteht darin, dass sie sich gegen den Genusswillen der Präsidentin auflehnt, von der die Unterstützer jedoch abhängig sind. Die Lust, die dieses Subjekt (in Sades Phantasma) gewinnt, ist die des Heroismus, die Lust daran, sich für eine Sache zu opfern. Die Schmerzlust ist nicht eine Lust, die das masochistische Subjekt sucht, sondern eine Lust, die es in seinem Phantasma dem Anderen zuschreibt.
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Die Auslöschung aus der Geschichte
Einige von denen, die ihre Befriedigung daraus zogen, Sade die Treue zu halten und sich für ihn zu opfern, sind aus seiner Geschichte ausgelöscht. Sie haben nicht nur die Funktion von Lustsubjekten, sondern zugleich die von ausgelöschten Subjekten, von Subjekten, die verschwunden sind. Mit dieser Bemerkung wird der Übergang zum nächsten Terminus angebahnt.
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$: das mit seinem Verschwinden unterzeichnende Subjekt
… „Was Sade angeht, das $ (durchgestrichenes S), so sieht man schließlich, dass es sein Verschwinden ist, mit dem er unterzeichnet [signe], als die Dinge an ihr Ende gekommen waren. Unglaublicherweise verschwindet Sade, ohne dass uns irgendetwas, weniger noch als von Shakespeare, von seinem Bild bleibt, nachdem er in seinem Testament verfügt hatte, ein Dickicht solle den Namen, der sein Schicksal [destin] besiegelt hatte, auf dem Stein spurlos auslöschen.“ (150)
Das mit seinem Verschwinden unterzeichnende Subjekt …
Das durchgestrichene S, also $, steht im Schema für das Subjekt im Verschwinden, in der Aphanisis (griechisch für „Verschwinden“), im Fading (englisch für „Verschwinden“), wie Lacan ab Seminar 6 sagt. Das Subjekt verschwindet insofern, als es im Symbolischen nicht repräsentiert ist. Freuds Begriff hierfür ist „Urverdrängung“, womit das irreversibel Verdrängte gemeint ist; das Subjekt verschwindet insofern, als es in der Wiederkehr des Verdrängten nicht erscheinen kann. (Eine ausführliche Erläuterung des Konzepts „Verschwinden des Subjekts“ findet man in diesen Blogartikel).
Die Formel des Phantasmas, $◊a, ist so zu lesen: das im Verschwinden begriffene Subjekt ($) im Verhältnis zu (◊) dem Objekt a (a). Das meint, zum Phantasma gehört, dass das Verschwinden des Subjekts in Szene gesetzt wird, etwa durch einen leeren Platz (vgl. 10:138).
Das Verschwinden des Subjekts ist ein paradoxer Vorgang. Es vollzieht sich, wie Lacan an der zitierten Stelle sagt, durch ein Unterzeichnen, durch einen symbolischen Akt, der es verewigt. In Seminar 5 hatte Lacan das so formuliert:
„Je mehr sich das Subjekt mit Hilfe des Signifikanten als eines bejaht, das aus der Signifikantenkette herauskommen will, und je mehr es darin eintritt und sich darin integriert, desto mehr wird es selbst ein Zeichen dieser Kette. Wenn es sich abschafft, ist es mehr Zeichen denn je. Der Grund dafür ist einfach – genau ab dem Zeitpunkt, da das Subjekt gestorben ist, wird es für die anderen zu einem ewigen Zeichen, und die Selbstmörder mehr als andere.“34
Das Symbol $ ist also doppelt zu lesen. Das Subjekt (S) wird ausgestrichen (/) und dies führt zu seinem Verschwinden, dazu, dass es zu einem wesentlichen Teil von sich keinen Zugang hat, von ihm ausgeperrt ist. Das Subjekt wird von einem Signifikanten ausgestrichen, und dadurch gewinnt es Bestand – als Zeichen.
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… in Sades Leben
Sade verschwindet sowohl aus der Ordnung des Imaginären als auch aus der des Symbolischen. Von Sade gibt es kein ein einziges Bild, sagt Lacan; das von Charles van Loo gezeichnete Portrait von etwa 1760 (siehe Abbildung rechts) war damals offenbar noch nicht bekannt; ich schließe das daraus, dass die Zeichnung nicht in der Sade-Bildbiographie erscheint, die 1965 von Walter Lennig veröffentlicht wurde.35
Lacan vergleicht Sade mit Shakespeare, über den er in Seminar 6 gesagt hatte:
„Es gibt eine Sache, die absolut überraschend ist. Abgesehen davon, dass er sicherlich existiert hat, können wir über ihn, über seine Bindungen, über seine Umgebung, über seine Liebesbeziehungen, seine Freundschaften tatsächlich nichts sagen. Alles ist vorbei, alles ist verschwunden, ohne Spuren zu hinterlassen. Uns Analytikern präsentiert sich unser Autor als das radikalste Rätsel, auf das wir in unserer Geschichte hinweisen könnten – für immer vergangen, aufgelöst, verschwunden.“36
Sade „unterzeichnet“ (signe) mit seinem Verschwinden, als die Dinge an ihr Ende gekommen waren. In dem Testament, das er 1806, im Alter von 65 Jahren, verfasst hatte, trifft er eine Verfügung über eine anonyme Bestattung, wie man heute sagen würde. Er schreibt:
„Wenn die Grube wieder bedeckt ist, soll sie oben mit Eicheln besät werden, damit in der Folge, wenn die Grube wieder mit Erde gefüllt ist und das Dickicht sich wieder ausbreitet wie zuvor, die Spuren meines Grabes von der Oberfläche der Erde verschwinden, da ich mir schmeichle, dass die Erinnerung an mich aus dem Geist der Menschen ausgelöscht werden wird, mit Ausnahme allerdings der kleinen Anzahl derer, die mich bis zum letzten Augenblick haben lieben wollen und an die ich eine süße Erinnerung mit ins Grab nehme.“
Der „Stein“ und der „Name“ auf ihm, beide Elemente hat Lacan hinzugefügt. Sade schreibt von der Auslöschung aus der Erinnerung, Lacan verschiebt die Erinnerung in Richtung auf den Signifikanten, auf die Schrift und auf den Eigennamen. Das, was verschwindet, ist der Signifikant des Subjekts, sein Eigenname.
Žižek deutet das $ im Schema einleuchtend als Ausradierung des Subjekts aus der Textur der symbolischen Tradition, als Verstoßung Sades aus den Annalen der offiziellen Literaturgeschichte.37
Der Akt, der den Namen auslöschen soll, steht nicht nur im Widerspruch dazu, dass Sade Schriftsteller ist. Er ist auch in sich paradox: er lässt den Namen in einem Signifikanten fortbestehen, in der Unterschrift auf einem Testament.
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Das Schicksal
Der Name, sagt Lacan über Sade, hatte sein Schicksal besiegelt. Inwiefern? Den Eigennamen erhält Sade von seinen Eltern, durch ihn bekommt er einen Platz in den Strukturen der Verwandtschaft. Mit dem Eigennamen tritt er in den Diskurs des Anderen ein, wird sein Unbewusstes zu dem Ort, an dem sich die Wünsche und Forderungen der Eltern und der vorangehenden Generationen einschreiben sowie die Schuld, die mit ihnen verbunden ist und die fordert, dass sie beglichen wird.38
Diese Wünsche machen das aus, was man als das Schicksal von Sade bezeichnet. Wenn Sade sich zu einem Subjekt macht, das aus der symbolischen Ordnung verschwindet, dann deshalb, weil er begehrt, in das Nichts zurückzukehren, vor der Einschreibung der vom Anderen kommenden Signifikanten.
