Lacans Sentenzen
„Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen.“
In einer Lacan-Einführung lese ich:
„Die orakalhafte Macht von Sätzen wie ‚Das Unbewußte ist der Diskurs des Anderen‘ rührt zum größten Teil daher, daß sie beim Leser eine Unschlüssigkeit erzeugen, sich zwischen einer engeren und einer weiteren Definition zu entscheiden. Denn was bedeutet dieser Satz? Daß das Unbewußte dort ist, wo der Andere seine dunkelsten Taten vollbringt als Besatzungsmacht oder Fünfte Kolonne? Oder daß das Unbewußte ganz einfach das Andersartige ist, der ‚andere Schauplatz‘, der unser bewußtes Denken und Handeln unausgesetzt überschattet?“1
Was meint „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen“? Ist das Unbewusste der Andere oder ganz allgemein das Andersartige? Beides: das Unbewusste ist der Andere, sofern er andersartig ist, sofern er nicht der imaginäre andere ist, in dem ich mich wiedererkenne. Aber wer ist der nicht-imaginäre Andere?
Lacan äußert den Satz zum ersten Mal 1953 in Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. Wenn man wissen will, was in dieser Phase damit gemeint ist, muss man das dort nachlesen sowie in den frühen Seminaren. Im Folgenden zitiere und kommentiere ich die Auftritte der Sentenz in der Zeit von 1953 bis 1955.
Lacan hat hier noch nicht die Unterscheidung zwischen zwei Schreibweisen etabliert, zwischen dem imaginären anderen mit kleinem a und dem symbolischen Anderen mit großem A; der „groß Andere“ wird erst am Ende von Seminar 2 eingeführt.2 Danach wird die Formel so geschrieben wie im Titel dieses Beitrags: „Das Unbewusste ist der Diskurs des Anderen“3, in dem hier betrachteten Zeitraum jedoch liest sie sich so: „Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“.
Leitfragen der folgenden Lektüre sind: Was versteht Lacan unter einem „Diskurs“? Wer ist „der andere“? Und inwiefern ist er radikal anders?
Das Unbewusste ist …
… eine Kommunikation in einem Netz von Sendern
In Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache heißt es:
„Daß das Unbewußte des Subjekts der Diskurs des anderen ist, zeigt sich nirgendwo deutlicher als in den Studien, die Freud dem gewidmet hat, was er, soweit es sich im Kontext der psychoanalytischen Erfahrung darstellt, Telepathie genannt hat. Es ist dies eine Übereinstimmung von Äußerungen des Subjekts mit Tatsachen, von denen es keine Kenntnis haben kann, die sich aber stets in den Bahnen einer anderen Erfahrung bewegen, an der der Analytiker als Gesprächspartner teilhat; eine Übereinstimmung zudem, die in den meisten Fällen auf einer rein sprachliche Konvergenz beruht, die bis zum Gleichklang gehen kann, oder bei der, wenn sie ein Handeln umfaßt, das acting out eines anderen Patienten des Analytikers vorliegt oder eines Kindes des Patienten, das sich ebenfalls einer Analyse unterzieht. Es handelt sich dabei um Fälle von Resonanz in den Kommunikationsnetzen des Diskurses, deren gründliche Untersuchung einiges Licht auf analoge Tatsachen des täglichen Lebens werfen könnte.“4
Wie erklärt Freud das Telepathie-Phänomen?5 Durch Resonanz in Kommunikationsnetzen. Lacans Rekonstruktion von Freuds Erklärung setzt voraus: Es gibt Kommunikation, d.h. Sender schicken Botschaften an Empfänger6; die Kommunikationsbeziehungen bilden Netze; in diesen Kommunikationsnetzen gibt es Wirkungsbeziehungen, die von den Kommunizierenden nicht geplant waren und von denen sie überrascht werden.
Unter „Diskurs“ wird hier also Kommunikation verstanden, eine Beziehung zwischen einem Sender und einem Empfänger. Der „andere“ ist hier nicht ein einzelner anderer, sondern ein Netz von Sendern.7
„Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“ meint hier: Phänomene, die auf dem Feld des Unbewussten liegen, etwa Telepathie, sind durch Kommunikationen zwischen vernetzten Kommunikationsteilnehmern determiniert.
Um es mit Marx und der sechsten Feuerbachthese zu formulieren: Das Unbewusste ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der sprachlich konstituierten gesellschaftlichen Verhältnisse.
… ein Sprechen, das sich auf ein Sprechen bezieht
Im selben Aufsatz heißt es:
„Das Symptom ist hier Signifikant eines aus dem Bewußtsein des Subjekts verdrängten Signifikats. In den Sand des Fleisches und auf den Schleier der Maja geschrieben, hat es als Symbol teil an der Sprache aufgrund der semantischen Ambiguität in seiner Konstitution, auf die wir bereits hingewiesen haben.
Aber es ist ein Sprechen im vollen Sinn, denn es umfasst [inclut] im Geheimnis seiner Chiffre den Diskurs des anderen.“8
Hier also eine erste Abwandlung der Formel. Sie lautet jetzt: Das Symptom umfasst (enthält, schließt in sich) den Diskurs des anderen.
Was hat das Symptom mit der Sprache zu tun? Zum einen dies, dass es ein Signifikant ist, ein mehrdeutiges Element, dessen Bedeutungen unzugänglich sind (das „auf den Schleier der Maja geschrieben“ ist), etwa eine hysterische Lähmung (ein Signifikant, der „in den Sand des Fleisches geschrieben“ ist).
Das Symptom ist aber nicht nur ein Signifikant. Es ist zugleich ein Sprechen. Es ist ein Sprechen, das sich auf den „Diskurs des anderen“ bezieht und ihn in diesem Sinne in sich enthält. Da die Wendung hier nicht weiter ausgeführt wird, sollte man sich an das Prinzip der Sparsamkeit halten und die zuvor bereits gegebene Erläuterung heranziehen. Gemeint ist demnach: Das Symptom ist ein unbewusstes Sprechen, und zwar kein monologisches Sprechen, sondern ein Sprechen, das sich auf das vernetzte Sprechen anderer Sprecher bezieht. Damit ist das Unbewusste ein vollgültiges Sprechen, denn nur ein Sprechen, das sich auf das Sprechen von anderen bezieht, ist für Lacan ein Sprechen im vollen Wortsinn. Das Unbewusste ist nicht einfach eine Form des Sprechens, sondern eine Form der sprachlich vermittelten Intersubjektivität.
… das Sprechen von Melanie Klein
In Seminar 1 kommentiert Lacan Melanie Kleins Studie Die Bedeutung der Symbolbildung für die Ich-Entwicklung; Klein beschreibt und analysiert hier ihre Arbeit mit dem vierjährigen Dick.
„Womit hat Melanie Klein, was es auch sei, getan, was irgendein Verständnis von ich weiß nicht welchem Vorgang beweist, der, in dem Subjekt, sein Unbewußtes wäre? Sie unterstellt es von Anfang an, aus Gewohnheit. Lesen Sie alle diese Beobachtung noch einmal und Sie werden die sensationelle Darstellung der Formel erkennen, die ich Ihnen immer wieder gebe – das Unbewusste ist der Diskurs des andren.
Das ist ein Fall, in dem das absolut manifest ist. Es gibt keinerlei Art von Unbewußtem in dem Subjekt. Es ist der Diskurs von Melanie Klein, der brutal die ersten Symbolisierungen der ödipalen Situation auf die anfängliche Ich-Trägheit des Kindes aufpfropft.“9
„Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“ meint hier: Das Unbewusste ist das Sprechen von Melanie Klein; das Unbewusste von Dick ist das Sprechen, mit dem Melanie Klein sich an Dick wendet.
Lacan sagt nicht: Melanie Klein schreibt dem kleinen Dick ein Unbewusstes zu, das dieses Kind in Wirklichkeit nicht hat. Eine solche Kritik würde unterstellen, dass das Unbewusste in das einzelne Individuum eingeschlossen ist. Das, was Melanie Klein zu Dick sagt, ist tatsächlich das Unbewusste von Dick, nämlich die erste Etappe in der Herausbildung seines Unbewussten. Irgendwann einmal wird dieses Unbewusste vermutlich „in“ ihm funktionieren, d.h. zur Produktion von Träumen und Symptomen führen, aber zunächst ist es das Sprechen seiner Analytikerin – ein Sprechen, das sich auf das nur rudimentär entwickelte Sprechen des Kindes bezieht.
