Latrinenparole: Herren Damen
Karma 21 Yangjae, Autokino in Seoul, Südkorea (von hier)
Was ist ein Signifikat?
Saussure zufolge is das Signifikat ein concept, ein Begriff oder, wie es in der Übersetzung heißt, eine Vorstellung, Der Signifikant hingegen ist für ihn ein Lautbild. Die Herausgeber von Saussures Vorlesungen zu den Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft haben diese Auffassung durch die nebenstehenden Diagramme illustriert. Links wird das Signifikat durch das Wort „Baum“ repräsentiert, rechts durch das Bild eines Baumes; der Signifikant wird in beiden Schemata durch das lateinische Wort „arbor“ (Baum) dargestellt. Die Ellipsen und die Pfeile sollen zeigen, dass Signifikat und Signifikant zusammen ein Zeichen bilden.1
In Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder Die Vernunft seit Freud (1957) verändert Lacan die Zeichnung aus Saussures Grundfragen: er vertauscht die Plätze von Signifikat und Signifikant (siehe rechts). Der Signifikant „arbre“ (französisch für „Baum“) nimmt jetzt den oberen Platz ein, was den Primat des Signifikanten gegenüber dem Signifikat andeuten soll. Außerdem entfernt Lacan die Ellipse und die Pfeile – zwischen Signifikant und Signifikat gibt es keine Eins-zu-Eins-Beziehung.
Er erklärt dann auch die von ihm modifizierte Illustration für fehlerhaft und fährt fort:
„Ich habe sie für meine Hörer durch eine andere ersetzt, die nur deshalb für richtiger gehalten werden konnte, weil sie übertreibt, in der ungehörigen Dimension, der sich der Psychoanalytiker noch nicht ganz verweigert hat, in dem richtigen Gefühl, dass nur von ihr aus sein Konformismus einen Wert hat.
Hier also diese andere:
auf der man sieht – ohne den Geltungsbereich des Signifikanten, der an diesem Experiment beteiligt ist, allzu sehr auszuweiten, indem man nämlich die nominale Art (l’espèce nominal) verdoppelt, einfach durch das Nebeneinanderstellen zweier Termini, deren komplementäre Bedeutung sich dadurch scheinbar konsolidieren muss –, dass sich die Überraschung einstellt, durch den Niederschlag (précipitation) einer unerwarteten Bedeutung: in dem Bild der beiden Zwillingstüren, die – mit der Kabine (isoloir), die dem westlichen Menschen außerhalb seines Hauses zur Befriedigung seiner natürlichen Bedürfnisse angeboten wird – den Imperativ symbolisieren, den er mit der großen Mehrheit der primitiven Gemeinschaften zu teilen scheint und der sein öffentliches Leben den Gesetzen der urinären Segregation unterwirft.“2
Der Signifikant wird von Lacan verdoppelt: statt einfach nur mit arbre (Baum) haben wir es jetzt mit dem Gegensatz Hommes – Dames (Herren – Damen) zu tun. Damit vollzieht er eine Operation im Geiste von Saussure: der Signifikant hat, wie dessen berühmte These lautet, keine Substanz, sondern ist nichts als die Differenz zu den anderen Signifikanten3; wenn ich eine Differenz darstellen will, brauche ich mindestens zwei Signifikanten.
Der Signifikant „arbre“, bzw. „arbor“ oder „Baum“, bezieht sich auf eine nominale Art. Mit dem Ausdruck wird eine Pflanzenart etikettiert; der Baum ist keine reale Art, die Art „Baum“ hat (ähnlich wie die Art „Obst“) nominalen Charakter – ein Sammelsurium von Pflanzen wird unter Gesichtspunkten, die dem Beobachter wichtig sind, unter die Rubrik „Baum“ subsumiert.
Mit dem Wechsel von arbre zu Hommes – Dames vollzieht Lacan keinen großen Sprung. Er bleibt im Bereich der Lebewesen und wechselt hier von einer bestimmten Klasse von Pflanzen zu einer bestimmten Klasse von Tieren: zum Menschen. Diese Klasse wiederum unterteilt er in zwei Arten, die in einer komplementären Beziehung zueinander zu stehen scheinen – Herren und Damen.