Der Ödipuskomplex, schreibt Freud in Das ökonomische Problem des Masochismus, ist die Quelle unserer individuellen Sittlichkeit; an die Eltern-Imagines schließen die Einflüsse von Lehrern, Helden usw. an. „Die letzte Gestalt dieser mit den Eltern beginnenden Reihe ist die dunkle Macht des Schicksals“39. In Seminar 8 bezieht Lacan den Begriff des Schicksals auf die Strukturen der Verwandtschaft:
„Und was ist damit [mit „Ödipus“, d.h. mit „Ödipuskomplex“] bezeichnet? – wenn nicht die Tatsache, dass dadurch, dass dem Menschen ein Schicksal auferlegt ist, aufgrund des durch die verwandtschaftlichen Strukturen vorgeschriebenen Tauschs etwas da ist, aufgedeckt, das mit seinem Eintritt in die Welt den Eintritt ins unerbittliche Spiel der Schuld vollzieht.“40
Mit „Tausch“ ist hier der Frauentausch gemeint, d.h. das Inzestverbot, in Lacans Terminologie: das Gesetz.
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a: das Objekt a
… „Μὴ φῦναι [Mē phunai] [Anm.1], nicht geboren zu sein, seine Verfluchung [malédiction], weniger heilig als die des Ödipus, trägt ihn nicht zu den Göttern, sondern verewigt sich:
a, in dem Werk, dessen unversenkbare Wasserlinie Jules Janin uns mit einer abfertigenden Handbewegung zeigt, indem er es Bücher grüßen lässt, die es, wenn man ihm glauben will, in jeder anständigen Bibliothek verdecken, der Heilige Johannes Chrysostomos oder die Pensées. [Anm. 2]“
[Anm. 1, JL:] „Chor in Ödipus auf Kolonos, V. 1225“41
[Anm. 2, RN:] In Versionen von 1966 und 1971 beginnt der Absatz mit „a)“, auf das a folgt also eine schließende runde Klammer. Dadurch ist der Bezug auf das Objekt a schwer zu erkennen. In der Version von 1963 beginnt der Absatz mit a und einem Komma, ohne Klammer, also mit „a,“.42]
Nicht geboren zu sein
Lacan vergleicht Sade mit Ödipus, beide stehen unter einem Fluch. Im Falle von Ödipus war dies der Fluch, den Pelops über Laios – Ödipus’ Vater – verhängt hatte: „Solltest du dich je unterstehen, einen Sohn zu zeugen, so wird dieser seinen Vater erschlagen und seine Mutter heiraten.“
In Sophokles’ Tragödie Ödipus auf Kolonos singt der Chor:
„Nie geboren zu sein (mē phunai):
Höheres denkt kein Geist!
Doch das Zweite ist dieses:
Schnell zu kehren zum Ursprung.“43
Der Fluch, unter dem Ödipus steht, wird vom Chor mit einer Art Gegenfluch beantwortet: das Beste ist, nicht geboren zu sein.
Die Wendung mē phunai, „nicht geboren zu sein“, gilt Lacan als die sophokleische Version dessen, was Freud als Todestrieb bezeichnet; sie wird von ihm immer wieder zitiert. Im Ausruf „nicht geboren zu sein!“ artikuliert sich der Wunsch, alles zu überwinden, was dem Logos zuzuschreiben ist (3:289), aus der Signifikantenkette herauszukommen (5:290), mit dem Ziel, die von Generation zu Generation übermittelte Schuld hinter sich zu lassen (8:372). Hierbei geht es nicht um den zufällig erlittenen Tod, sondern um den bewusst auf sich genommenen Tod (7:364 f., 7:369). Das mē, das „nicht“, die Negation ist der Signifikant des Subjekts des Unbewussten (7:374, 8:371). Der Wunsch, nicht geboren zu sein, verewigt aber die Bindung an den Signifikanten, da es sich ja um eine sprachlich artikulierte Forderung handelt (5:289 f.).
In der psychoanalytischen Kur zeigt sich der Wunsch, nicht geboren zu sein, in der Neigung zum Selbstmord als negativer therapeutischer Reaktion (5:289 f., 7:373). Die negative therapeutische Reaktion wird auf den primären Masochismus zurückgeführt44 (2:296). Der Wunsch, nicht geboren zu sein, zeugt also vom primären Masochismus.
In Seminar 7 bezeichnet Lacan den Versuch, die Macht des Signifikanten zu vernichten (den primären Masochismus) als Streben nach dem zweiten Tod (vgl. diesen Blogartikel).
Lacan betont die Dialektik des Fluchs, der über Ödipus verhängt wurde: der Fluch steht mit dem Heiligen in Verbindung. Am Ende seines Lebens wird Ödipus von einem der Götter zu sich gerufen (vgl. Ödipus auf Kolonos, Verse 1623-28). Lacan spielt hier auf die Doppelbedeutung von sacré an, „verflucht“ und „heilig“.
Wenn Sade testamentarisch sein Verschwinden verfügt, das Überwuchern der Grabstelle, ist dies seine Art, den Fluch mē phunai zu artikulieren: besser ist es, nicht geboren zu sein. In Seminar 9 von 1961/62 sagt Lacan hierzu:
„Erinnern Sie sich an die antisozialen Verschwörungen von Sades Helden: diese Rückführung des Objekts auf nichts simuliert wesentlich die Vernichtung der Signifikantenmacht. Das ist da der andere widersprüchliche Terminus dieser grundlegenden Beziehung zum Anderen, wie sie im Sadeschen Begehren eingerichtet wird. Und das wird hinreichend durch den letzten testamentarischen Wunsch von Sade angezeigt: insofern er genau diesen Endpunkt anzielt, den ich für Sie als den des zweiten Todes bestimmt habe, den Tod des Seins selbst, insofern Sade in seinem Testament festlegt, dass von seinem Grab und, der Absicht nach, von der Erinnerung an ihn, obgleich er Schriftsteller ist, wörtlich keine Spur bleiben soll. Und das Dickicht soll wiederhergestellt werden auf der Stelle, an der er begraben sein wird. Wesentlich für ihn als Subjekt ist das ‚keine Spur‘, das da anzeigt, wo er sich affirmieren will, sehr genau als das, was ich ‚die Vernichtung der Signifikantenmacht‘ genannt habe.“ (Sitzung vom 28. März 1962)
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Das Objekt a …
In Schema 2 repräsentiert der Buchstabe a das Objekt a. Das Objekt a ist für Lacan das Objekt des Begehrens; auf dieses Objekt wird im Phantasma das projiziert, was dem Subjekt fehlt (so zuerst in Seminar 6 von 1958/59, Das Begehren und seine Deutung).
Das Objekt a steht am Anfang der Pfeillinie, damit ist gemeint: das Objekt a entspricht dem, was Freud als „Triebquelle“ bezeichnet.45 In Seminar 10 heißt es:
„An eben dem Ort, an dem Ihre mentale Gewohnheit Ihnen das Subjekt zu suchen anzeigt, da, wo sich trotz Ihnen das Subjekt abzeichnet, wenn beispielsweise Freud die Quelle der Strebung anzeigt, da, wo es im Diskurs das gibt, was Sie als das artikulieren, was Sie sind – kurz, da, wo Sie ich (je) sagen, da ist im eigentlichen Sinne auf der Stufe des Unbewussten a anzusiedeln.“ (10:133)
Lacan fasst hier Überlegungen zusammen, die er in Seminar 6 entwickelt hatte. Im bewussten Diskurs gibt es einen Signifikanten, der das sprechende Subjekt bezeichnet: das Personalpronomen „ich“. Im Unbewussten gibt es keinen Signifikanten, der das Subjekt des unbewussten Diskurses repräsentiert, das Subjekt verschwindet. Für den fehlenden Signifikanten des Subjekts gibt es einen Ersatz, das Objekt a im Phantasma. Das Objekt a ist das Mangelnde; es entsteht durch Projektion; mit ihm bezeichnet das Subjekt des Unbewussten seinen Mangel, also sich selbst (vgl. diesen und diesen Blogartikel).
In Seminar 9, während der Abfassung von Kant mit Sade, deutet Lacan das Objekt a als das Objekt, um das die Ansprüche (die Forderungen) kreisen, ohne es erreichen zu können; er veranschaulicht es durch das zentrale Loch eines Torus. In der Zeichnung rechts stehen die Kreise D1, D2 usw. für die Forderungen (demandes), das leere Zentrum des Rings repräsentiert das Objekt a.
In Seminar 10, einige Monate nach Abschluss des Manuskripts von Kant mit Sade, wird das Objekt a zur Objekt-Ursache des Begehrens. Das Objekt a ist demnach nicht das hartnäckig verfehlte Ziel des Begehrens, sondern die Bedingung des Begehrens. Das Paradigma eines Objekts a in diesem Sinne ist der sexuelle Fetisch. Ein Strumpfband ist nicht das, was begehrt wird, sondern für manche Männer die Bedingung dafür, begehren zu können, in Lacans Terminologie die „Ursache“ ihres Begehrens.46
Das Wesen des masochistischen Phantasmas besteht darin, so heißt es in Seminar 6, wie eine Sache behandelt zu werden:
„Die Phänomenologie des Masochismus, man muss sie nämlich gleichwohl in der masochistischen Literatur aufsuchen, ob sie uns gefällt oder ob sie uns nicht gefällt, ob sie pornographisch ist oder nicht. Ob wir nun einen berühmten Roman nehmen oder einen Roman, der vor kurzem in einem halb geheimen Verlag erschienen ist47, was ist letztendlich das Wesen des masochistischen Phantasmas? Die Vorstellung des Subjekts von einer Reihe von imaginierten Erfahrungen, die einer Neigung folgen, deren Abhang, deren Ufer, deren Grenze wesentlich darin besteht, dass es schlicht und einfach wie eine Sache behandelt wird, wie etwas, was im Grenzfall gehandelt, verkauft, misshandelt wird, das in jeder Art von Möglichkeit, sich in bezug auf das Wollen als autonom zu erfassen, annulliert wird. Es wird wie ein Hund behandelt, sagen wir, und nicht wie irgendein Hund, wie ein Hund, den man misshandelt, genauer: wie ein Hund, der bereits misshandelt worden ist.“ (6: 153)
In Seminar 9 kommt Lacan darauf zurück. Er spricht zunächst über den Sadismus und dass das Sadesche Subjekt sich als Objekt vernichtet (im Schema des Sadismus, Schema 1, wird dies durch das a am Platz unten links dargestellt). Anschließend heißt es:
„Worin es [das Sadesche Subjekt] sich effektiv mit dem trifft, was uns phänomenologisch dann in den Texten von Masoch erscheint. Nämlich dass der Endpunkt, dass der Gipfel des masochistischen Genießens nicht so sehr in der Tatsache besteht, dass es sich dazu anbietet, diesen oder jenen körperlichen Schmerz zu ertragen oder nicht zu ertragen, sondern in diesem einzigartigen Extrem – das Sie nämlich in den Büchern immer wiederfinden werden, in den kleinen und großen Texten der masochistischen Phantasmagorie – dieser richtiggehenden Annullierung des Subjekts, insofern es sich nämlich zum reinen Objekt macht. Es gibt dafür keinen anderen Endpunkt als den Augenblick, in dem der masochistische Roman, welcher auch immer, den Punkt erreicht, der von außen immer als überflüssig erscheinen mag, ja als Ausschmückung, als Luxus, und der wörtlich darin besteht, dass es, das masochistische Subjekt, sich selbst zu etwas macht, was der Gegenstand eines Schachers ist oder ganz genau der eines Kaufs zwischen den beiden anderen, die ihn sich wie einen Besitz weiterreichen.“ (28. März 1962)
Der Masochist identifiziert sich mit dem Objekt, das getauscht wird, das heißt mit dem analen Objekt, das in psychoanalytischer Perspektive ja das erste Tauschobjekt ist, die ursprüngliche Gabe.
In Seminar 10 wird der Masochist mit dem Sadisten verglichen. Das sadistische Begehren zielt darauf ab, dass der Agent dieses Begehrens versucht, sich in ein reines Objekt zu verwandeln. Das ist ihm jedoch nicht bewusst.
„Ganz verschieden ist die Position des Masochisten, für den diese Verkörperung seiner selbst als Objekt das erklärte Ziel ist – dass er sich zum Hund unter dem Tisch oder zur Ware, zum Unterpunkt macht, den man in einem Vertrag behandelt, wenn man ihn unter anderen auf den Markt zu werfenden Objekten verkauft. Kurz, das, was er sucht, ist seine Identifizierung mit dem allgemeinen Objekt, dem Tauschobjekt.“ (10:135)
Der Masochist identifiziert sich mit der Ware. Kurz darauf heißt es in derselben Sitzung, dass
„der Masochist selbst in der Funktion erscheint, die ich die des Auswurfs nennen würde. Er ist unser Objekt a, aber im Schein des Ausgeworfenen, des vor den Hund zu den Abfällen, in den Mülleimer zum alten Eisen des allgemeinen Objekts Geworfenen, in Ermangelung dessen, es anderswo unterbringen zu können. Das ist einer der Aspekte, in denen das a erscheinen kann, so wie es anschaulich wird in der Perversion.“ (10:137)
Das Objekt, mit dem der Masochist sich identifiziert, ist nicht nur ein Objekt, das ganz allgemein abgetrennt wird, sondern eines, das, ganz speziell, in den Mülleimer geworfen wird, das zum Abfall wird. Er identifiziert sich mit dem analen Objekt nicht nur, insofern es getauscht wird, sondern auch insofern, als das anale Objekt dasjenige ist, das weggeworfen wird.
In Seminar 11, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, bestimmt Lacan das Objekt des Masochisten (und des Sadisten) neu. Der „sadomasochistische Trieb“, sagt er hier, ist der Invokations- oder Anrufungstrieb, der Stimmtrieb, wie man auch übersetzen könnte (vgl. 11:166).
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… in Sades Leben
Sades Werk realisiert die Funktion des Objekts a.
Wie bei Ödipus gibt es auch bei Sade den Umschlag der Verfluchung in ihr Gegenteil. Hierbei kommt allerdings nicht das Heilige ins Spiel; Unsterblichkeit erlangt Sade durch sein Werk. Und dadurch verewigt sich der Fluch.
Lacan charakterisiert das Werk von Sade durch die Metapher der Unversenkbarkeit. Es ist wie ein Boot, das mit Auftriebskörpern ausgestattet ist, die eine geringere Dichte haben als Wasser, und das deshalb unsinkbar ist. Alle Versuche, das Werk unter Wasser zu drücken und zu ersäufen, sind deshalb gescheitert. Warum diese Metapher? Spielt Lacan auf Freuds Formulierung an, dass das Verdrängte einen „Auftrieb“ hat?48
Lacan bezieht sich auf Jules Janin, der 1834 einen einflussreichen Aufsatz über Sade als Schriftsteller veröffentlicht hatte, mit der Botschaft, dass von Sades literarischen Fähigkeiten nicht viel zu halten sei. Bei Janin heißt es:
„Aber täuschen Sie sich nicht, der Marquis de Sade ist überall, er ist in sämtlichen Bibliotheken, in einem bestimmten Regal, geheimnisvoll und versteckt, das man immer entdeckt, es ist eines der Bücher, die hinter dem Heiligen Johannes Chrysostomos stehen oder hinter Nicoles Le Traité de Morale oder hinter Pascals Les Pensées.“49
In den Bibliotheken ist das Werk von Sade hinter anderen Büchern versteckt. Das erinnert an die Topologie des Torus: die nachfragbaren Bücher (wie die von Johannes Chrysostomos, Nicole und Pascal) umgeben das versteckte Werk von Sade auf ähnliche Weise, wie die Ansprüche um das Objekt des Begehrens kreisen. In der Zeichnung könnte man für D1, D2 usw. die achtbaren Werke einzutragen, in der zentralen Leere wäre das Werk von Sade zu platzieren. (Mein Vergleich hinkt, da das Werk von Sade ja gerade deshalb hinter den Schriften des Heiligen Chrysostomos versteckt wird, weil man damit rechnet, dass es für die Predigten des asketischen Kirchenlehrers keine demande gibt, keine Nachfrage.)