… ein Diskurs, der sich eines anderen Diskurses bemächtigt
Ebenfalls in Seminar 1 liest man:
„Worum es sich in der Übertragung im Grunde handelt, das ist die Besitzergreifung eines erscheinenden Diskurses durch einen maskierten Diskurs, den Diskurs des Unbewußten. Dieser Diskurs bemächtigt sich der entleerten, disponiblen Elemente, die die Tagesreste* sind und alles dessen, was, in der Ordnung des Vorbewußten, durch eine geringere Besetzung jenes fundamentalen Bedürfnisses des Subjekts, sich Anerkennung zu verschaffen, disponibel gemacht worden sind. In dieser Leere, in dieser Höhlung, mit dem, was derart zum Material wird, drückt sich der geheime, tiefe Diskurs aus. Wir sehen ihn im Traum, aber wir finden ihn auch im Lapsus und in der gesamten Psychopathologie des Alltagslebens wieder.
Von daher hören wir den, der zu uns spricht. Und wir haben uns nur auf unsere Definition des Diskurses des Unbewußten zu beziehen, daß er der Diskurs des anderen ist, um zu verstehen, wie er authentisch die Intersubjektivität in jene volle Realisierung des Sprechens einfügt, die der Dialog ist.
Das fundamentale Phänomen der analytischen Enthüllung ist dieser Bezug eines Diskurses auf einen anderen, der ihn als Stütze nimmt.“10
Bei der Übertragung im Sinne der Psychoanalyse sind zwei Diskurse im Spiel. Der bewusste, erscheinende Diskurs des Patienten und der maskierte Diskurs, der Diskurs des Unbewussten. Der Diskurs des Unbewussten bemächtigt sich des bewussten Diskurses. Die Beziehung zwischen den beiden Diskursen ist eine Form der Intersubjektivität: ein Sprechen, das sich auf ein Sprechen bezieht, also ein Dialog, und damit ein Sprechen im vollen Sinne des Wortes.
An der zuletzt zitierten Stelle verschiebt sich die Bedeutung der Formel. Der unbewusste Diskurs gilt hier insofern als Diskurs des anderen, als er im Verhältnis zum bewussten Diskurs einen zweiten Diskurs darstellt.
Die beiden Bedeutungen der Sentenz lassen sich zwanglos kombinieren. Der unbewusste Diskurs ist der Diskurs des anderen, insofern er im Verhältnis zum bewussten Diskurs ein zweiter, maskierter Diskurs ist. Dieser zweite Diskurs ist der Diskurs der anderen im Sinne des Sprechens der Sprecher eines Kommunikationsnetzes. In der Übertragung bemächtigt sich, maskiert, der Diskurs der Sprecher des Kommunikationsnetzes des manifesten Diskurses.
… das Sprechen des Vaters
In Seminar 2 heißt es:
„Greifen Sie auf das zurück, was wir in den vorangegangenen Jahren über jene erstaunlichen Zusammentreffen gesagt haben, die Freud in der Ordnung dessen feststellt, was er Telepathie nennt. Sehr wichtige Dinge in der Ordnung der Übertragung vollenden sich korrelativ bei zwei Patienten, sei’s, daß er eine in Analyse ist und der andere kaum betroffen, sei’s, daß beide in Analyse sind. Ich habe Ihnen seinerzeit gezeigt, daß, weil sie integrierte Agenten sind, Kettenglieder, Halter, Ringe in ein und demselben Diskurszirkel, es den Subjekten geschieht, daß sie gleichzeitig diesen symptomatischen Akt auftauchen oder jene Erinnerung sich enthüllen sehen.“11
Bestimmte Phänomene der Übertragung im Sinne der Psychoanalyse, bestimmte Symptome beruhen darauf, dass die Beteiligten Agenten in einem Diskurskreislauf sind. Die Phänomene des Unbewussten beruhen auf einem Diskurs, der kein Monolog ist, sondern ein Kreislauf.