Auffällig ist, dass Lacan diese beiden Klassen ebenfalls als nominale Arten bezeichnet. Die Zweigeschlechtlichkeit ist ein biologisches Faktum, das wird auch von Lacan nicht bestritten4; also könnte man erwarten, dass er Damen und Herren als reale statt als nominale Arten einstuft. Offenbar beziehen sich die Termini „Damen“ und „Herren“ in seiner Sicht nicht einfach auf die biologischen Geschlechter.5
Da die Termini – die Signifikanten – „Herren“ und „Damen“ sich auf zwei Komplementärklassen beziehen, bilden sie zusammen anscheinend eine Ganzheit, die Totalität der Erwachsenen. Eine Taxonomie dieses Typs hat normalerweise zur Folge, dass sich stabile Signifikate ergeben.
In Lacans Diagramm geschieht jedoch etwas anderes. Statt der zu erwartenden schematischen Darstellungen eines Mannes und einer Frau verblüfft die Zeichnung mit dem Bild zweier gleicher Türen – Klotüren, wie man Lacans Erläuterungen entnehmen kann. Die Zeichnung irritiert, weil sie mit der Repräsentationstheorie des Zeichens bricht. „Herren“ steht nicht für Herren, und „Damen“ nicht für Damen. Die Beziehung des Signifikanten zum Signifikat wird aber auch nicht vollständig aufgelöst. Vielmehr wird der Signifikant „Herren“ mit dem Signifikat Toilette verbunden, der Signifikant „Damen“ ebenfalls.
Aber nur in erster Annäherung. Die beiden Türen, sagt Lacan, „symbolisieren“ etwas: mit den WC-Kabinen symbolisieren sie einen Imperativ. Er besteht in dem Gebot, dass die Geschlechter bei der Befriedigung ihrer Defäkationsbedürfnisse voneinander getrennt sein müssen. Dieses Gesetz ist, wie er annimmt, nahezu universell und also dem Inzesttabu verwandt. In Lacans Diagramm findet man am Platz des Signifikats das Symbol eines Gesetzes.6
Die WC-Kabine ist ein isoloir, sie dient nicht nur dazu, das Individuum von der Gemeinschaft abzusondern, sondern auch dazu, die beiden Geschlechter bei der Befriedigung bestimmter Bedürfnisse gegeneinander zu isolieren. Der Trennungs-Imperativ weist Männern und Frauen unterschiedliche Plätze zu und interveniert damit in die Art und Weise, wie Menschen ihre natürlichen Bedürfnisse befriedigen. Das Signifikat ist nicht einfach ein Gesetz, es besteht in der Umwandlung der Bedürfnisbefriedigung durch einen Signifikanten – durch ein Gesetz, das die sexuellen Beziehungen reguliert. Die Signifikate Frauen und Männer gehen den Signifikanten „Damen“ und „Herren“ nicht voraus, sie werden von diesen Signifikanten nicht sekundär repräsentiert. Vielmehr spielten die Signifikanten „Damen“ und „Herren“ eine aktive Rolle bei der Erzeugung dessen, was eine Frau und was ein Mann ist.
Dieses Signifikat, die Transformation der Bedürfnisbefriedigung durch einen Signifikanten, entsteht durch eine précipitation, durch eine Fällung oder Präzipitation im Sinne der Chemie. So wie aus einer Lösung, wenn man geeignete Substanzen hinzufügt, bestimmte Stoffe ausscheiden und sich niederschlagen, löst sich aus dem Bedürfnis, wenn der Signifikant in es eingreift, das Signifikat heraus.7 Précipitation meint aber auch die Überstürzung; das Gebot der Trennung der Geschlechter erfolgt „zu früh“; möglicherweise spielt Lacan damit auf den Vorgang an, den Freud als „Zweizeitigkeit der Sexualentwicklung“ bezeichnet.
Lacan fährt fort:
„Dies soll nicht nur, durch einen Tiefschlag, die Nominalismusdebatte zum Schweigen bringen, sondern auch zeigen, wie der Signifikant tatsächlich in das Signifikat eintritt, in einer Form nämlich, die, da sie nicht immateriell ist, die Frage nach seinem Platz in der Realität aufwirft.“8
Das Beispiel soll die Nominalismusdebatte zum Schweigen bringen, durch einen Schlag unter die Gürtellinie, also durch Bezug auf das urinale und das anale Register sowie auf das Geschlecht.
Auf den Streit zwischen Nominalisten und Realisten, der bis auf Aristoteles und Boëthius zurückgeht, hatte Lacan sich bereits im vorangehenden Satz bezogen: sind die Arten als nominal aufzufassen, also bloße Klassifikationsraster, die den Individuen auferlegt werden, oder handelt es sich um reale, objektive Entitäten? Der Begriff der „nominalen Art“, den er zunächst zustimmend verwendet hatte, wird jetzt von ihm problematisiert und neu gedeutet. Die Alternative Nominalismus versus Realismus, so lautet die implizite These, ist falsch. Sie unterstellt, dass Arten entweder bloße Bezeichnungen sind oder aber reale biologische Wesenheiten. Tatsächlich verhält es sich jedoch so, dass die klassifizierende Bezeichnung in die biologische Realität eingreift und sie verwandelt. Die Etikettierung als „Herren“ und als „Damen“ wird nicht von einem außenstehenden Beobachter für Forschungszwecke vorgenommen; sie interveniert vielmehr in die Art und Weise, wie die so bezeichneten Wesen ihr Defäkationsbedürfnis befriedigen, bindet sie durch einen Befehl an die Geschlechtsdifferenz und verwandelt dadurch die Realität der beiden Arten.
Die Pointe von Lacans Zeichnung besteht darin, dass die Toilettentüren Schildchen haben. Sein Diagramm zeigt nicht deren Beschriftungen, wir wissen jedoch, dass sie die Bezeichnungen „Herren“ und „Damen“ tragen. Der Signifikant hat seinen Platz also nicht nur im oberen Bereich der Zeichnung, über dem Querstrich, nicht nur auf der Ebene des Signifikanten; er hat seinen Ort zugleich auf der unteren Etage, auf der Ebene des Signifikats. Der Signifikant tritt in das Signifikat ein. Um das zu verdeutlichen, habe ich in der nebenstehenden Zeichnung die Schilder beschriftet (zum Vergrößern anklicken).9 In der Sekundärliteratur findet man die Behauptung, die beiden Türen seien in der Realität ununterscheidbar10; das verfehlt die Pointe von Lacans Argument. Die beiden Türen unterscheiden sich in der Realität: durch die Instanz des Buchstabens.
Der Signifikant ist nicht immateriell, er hat den Charakter eines Schriftzugs, der auf einer Toilettentür einen Platz einnimmt, und Lacan fragt, wie man den Platz des Signifikanten in der Realität zu begreifen hat. Er lässt die Frage offen; ich nehme an, dass er sie so beantworten würde: Die Realität ist das vom Signifikanten umgeformte Reale.
Der nächsten Satz lautet:
„Wenn sich den Emailleschildchen, die ihn (den Signifikanten) tragen, der blinzelnde Blick eines Kurzsichtigen nähern muss, hätte er vielleicht recht, sich zu fragen, ob man eben da den Signifikanten zu sehen hat, dessen Signifikat die feierlichen beiden Umzüge im Hochschiff (nef supérieure) in diesem Falle die letzte Ehre erweisen würden.“8
Lacan stellt sich einen kurzsichtigen und der Landessprache nicht mächtigen Touristen vor, der glaubt, sich im Hochschiff einer Kirche zu befinden. Um die Schrift zu entziffern, tritt er nahe an die Schilder heran und liest die Worte „Damen“ und „Herren“. Nun fragt er sich, auf welche Signifikate sich diese beiden Signifikantenketten beziehen mögen. Er schaut sich um und sieht zwei Schlangen von Menschen. Ein scharfsichtiges Augenpaar würde darin vermutlich zwei Toilettenschlangen erblicken, der Kurzsichtige jedoch sieht zwei Trauergefolge. Er fragt sich, ob das Signifikat des ersten Schriftzugs wohl ein Toter ist, der „Damen“ heißt, das des anderen ein Toter namens „Herren“.
Der Kurzsichtige stellt sich diese Frage vielleicht mit Recht, schreibt Lacan; die Signifikate von „Damen“ und „Herren“ sind für Lacan tatsächlich Tote. Die Einwirkung des Signifikanten auf die natürlichen Bedürfnisse führt nicht nur zu deren Veränderung, sondern zu einem Verlust, zu einem Seinsmangel, wie er sagt; in Freuds Begrifflichkeit: zur Triebunterdrückung. Unter dem Signifikat versteht Lacan das Ergebnis der Einwirkung des Signifikanten auf das Bedürfnis, und die Gesamtheit der vom Signifikanten herbeigeführten Signifikatseffekte ist ein Verlust: ein Toter, vielleicht sogar ein Ermordeter. Das Signifikat ist für Lacan keineswegs eine Illusion, die sich zwischen zwei Signifikanten herstellt11, das Signifikat ist der durch den Signifikanten herbeigeführte „Tod“.
Der Signifikant dieses Verlusts, dieses Toten, ist der Phallus.12 Die Barre zwischen Signifikant und Signifikat, der Querstrich zwischen Herren – Damen und dem Symbol der beiden Toilettentüren versperrt das Auftauchen dieses Signifikats: des Phallus als Symbol für den durch den Signifikanten herbeigeführten Mangel.
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Anmerkungen
- Abbildung aus: Ferdinand de Saussure: Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Hg. von Charles Bally u. Albert Sechehaye, übersetzt von Herman Lommel. 2. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 1967, S. 78.
- Hier und im Folgenden meine Übersetzung von J.L.: L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depeuis Freud. In: Ders.: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 493–528, hier: S. 499.– Vgl. J.L.: Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud. Übersetzt von Norbert Haas in: J.Lacan: Schriften II. Hg. v. N. Haas. Walter, Olten 1975, S. 15–55, hier: S. 23 f.,
- Vgl. Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, a.a.O., Teil 2, Kapitel IV, § 4 „Das Zeichen als Ganzes betrachtet“.
- „Gehen Sie jedoch bitte nicht so weit, zu sagen, dass das Geschlecht nichts Natürliches ist.“ (Seminar 23, Version Miller, S. 13, meine Übersetzung)
- Haas übersieht in seiner Übersetzung die Anspielung auf die Unterscheidung zwischen nominalen und realen Arten und übersetzt espèces nominales falsch mit „auf der Seite des Namens“.
- Zum Begriff der Symbolisierung an dieser Stelle vgl. Jean-Luc Nancy, Philippe Lacoue-Labarthe: Le titre de la lettre. (Une lecture de Lacan). Galilée, Paris 1973, S. 45.
- Einen ähnlichen Vergleich zwischen Bedeutungserzeugung und chemischer Reaktion findet man in Seminar 5: Was passiert, wenn man einen Signifikanten durch einen anderen Signifikanten ersetzt? „In diesem Fall geschieht stets etwas Neues, das mitunter genauso unerwartet ist wie eine chemische Reaktion, nämlich die Entstehung einer neuen Bedeutung.“ (Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 229.)
- Écrits S. 500; Schriften II, S. 24.
- Vgl. hierzu Bruce Fink: Reading „The Instance of the Letter in the Unconscious“. In: Ders.: Lacan to the Letter. Reading Écrits Closely. University of Minnesota Press, Minnesota u.a. 2004, S. 63-105, hier: S. 82 f.
- Vgl. Mikkel Borch-Jacobsen: Lacan. Le maître absolu. Flammarion, Paris 1995, S. 210.
- Wie Borch-Jacobsen meint; vgl. ders., a.a.O., S. 212.
- Vgl. J. Lacan: Die Bedeutung des Phallus. In: Schriften II, S. 126 f.