Die Entzifferung des Symptoms
Chinesisches Schriftzeichen für das Verb „begehren“. Es zeigt zwei Frauen über einem Baum
Was versteht Lacan unter einem Signifikanten? Im Diskurs an die Katholiken von 1960 gibt er eine Definition.
„Das Eigentümliche des Freudschen Unbewußten ist, übersetzbar zu sein (…). Das, was sich übersetzt, nennt man technisch den Signifikanten.“1
(1) Die Elemente des Unbewussten sind Signifikanten.
(2) Ein Signifikant ist das, was übersetzbar ist.
Etwas später heißt es:
„Es gibt in der Tat im Unbewußten signifikante Dinge, die sich wiederholen und die beständig im Ungewußten des Subjekts ablaufen.“2
(3) Ein Signifikant ist ein Element, das sich wiederholt.
(4) Und zwar so, dass es mit einem Nicht-Wissen verbunden ist.
Ein Element, das sich nicht wiederholt und das zum „Gewussten“ gehört, ist also kein Signifikant.
(1) bis (4) zusammen: Das Unbewusste besteht aus Signifikanten. Ein Signifikant ist ein Element, das sich wiederholt, das nicht zum „Gewussten“ gehört und das übersetzt werden kann.
Beispiel.– Wenn eine Frau mit einem Mann schläft, den sie nicht leiden kann, bloß, weil er es will, ist das kein Signifikant. Wenn sie es immer wieder tut, ist es auch kein Signifikant. Es muss hinzukommen, dass sie nicht weiß, was sie da tut und dass sich der Vorgang entziffern lässt, etwa – mit Iris Hanika3 – als Wiederholung einer Vergewaltigung. Unter dieser Bedingung ist „Mit einem Mann ins Bett gehen, nur weil er es möchte, obwohl er einem unsympathisch ist“ ein Signifikant.
Lacan erklärt, das Freudsche Unbewusste ist übersetzbar,
„selbst da,wo es nicht übersetzt werden kann, das heißt in einem bestimmten Wurzelpunkt des Symptoms, das von Natur aus zum Unentzifferten, also zum Entzifferbaren gehört, das heißt da, wo das Symptom im Unbewußten nur repräsentiert ist, um sich der Funktion dessen darzubieten, was sich übersetzt.“4
Das ist verwickelt, aber der Gedanke scheint zu sein:
(5a) Ein Symptom ist ein Signifikant, dessen Sinn zu entziffern ist.
(5b) Das Symptom ist dadurch zu übersetzen, dass man den unbewussten Signifikanten rekonstruiert, auf den es verweist.
(5c) Der unbewusste Signifikant, auf den das Symptom verweist, kann selbst wiederum rätselhaft sein und ist selbst wiederum zu entziffern.
Im Beispiel: Die Vergewaltigung, die im Symptom wiederholt wird, ist, obwohl sie grausam ist, kein factum brutum, keine letzte Tatsache. Sie ist ein Rätsel, das entziffert werden kann.
Lacans nächste These:
„Streng gesprochen entsteht ein Sinn aus einem Spiel von Buchstaben oder Wörtern nur, insofern er sich als Modifizierung ihres bereits überkommenen Gebrauchs vorlegt.“5
(6) Die zu entziffernde Bedeutung entsteht durch Modifikation des überkommenen Signifikantengebrauchs.
Es gibt einen überkommenen Signifikantengebrauch, dieser übliche Gebrauch wird modifiziert, und durch diese Modifikation entsteht ein Rätsel.
Beispiel?
Nächstes Element: Jede Bedeutung hat erstens teil
„an den Bedeutungen, mit denen es (das Element) bereits verbunden war, so befremdlich unter ihnen die an dieser Reiteration beteiligten Realitäten sein mögen. Dimension, welche ich die Metonymie nenne“6
(7) Bei der Übersetzung der Bedeutung des Signifikanten muss man sich auf die Bedeutungen der vorangehenden und folgenden Signifikanten in der Signifikantenkette beziehen.
Wenn man diese diachrone Entzifferungsrichtung verfolgt, bewegt man sich, mit Lacan zu sprechen, in der Ordnung der Metonymie, der Abwehr des Begehrens durch Verschiebung.
Hanika berichtet, dass sie ahnte, dass die Vergewaltigung sich ereignen würde. Der Überfall geschah auf einem einsamen Weg von einer Straßenbahnhaltestelle zu einem Haus von Bekannten. In der Bahn war noch ein anderes Mädchen und sie hatte beständig gedacht, dass sie es fragen könnte, „ob wir den Weg gemeinsam gehen wollen“, „ob wir zusammen gehen könnten“.7 Die Signifikanten der Kette sind vermutlich:
– jemanden darum bitten, „mit einem zu gehen“,
– alleine gehen,
– Vergewaltigung.
Ob dies die Signifikantenkette ist, ist nicht sicher, da wir nicht wissen, ob die anderen Elemente sich wiederholen; die Bedingung dafür, dass etwas ein Signifikant ist, ist ja, dass dieses Etwas sich wiederholt.
Und nun das letzte Element von Lacans Definition:
„Dies impliziert andererseits, daß jene neue Bedeutung nur durch die Ersetzung eines Signifikanten durch einen anderen entsteht, Dimension der Metapher“ (20).
(8) Bei der Entzifferung der neuen Bedeutung muss man den zu entziffernden Signifikanten außerdem als Element rekonstruieren, das einen anderen Signifikanten ersetzt.
Diese synchrone Übersetzungsrichtung wird von Lacan, insofern sie ein neues Signifikat erzeugt, als Metapher bezeichnet.
Hanika fragt sich, warum sie das andere Mädchen nicht gebeten hat, mit ihr zu gehen. Damit verschiebt sich in der metonymischen Kette der Akzent vom Element der Vergewaltigung auf die benachbarten Elemente „Die Frage stellen Können wir zusammen gehen?“ und „Alleinegehen“.
„Ich hatte nichts in der Hand, sondern nur ein Gefühl. Das war nichts Rationales. Ich aber war ein vernünftiges, intelligentes Mädchen mit guten Noten in Mathematik und kein – ja, so muß ich es sagen: Ich war eben kein Mädchen. Ich kreischte nicht, ich kicherte nicht, ich hatte keine Angst vor Mäusen, ich fand Babys nicht süß, ich interessierte mich nicht für Klamotten, ich fand die ‚Bravo‘ eine saudumme Zeitschrift, ich interessierte mich nicht für die Hitparade. (…) Ich war im selben Jahr schon in Paris gewesen und alleine mit dem Zug zurückgefahren. Ich konnte alles alleine machen. Angst, Vorahnungen, komische Gefühle waren Dinge für Mädchen, nicht für mich. Vor kurzem sagte mir eine lesbische Frau, daß ich als erstes Kind in der Geschwisterreihe sowieso kein Mädchen, sondern ein Junge sei. Damals stimmte das.8
Das „alleine den einsamen Weg gehen“ wiederholt das „alleine von Paris nach Deutschland fahren“. „Etwas alleine machen“ ist also ein Signifikant.
Jemanden darum bitten, „mit einem zu gehen“, ist, Hanika zufolge, eine Metapher für Weiblichkeit, etwas alleine zu machen eine Metapher für Männlichkeit. Die Opposition der Signifikanten „Fragen, ob wir zusammen gehen wollen“ und „Es alleine machen“ ist ein Versuch, die Geschlechterdualität (die im Unbewussten nicht repräsentiert ist) zu symbolisieren und in ihr einen Platz zu finden.
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Anmerkungen
- Lacan: Diskurs an die Katholiken (Vortrag von 1960, zuerst veröffentlicht 1982). In: Ders.: Der Triumph der Religion, welchem vorausgeht der Diskurs an die Katholiken. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia + Kant, Wien 2005, S. 7–58, hier: S. 18.
- A.a.O., S. 18.
- Vgl. Iris Hanika: Nach der Analyse. In: Dies., Edith Seifert: Die Wette auf das Unbewußte. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, S. 130–173, hier: S. 160 f.
- A.a.O., S. 18.
- A.a.O., S. 19
- A.a.O., S. 19 f.
- Vgl. Hanika, a.a.O., S. 148.
- Hanika, a.a.O., S. 149 f.