Die Beschreibung des Werks erfüllt aber auch die in Seminar 10 erst später entwickelten Bedingungen: Das Werk von Sade ist abgetrennt und es ist etwas, was fehlt und wonach gesucht wird.
Sades Werk ist eine Ware, die in einem Vertrag behandelt wird, die neben anderen Objekten auf dem Markt verkauft wird. Die Veröffentlichung der zehn Bände von La Nouvelle Justine suivie de l’Histoire de Juliette sa sœur (1799/1800) mit ihren 101 Kupferstichen war, Pauvert zufolge, das wichtigste Unternehmen des illegalen pornographischen Buchhandels, das die Welt jemals gesehen hat. Beteiligt waren die bekanntesten Buchhändler, Kupferstecher, Drucker und Buchbinder der Pariser Region, die auf das geheime obszöne Buch spezialisiert waren; man muss die Geldgeber hinzurechnen, die für ein Projekt dieser Größenordnung notwendig waren. Es ging darum, einige Tausend Exemplare einer Buchreihe zu verkaufen, die damals 100 Francs kostete (das Jahreseinkommen eines gut verdienenden Arbeiters lag zu diesem Zeitpunkt bei 600 Francs). Aufgrund der Beschlagnahme durch die Polizei stieg der Preis im Jahr 1807 auf 300 Francs.50
Sade identifiziert sich mit seinem Werk: mit einer Ware, mit einem Tauschobjekt.
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d: das Begehren
An der linken unteren Ecke des Schemas findet man ein kleines d, von dem aus ein Pfeil senkrecht nach oben zum durchgestrichenen S, zeigt, d→. Das kleine d steht für désir, Begehren, in Schema 2 für das Begehren des Masochisten.
Worin also besteht das Begehren des Masochisten? Die Erklärung findet man nicht in Kant mit Sade, dafür aber in Seminar 10.
„Der Masochist, ich habe es Ihnen das letzte Mal gesagt, welches ist seine Position? Was verbirgt ihm sein Phantasma, das Objekt eines Genießens des Anderen zu sein? – Welches ist sein eigener Wille zum Genießen, denn schließlich begegnet der Masochist nicht zwangsläufig seinem Partner, wie ein hier vor Zeiten angeführter humoristischer Apolog es Ihnen in Erinnerung ruft. Was verbirgt diese Objektposition? – wenn nicht dies, sich selbst einzuholen, sich in der Funktion des menschlichen Fetzens, dieses armseligen Abfalls an abgetrenntem Körper zu setzen, das uns auf diese Leinwänden dargestellt wird. Deshalb behaupte ich, dass die Absicht des Genießens des Anderen eine phantasmatische Absicht ist. Was gesucht wird, ist beim Anderen die Antwort auf diesen essentiellen Fall des Subjekts in sein letztes Elend, und diese Antwort ist die Angst.“ (10:204)
Das Phantasma des Masochisten besteht darin, das Objekt des Genießens des Anderen zu sein. In Schema 2 wird es durch die obere horizontale Verbindung dargestellt, a→V. Das Phantasma des Masochisten hat die Funktion, ihm sein eigenes Begehren zu verbergen, seinen eigenen Willen zum Genießen. Das, was der Masochist begehrt, ist letztlich die Angst des Anderen. Der Masochist ist unbewusst ein Sadist.
Auch in Schema 1 gibt es ein kleines d, auch hier zeigt es auf den Punkt unten links, an dem in Schema 1 der Buchstabe a steht; insgesamt bezieht sich in Schema 1 das d auf die Symbolfolge a◊$, d.h. auf das Phantasma. d→a◊$ meint dort: das Begehren stützt sich auf das Phantasma.
Das Begehren des Masochisten funktioniert anders.
Warum zeigt der von d ausgehende Pfeil auf das durchgestrichene S, also auf $? Zielt der Masochist durch sein Verschwinden auf die Angst des Anderen?
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Die Ethik des Phantasmas
… „Was für ein langweiliges Werk, das von Sade, ja, so seid ihr zu hören, Herr Richter und Herr Akademiemitglied, die ihr unter einer Decke steckt, ein Werk, das aber immer ausreicht, um Euch aufzustören, den einen durch den anderen, den einen und den anderen, den einen im anderen. [Anm.]
Denn ein Phantasma ist in der Tat ziemlich störend, weil man nicht weiß, wo man es einordnen soll, deshalb, weil es einfach da ist, vollständig in seiner Natur als Phantasma, das nur vom Diskurs her Realität hat und das von Euren pouvoirs, von Eurer Macht und Eurem Können, nichts erwartet, das Euch jedoch auffordert, Euch mit Euren Begierden ins Benehmen zu setzen.
[Anm. JL:] „Maurice Garçon: L’Affaire Sade. J.-J.Pauvert, 1957. Er zitiert Janin nach Le Revue de Paris von 1834, in seiner Verteidigungsrede, S. 85–90. Zweite Belegstelle, S.62: J. Cocteau als Zeuge, der zitiert wird, schreibt, Sade sei langweilig, nicht ohne in ihm den Philosophen und Sittenprediger anerkannt zu haben.“51
Das Werk von Sade ist langweilig, hatte es in den Prozessen gegen den Sade-Verleger Jean-Jacques Pauvert geheißen. Das Urteil „Sade ist langweilig“ wurde dort von zwei Seiten vorgebracht, vom Richter und von dem Schriftsteller Jean Cocteau, einem Mitglied der Académie française. Lacan bezieht sich auf folgende Passage aus dem Prozessbericht, der von Garçon, Pauverts Verteidiger, veröffentlicht wurde52:
GARÇON: Hier ist der Brief von Herrn Jean Cocteau, der zitiert worden ist:
„Verehrter Herr Rechtsanwalt, Sade ist ein Philosoph, und in seiner Art ein Sittenprediger …“
DER VORSITZENDE RICHTER: Das sagt Jean Cocteau?
GARÇON: Ja, Herr Vorsitzender.
„Ihn anzugreifen würde heißen, den Jean-Jacques der Bekenntnisse anzugreifen. Er ist langweilig, sein Stil ist schwach, und sein Wert rührt einzig von den Vorwürfen her, die sich gegen ihn richten. Der geringste amerikanische Detektivroman ist schädlicher als die kühnste von Sades Seiten. Würde er verurteilt werden, würde Frankreich seine heilige Pflicht verletzen.“
DER VORSITZENDE: Mit einem Punkt bin ich einverstanden: dass er langweilig ist.
GARÇON: In diesem Punkt sind wir alle einverstanden.53
Lacan deutet die Aussage, Sade sei langweilig, als Abwehr einer Beunruhigung, wobei die Beunruhigung des Richters sich in der des Akademiemitglieds spiegelt.
Im Ethik-Seminar hatte Lacan sich über Sades Werk so geäußert:
„Obwohl es in den Augen bestimmter Leute einiges Vergnügliche enthalten soll, gehört das Werk des Marquis de Sade eigentlich nicht zu den vergnüglichsten, und die Teile in ihm, die am meisten geschätzt werden, können einem auch als die langweiligsten vorkommen.“54
In Kant mit Sade wechselt an der zuletzt zitierten Stelle der Ton: „So hört man Euch .…“ Diejenigen, die Sades Werk für langweilig erklären, werden von Lacan direkt angesprochen und kritisiert, sein Diskurs hat jetzt vorübergehend den Charakter einer moralischen Einrede. Die Ethik, die er dabei ins Spiel bringt, ist die der Psychoanalyse.
Das Urteil „Sade ist langweilig“ dient der Abwehr, es soll die Beunruhigung, die von Sades Werk ausgeht, stillstellen. Dieses Werk verstört, und zwar deshalb, weil es ein Phantasma ausbreitet. Die ethische Frage ist: Welches ist das richtige, welches das falsche Handeln im Umgang mit einem Phantasma?
