Ewig sterben
Andreas Alciato, Avaritia. Emblematum liber (1577), Emblema 84. Von hier
Im sogenannten Rom-Vortrag macht Lacan einen ersten Anlauf, den Freudschen Begriff des Todestriebs theoretisch zu rekonstruieren, mit der These vom Symbol als „Mord am Ding“. Dabei stützt er sich auf die Hegel-Deutung von Alexandre Kojève. Der sprachliche Begriff (sagt Hegel, Kojève zufolge) abstrahiert von der sinnlichen und singulären Existenz des empirisch existierenden Seienden, und in diesem Sinne vollzieht der Begriff einen Mord (vgl. hierzu diesen Blogartikel). In Seminar 7 zur Ethik der Psychoanalyse (1959/60) sowie in Seminar 8 zur Übertragung (1960/61) unternimmt Lacan einen neuen Anlauf, den Todestrieb theoretisch zu fassen. Ein Schlüsselbegriff hierbei ist der des „zweiten Todes“: Der Todestrieb richtet sich nicht auf den ersten, den physischen Tod, sondern auf einen anderen, einen „zweiten Tod“. Die Topik des Todestriebs wird bestimmt durch den Raum zwischen dem ersten, dem physischen Tod und dem „zweiten Tod“, durch den Raum „zwischen-zwei-Toden“ (vgl. diesen Blogartikel).
Stützt sich Lacan für das Konzept des zweiten Todes weiterhin auf Kojève? Knüpft er damit an Kojèves (bzw. Hegels) Begriffsphilosophie an? Das ist zu vermuten; die Bedeutung von Kojève für Lacan ist schwer zu überschätzen. Aber lässt sich das belegen?
Ich denke ja, und zwar durch eine Passage aus Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung. Lacan kommt hier auf die Erörterungen zum Todestrieb in Seminar 7 zurück.
„Das, was man uns hier vorbringt, auf der Ebene der Tatsache des realen Todes, ist nicht das, was in Frage steht. Nicht umsonst habe ich Sie ein langes Jahr lang (im Ethik-Seminar) in diesem Raum umherwandern lassen, den meine Zuhörer als das ‚Zwischen-zwei-Toden‘ qualifiziert haben. Die Aufhebung des realen Todes würde daran, dass das Objekt des Begehrens sich entzieht, nichts ändern, denn das, worum es geht, ist der andere Tod, derjenige, der bewirkt, dass selbst dann, wenn wir nicht Sterbliche wären, wenn wir die Verheißung des ewigen Lebens hätten, die Frage immer offen bleibt, ob dieses ewige Leben – ich meine eines, von dem jede Verheißung eines Endes genommen wäre – nicht denkbar ist als eine Form, ewig zu sterben. Das ist es sicherlich, denn das ist unsere alltägliche conditio, und wir müssen das in unserer Logik als Analytiker berücksichtigen, weil das so ist – wenn die Psychoanalyse einen Sinn hat, und wenn Freud nicht verrückt war –, denn das ist es, was durch diesen Punkt bezeichnet wird, der ‚Todestrieb‘ genannt wird.“1
Der Todestrieb bezieht sich auf den zweiten Tod, nicht auf den realen Tod. Der zweite Tod hat damit zu tun, dass das Objekt des Begehrens sich entzieht. Daran würde sich auch dann nichts ändern, wenn wir unsterblich wären; das ewige Leben wäre eine Form, ewig zu sterben; das ewige Sterben gehört zur conditio humana.
Und diesen Gedanken, den des ewigen Sterbens, findet man auch bei Kojève:
„Der Begriff ‚Hund‘, der mein Begriff (des Hundes) ist, der Begriff, der also etwas anderes als der lebende Hund ist und sich auf einen lebenden Hund wie auf eine äußere Wirklichkeit bezieht – dieser abstrakte Begriff ist nur dann möglich, wenn der Hund seinem Wesen nach sterblich ist, d.h. wenn der Hund in jedem Augenblick seiner Existenz stirbt oder vernichtet wird.“2
Der durch die Sprache ermöglichte Begriff des Hundes sorgt dafür, dass der Hund „in jedem Augenblick seiner Existenz stirbt“. Wäre der Hund unsterblich, würde er demnach ewig sterben. Es ist unwahrscheinlich, dass Lacan sich nicht auf diese Passage von Kojève stützt, wenn er das ewige Sterben zum Merkmal der conditio humana erklärt.
Der zweite Tod, auf den sich der Todestrieb bezieht, ist der von der Sprache bewirkte Tod, ungefähr so, wie er von Hegel und Kojève beschrieben worden ist (das „ungefähr“ ist wichtig, Lacan übernimmt selten eine Idee, ohne sie zu modifizieren). Das Sterben, auf das sich der Todestrieb bezieht, ist das von der Sprache hervorgerufene ewige Sterben.
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Anmerkungen
- Sitzung vom 23. Mai 1962, meine Übersetzung.
- A. Kojève: Introduction à la lecture de Hegel. Leçons sur la Phénomenologie de l’esprit, professées de 1933 à 1939 à l‘École des Hautes-Études. Hg. v. Raymond Queneau. Gallimard, Paris 1947, S. 373, Hervorhebungen und Hinzufügungen in runden Klammern im Original.– Deutsche Teilübersetzung: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes. Übersetzt von Iring Fetscher. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 128 f., Übersetzung geändert.