Lacan fährt fort:
„An dem Punkt, zu dem wir gelangt sind, schlage ich Ihnen als Perspektive vor, das Wiederholungsbedürfnis, wie es sich konkret beim Subjekt manifestiert, beispielsweise in der Analyse, in Form eines aus der Vergangenheit aufgestiegenen und in der Gegenwart in einer kaum der vitalen Anpassung gemäßen Weise reproduzierten Verhaltens zu begreifen.
Wir finden da das wieder, was ich Ihnen bereits angedeutet habe, nämlich daß das Unbewußte der Diskurs des anderen ist. Dieser Diskurs des anderen ist nicht der Diskurs des abstrakten anderen, des andern in der Dyade, meines Korrespondenten, noch selbst einfach meines Knechts12, es ist der Diskurs des Kreislaufs, in den ich integriert bin. Ich bin eins seiner Kettenglieder. Es ist der Diskurs meines Vaters zum Beispiel, insofern mein Vater Fehler gemacht hat, zu deren Reproduktion ich absolut verdammt bin – das ist das, was man super-ego nennt. Ich bin dazu verdammt, sie zu reproduzieren, weil ich den Diskurs wiederaufnehmen muß, den er mir hinterlassen hat, nicht einfach weil ich sein Sohn bin, sondern weil man die Kette des Diskurses nicht unterbricht und weil ich eben damit betraut bin, ihn in seiner abirrenden Form jemand anders zu übermitteln. Ich habe jemand anders das Problem einer Lebenslage zu stellen, in der er alle Chancen hat, ebenfalls zu straucheln, derart, daß dieser Diskurs einen kleinen Kreislauf bildet, in den sich eine ganze Familie einbezogen sieht, eine ganze Sippe, ein ganzes Lager, eine ganze Nation oder der halbe Globus. Zirkuläre Form eines Sprechens, das gerade an der Grenze des Sinns und des Nicht-Sinns ist, das problematisch ist.“13
Das Unbewusste ist ein Sprechen, dessen Sinn ich nicht verstehe. Es artikuliert sich in meinen Wiederholungszwängen: in Symptomen, in der Übertragung. Wer ist es, der hier spricht?
Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen, aber nicht desjenigen anderen, zu dem ich in einer imaginären Beziehung stehe, nicht der Diskurs desjenigen, auf den ich mein Körperbild projiziere, so dass er zu meinem Ebenbild wird: zu meinem Rivalen, meinem Ideal, meinem Knecht.
Das Unbewusste ist das Sprechen meines Vaters, meiner Urgroßmutter, meiner Schwestern, und in diesem Sinne der Diskurs des anderen. Es ist ein Sprechen, dass in meiner Familie zirkuliert und darüber hinaus in den größeren sozialen Systemen, in die sie eingebettet war und ist. Dieses Sprechen kommt tief aus der Vergangenheit, es umfasst das Sprechen derjenigen, die bereits tot sind.
Lacan nennt das Sprechen all dieser anderen auch den „universalen Diskurs“.14
Dabei geht es nicht um deren Sprechen schlechthin, sondern um dasjenige Sprechen, durch das sie die symbolische Ordnung auf das Subjekt beziehen: um das Geltendmachen von Verboten, um das Erteilen eines Mandats, etwa: „Du bist meine Frau“. Lacan berichtet von einem Patienten mit einem Schreibkrampf, dessen Vater beschuldigt wurde, ein Dieb zu sein und dessen Unbewusstes ein islamisches Gesetz verkündete, nämlich: Dem Dieb muss die Hand abgeschlagen werden.15
Das Unbewusste als Diskurs des anderen ist jedoch nicht einfach das Sprechen, mit dem das Gesetz zur Geltung gebracht wird. Über den Sohn des Diebes sagt Lacan: „Seine ganze Beziehung zu seinem ursprünglichen Milieu, zu der Säule, zu den Stützen, zur Ordnung, zu den grundlegenden Koordinaten der Welt war versperrt, weil es etwas gab, das er sich weigerte zu verstehen – warum jemandem, der ein Dieb ist, die Hand abgeschlagen werden mußte.“16 Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen als ein Sprechen, in dem das Gesetz artikuliert wird, sofern dieses Sprechen nicht verstanden wird, was zur Folge hat, dass es verdrängt und im Symptom artikuliert wird.
