Millers Kreuzhauben-Supplement
Aufstockung einer Halbsphäre durch eine Kreuzhaube, im Aufbau begriffen – von hier
Jacques-Alain Miller hat in seine Ausgabe von Lacans Seminar über die Angst einen Text über die Kreuzhaube eingefügt.1 Dieser Zusatz ist mir ein Rätsel; im Folgenden versuche ich, es einzukreisen.
Eine Erläuterung der Kreuzhaube findet man auf dieser Internetseite in dem Artikel Die Kreuzhaube und die Struktur des Phantasmas.
Millers Einschub
In Lacans Angst-Seminar findet man auf Seite 115 der offiziellen französischen Ausgabe einen Einschub (siehe rechts). Er trägt einen Titel, „Le cross-cap et ses transformations“ (Die Kreuzhaube und ihre Verwandlungen), füllt die ganze Seite aus und steht in einem Kasten (in der deutschen Übersetzung, Seite 126, füllt er nur einen Teil der Seite aus, der Kasten wurde weggelassen). Der Text ist so gestaltet, dass man auf einen Blick erfasst, dass einem hier nicht eine Transkription des gesprochenen Vortrags gezeigt wird, vor allem durch den Titel, den Kasten, die Tabellenform und die Durchnummerierung der Abbildungsbezeichnungen. Sicherlich handelt es sich nicht um einen Tafelanschrieb, dafür ist der Text zu ausführlich. Die Ergänzung steht an einer Stelle der Transkription, an der Lacan über die Kreuzhaube spricht. Im transkribierten gesprochenen Text gibt es keinen Hinweis auf dieses Supplement.
Miller ist der Herausgeber dieser Seminarausgabe, von daher ist klar, dass er es ist, der die Einbettung in der Raum der Transkription vorgenommen hat (um mich der Sprache der Topologen zu bedienen); er ist der Redakteur dieser Passage. Aber wer ist ihr Verfasser? (Mit einer Metapher von Freud könnte man sagen: Miller ist der Kapitalist, aber wer ist der Unternehmer?) Miller nennt keinen Autor, das erweckt den Eindruck, der Verfasser sei Lacan. Man findet diese Erweiterung jedoch in keiner anderen Transkription des Seminars.2 Wer also hat den Text geschrieben und die Bilder gezeichnet? Lacan? Miller, der hier sein Recht auf Mitautorschaft geltend macht? Ein Dritter, dessen Text Miller durch den Akt des Einfügens unterzeichnet?
Millers Supplement enthält vier Zeichnungen mit einem durchnummerierten Abbildungstitel und je einem erläuternden Satz. Die Abbildungsbezeichnungen sind „Figur 1“, „Figur 2“ usw.
Figur 1:
Hierzu liest man:
„Diese geschlossene Fläche, die eine Linie der Selbstdurchdringung enthält, wird topologisch als äquivalent mit der projektiven Ebene betrachtet.“3
Die Zeichnung zeigt eine Fläche, die meist als „Sphäre, der eine Kreuzhaube aufgesetzt ist“ bezeichnet wird.
Die Autoren dieser Zeichnung lassen sich zweifelsfrei feststellen. Sie heißen K.H. Naumann und H. Bödeker. Angefertigt wurde das Diagramm von ihnen in Zusammenarbeit mit den Mathematikern David Hilbert und Stephen Cohn-Vossen. Miller hat die Abbildung einem berühmten Werk der Mathematik entnommen: David Hilbert und Stephen Cohn-Vossen, Anschauliche Geometrie, 1932 im Verlag Julius Springer in Berlin erschienen (im Internet findet man dieses Buch hier). Hilbert gilt als einer der bedeutendsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts, die Anschauliche Geometrie ist gewissermaßen eine moderne Version von Euklids Elementen. Eine Besonderheit des Buchs besteht darin, dass es ohne Formeln auskommt – man kann es lesen, ohne Mathematik studiert zu haben. Die geometrischen Strichzeichnungen darin, von den bereits erwähnten K.H. Naumann und H. Bödeker, sind von beeindruckender Qualität.
Figur 1 von Millers Einschub ist also der Anschaulichen Geometrie entnommen, man findet sie dort auf Seite 277 als Abbildung 305. Die Zeichnung im Angst-Seminar ist eine schlichte Kopie. Wahrscheinlich ist dieses Diagramm oft reproduziert worden; Figur 1 könnte auch die Kopie einer Kopie sein.
Die Quelle der Zeichnung wird in Millers Einschub nicht genannt.
Bei Hilbert/Cohn-Vossen liest man zu dieser Abbildung:
„Schließlich erhalten wir eine geschlossene Fläche mit einer Strecke als Durchdringungslinie (Abb. 305). Sie ist topologisch der projektiven Ebene äquivalent.“4
Die Ähnlichkeit mit dem Text von Millers Ergänzung ist offensichtlich. Der von Miller eingefügte Satz ist eine textnahe Paraphrase dieser beiden Sätze von Hilbert/Cohn-Vossen oder eine Paraphrase einer Paraphrase. Wir wissen damit zwar nicht, wer die beiden Sätze des Supplements geschrieben hat, klar ist jedoch, dass ihr Autor sich über die Anschauliche Geometrie von Hilbert und Cohn-Vossen gebeugt hat oder über eine Zusammenfassung ihres Werks.
Der unbekannte Autor von Millers Addendum macht nicht nur nicht kenntlich, dass er eine Zeichnung aus dem Buch von Hilbert und Cohn-Vossen übernimmt, sondern auch nicht, dass er, auf direktem oder indirektem Wege, den Satz paraphrasiert, den sie in ihrem Buch hierzu formulieren.
Figur 2:Zu dieser Abbildung liest man in Millers Einschub:
„Die Fläche, die man erhält, wenn man bei der vorhergehenden Fläche den Boden entfernt, ist die cross-cap.“3
Auch dieses Diagramm hat der Autor des Supplements aus der Arbeit von Hilbert/Cohn-Vossen kopiert (Abbildung 310 von Seite 279).
Bei Hilbert/Cohn-Vossen heißt es hierzu:
„Eine besonders übersichtliche Gestalt erhält nun das übrigbleibende Flächenstück, wenn wir in Abbildung 305 den unteren Teil entfernen. So entsteht die in Abbildung 310 gezeichnete Fläche, die als Kreuzhaube bezeichnet wird.“5
Auch in diesem Fall ist die Erläuterung in Millers Einschub eine leicht verändernde Paraphrase eines Satzes von Hilbert/Cohn-Vossen. Nicht nur Abbildung 1 und der dazugehörige Text, sondern auch Abbildung 2 und der dazugehörige Text gehen auf die Anschauliche Geometrie zurück.
Auch hier: kein Hinweis auf die Quelle.
Figur 3:
Dieses Diagramm wird in Millers Einfügung so erläutert:
„Wenn man die cross-cap entlang ihrer Durchdringungslinie aufschneidet, erhält man eine Fläche, der man die Form einer Kreisscheibe geben kann, die in der Mitte ein kreisförmiges Loch hat, dessen Diametralpunkte identifiziert werden.“3
Das Schema zeigt demnach eine Lochscheibe.
Der Schnitt, durch den diese Lochscheibe erzeugt wird, ist ein Schnitt in eine berandete Kreuzhaube (Figur 2), und zwar entlang der Durchdringungslinie.
Ein solcher Schnitt wird von Lacan nirgendwo beschrieben. Die Schnitte, mit denen er sich befasst, sind Schnitte in Sphären, denen eine Kreuzhaube aufgesetzt ist (Figur 1), nicht Schnitte in Kreuzhauben im engeren Sinne, nicht Schnitte in berandete Kreuzhauben (Figur 2). Lacan beschreibt auch nirgendwo einen Schnitt entlang der Durchdringungslinie. Er spricht über Schnitte außerhalb der Durchdringungslinie und über Schnitte, welche die Durchdringungslinie umrunden, einmal oder zweimal, nicht jedoch über Schnitte entlang der Durchdringungslinie.