Das Sadesche Phantasma ist einfach da, es hat keinen sozialen Nutzen. Es erwartet nichts „von Euren pouvoirs“, nichts von der Macht des Richters und nichts vom Können des Schriftstellers. Die traditionelle Ethik, so hatte Lacan in Seminar 7 erklärt, ist eine Ethik der Macht. Die Ethik der Psychoanalyse hat einen anderen Charakter, sie steht nicht im Dienst an den Gütern und sie dient nicht dem Gemeinwohl.55 Vielleicht spielt Lacan mit pouvoir auch auf den Begriff der Tugend an. Das griechische Wort aretē und das lateinische Wort virtus meinen nicht nur die moralische Tugend, sondern auch ganz allgemein das Tauglichsein-zu-etwas, das Vermögen, etwas zu tun.
In dieser Abwendung von der Glücksethik steht die Psychoanalyse in der Tradition der Kantischen Ethik, die ja zum ersten Mal mit der eudämonistischen Moralkonzeption gebrochen hatte.56 An die Stelle der Lust oder des Wohls tritt bei Kant das Gesetz. Die Psychoanalyse setzt an diese Stelle etwas anderes: das unbewusste Begehren, das jedem Handeln innewohnt.
Das Phantasma enthält einen moralischen Imperativ. Er lautet: „Setz dich mit deinem unbewussten Begehren ins Benehmen!“ Das ist nicht als Aufforderung zu verstehen, zu den Trieben als den Garanten eines harmonischen Daseins zurückzukehren. Die Ethik der Psychoanalyse zielt vielmehr auf eine bestimmte Form der Selbsterkenntnis. Dabei gilt es, eine tragische Erfahrung zu machen. Das Schuldgefühl – die Grundlage der Moral – entsteht dadurch, dass wir von unserem Begehren abgelassen haben. Oft haben wir dafür die besten Gründe. Das Schuldgefühl lässt sich durch Gründe jedoch nicht beeinflussen. Je edler wir handeln, desto stärker wird das Schuldgefühl.57
Das Sadesche Phantasma verlangt, dass wir uns mit unserem Begehren ins Benehmen setzen. Das Urteil „Sade ist langweilig“ zielt darauf ab, dass wir uns dieser Aufgabe entziehen. Gemessen an der Aufgabe, ist das Urteil ein Verrat.
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Die Relationen
a → V: das Phantasma
In Seminar 10 heißt es:
“Der Masochist, ich habe es Ihnen das letzte Mal gesagt, welches ist seine Position? Was verbirgt ihm sein Phantasma, das Objekt eines Genießens des Anderen zu sein?“ (10:204)
Das Phantasma des Masochisten besteht darin, das Objekt des Genießens des Anderen zu sein. In Schema 2 wird das Objekt durch den Punkt a oben links repräsentiert, der Wille zum Genießen des Anderen durch den Punkt V oben rechts. Also wird in Schema 2 das masochistische Phantasma durch die obere horizontale Verbindung dargestellt, durch a→V.
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V→$→S: die Spaltung des Subjekts
Der Wille zum Genießen (V) übt einen Zwang auf das Subjekt aus, für dessen Spaltung es nicht erforderlich ist in einem Körper vereinigt zu sein (150), das sich also auf die Positionen $ und S verteilt, $ auf der linken Seite, auf der Seite des Subjekts, S auf der rechten Seite, auf der des Anderen.
Über das V hatte es bei der Erläuterung von Schema 1 geheißen, dass es zwar für volonté steht, für den Willen, dass
„dessen Form aber auch die Vereinigungsmenge dessen evoziert, was es spaltet, indem es dies in einem vel zusammenhält, d.h. indem es das zu wählen gibt, was aus dem rohen Subjekt S der Lust (dem ‚pathologischen‘ Subjekt) das $ (ausgestrichenes S) der praktischen Vernunft machen wird.“ (146)
Der Wille zum Genießen spaltet das Subjekt, in das rohe Subjekt der Lust und in das ausgesperrte Subjekt.
Lacan beschreibt die Beziehung zwischen den drei Größen zwischen V, $ und S, hier mit einem Begriff der Aussagenlogik: die Beziehung hat die Struktur eines „Vel“, sie ist ein nicht-ausschließendes Oder, eine inklusive Disjunktion. A vel B (A oder B) meint: die zusammengesetzte Aussage ist unter drei Bedingungen wahr:
– wenn A wahr ist und B falsch ist,
– wenn B wahr ist und A falsch ist,
– wenn sowohl A als auch B wahr sind.
Anspielungshaft bezieht Lacan sich auf die mengentheoretische Darstellung logischer Aussageverknüpfungen durch Euler-Diagramme: das nicht-ausschließende Oder wird durch die Vereinigungsmenge dargestellt.
Der Wille zum Genießen eröffnet demnach eine Wahl zwischen drei Optionen: entweder A wird gewählt oder B wird gewählt oder beides wird gewählt.
Der Wille zum Genießen eröffnet drei Optionen: entweder $ wird gewählt oder S wird gewählt oder beides wird gewählt. Das dem Genusswillen des Anderen unterworfene Subjekt ist entweder das Subjekt der praktischen Vernunft, das verschwindet ($) oder das Subjekt der Lust (S) oder es ist zugleich das Subjekt der praktischen Vernunft und das der Lust.
Ist damit gemeint, dass sich die Spaltung zwischen $ und S auf verschiedene Körper aufteilen kann, wie in Formel 2, aber auch in einem Körper vereinigt sein kann?
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a→V→$→S: Der Masochismus
Der Pfeil verbindet die vier Ecken des Schemas derart, dass er zwischen der Seite des Subjekts und der des Anderen hin und hergeht, wodurch sich eine Z-förmige Bahn ergibt.
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Das Objekt a als Ausgangspunkt
Den Ausgangspunkt der Bewegung bildet das Objekt a. Es ist für Lacan die Ursache sowohl des Begehrens als auch die des Triebs.
In Seminar 10 heißt es bei der Erläuterung des Schemas des Sadismus:
„An eben dem Ort, an dem Ihre mentale Gewohnheit Ihnen das Subjekt zu suchen anzeigt, da, wo sich trotz Ihnen das Subjekt abzeichnet, wenn beispielsweise Freud die Quelle der Strebung anzeigt, da, wo es im Diskurs das gibt, was Sie als das artikulieren, was Sie sind – kurz, da, wo Sie ich (je) sagen, da ist im eigentlichen Sinne auf der Stufe des Unbewussten a anzusiedeln.
Auf dieser Stufe sind Sie a das Objekt, und jeder weiß, dass das [123] unerträglich ist, und nicht nur für den Diskurs, der das schließlich verrät. Ich werde das gleich durch eine Bemerkung illustrieren, dafür bestimmt, die Geleise zu verschieben, ja zu erschüttern, auf denen Sie es gewöhnt sind, die besagten Funktionen des Sadismus und des Masochismus zu lassen, als ob es sich dabei nur um das Register einer Art immanenter Aggression und ihrer Reversibilität handeln würde. Tritt man in deren subjektive Struktur ein, werden Züge von Differenz erscheInen, deren wesentlicher der ist, den ich Ihnen jetzt bezeichnen werde.“ (10:133)
Kurz gesagt: Das Objekt a entspricht dem, was Freud als Triebquelle bezeichnet. Das Objekt a ist der durch die Sprachwerdung des Subjekts entstandene Rest. Der Versuch, diesen auf immer verlorenen Rest einzufangen, hält psychische Dynamik in Gang.
Das masochistische Subjekt identifiziert sich mit diesem Abfall-Objekt und dies liefert die Triebkraft, welche die Bewegung in Gang hält.
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Die Einwirkung des Symbolischen: V und $
Das Begehren des Anderen hat im Falle des Masochismus die Gestalt des „Willens zum Genießen“. Er verkündet nicht einfach ein Gesetz, vielmehr ist das Gesetz im Falle des Masochismus (wie des Sadismus) unmittelbar eins mit dem Begehren des Anderen sowie mit dem Genießen des Anderen.
Die Unterordnung des Subjekts unter den Diskurs des Anderen hat zur Folge, dass das Subjekt verschwindet, in dem Sinne, dass es im Diskurs keinen Signifikanten gibt, durch den es repräsentiert wird. Im Masochismus als Perversion ist das Verschwinden des Subjekts ein Effekt der Demütigung, in Sades Leben hat es die Form, dass sein Name ausgelöscht wird – zumindest will er das so.
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Das rohe Subjekt als Zielpunkt
Das rohe Subjekt, S, steht am Ende der Z-förmigen Pfeillinie. Das rohe Subjekt ist also das Ziel der Bewegung. In Triebe und Triebschicksale schreibt Freud über das Schmerzgenießen als Triebziel:
„Wenn sich aber einmal die Umwandlung in Masochismus vollzogen hat, eignen sich die Schmerzen sehr wohl, ein passives masochistisches Ziel abzugeben, denn wir haben allen Grund anzunehmen, daß auch die Schmerz- wie andere Unlustempfindungen auf die Sexualerregung übergreifen und einen lustvollen Zustand erzeugen, um dessentwillen man sich auch die Unlust des Schmerzes gefallen lassen kann. Ist das Empfinden von Schmerzen einmal ein masochistisches Ziel geworden, so kann sich rückgreifend auch das sadistische Ziel, Schmerzen zuzufügen, ergeben, die man, während man sie anderen erzeugt, selbst masochistisch in der Identifizierung mit dem leidenden Objekt genießt. Natürlich genießt man in beiden Fällen nicht den Schmerz selbst, sondern die ihn begleitende Sexualerregung, und dies dann als Sadist besonders bequem. Das Schmerzgenießen wäre also ein ursprünglich masochistisches Ziel, das aber nur beim ursprünglich Sadistischen zum Triebziele werden kann.“58
Der Punkt S am Ende der Pfeillinie steht für das Ziel von Sades Leben: für die naturalistische Befreiung des Begehrens. Die Gruppe der Unterstützer verkörpert, in Sades Perspektive, den von ihm anvisierten Menschen der Lust, vor allem die dem Anderen zugeschriebene Schmerzlust.
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Die Logik von Sades Leben
Von welcher Logik wird Sades Leben, Lacan zufolge, beherrscht? Vom moralischen Masochismus.
In Seminar 9 informiert Lacan über sein Vorhaben, einen Aufsatz über Sade zu schreiben. Bei dieser Gelegenheit verweist er auf Jean Paulhans Sade-Kommentar und empfiehlt die Lektüre. Paulhan habe das Wesen des Masochismus streng dargelegt: In jedem Augenblick biete Sade sich der schlechten Behandlung durch die Gesellschaft an.59
Damit spielt Lacan auf Freuds Konzept des moralischen Masochismus an. Der moralische Masochismus äußert sich, wie Freud sagt, als „unbewusstes Schuldgefühl“, als Strafbedürfnis. Freud schreibt:
„An allen masochistischen Leiden haftet sonst die Bedingung, daß sie von der geliebten Person ausgehen, auf ihr Geheiß erduldet werden; diese Einschränkung ist beim moralischen Masochismus fallengelassen. Das Leiden selbst ist das, worauf es ankommt; ob es von einer geliebten oder gleichgültigen Person verhängt wird, spielt keine Rolle; es mag auch von unpersönlichen Mächten oder Verhältnissen verursacht sein, der richtige Masochist hält immer seine Wange hin, wo er Aussicht hat, einen Schlag zu bekommen.“60
Die Logik von Sades Leben lässt sich demnach so entziffern:
Sade identifiziert sich mit seinem Werk, mit einer verkäuflichen Ware (a).
Dieses Werk hat die Funktion, die Autoritäten auf den Plan zu rufen, das Begehren des Anderen in der Gestalt des Willens zum Genießen (V). Der Wille zum Genießen zeigt sich in einer Moral, die sich auf die Polizei, das Gefängnis und das asile stützt, die psychiatrische Anstalt.
Auf die Unterordnung unter den Diskurs des Anderen antwortet Sade so, dass er versucht, aus dem Diskurs zu verschwinden ($), seinen Namen auszulöschen. Auf diese Weise strebt er nach dem zweiten Tod, nach der Vernichtung der Signifikantenmacht. Dieses Unternehmen ist paradox, es verstärkt die Macht des Signifikanten.
Sades großes Projekt ist die naturalistische Befreiung der Lüste einschließlich der Schmerzlust. Die Realisierung dieses Ziels verschiebt er auf seine Gefährten, die so für ihn zum rohen Subjekt der Lust werden (S).
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Weiterentwicklungen der Konzeption des Masochismus: Angst und Stimme
In Seminar 10, ein halbes Jahr nach der Fertigstellung von Kant mit Sade, entwickelt Lacan eine neue These über den Masochismus.
„Der Masochist, ich habe es Ihnen das letzte Mal gesagt, welches ist seine Position? Was verbirgt sein Phantasma, das Objekt eines Genießens des Anderen zu sein? – Welches ist sein eigener Wille zum Genießen, denn schließlich begegnet der Masochist nicht zwangsläufig seinem Partner wie ein hier vor Zeiten angeführter humoristischer Apolog es Ihnen in Erinnerung ruft. Was verbirgt diese Objektposition? – wenn nicht dies, sich selbst einzuholen, sich in der Funktion des menschlichen Fetzens, dieses armseligen Abfalls an abgetrenntem Körper zu setzen, das uns auf diesen Leinwänden dargestellt wird. Deshalb behaupte ich, dass die Absicht des Genießens des Anderen eine phantasmatische Absicht ist. Was gesucht wird, ist beim Anderen die Antwort auf diesen essentiellen Fall des Subjekts in sein letztes Elend, und diese Antwort ist die Angst.“ (10:204 f.)
Der Masochist hat das Phantasma, das Objekt (a) des Genießens des Anderen zu sein, wobei sich dieses Genießen in einem Willen bekundet (V). Im Schema wird dies durch die obere horizontale Linie dargestellt, a→V. Dieses Phantasma ist ihm bewusst. Unbewusst ist ihm, mit welchem Objekt er sich dabei identifiziert: mit einem abgetrennten Objekt, einem Auswurf. Unbewusst ist ihm auch, dass er letztlich versucht, im Anderen die Angst hervorzurufen.
„Es wird behauptet – der Masochist ziele auf das Genießen des Anderen. Ich habe Ihnen gezeigt, dass durch diese Vorstellung verborgen wird, dass er letzten Endes in Wirklichkeit auf die Angst des Anderen zielt.“ (10:221)
Das ist die Gemeinsamkeit zwischen dem Sadisten und dem Masochisten: beide suchen die Angst des Anderen. Der Sadist weiß es, der Masochist weiß das nicht.
Im Seminar 16, Von einem Anderen zum anderen (1968/69), wird Lacan erklären, das Objekt a des sadomasochistischen Triebs sei die Stimme.61 Dem Masochisten geht es darum, den Anderen durch die Stimme zu vervollständigen. Er arrangiert die Dinge so, dass er selbst nicht mehr sprechen kann und macht damit aus der Stimme des Anderen etwas, wofür er, der Masochist, sich verbürgt, indem er darauf wie ein Hund antwortet. Umgekehrt zielt der Sadist darauf ab, dem Anderen das Sprechen zu nehmen und ihm seine Stimme, die des Sadisten, aufzuzwingen.
Zur Sekundärliteratur
In Ça de Kant, cas de Sade hat Jean Allouch Schema 1 und Schema 2 kommentiert.62 Aus seinen Erläuterungen zu Schema 1 habe ich viel gelernt. Gegen seine Deutung des zweiten Schemas63 habe ich zwei Einwände; beide betreffen das Verhältnis von Sadismus und Masochismus.
