Lutz Goetzmann
„Vom Realen der Seuche“
Notizen aus Berlin, im Sommer der Sars-CoV-2-Pandemie
Abbildung 1: Walter Molino (1962), Cover des Dominica del Corriere1
Il n’y a rien de plus ignoble que la maladie.
Albert Camus, 1947
The world’s always been a dangerous place.
Donald Trump, 11.8. 2020
Berlin, im August 2020
Seit Anfang 2020 entwickelt sich die Pandemie Covid-19, Millionen sind angesteckt, Hundertausende sterben. Wie auf der Homepage des Robert-Koch-Instituts (RKI) zu lesen ist, handelt es sich bei SARS-CoV-2 „um ein neuartiges Virus, das ansteckend ist, eine neue, teils schwer verlaufende Krankheit (Covid-19) verursacht.“ Man steckt sich meistens über Sekrete an, in erster Linie über Tröpfchen oder Tröpfchenkerne (Aerosole), die beim Husten, Niesen oder lautem Sprechen freigesetzt werden (Lednicky et al., 2020). Das Virus wird bei engerem Kontakt übertragen, auch bei längerem Aufenthalt in kleinen, kaum oder nicht belüfteten Räumen. „Superspreader-Ereignisse“ bergen die Gefahr, dass sich viele Menschen auf einmal anstecken. Besonders tückisch ist, dass das Virus übertragen wird, bevor Infizierte realisieren, dass sie krank sind, z.B. dass sie Atemwegssymptome entwickeln. In Deutschland sterben etwa 4 % der registrierten Erkrankten, in Frankreich, Italien und Großbritannien zwischen 13% und 15 % . Auf seiner Website warnt das RKI, davor, dass durchaus mit einer zweiten COVID-19-Welle gerechnet werden müsse. Ob eine solche zweite Welle auftreten wird und wie stark diese ausfallen würde, sei von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig. Eine wichtige Rolle spiele das individuelle Verhalten. Wegen der Infektiosität des Virus könne es „sehr rasch wieder zu einer exponentiellen Zunahme der Neuinfektionen“ und „einer unter Umständen sehr starken zweiten Welle“ kommen. Soweit die, was deren allgemeine Akzeptanz betrifft, „kanonischen“ Covid-19-Fakten, die den Anspruch erheben, empirisch, d.h. naturwissenschaftlich fundiert zu sein.
Trotz dieser, so könnte man glauben, klaren Informationslage, feiern viele Leute, veranstalten Feste, große Familienfeiern, Happenings. Manche treffen sie sich zu tausenden, ohne auf Abstand zu achten oder Masken zu tragen. Die Partys in Berliner Parks, das „Cornern“ im Hamburger Schanzenviertel oder die Exzesse auf Mallorcas „Ballermann“ mögen nur besonders prominente Beispiele sein. Am 1. August 2020 trafen sich Zehntausende in Berlins Mitte, demonstrierten gegen die Schutzmaßnahmen und feierten „das Ende der Pandemie“, obwohl die Zahl der Neuansteckungen kontinuierlich anstieg. Ein Youtube-Video zeigt, wie die Demonstrierende skandieren „Die Pandemie hat es nie gegeben“. Andere trugen Schilder mit der Aufschrift: „Wir sind die zweite Welle“. Die Veranstalter sprachen von einem „Tag der Freiheit“. Ob die Bezugnahme bewusst intendiert war oder nicht, der Slogan erinnert an den Reichsparteitag der NSDAP 1935 an, den Riefenstahl in ihrem Propaganda-Film „Tag der Freiheit – unsere Wehrmacht“ nicht nur dokumentierte, sondern ästhetisch hochstilisierte. Der Film feierte die erstarkte Wehrmacht (siehe hier). Zu dem Geflecht der Signifikanten zählt nicht zuletzt, dass just auf diesem Parteitag die Nürnberger Rassengesetze verkündet wurden. Inzwischen kursiert auch der Begriff der „Covidioten“ (vgl. hier). Laut dem Urban Dictionary qualifiziert sich jemand als „Covidiot“, falls er oder sie sich „wie ein verantwortungsloser Idiot verhält und dabei gesunden Menschenverstand, Anstand, Wissenschaft und professionelle Ratschläge ignoriert, was zur weiteren Verbreitung des Virus und zum unnötigen Tod von Tausenden führt.“2 Entsprechend meint „Covidiocy” den „Verlust der Fähigkeit, während einer Pandemie logisch zu denken“3.
So stellt sich die Frage, wieso Menschen überhaupt „Covid-19-Verschwörungstheorien“ entwickeln. Neutraler formuliert, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des pandemisch-Realen zur Vielfalt seiner imaginär-symbolischen Repräsentanzen, die das Reale in Form von „Fakten“, „alternativen“ Fakten oder „Kontrafakten“ reflektieren (vgl. Lacan, 1978 / 1979; Seminar vom 9.1.1979). Ich versuche, einige Vorschläge zu formulieren, die auf diese Fragen eingehen. Zunächst nehme ich an, dass COV-19 eine existentielle Problematik darstellt. Meine These ist, in Anlehnung an Raab et al. (2013), dass „Covidiocy“ nur eine der zahllosen Schattierungen dessen ist, was wir als jeweilige, persönliche „Wahrheit“ sehen. Die Ideologie der Leute, die als „Covidiots“ bezeichnet / diskriminiert werden, lässt sich, so meine These, aus der Dialektik von tödlich-Realem und dessen imaginär-symbolischen Masken verstehen. Ihr Verhalten erinnert stark an Lacans (2010, S. 142) „passage à l’acte“. Noch ein Punkt: Heute ist es nicht unüblich, sich auf „La Peste“ zu beziehen, jenen Roman, den Albert Camus während der Nazi-Okkupation verfasste. Natürlich werde ich einige Parallelitäten zwischen der (fiktiven) Pestepidemie und Covid-19 streifen. Wichtiger aber ist der allegorische Charakter: Die (braune) Pest ist der Faschismus. Als Allegorie deutet der Roman auf die Identifikation des Subjekts mit dem Objekt a, das über den Atem des Andern einverleibt wird: Nicht das massenhafte Virus, sondern der Mensch bildet „die zweite Welle“. Der Mensch ist die Seuche, die er ausblendet: Das wäre eine radikale Variante der Covidiocy, die im folgenden Artikel beleuchtet werden soll.
Der Atem, Objekt a, die Maske
Lacan (2012, S. 1 ff.) unterscheidet drei Kategorien psychischer Wirklichkeit: das Reale (das Nicht-Repräsentierte, Nicht-Vorstellbare), das Imaginäre (das Bildlich-Repräsentierte, anschaulich-Vorgestellte) und das Symbolische (das Sprachliche), die sich in dem „borromäischen Knoten“ in Form von drei Ringe, Schlaufen oder Kreisen organisieren. Eine Verständnisannäherung an dieser Lacan‘sche Grundfigur bietet Hegels Theorie des subjektiven Geistes, wie diese im dritten Band der „Enzyklopädie der Wissenschaften“ niedergelegt ist. Es gibt, so Hegel, die Materie und deren Idee, das ist die Seele bzw. der subjektive Geist (Hegel, 2016, S. 43, vgl. Wolf, 1992, S. 45). Und wie Hegel einem (traditionellen) Stufenmodell folgt, das dialektisch angelegt ist, ließe sich sagen, dass der Geist, d.h. die Idee der Materie, Lacans psychische Wirklichkeit ist, die sich aus den Kategorien des Realen (R), Imaginären (I) und Symbolischen (S) zusammensetzt: Die Idee der Materie (Hegel) lässt sich mit den RSI-Kategorien, die in einem Knoten organisiert sind (Lacan). Der Knoten, um die Ansätze zusammenzuführen, ist die Idee der Materie. Abbildung 2 zeigt das Verhältnis der Materie zur ihrer Idee, die aus den Lacanschen Kategorien des Realen, Imaginären und Symbolischen (S) besteht.
Abbildung 2: Materie und borromäischer Koten als deren Idee
SARS-CoV-2 ist zunächst Materie, die mit dem Atem des andern, der infiziert ist, in das Subjekt eindringt. Als Transport-Medium werden Aerosole verwendet. Das materielle Aerosol (aus dem ἀήρ / Luft und solutio / Lösung) ist ein dispersives Gemisch aus Schwebeteilchen in einem Gas. Oft sind Aerosole nur wenige Nanometer groß. Aerosole sind wie Mini-Flugkörper, die sich für eine gewisse Zeit in der Luft halten und eine gewisse Strecke zurücklegen (vgl. Lednicky et al., 2020). Auf der Ebene der Materie haben wir also den andern, dessen Mund und die virusbeladenen Aerosole, die in dem ausgestoßenen Atem, ob beim Plaudern, Singen oder Joggen mitschweben. Nehmen wir diesen „pandemischen Komplex“ wahr (der andere mit Mund, Stimme, und Atem), bilden sich infolge der Reizung unserer Wahrnehmungsorgane vorsprachliche, nicht propositionale Empfindungen. Diese natürlichen, unbewussten, vorsprachlichen, nicht-intentionalen Empfindungen, so Hegel, sind die „Idee“ der Materie, d.h. die ideelle Seite der Münze, das was Hegel „Naturgeist“ nennt: Hochpräsent, jedoch nicht-repräsentiert, unbegreiflich, unmöglich (Hegel, 2016, S. 43, vgl. Wolff, 1992, S. 142 ff). Ich schlage vor, dass wir uns hier in Lacans Realem aufhalten: Wir sehen den andern, und wie sich seine Lippen bewegen, hören, wie er spricht, singt, plaudert oder keucht. Aber wir sind (noch) nicht in der Lage, diese Empfindungen als Gedanken zu fassen. Besonders trickreich ist die Situation, weil Viren für unser Auge unsichtbar sind. Wir wissen nur, dass der andere ansteckend sein könnte. Er ist kein Gangster, der uns mit einer Waffe bedroht. Seine Waffe ist, dass er, der potentiell Infektiöse, keine Maske trägt, oder dass er hustet, keine Distanz einhält usw. Somit qualifiziert sich jeder als Gefahr: die Hölle sind die andern, und natürlich, die Hölle ist das Subjekt, sobald es in Kontakt mit anderen tritt.
Erst in einem weiteren Schritt erhält diese reale Empfindung eine bildlich-imaginäre Qualität, in dem sie mit einer visuellen Repräsentanz verknüpft, in dieser aufgehoben wird.4 Eine Visualisierung des SARS-CoV-2 in Abbildung 3 bewegt sich in Lacans Kategorie des Imaginären:
Abbildung 3: SARS-CoV-25
Sobald das Bild sprachlich benannt, mit einer wörtlichen Legende verknüpft und näher erläutert wird, etwa mit der Information, dass Abbildung 3 eine „ultrastrukturelle Morphologie eines Corona-Virus“ zeigt, bewegen wir uns im Register des Symbolischen (Lacan) bzw. in der begrifflich-logischen Domäne des subjektiven Geistes (Hegel). Diese transformative Dialektik funktioniert natürlich auch, wenn die Komplikationen einer Covid-19-Infektion medial aufbereitet werden. Abbildung 4 zeigt die Lunge (mit der entsprechenden Signifizierung) einer vor der Infektion kerngesunden Frau, etwa Mitte 20, die infolge einer Covid-19-Infektion transplantiert wurde6:
Abbildung 4: Von SARS-CoV-2 befallener Lungenflügel einer jungen, vor der Infektion gesunden Frau im Vergleich zu nicht-befallenen Lungen7
Aber um aufs Reale zurückzukommen: Lacan (2012, S. 21) bezeichnet den andern, dessen Niederschlag (samt seiner Ansprüche) in uns „real“ ist, als „Objekt a“. Er bestimmt das Objekt a so, dass es an Öffnungen des Körpers gebunden ist („c’est d’être lié aux orifices du corps“). Solche lustvoll erlebten, von Freud als „erogen“ bezeichnete Zonen, etwa des Mundes oder des Anus, sind durch ein „Aufklaffen“ charakterisiert. Das Substantiv „la béance“ kommt von „béer“: „aufreißen, aufsperren, klaffen“. „La béance“ ist „das Aufgerissensein, Aufgesperrtsein, das Aufklaffen, die Kluft, die Öffnung, die Lücke“ (vgl. Nemitz, 2015b). Der Rand, etwa die Lippen, und die Öffnung bilden eine Einheit:
„Ich habe mich auf die beiden Ränder beschränkt, die zum Tractus gehören. Ich hätte natürlich auch sagen können, daß der feuchte Lidrand, dass das Ohr, der Nabel auch Ränder sind, und daß das alles nicht weniger in die Funktion der Erotik gehört. In der analytischen Tradition beziehen wir uns immer auf das streng fokussierte Bild von Zonen, die auf ihre Randfunktion reduziert werden.“ (Lacan, 1996, S. 181)
Was dem Körper entkommt, sind „Partialobjekte“, etwa der Blick, die Stimme, die Milch und der Kot. Und die entsprechenden Öffnungen sind Auge, Mund, Brust und Anus. Die Stimme bildet einen Sonderfall des Atems, der durch die Stimmlippen in Schwingungen versetzt wird. SARS-CoV-2 ist demnach ein Objekt a, das sich als Mini-Partikel im Atem des Andern aufhält. Man sollte sich im Klaren sein, dass das „Objekt a“ real ist. Der Begriff „Objekt a“ ist nichts als ein abstrakter Platzhalter für etwas Unbegriffenes. Objekt a ist ein „Index des Realen ohne Namen“ (Leclaire, 1976, S. 21). Zwar ist es schon – als Idee der Materie – in die Wirklichkeit des Subjekts eingedrungen, aber es ist noch ungedacht, unbewusst, nicht-repräsentiert. Atem, Mund und Stimme sind in der Lage, den Ort des Platzhalters im Realen einzunehmen. Uns interessiert hier dieser pandemische „Objekt-a-Komplex“ aus Mund (mit seinen Rändern, den Lippen), dem Atem / der Stimme und dem Virus. Die Lippen des andern sind Ränder einer erogenen Zone: Sie rufen „Freiheit!“ oder „Widerstand!“, informieren, behaupten, plaudern und plappern, und die Münder stoßen den dazugehörigen Atem aus, der die Stimme trägt. Nun war der Atem schon immer, bereits vor Covid-19, ambig: Gott hauchte uns Lebensatem ein (1. Moses 2, 7). Sonst, ohne diesen „Inspirationsakt“, wären wir nur ein „bizarres Lehmstück“ (Sloterdijk, 1998, S. 33). Andererseits ist die Luft, die wir einatmen, fremd: Das Geburtstrauma, so Lacan (2010, S. 413) besteht nicht (nur) in der Separation, sondern vielmehr im „Einatmen eines zutiefst anderen Milieus.“ Der Atemhauch spendet Leben, aber das Eingeatmete ist fremd, anders, als Fremdes traumatisch. In Zeiten von Covid-19 spitzt sich diese Andersartigkeit zu: Der Atem des Andern wird ein Objekt, das Krankheit und Tod bringen kann. Die Sprache ist potentiell ein Killer. Der Atem des Andern, er ist das Reale des Todes. Nicht von ungefähr spricht man vom „Pesthauch“. Hier findet der wahre illokutionäre Sprechakt statt: Der im Moment der Ansprache, des Hervorstoßens von Wörtern infiziert. Es scheint mir naheliegend zu sein, dass das Objekt a Angst macht. Der „Aufruhr“ von Angst entsteht, wenn Objekt a in uns auftaucht, zwar unbewusst, nicht repräsentiert, aber äußerst präsent. Es ist „der Moment der traumatischen Enthüllung, worin sich die Angst als das offenbart, was sie ist“ (Lacan (2010, S. 394). Dieser „Aufruhr der Erregung“ muss irgendwie bewältigt werden, sei es mit Phantasmen oder Handlungen.
Subjektstruktur und Leidvermeidung
Lacan (2009, S. 91) nennt zwei Merkmale des Subjekts: 1.) Es hat eine Struktur, und 2.) es versucht, Leid zu vermeiden. Das Objekt a nistet im Realen; und von hier aus strukturiert das „pandemische Objekt a“ die phantasmatische Welt des Subjekts, mit allen Finessen der Transformation und Abwehr. Unter seinem Druck erfindet das Subjekt imaginäre und symbolische Phantasmen. Ihre „buchstäbliche Ordnung“ verhält sich zum Realen wie Spinngewebe zu einem (nicht-repräsentierten) Raum, den es, wie Leclaire (1976, S. 22 und S. 24) sich ausdrückt, „ordnet“ und in dem es seine „Fallen“ aufstellt. In solchen Phantasmen nährt oder tötet, schützt oder schädigt der andere (ursprünglich die Mutter). Das Subjekt setzt eines ganze Reihe mentaler Operationen ein, um Empfindungen zu bändigen, die wir als Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein, Angst oder Wut bezeichnen. Es sind zunächst die Verneinung, die Spaltung, Verleugnung, projektive Identifizierung. Sie bilden eine Abwehrmauer gegen den unverblümten Einbruch des Realen, um den Reizschutz zu sichern. Wie Freud in „Jenseits des Lustprinzips“ (Freud, 1920, S. 25) von Bläschen spricht, deren Schutzhaut gesichert werden muss, könnte man die borromäischen Ringe als sphärische „Blasen“ verstehen, die einen Reizschutz aufweisen: Schwächere Erregungsmengen passieren die Membran der drei Ringe, und das Subjekt vermag, falls nötig, reifere Abwehrformen (u. Verdrängung, Verschiebung, Verdichtung, Rationalisierung) einzusetzen, um die Erregungsmenge an Bilder (I) und Gedanken (S) zu binden. Unerträgliche Empfindungen werden jedoch, v.a. durch die Verleugnung, komplett außen vor gehalten. Gelingt dies nicht, versucht das Subjekt die „Umgebung von Einbruchstellen“, wie Freud (1920, S. 30) sagte, mit Energie gegenzubesetzen, d.h. die Ränder der Einbruchstelle werden libidinös befestigt und gestärkt. Dies sind, in Kürze, die Mittel, das Reale zu maskieren. Das lateinische Wort für Maske ist „persona“: Ich streife eine Maske über das Reale, und werde so zu einer bestimmten Person, die plaudert, träumt, phantasiert, halluziniert und denkt, und sich auf diese Weise eine gewisse Identität zulegt.
Im Umgang mit CoV-19, d.h. mit dem Tod, ist die (feucht)-fröhliche Verleugnung eine beliebte Abwehr. Ihre Aufgabe ist es, uns vor der konkret vermittelten Einsicht in das (wohl) Schlimmste zu bewahren. Aber diese Feiern, ob in Berlins Mitte, auf dem Ballermann, an den (Gold)-Stränden verschiedenster Meere, weltweit, allerorten, werden auf einer hauchdünnen Eisdecke vollstreckt. Darunter verbirgt sich der Tod. Die Verleugnung von Fakten, die offenkundig sind, unterstützt durch weitere Abwehrmaßnahmen (Rationalisierung, Affektisolation) bewirkt eine Oberfläche der Harmlosigkeit, die besonders laut, besonders lärmend auf deren eigene Negativität, d.h. auf die Krankheit oder den Tod hindeutet. Es ist nur eine Frage der Eskalationstufe, ob es sich um die eigene Sterblichkeit handelt oder um das Ableben anonymer Heimbewohner. Sind diese Totentänze nicht Zeitzeichen der Pandemie? Jedenfalls bildet die Metapher des „Ballermanns“ eine negative Repräsentanz des Traumatisch-Realen, dieser Mix aus Jouissance und Verleugnung, aus ungebremster Lust und dem kompletten Ausblenden der Gefahr, der – schlimmstenfalls – letalen Kastration.
Die zweite Welle: Identifizierung mit Objekt a
Juan-David Nasio (2001, S. 141) bezieht sich auf Freuds Notizen, noch vom Juni 1938, in welchen er, halb im Telegrammstil, Elemente einer „Theorie des Objekt a“ vorweggenommen habe:
„Haben und Sein beim Kind. Das Kind drückt die Objektbeziehung gern durch die Identifizierung aus: ich bin das Objekt. Das Haben ist die spätere, fällt nach Objektverlust ins Sein zurück. Muster: Brust. Die Brust ist ein Stück von mir, ich bin die Brust. Später nur: ich habe sie, d.h. ich bin sie nicht.“ (Freud, 1938, S. 151)
Freud unterscheidet zwischen Identifizierung („sein“) und Besitz („haben“). Das Subjekt identifiziert sich mit dem Objekt, wenn es das Objekt verliert. Auf einer reiferen Ebene geht es darum, das Objekt zu besitzen, was mit sich zieht, dass sich das Subjekt von dem Objekt unterscheiden kann. Genau diese Identifikations-Bewegung schreibt Lacan dem Verhältnis von Subjekt und Objekt a zu: Das Subjekt identifiziert sich mit Objekt a. Es ist das Objekt a. Es ist die Brust, die nährt (oder auch nicht nährt). Es ist die Stimme, die als Überich spricht. Genauso ist es möglich, sich mit dem Virus zu identifizieren. Der Mund des Andern, der Aerosole ausstößt, der Atem und das Virus, dieser ganze Komplex ist ein „pandemisches Objekt a“, das im Realen nistet. Die reifere Form wäre natürlich, so Freud, wenn wir das Virus nicht wären, sondern uns davon unterscheiden würden, es – im Falle einer Infektion – als Infekt „hätten“. Aber in plakativer Weise verkündeten die Berliner Demonstranten, dass sie selbst die „zweite Welle“ seien: Nicht das Virus, das sich erneut verbreitet, sondern das Subjekt ist die „zweite Welle“:
Abbildung 5: Demonstrierende in Berlin am 1.8.2020 bezeichnen sich als „2. Welle“8
Diese Identifikation mit dem Objekt (etwa mit dem Aggressor) bietet die beste Möglichkeit, Gefühle der Ohnmacht, Unterlegenheit und Hilflosigkeit abzuwehren: Was kann mir das Virus anhaben, wenn ich selbst das omnipotente Virus bin? Jetzt, wie Achille Mbembe (2020) sagt, haben alle Subjekte „die Macht zu töten“ („the power to kill“). In gewisser Hinsicht, so Mbembe, wurde diese Macht vollständig demokratisiert. Für diese uneingeschränkte Macht, den Körper des andern zu genießen, gilt de Sades kategorischer Imperativ (in Lacans Lesart, notabene): Das Subjekt verhält sich so, dass der Körper des Mitmenschen dem Genießen des Subjekts unterworfen ist. