Jacques Lacan
Ideal-Ich und Ichideal
Seminar VIII, Sitzung vom 31. Mai 1961 (Auszug)
Übersetzung
Mitgliedsausweis der Parti communiste français (PCF) von Marguerite Duras, hier unter dem Namen Anthelme (richtig wäre: Antelme), von hier
Im Folgenden übersetze ich Lacans Unterscheidung zwischen dem Ideal-Ich und dem Ichideal in Seminar 8, Die Übertragung, Vorlesung vom 31. Mai 1961 nach der Stécriture-Edition.1 Die Überschrift ist von mir. RN
Jacques Lacan: Ideal-Ich und Ichideal (Übersetzung)
Das Ideal-Ich (moi idéal), das ist der Sohn aus guter Familie am Steuer seines kleinen Sportwagens. Damit will er Ihnen das Land zeigen. Er wird sich aufspielen. Er wird seinen Sinn fürs Risiko spielen lassen, was keine schlechte Sache ist, seine Liebe zum Sport, wie man so sagt – wobei es darauf ankommen wird, herauszufinden, welchen Sinn dieses Wort „Sport“ für ihn hat, ob der Sport nicht auch darin bestehen kann, die Regeln in Frage zu stellen, ich meine nicht nur die Vorschriften des Straßenverkehrs, sondern auch die der Sicherheit. Wie auch immer, dies ist das Register, in dem er sich zu zeigen hat oder sich nicht zu zeigen hat, und in dem er zu wissen hat, welches Vorgehen geeignet ist, um sich als jemand darzustellen, der stärker ist als die anderen – selbst wenn das darin besteht, zu sagen, dass das ein bisschen zu weit geht. Das ist es, das Ideal-Ich. (…)
Was ist das Ichideal (idéal du moi)? Das Ichideal, das zum Spiel und zur Funktion des Ideal-Ichs in sehr enger Beziehung steht, wird gewissermaßen durch eine Tatsache gebildet, die ich anfangs erwähnt habe, dass er nämlich seinen kleinen Sportwagen deshalb besitzt, weil er ein Sohn aus guter Familie ist und weil er Papas Sohn ist, sowie dadurch, dass – um das Register zu wechseln –, wenn Marie-Chantal sich bei der Kommunistischen Partei einschreibt, sie es deshalb tut, wie Sie wissen, damit Vater Schiss bekommt. Ob sie in dieser Funktion ihre eigene Identifizierung verkennt, mit dem, was man dadurch bekommen möchte, dass man dafür sorgt, dass Vater Schiss bekommt, ist eine weitere Seitentür, die zu öffnen wir uns hüten werden.
Aber sagen wir, dass beide – Marie-Chantal und Papas Sohn am Steuer seines kleinen Wagens – in die vom Vater auf bestimmte Weise organisierte Welt ganz einfach völlig eingeschlossen wären, wenn es nicht den Signifikanten Vater gäbe, der es ermöglicht, sich daraus, wenn ich das so sagen darf, zu extrahieren, indem man sich vorstellt, dafür zu sorgen, dass er Schiss bekommt, und indem einem das sogar gelingt. Das wird dann so ausgedrückt, dass man sagt, er oder sie habe in diesem Fall das Vaterbild introjiziert. Sagt man damit nicht auch, dass der Vatersignifikant das Instrument ist, mit dessen Hilfe beide Personen, männlich und weiblich, sich aus der objektiven Situation extrojizieren können? Die Introjektion, das ist insgesamt dies, sich subjektiv so zu organisieren, dass der Vater tatsächlich ein Signifikant ist – in Gestalt des Ichideals, das gar nicht mehr so bösartig ist; ein Signifikant, von dem aus die kleine Person, ob männlich oder weiblich, sich ohne allzu große Nachteile am Steuer ihres kleinen Wagens betrachten kann oder den Mitgliedsausweis der Kommunistischen Partei schwenken kann.
Alles in allem, wenn das Subjekt von diesem introjizierten Signifikanten aus zum Gegenstand eines Urteils wird und wenn es dabei verurteilt wird, so nimmt es dadurch die Dimension des Verurteilten an, was in narzisstischer Hinsicht, wie jeder weiß, gar nicht so nachteilig ist.
Aber daraus ergibt sich, dass wir von der Funktion des ego ideal2 nicht einfach so sprechen können, als ob sie auf gewissermaßen massive Weise das Zusammenfließen verwirklichen würde3 zwischen der wohlwollenden Autorität und dem, was eine narzisstische Wohltat ist, so als ob das schlicht und einfach an derselben Stelle zur selben Wirkung gehören würde.4
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Anmerkungen
- Die offizielle Übersetzung dieser Passage findet man in: Jacques Lacan:Die Übertragung. Das Seminar, Buch VIII. 1960-1961. Texterstellung durch Jacques-Alain Miller. Übersetzt (nach der 2., verbesserten französischen Auflage von 2001) von Hans-Dieter Gondek. Passagen Verlag, Wien 2008, S. 415-417. Einen sinnrelevanten Unterschied zur offiziellen Übersetzung gibt es am Schluss dieser Passage; vgl. die letzte Fußnote.
- Anm. d. Übers.: „Ego ideal“ ist die übliche englische Übersetzung für Freuds „Ichideal“. In der Stécriture-Version wird der englische Ausdruck mit einem französischen Akzent versehen: „ego idéal“, Lacan übersetzt demnach „ego ideal“ ins Französische.
- A.d.Ü.: In der Stécriture-Edition „comme réalisant“; in der Textquelle dieser Version steht an dieser Stelle „comme de réalisant“, vgl. die Fußnote in der Stécriture-Edition auf S. 302.
- A.d.Ü.: In der Gondek-Übersetzung heißt der letzte Satz: „Aber daraus ergibt sich sodann, was wir über die Funktion des Ego ideal nicht so ohnes weitereres behaupten können, daß sie auf massive Weise das Zusammenfließen dessen realisiert, was narzißtischer Gewinn ist, als ob es schlicht und einfach einem einzigen Effekt an derselben Stelle inhärent wäre.“ (A.a.O., S. 417) Der Stécriture-Version zufolge wendet sich Lacan in diesem Satz dagegen, unter dem Ichideal eine Instanz aufzufassen, in der zwei Aspekte zusammenfallen, die er auseinander halten möchte: die Seite der wohlwollenden Autorität und die des narzisstischen Gewinns, wobei er sich mit der wohlwollenden Autorität vermutlich auf das Ichideal bezieht, mit dem narzisstischen Gewinn auf das Ideal-Ich. In der Gondek-Übersetzung fehlt der eine der beiden Ströme, die wohlwollende Autorität. Ob dieser Bezug bereits von Miller in seiner Edition getilgt wurde oder ob der Übersetzer ihn übersehen hat, habe ich nicht überprüft.