(1) Allouch schreibt:
„Ein ‚Versuch über das Begehren‘ ist der Ort, um Sadismus und Masochismus zu verbinden, während ‚Kant mit Sade‘ sich dem vollkommen entziehen kann.“64
Demnach spricht Lacan in Kant mit Sade nicht über das Verhältnis von Sadismus und Masochismus. Das lässt sich nicht halten. Lacan spricht in Kant mit Sade durchaus über dieses Thema: er macht sich dort über die Vorstellung lustig, der Masochismus sei die Umkehrung des Sadismus.65 Damit wirft er eine Frage auf: In welchem Verhältnis steht der Masochismus zum Sadismus, wenn es sich nicht um eine Umkehrbeziehung handelt?
Lacan wirft in Kant mit Sade dieses Problem genau dort auf, wo er vom Schema des Sadismus, also von Schema 1, zu Schema 2 übergeht. Daraus ergibt sich nicht, dass sich Schema 2 auf den Masochismus bezieht. Der Aufbau des Textes legt jedoch den Verdacht nahe, dass dies gemeint sein könnte.
(2) Allouch zufolge bezieht sich Schema 2 nicht auf den Masochismus. Diese These hat negativen Charakter; die Möglichkeit, dass Schema 2 sich auf den Masochismus bezieht, wird von Allouch nicht erwähnt. Dabei ist ihm bekannt, dass Lacan in Seminar 10 ebenfalls von einer Vierteldrehung spricht und dass sie dort dazu führt, dass der Sadismus in den Masochismus übergeht.66
Hier noch einmal mein Argument:
– Das Schema des Sadismus in Seminar 10 ist, bis auf Kleinigkeiten, dasselbe wie das Schema des Sadismus in Kant mit Sade. Die Identität der beiden Schemata wird dadurch unterstrichen, dass Lacan bei der Erläuterung des Schemas in Seminar 10 ausdrücklich auf Kant mit Sade verweist (vgl. 10:148).
– In Seminar 10 entsteht aus dem Schema des Sadismus durch eine Vierteldrehung das Schema des Masochismus (vgl. 10:222).
– In Kant mit Sade entsteht aus dem Schema des Sadismus durch eine Vierteldrehung Schema 2.
– Also ist Schema 2 das Schema des Masochismus.
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Lacans Schema des Masochismus – einfache Fassung
Die linke Seite des Schemas steht für das masochistische Subjekt, die rechte für seine Herren und für seine Unterstützer; die rechte Seite ist die des Anderen.
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Der Andere (rechte Seite)
Der Andere nimmt im Falle des Masochismus zwei unterschiedliche Positionen ein. Sie werden von Lacan als „Wille zum Genießen“ (V) und als „rohes Subjekt der Lust“ (S) bezeichnet.
Der „Wille zum Genießen“ oder „Wille zur Lust“ (V) besteht darin, dass die Triebbefriedigung zu einem symbolisch artikulierten Gesetz wird, zu einem Willen. Er nimmt dabei die Form des moralischen Zwangs an, der Strafe. Im Alltagsleben sind Triebbefriedigung und Gesetz geschieden, im Falle des Masochismus fallen sie zusammen. Was immer der Andere fordert, ist für das masochistische Subjekt das Gesetz, allerdings eingeschränkt auf die Szene des Phantasmas. Lacan betont die Begrenztheit dieser Position: letztlich ist der Andere ohnmächtig, die Identität von Gesetz und Triebbefriedigung ist instabil.
Die zweite Position des Anderen ist die des „rohen Subjekts der Lust“ (S). Dies bezieht sich auf den Anderen, insofern er in der Perspektive des Masochisten eine bestimmte Art der Lust empfindet: einen Schmerz, der mit sexueller Lust verbunden ist. Freud spricht von „Schmerzgenießen“ und von „Schmerzlust“.
Damit ist nicht gemeint, dass das masochistische Subjekt keinen Schmerz empfindet, sondern dass es versucht, diesen Schmerz mit anderen zu teilen und dass es dem Anderen die Lust am Schmerz zuschreibt, und dies bei allen drei Formen des Masochismus, beim erogenen Masochismus, beim femininen Masochismus und beim moralischen Masochismus.
Das Subjekt der Lust ist „roh“, es ist nicht gespalten – in der Perspektive des masochistischen Subjekts, das selbst gespalten ist. Das masochistische Subjekt nimmt die Spaltung ganz und gar auf sich und sucht sich Partner, die für es die Funktion haben, das ungehemmte Lustwesen zu repräsentieren.
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Das Subjekt (linke Seite)
Das masochistische Subjekt nimmt ebenfalls zwei unterschiedliche Positionen ein.
Es ist erstens das Objekt des Begehrens (a) des Anderen. Das ist dem masochistischen Subjekt bewusst. Es weiß jedoch nicht, welche Art von Objekt es ist.
Lacan behauptet zunächst, dass der Masochist sich mit dem analen Objekt identifziert, sei es in der Form des Abfalls, der weggeworfen wird, sei es in der Form einer Ware, die getauscht wird, auf der Grundlage der Gleichung Kot = Geld.67
Das masochistische Subjekt ist außerdem das verschwindende Subjekt ($). Das Subjekt verschwindet in dem Sinne, dass es von der symbolischen Ebene ausgelöscht wird, dadurch, dass es in der Sprache und in der symbolischen Ordnung keinen Repräsentanten hat. Dieses Verschwinden kann unterschiedliche Formen annehmen, es besteht etwas darin, gedemütigt zu werden oder in seinem Schamgefühl verletzt zu werden, insgesamt darin, nicht anerkannt zu werden und auf diese Weise abgeschafft zu werden. Sade legt in seinem Testament fest, dass seine Grabstelle überwuchern soll; in diesem Fall besteht das Verschwinden des Subjekts darin, dass der Grabstein mit dem Namen darauf unsichtbar wird (zumindest der Absicht nach).
Lacan betont die Dialektik dieses Vorgangs. Der Versuch des Subjekts, sich von der symbolischen Ebene auszustreichen, hat zur Folge, dass es sich darin verewigt. Das Testament, in dem Sade sein symbolisches Verschwinden verfügt, wird bis heute gelesen.
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Verwandte Artikel
- Jacques Lacan: Kant mit Sade (Übersetzung)
Anmerkungen
- Für die Zählung der Abschnitte muss man sich an die Écrits (1966) halten, in den von Norbert Haas herausgegebenen Schriften II, Übersetzung von Wolfgang Fietkau, fehlen einige dieser Leerzeilen. Abschnitt 8 beginnt in der Übersetzung auf S. 149 unten mit „Wir möchten unseren …“, hier gibt es auch in der deutschen Version eine Leerzeile. Abschnitt 8 endet S. 151, vierte Zeile von oben, mit „… ins Benehmen setzt.“, hier fehlt die Leerzeile.
- Critique, 17. Jg. (1963), April, Nr. 191, S. 291-313.
- Écrits, S. 765-790, Schema 2 auf S. 778; Schriften II, S. 133-162, Schema 2 auf S. 149.
- Écrits 2. Le Seuil, Paris 1971, collection „Points“, S. 119-148.
- Die Gleichsetzung des „Schmerzes zu existieren“ bzw. des „Schmerzes zu sein“ mit dem primären Masochismus findet man in Seminar 5, S. 291, 503.
- Vgl. Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 228.
- Paulhans Arbeit war das Vorwort zu Pauverts Veröffentlichung von Sades Roman Les infortunes de la vertu (Die Missgeschicke der Tugend) im Jahr 1946. Als Buch erschien Paulhans Untersuchung 1951 bei Lilac in Paris. Sades Les infortunes de la vertu, geschrieben 1787 und 1930 erstmals veröffentlicht, ist die erste der drei Versionen von Justine.
- Vgl. Sitzung vom 28. März 1962.
- Vgl. Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus (1924). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 339-354.
- Die Antwort, die er in Seminar 10 geben wird, lautet: die drei Formen des Masochismus finden ihre Einheit darin, dass sie auf die Angst des Anderen abzielen, auf die „Gottesangst“ (10:239). Diese These ist jedoch neu, in Kant mit Sade ist die Angst noch kein Thema.
- Vgl. Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 345 f.
- Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 346.
- H. Deutsch: Der feminine Masochismus und seine Beziehung zur Frigidität. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, 16. Jg. (1930), S. 172-184, im Internet hier.
- A.a.O., S. 173.
- „dirai-je à qui me plaît“, Version Critique, S. 294; Kursivschreibung von RN.
- Vgl. S. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 67-69.
- Vgl. S. Freud: Triebe und Triebschicksale (1915). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag 2000, S. 90-92.
- Vgl. S. Freud: „Ein Kind wird geschlagen.“ Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen (1919). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 245.
- Vgl. Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 263; ders.: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 352-354.
- Ich positioniere diese Anmerkung entsprechend der Version von 1971; in den Écrits von 1966 ist sie verrutscht und damit auch in Schriften II; RN.
- Vgl. Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, a.a.O., S. 67 f.
- Vgl. Écrits (1966), S. 119 f.; Lacan: Autres écrits. LeSeuil, Paris 2001, S. 179.
- A.a.O., S. 345.
- Vgl. Freud: Das Ich und das Es (1923). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 315, 319. Vom „Sadismus“ des Über-Ichs schreibt Freud auch in Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 352.
- Slavoj Žižek erläutert das Schema an dieser Stelle so: Der moralische Zwang nahm die Form des Drucks an, den seine Umwelt auf Sade ausübte, „bis zu Napoleon persönlich, der ihn in ein Gefängnis einweisen ließ“ (Žižek u.a.: Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002, S. 203.) Lacan betont, dass er dieser Legende keinen Glauben schenkt.
- Version 1963, S. 303.
- Vgl. Freud Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 344.
- Freud: Triebe und Triebschicksale, a.a.O., S. 92.
- Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 345 f.
- Sade heiratet Renée-Pélagie de Montreuil 1763; im Jahr 1790 lässt sie sich von ihm scheiden.
- Das Liebesverhältnis mit Anne-Prospère de Launay beginnt 1771; sie stirbt 1781.
- Gemeint ist vermutlich Sades Lakai d’Armand, genannt Latour, der für ihn 1772 in Marseille eine Orgie mit vier Prostituierten organisierte und sich daran beteiligte. Zusammen mit Sade wurde er deshalb, in Abwesenheit, zum Tode verurteilt. Vgl. Gilbert Lely: Leben und Werk des Marquis de Sade. Karl Rauch Verlag, Düsseldorf 1961, S. 114-127.
- Version Critique, S. 303.
- Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 290, Übersetzung geändert.
- Walter Lennig: Marquis de Sade, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt, Reinbek 1965.
- Sitzung vom 27. Mai 1959, übersetzt nach Version Staferla. In der Miller-Version ist dies S. 480.
- Vgl. Žižek, Was Sie immer schon über Lacan wissen wollten und Hitchock nie zu fragen wagten, a.a.O., S. 203.
- In Bezug auf Freuds Analyse des „Rattenmanns“ spricht Lacan von der „schicksalhaften Konstellation, die selbst seine Geburt beherrschte“ (Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften I, S. 147).
Im Ethik-Seminar heißt es:„Wenn die Analyse einen Sinn hat, dann ist das Begehren nichts anderes als das, was das unbewußte Thema stützt, die eigentliche Artikulierung dessen, was uns in einem besonderen Schicksal (destinée) wurzeln läßt, welches nachdrücklich fordert, daß die Schuld beglichen werde.“ (Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 381)
- A.a.O., S. 351.
- Seminar 8, Version Miller/Gondek, S 372.
- In der Version von 1966 steht hier irrtümlich „1125“, in der Verson von 1971 ist das korrigiert.
- Vgl. Jean Allouch: Ça de Kant, cas de Sade. Sur „Kant avec Sade“ de Jacques Lacan. Cahiers de l’Unebévue, Paris 2001, S. 119.
- Verse 1225-1228; Sophokles: Oidipus auf Kolonos. Übersetzt von Ernst Buschor. Reclam jun., Stuttgart 1983.
- Zuerst in: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse, in: Schriften I, S. 162.
- Vgl. Freud: Triebe und Triebschicksale.
- Das Objekt a als Bedingung des Begehrens wird von Lacan eingeführt in Seminar 10 von 1962/63, Die Angst, in der Sitzung vom 16. Januar 1963, also vier Monate nach Abschluss des Manuskripts von Kant mit Sade; die Wendung „l’objet-cause“ verwendet er erstmals in der Sitzung vom 6. März 1963.
- Gemeint ist vielleicht die Geschichte der O von Anne Desclos alias Pauline Réage, die 1954 im Verlag von Jean-Jacques Pauvert erschien.
- Etwa in: S. Freud: Konstruktionen in der Analyse. (1937). In: Ders.: Studienausgabe, Ergänzungsband. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 404.
- Jules Janin: Le marquis de Sade. In: La revue de Paris, 11. Jg. (1834), S. 321-360. Auch als Buch bei Les marchands de nouveautés, Paris 1834. dt: Jules Janin: Der Marquis von Sade und andere Anschuldigungen. Belleville, München 1986. Zit. n. Jean-Jacques Pauvert: Métamorphose du sentiment érotique. Lattès, o.O. 2011, im Internet hier. Mit dem Traité de Morale von Nicole sind vermutlich die Essais de Morale von Pierre Nicole gemeint.
- Die Daten in diesem Absatz entnehme ich dem Artikel La Nouvelle Justine in der französischen Wikipedia.
- Das Wort cité, „der zitiert wird“, ist eine Einfügung in der Version von 1971.
- Maurice Garçon: L’affaire Sade: compte-rendu exact du procés intenté par le Ministère public, aux édition Jean-Jacques Pauvert ; contient notamment les témoignages de: Georges Bataille, André Breton, Jean Cocteau, Jean Paulhan et le texte intégral de la plaidoirie. Pauvert, Paris 1957.
- L’affaire Sade, a.a.O., S. 62. Von mir aus dem Englischen übersetzt nach: James B. Swenson: Annotations to „Kant with Sade“. In: October. 51. Jg. (1989), S. 76-104 (MIT Press), hier: S 94.
- Seminar 7, Version Miller/Haas, S. 97 f.
- Dies und das Folgende nach Seminar 7, Sitzung vom 6. Juli 1960.
- Der Bruch ist nicht absolut; die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit wird von Kant in die Postulate abgeschoben, in die Unsterblichkeit der Seele und das Dasein Gottes als notwendige Voraussetzungen des höchsten Guts, des guten Willens.
- Vgl. Freud: Das Ich und das Es, a.a.O., S. 320 f.; ders.: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O., S. 353; ders.: Das Unbehaben in der Kultur (1930). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 9. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 252 ff.
- Freud: Triebe und Triebschicksale, a.a.O., S. 91 f.
- Seminar 9, Sitzung vom 28. März 1962.- Lacan bezieht sich auf: Jean Paulhan: Le Marquis de Sade et sa complice ou Les Revanches le la pudeur, zuerst 1951 als Vorwort zu Pauverts Ausgabe von Sades Roman Les infortunes de la vertu.
- Freud: Das ökonomische Problem des Masochismus, a.a.O, S. 349.
- Vgl. Seminar 16, Sitzung vom 26. März 1969, Version Miller S. 255–259.
- Cahiers de l’Unebévue, Paris 2001.
- A.a.O., S. 115-122.
- A.a.O., S. 115 Fn. 141.
- Vgl. Schriften II, S. 148 f.
- Vgl. Allouch, a.a.O., S. 115 Fn. 141.
- Vgl. Freuds Rede von der „symbolischen Gleichung“: „Das Mädchen gleitet – man möchte sagen: längs einer symbolischen Gleichung – vom Penis auf das Kind hinüber, sein Ödipuskomplex gipfelt in dem lange festgehaltenen Wunsch, vom Vater ein Kind als Geschenk zu erhalten, ihm ein Kind zu gebären.“ (S. Freud: Der Untergang des Ödipuskomplexes (1924). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 5. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 250); vgl. auch ders.: Über Triebumsetzungen, insbesondere der Analerotik (1917). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 126.