Dieser Passus über einen speziellen Schnitt auf der Kreuzhaube bezieht sich also nicht auf Lacans Adaption der Topologie. Warum wird dieser Schnitt hier aufgeführt?
Auch für diese Abbildung gilt, dass sie dem Buch von Hilbert und Cohn-Vossen entnommen ist (Figur 311 auf Seite 280).
Bei Hilbert und Cohn-Vossen liest man hierzu:
„Wenn man die Kreuzhaube längs der Durchdringungsstrecke aufschneidet, erhält man nach geeigneter Verzerrung eine Kreisscheibe mit kreisförmigem oder viereckigem Loch; denn wir haben dann einfach das durch Abb. 303 bis 305 veranschaulichte Verfahren rückgängig gemacht. Demnach erhalten wir ein Modell des Möbiusschen Bandes, wenn wir vom Gebiet zwischen zwei konzentrischen Kreisen ausgehen und im inneren Kreis alle Paare von Diametralpunkten identifizieren (Abb. 311).“6
Der Schnitt in eine berandete Kreuzhaube entlang der Durchdringungslinie wird in Millers Einschub offenbar deshalb zum Thema, weil Hilbert und Cohn-Vossen sich darauf beziehen.
Neu ist, dass die Paraphrase diesmal den Sinn deutlich verkürzt, man erfährt nicht, warum die Diametralpunkte identifiziert werden sollen. Verständlicher wäre der Passus, wenn nach „dessen Diametralpunkte identifiziert werden“ das Ziel dieser Operation angegeben würde, etwa: „auf diese Weise erhält man ein Möbiusband“. Der Bezug auf das Möbiusband wird gestrichen – warum?
Zum dritten Mal also ist die Quelle von Bild und Text die Anschauliche Geometrie. Auch in diesem Falle gibt der Einschub keinen Hinweis auf den Bezugstext.
Erhält man die Lochscheibe auch durch den von Lacan beschriebenen Schnitt, also durch den Innenacht-Schnitt in eine randlose Kreuzhaube (Figur 1)? Das ist mir nicht klar; vgl. auf dieser Internetseite den Artikel Das Loch in der Kreuzhaube.
Figur 4:Diese Zeichnung wird in Millers Zusatz so erläutert:
„Diese restliche Fläche kann in Form der sogenannten Innennacht materialisiert werden.“3
Bei Hilbert und Cohn-Vossen gibt es weder eine vergleichbare Abbildung noch eine ähnliche Bemerkung. Der Autor des Einschubs macht hier einen Sprung, er ist jetzt nicht mehr bei Hilbert & Cohn-Vossen, sondern bei Lacan.
„Diese restliche Fläche“, demnach zeigen Figur 3 und Figur 4 dieselbe Fläche, nur (wie in der Topologie zu erwarten ist) kontinuierlich verformt.
Die Restfläche kann in Form einer Innenacht „materialisiert“ werden. Was könnte mit „materialisieren“ gemeint sein? Im Seminar Die Identifizierung verwendet Lacan „materialisieren“ einmal synonym mit „visualieren“.7 Also geht es wohl um die Behauptung, dass sich die Lochscheibe auch auch in Gestalt einer Innenacht visuell darstellen lässt.
Allerdings zeigt Figur 4 nicht eine Innenacht, sondern eine Scheibe, deren Umriss die Form einer Innenacht hat (eine Innenacht ist eine Linie, die dargestellte Scheibe ist eine Fläche, wie man an der gestrichelten Linie sieht, einer Linie, die hinter der Fläche liegt).
Lacan stellt diese Scheibe mit dem Umriss einer Innenacht und dem Rest der Durchdringungslinie oft dar. Lässt sich Figur 3 in Figur 4 verwandeln? Nur dann, wenn Figur 4 ein Loch hat. Hat sie das? Das ist mir nicht klar.
Wir sind hier also auf lacanschem Boden. Allerdings ist Lacans Ausgangspunkt für die Bildung dieser Teilfläche eine andere Kreuzhaube als in Figur 2, nämlich eine geschlossene Kreuzhaube (Figur 1), und er tranchiert sie mit einen anderen Schnitt, nicht entlang der Durchdringungslinie, sondern doppelt um sie herumführend.