Mikkel Borch-Jacobsen bringt es auf den Punkt: „Nach Lacans eigener Definition hingegen [im Gegensatz zu der von Lévi-Strauss] bezeichnet das Unbewusste eben diesen ‚Diskurs des Anderen‘, aber insofern er überdies verkannt ist.“17
Ähnlich klar formuliert es Sean Homer: „Das Unbewusste ist ein Prozess der Bedeutungsgebung, der außerhalb unserer Kontrolle liegt; es ist die Sprache, die durch uns spricht, statt der Sprache, die wir sprechen. In diesem Sinne definiert Lacan das Unbewusste als den Diskurs des Anderen. Der große Andere ist Sprache, die“symbolische Ordnung; dieser Andere kann dem Subjekt niemals voll assimiliert werden; es ist eine radikale Andersheit, die gleichwohl den Kern unseres Unbewussten bildet.“18 Das Unbewusste ist der Teil der symbolischen Ordnung, den ich nicht assimilieren kann.
Das Sprechen des anderen, das mich mit der symbolischen Ordnung verbindet, das ich aber nicht verstehe, das ich verdränge, determiniert mich, es reproduziert sich in mir in Gestalt von Träumen, Fehlleistungen, Symptomen; keine Verdrängung ohne Wiederholung, ohne Wiederkehr des Verdrängten. Beim Sohn des Diebes kehrt das verdrängte Gesetz als Schreibkrampf wieder; mit diesem Symptom wurde das Gesetz in den „Sand des Fleisches geschrieben“; weil er sich weigerte, das Gesetz zu verstehen, war ihm gewissermaßen die Hand abgeschlagen worden.15 Und es kehrt nicht nur einmal wieder, die Wiederkehr wiederholt sich. Der Diskurs des anderen wird vom Subjekt aufgenommen und weitergegeben in Gestalt des Wiederholungszwangs.
Das Unbewusste als Sprechen des anderen ist ein Sprechen, das ich, obwohl ich es nicht wollte, an meine Tochter weitergegeben habe. Ich bin Teil des Kreislaufs, eine vermittelnde Schaltstelle.
Das Unbewusste als Diskurs des anderen determiniert mich, aber ich gehe nicht darin auf. Das Unbewusste als Diskurs des anderen ist für mich rätselhaft, es liegt für mich an der Grenze zwischen Sinn und Nichtsinn. Das Symbolische eröffnet mir einen Raum für den Abstand zum Diskurs des anderen: die Frage. „Was mich als Subjekt konstituiert, ist meine Frage“19.
… das Über-Ich
Lacan stellt bei der zuletzt zitierten Verwendung der Formel ausdrücklich die Verbindung zu Freud her. Die Formel „Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“ ist Lacans theoretische Rekonstruktion von Freuds Begriff des Über-Ichs, des super-ego, wie es im Englischen heißt.
Für Freud besteht das Über-Ich aus Geboten und Verboten, also aus einem Sprechen, einem Diskurs. Das Über-Ich kritisiert, Freud zufolge, das Ich, es hat also einen Adressaten, es ist nicht nur ein Vorsichhinsprechen, sondern ein Sprechen, das sich an einen Adressaten wendet und damit Kommunikation. Das Über-Ich besteht für Freud nicht nur aus den Verboten der Eltern, sondern aus Verboten, die über die Generationen hinweg überliefert werden20; auch für Freud ist das Über-Ich das Sprechen eines Netzes von Sprechern.
Freud setzt das Über-Ich mit den Elternimagines gleich; das bildhafte Element wird von Lacan abgespalten, sein Begriff des Über-Ichs ist enger als der von Freud.
… ein zirkulärer Austausch des Sprechens
Die nächste Passage aus Seminar 2 bezieht sich anspielungshaft auf die Formel.
„Ich habe Ihnen das letzte Mal gesagt, daß für sämtliche grundlegendsten Manifestationen des analytischen Feldes ein Symbolismus wesentlich ist, und zwar insbesondere für die Wiederholung, und daß wir sie begreifen müssen als gebunden an einen zirkulären Prozeß des Austauschs des Sprechens. Es existiert ein symbolischer Kreislauf, der dem Subjekt äußerlich und an eine bestimmte Gruppe von Trägern, von menschlichen Agenten gebunden ist, in den das Subjekt, der kleine Kreis, den man sein Schicksal nennt, endlos eingeschlossen ist.
Ich rede bildhaft, ich verbiege mein Denken Sie spüren wohl, daß es so durchaus nicht zu verstehen ist.“21
Die grundlegende Manifestation des psychoanalytischen Feldes ist für Lacan der Wiederholungszwang. Die Wiederholung hat die Form des Symptoms, in der psychoanalytischen Kur erscheint sie als Übertragung. Für diese Manifestationen des analytischen Feldes, also für das Unbewusste, ist ein Symbolismus wesentlich: ein symbolischer Kreislauf, ein Kreislauf von Symbolen. Dieser Symbolkreislauf vollzieht sich in einer Gruppe von menschlichen Agenten und ist dem Subjekt äußerlich. Der symbolische Kreislauf, in den die Manifestationen des Unbewussten einbezogen sind, ist der Kreislauf des anderen.
Lacan fährt fort:
„Ein bestimmter Austausch von Beziehungen nimmt seinen Fortgang, zugleich äußerlich und innerlich, den man sich vorstellen muß wie einen Diskurs, den man rezitiert. Mit einem Registriergerät könnte man ihn isolieren, ihn aufnehmen. Zu einem beträchtlichen Teil entgeht er dem Subjekt, das nicht über die fraglichen Registriergeräte verfügt, und setzt sich fort, kehrt zurück, immer bereit, in den Tanz des inneren Diskurses einzutreten.“22
Der symbolische Kreislauf des anderen ist ein Diskurs – der Diskurs des anderen. Dieser Diskurs wird von den Agenten dieses Kreislaufs gewissermaßen rezitiert; ähnlich wie ein Witz wandert der Diskurs von Sprecher zu Sprecher.
Der Diskurs lässt sich aufzeichnen, allerdings nur mit speziellen Aufzeichnungsgeräten, die den meisten fehlen: denen der Psychoanalyse.
Der Diskurs hat die Form eines Kreislaufs, in den das Subjekt einbezogen ist: es empfängt ihn und es gibt ihn weiter. Der Diskurs ist zugleich äußerlich und innerlich, er besteht sowohl in einem Austausch zwischen Sprechern als auch in einem inneren Sprechen, er ist auch, wie man sagt, etwas „Psychisches“.
Wer ist der Andere?
Der symbolische andere bzw. der „Andere“, wie ich in diesem Abschnitt schreiben werde, ist nicht einfach die symbolische Ordnung. Der Andere ist die symbolische Ordnung in einer bestimmten Funktion: als Sender, der den Subjekten gegenüber das Gesetz verkündet. Die Beziehung wird durch den Diskurs hergestellt. Diese Merkmale sind für den Anderen konstitutiv; ein Anderer, der sich nicht in einem Diskurs an das Subjekt wendet, ist kein Anderer. Der Andere ist das Bezogensein der symbolischen Ordnung auf das Subjekt, wobei der Bezug durch den Diskurs hergestellt wird.
Diese Funktion kann von konkreten Individuen realisiert werden; ein solcher Mensch wird dann von Lacan als „Anderer“ bezeichnet, wobei der Ausdruck sich nicht auf den Menschen in seiner Fülle bezieht, sondern nur auf einen Aspekt: darauf, dass er die Funktion wahrnimmt, die symbolische Ordnung zur Geltung zu bringen. Ein und dasselbe Individuum kann im Verhältnis zu einem bestimmten Subjekt sowohl als imaginärer anderer als auch als symbolischer Anderer fungieren, sogar gleichzeitig.
Der Diskurs des Anderen kann aus tatsächlich gesprochenen Sätzen bestehen, es ist aber auch möglich, dass dem Anderen dieser Diskurs vom Subjekt nur zugeschrieben wird. Die Wirksamkeit bloßer Attribuierungen gehört zu Freuds frühen Entdeckungen; sie wird von ihm als „psychische Realität“ bezeichnet23, eine Art Vorwegnahme des Thomas-Theorems.
Auch diese Präzisierung genügt nicht, sie ist noch zu funktionalistisch. In psychoanalytischer Perspektive ist der Andere die symbolische Ordnung als Sender nur insofern, als es in der Beziehung zwischen dem Anderen und dem Subjekt eine Störung gibt. Der Andere ist diejenige Instanz, die dem Subjekt gegenüber die symbolische Ordnung zur Geltung bringt, aber nur insofern, als sein Diskurs für das Subjekt keinen Sinn ergibt. Darin besteht die radikale Alterität des Anderen: dass der einzige Zugang des Subjekts zum Diskurs des Anderen die Wiederholung ist.
Dies ist die anfängliche Konzeption des symbolischen anderen bzw. des Anderen. Im Jahr 1955 kommt ein zweiter Begriff des Anderen hinzu: der Andere nicht als Sender, sondern als Empfänger, genannt „der Andere als Ort des Sprechens“.
Zur Sekundärliteratur
Peter Widmer fragt sich, warum in Seminar 1 die Formel so geschrieben wird: „Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“, warum hier also „anderer“ mit kleinem a beginnt. Er deutet diese Schreibweise so, dass sie sich auf den imaginären anderen bezieht oder auf eine Mischung des imaginären anderen mit dem symbolischen Anderen, und er erklärt dies damit, dass der Andere imaginiert wird, weshalb sich die imaginäre und die symbolische Dimension überschneiden.24
Widmer übersieht, dass Lacan die Schreibung des symbolischen Anderen mit großem A erst am Ende von Seminar 2 einführt. Wenn Lacan davor schreibt, „Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“, bezieht sich das immer und ausschließlich auf den symbolischen anderen, also auf denjenigen anderen, der später mit großem A geschrieben wird.
Zusammenfassung
Was also meint die Sentenz „Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“ im Zeitraum von 1953 bis 1955 ?
– Das Unbewusste besteht nicht nur aus Signifikanten. Es ist auch ein Sprechen, ein Reden, ein Diskurs, ein Kommunizieren. Es besteht aus der Artikulation von Verboten und Aufträgen.
– Der Sender dieser Botschaften ist nicht das Subjekt, sondern der andere.
– Der andere, der diese Botschaften sendet, ist nicht der imaginäre andere, sondern der andere in einer symbolischen Funktion, der andere, insofern er einem Subjekt gegenüber die symbolische Ordnung zur Geltung bringt: ein Verbot verhängt oder ein Mandat verleiht. (Der andere in dieser Funktion wird später „der Andere“ geschrieben.)
– Der symbolische andere als Sender dieser Botschaften an das Subjekt ist nicht ein einzelner anderer, sondern ein Netz von Kommunikationsteilnehmern; der Diskurs des anderen ist eine Form sprachlicher Intersubjektivität und damit ein Sprechen im vollgültigen Sinne.
– Die Sender dieses Sprechens sind nicht nur bestimmte Individuen (etwa meine Eltern) in einer symbolischen Funktion, sondern auch anonyme soziale Rollen, etwa die Gestalt des Gesetzgebers als Rechtsfiktion.
– Das Unbewusste als Diskurs des anderen besteht nicht aus all den Sätzen, mit denen das Subjekt der symbolischen Ordnung unterworfen werden soll, sondern nur aus solchen, die von ihm nicht verstanden werden.
– Das Subjekt ist gezwungen, den unverstandenen Teil des Diskurses des anderen hartnäckig zu wiederholen (Wiederkehr des Verdrängten): in Symptomen, in der Übertragung – im Diskurs des Unbewussten.
„Das Unbewusste ist der Diskurs des anderen“ meint in dem hier betrachteten Zeitraum: Das Unbewusste ist das, was sich in der Wiederholung artikuliert, im Symptom und in der Übertragung. Das Unbewusste ist ein Diskurs, d.h. die Bildungen des Unbewussten haben die Form eines Diskurses, einer Rede, eines Sprechens; es gibt hier einen Sender, einen Empfänger und eine Botschaft. In diesem Diskurs wiederholt sich der Diskurs des anderen, das tatsächliche und das zugeschriebene Sprechen von vernetzten Individuen sowie das Sprechen, das anonymen Rollen attribuiert wird – sofern diese Individuen und Rollen als Repräsentanten der symbolischen Ordnung operierten. Das Sprechen der anderen schaltet sich zwischen die symbolische Ordnung und das Subjekt, es besteht aus den von der symbolischen Ordnung ausgehenden, auf das Subjekt zielenden Verboten und Aufträgen.
Im Diskurs des Unbewussten wiederholen sich allerdings nur solche Gesetze und Mandate des anderen, die für das Subjekt sinnlos sind, Signifikanten ohne Signifikat, die es deshalb nicht akzeptiert und die es aus eben diesem Grunde in Form des Symptoms zu wiederholen gezwungen ist.
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- Signifikant eines Mangels im Anderen, S(Ⱥ) – Das Fehlen eines Signifikanten, der die Wahrheit garantiert
Anmerkungen
- das Unbewusste [↩]
- Malcolm Bowie: Lacan. Übersetzt von Klaus Laermann. Steidl, Göttingen 1997, S. 81; zuerst London 1991.
- Vgl. Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 310-312.
- Zuerst 1957 in La psychanalyse et son enseignement, in: Écrits 1966, S. 439.
- Schriften I, S. 104 f.; Hervorhebungen in fett hier und im Folgenden von mir.
- Vgl. S. Freud: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), 30. Vorlesung, „Traum und Okkultismus“.
- Vgl. die Erläuterung des Begriffs der Kommunikation durch den der Botschaft in Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 117 f.
- Später wird Lacan die Bindung des Begriffs des Signifikanten an den der Kommunikation kritisieren: das, was kommuniziert wird, sind nicht Signifikanten, sondern Zeichen (Seminar 21, Sitzung vom 21. Mai 1974); zu diesem Zeitpunkt jedoch stützt er sich auf das Konzept der Kommunikation.
- Schriften I, S. 122, Übersetzung geändert.
- Seminar 1, Version Miller/Hamacher, S. 113.
- Seminar 1, Version Miller/Hamacher, S. 309.
- Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 118.
- Im Original: esclave, Sklave. Das Hegelsche Begriffspaar „Herr und Knecht“ wird durchweg mit maître et esclave übersetzt.
- Seminar 2, Miller/Metzger, S. 118 f., Übersetzung geändert
- Vgl. Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 358-360, 389, 410.
- Vgl. Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 168.
- Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 168.
- Mikkel Borch-Jacobsen: Lacan. Le maître absolut. Flammarion, Paris 1990, S. 183, meine Übersetzung.
Den Folgesatz würde ich nicht unterschreiben: „Es ((das Unbewusste)) ist, noch genauer, derjenige Teil des Diskurses des Anderen, in dem ich mich nicht anerkennen (lassen) kann, weil er sich ins Symbolische nicht integriert oder nur schlecht integriert“ (a.a.O., Einfügung in runden Klammern im Original). Die Formulierung unterstellt einen Gegensatz zwischen dem Diskurs des Anderen und dem Symbolischen: das Unbewusste ist der Teil des Diskurses des Anderen, der sich nicht ins Symbolische integriert und in dem ich deshalb nicht anerkannt werde. Ich nehme an, dass Lacan das anders sieht: Der grundlegende Konflikt ist für Lacan der zwischen dem Anderen (mit der symbolischen Ordnung im Hintergrund) und dem Subjekt. Das Unbewusste ist ein Teil des Diskurses des Anderen, damit des Symbolischen, nämlich derjenige Teil, den das Subjekt nicht anerkennt. - Sean Homer: Lacan. Routledge, London 2005, S. 44, meine Übersetzung.
- Funktion und Feld, Schriften I, S. 143.
- Vgl. Freud: „So wird das Über-Ich des Kindes eigentlich nicht nach dem Vorbild der Eltern, sondern des elterlichen Über-Ichs aufgebaut; es erfüllt sich mit dem gleichen Inhalt, es wird zum Träger der Tradition, all der zeitbeständigen Wertungen, die sich auf diesem Wege über Generationen fortgepflanzt haben.“ (S. Freud Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 1. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 505)
- Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 129 f.
- Seminar 2, Version Miller/Metzger, S. 130.
- Vgl. etwa S. Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1915-17). In: Ders.: Studienausgabe, Bd. 1. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 359.
- Vgl. Peter Widmer: Subversion des Begehrens. Eine Einführung in Jacques Lacans Werk. Turia + Kant, Wien 2012, S. 65 f.