*
Die in Millers Supplement vorgenommene Montage wirft also zwei Rätsel auf:
– Warum wird die zweiseitige Fläche hier auf andere Weise erzeugt als bei Lacan? An einer anderen Kreuzhaube und mit einem anderen Schnitt?
– Warum wird die andere Restfläche nicht erwähnt, das Möbiusband?
Was hat den Autor des Supplements zu seiner Montage bewegt? Der Wunsch, Lacan möge der Hilbert der Psychoanalyse sein?
Lacan im Kontext
Die Positionierung des Supplements mitten in der Seminarsitzung legt die Vermutung nahe, dass der Schnitt, der im Einschub beschrieben wird, ein von Lacan an dieser Stelle behandelter Schnitt in die Kreuzhaube ist. Wie also spricht Lacan in dieser Sitzung auf die Kreuzhaube und den Schnitt?
Im größeren Kontext geht es Lacan um die Erweiterung des sogenannten optischen Modells, und in diesem Zusammenhang sagt er:
„Ich habe Ihnen gesagt, dass ich Sie deshalb so lange über dem cross-cap gelassen habe, um Ihnen die Möglichkeit zu geben, intuitiv die Unterscheidung des Objekts a und des von der Spiegelbeziehung konstruierten Objekts, des allgemeinen Objekts zu begreifen.“8
Die Kreuzhaube liefert einen Zugang zum Objekt a, dazu, es vom imaginären Objekt zu unterscheiden. Unter dem Objekt a versteht Lacan in diesem Seminar erstmals nicht das Objekt des Begehrens, sondern die in diesem Objekt versteckte Ursache des Begehrens, das phantasmatische Restobjekt der Liste Brust, Kot, Blick, Stimme (wobei die Serie in diesem Seminar noch aus einem weiteren Element besteht, dem Phallus).
Es folgen Bemerkungen über die Rechts-links-Vertauschung im Spiegelbild sowie über das Möbiusband. Danach heißt es:
„Zum anderen habe ich Ihnen gesagt, wenn Sie in der Kreuzhaube einen Teil davon durch eine Sektion, einen Schnitt isolieren und keine andere Bedingung gilt, als dass der Schnitt – nach Einschluss der gelochten Stelle der Fläche – wieder an sich selbst anschließt, ein Möbiusband übrig bleibt.“9
In der Kreuzhaube soll ein Schnitt angebracht werden, der drei Bedingungen erfüllt: Der Schnitt soll einen Teil der Kreuzhaube isolieren, sie also nicht nur aufschneiden, sondern zweiteilen. Er soll um den zentralen Punkt herumführen, den Lacan hier (wie schon im Identifizierungsseminar) als Loch beschreibt (vgl. hierzu den Artikel Das Loch in der Kreuzhaube). Und schließlich soll er geschlossen sein. Nachdem dieser Schnitt angebracht worden ist, bleibt ein Möbiusband übrig. Da durch diesen Schnitt ein Teil der Kreuzhaube „isoliert“ wird, ist klar, dass es im Ergebnis noch eine weitere Teilfläche geben muss.
Was ist hier mit Kreuzhaube gemeint, die Sphäre, der eine Kreuzhaube aufgesetzt ist, also die randlose Kreuzhaube (in Millers Supplement Figur 1), oder die Kreuzhaube mit Rand (Figur 2)?
Soll der Schnitt einmal oder zweimal um das zentrale Loch herumführen?
Auf jeden Fall handelt es sich um einen geschlossenen Schnitt, der zu einer Zweiteilung führt, nicht wie bei Hilbert und Cohn-Vossen um einen offenen Schnitt, der eine Öffnung erzeugt.
Lacan fährt fort:
„Diesen Restteil, hier haben Sie ihn. Ich habe ihn für Sie konstruiert. Ich lasse ihn herumgehen. Er hat seinen kleinen Nutzen, denn dies ist, lassen Sie mich dies Ihnen sagen, a. Ich gebe es Ihnen wie eine Hostie, denn Sie werden sich seiner im Weiteren bedienen. Das klein a, das wird so hergestellt.“10
An dieser Stelle gibt es ein Transkriptionsproblem. Miller schreibt: „Cette partie résiduelle …“, und das cette, „dieses“, legt nahe, dass mit dem Restteil das vorher genannte Möbiusband gemeint ist (es könnte allerdings auch ein anderes Objekt sein, sofern der Sprecher darauf zeigt). Das Demonstrativpronomen cette ist jedoch eine Zutat von Miller. Alle anderen Transkriptionen haben hier nicht cette partie résiduelle, la voici, sondern la partie résiduelle la voici11, also: „Hier ist der restliche Teil.“ Gemeint ist: das, was außer dem Möbiusband übrig bleibt.
Lacan sagt hier: Durch den geschlossenen Schnitt um das zentrale Loch herum wird die Kreuzhaube zerlegt in ein Möbiusband und einen Rest; der Rest entspricht dem Objekt a.
Von diesem Resultat her ist klar, um welche Art von Schnitt sich handelt. Der Schnitt zerlegt die Kreuzhaube in ein Möbiusband und in eine Fläche, die für das Objekt a steht, und diese Schnitt ist bei Lacan immer, ab dem vorangegangenen Seminar 9 über die Identifizierung, ein Schnitt in eine Sphäre, der eine Kreuzhaube aufgesetzt ist (Figur 1 von Millers Supplement), und er hat immer die Form einer „Innenacht“, d.h. er führt zweimal um das zentrale Loch herum.
Der Rest entspricht dem Objekt a und damit Figur Nr. 4 von Millers Einfügung – genau mit diesem Diagramm stellt Lacan regelmäßig das Objekt a als Resultat des Innenachtschnitts in eine randlose Kreuzhaube dar.
An der zitierten Stelle erfahren wir, dass Lacan die entsprechende Fläche gebastelt hat – sicherlich ein sich selbst überlappendes Stück Karton mit dem Umriss einer Innenacht – und dass er sie herumgehen lässt. Der dramatische Vergleich mit der Hostie lässt aufhorchen, er soll offenbar andeuten, dass die Hostie im katholischen Ritual als orales Objekt a funktioniert; das erinnert an Batailles These über die Beziehung zwischen dem Sakralen und dem Rest. Vielleicht ist auch der profanierende Kontrast der Hostie mit dem Konstruieren und Herstellen eines Kartonstücks mehr als ein ungeplanter Nebeneffekt der Veranschaulichung.
Direkt danach heißt es:
„Das wird so hergestellt, wenn der Schnitt erfolgt ist, welcher es auch sein mag, sei es der des Bandes [cordon], der der Beschneidung und einige andere noch, die wir zu bezeichnen haben werden. Nach dem Schnitt bleibt etwas dem Möbiusband Vergleichbares übrig, das kein Spiegelbild hat.“12
Mit cordon ist hier sicherlich nicht das „Band“ gemeint, sondern die „Schnur“ – die Nabelschnur (cordon ombilical), einige Sitzungen später wird Lacan sich explizit auf das Zerschneiden der Nabenschnur beziehen.13
An der zitierten Stelle wechselt er vom Schnitt in die Kreuzhaube zum Schnitt in den menschlichen Körper; die Schnitte in den Körper können verschiedene Formen annehmen, etwa die des Zerschneidens der Nabelschnur oder die der Beschneidung.
Durch den Schnitt, in welcher konkreten Form auch immer, wird etwas hergestellt, das (a) kein Spiegelbild hat und das (b) dem Möbiusband vergleichbar ist.
Damit sind wir wieder beim Schnitt in die Kreuzhaube.
Dass etwas kein Spiegelbild hat, meint in der Topologie, dass sich das Spiegelbild nicht vom Original unterscheidet, dass die Spiegelung nicht zu einer Seitenverkehrung führt. Die Ziffer 0 hat kein Spiegelbild (sofern sie symmetrisch geschrieben wird), die Zahl 1 hat eins (sofern man sie mit Aufstrich schreibt). Das, was kein Spiegelbild hat, ist das Objekt a – Lacan sagt das im Seminar über die Angst häufig. Topologisch heißt das, die Selbstüberlappung der zweiseitigen Scheibe führt nicht dazu, dass es eine linksdrehende und eine rechtsdrehende Scheibe gibt; diese Teilfläche kann so verformt werden, dass sie sich von ihrem Spiegelbild nicht unterscheidet. Im Rahmen der Psychoanalyse bezieht sich die Formulierung, das Objekt a habe kein Spiegelbild, darauf, dass sich das Objekt a der Beherrschung entzieht, also dem Narzissmus bzw. dem Imaginären.
Das Möbiusband hingegen hat ein Spiegelbild, denn es gibt ein rechtsdrehendes und ein linksdrehendes Möbiusband; im Spiegel verwandelt sich das rechtsdrehende Band in ein linksdrehendes und umgekehrt. Auch darauf weist Lacan mehrfach hin.
Nach dem Schnitt bleibt etwas übrig, das kein Spiegelbild hat, nämlich das Objekt a.
Dieses Objekt a ist etwas dem Möbiusband Vergleichbares, heißt es an dieser Stelle, und das ist verblüffend, denn die sich selbst überlappende Scheibe (das Objekt a) ist eine zweiseitige Fläche, das Möbiusband hingegen hat nur eine Seite. Das ist die Pointe des Innenachtschnitts in eine randlose Kreuzhaube: dass er sie in zwei heterogene Flächen zerlegt. Was könnte mit der Vergleichbarkeit der beiden Flächen gemeint sein? Dass beide Flächen gleichermaßen Produkte des Innenacht-Schnitts sind?
Lacan bezieht sich im transkribierten Text der Sitzung also auf einen Innenacht-Schnitt in eine unberandete Kreuzhaube (Figur 1), durch den zwei heterogene Flächen erzeugt werden: eine zweiseitige sich überlappende Scheibe (Figur 4) und ein einseitiges Möbiusband.
Millers Supplement beschreibt einen einfachen Schnitt in eine berandete Kreuzhaube (Figur 2) entlang der Durchdringungslinie, der eine zweiseitige Lochscheibe entstehen lässt.
Lacan beschreibt im transkribierten Text einen anderen Schnitt in eine andere Kreuzhaube als Millers Supplement.
Warum wird das Supplement an dieser Stelle von Miller eingefügt?
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Anmerkungen
- Vgl. J. Lacan: Le séminaire, livre X. L’angoisse. 1962–1963. Texte établ.i par Jacques-Alain Miller. Seuil, Paris 2004, Sitzung vom 9. Januar 1963, S. 115.– dt.: J.L.: Das Seminar, Buch X. Die Angst. 1962–1963. Texterstellung von Jacques-Alain Miller. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2010, S. 126.
- Vgl. die kritische Ausgabe des Angst-Seminars durch Michel Roussan.
- Meine Übersetzung.
- David Hilbert, Stephen Cohn-Vossen: Anschauliche Geometrie. Julius Springer, Berlin 1932, S. 277.
- A.a.O., S. 279.
- A.a.O., S. 279 f.
- „Cette ouverture est intéressante à montrer sous cette forme parce qu’elle permet de visualiser pour nous, de matérialiser la fonction du point.“ („Es ist interessant, diese Öffnung in dieser Form zu zeigen, da sie es uns gestattet, die Funktion des Punktes zu materialisieren, zu visualisieren.“) (Seminar 9, Sitzung vom 13. Juni 1962, meine Übersetzung)
- Lacan, Die Angst, Gondek-Übersetzung, a.a.O., S. 124 f.
- A.a.O., Gondek-Übersetzung, S. 126; Übersetzung geändert.
- A.a.O., Gondek-Übersetzung, S. 127.
- Vgl. Version Roussan, S. 78.
- A.a.O., S. 127; Übersetzung geändert.
- Vgl. Sitzung vom 6. März 1963, Version Miller/Gondek S. 209.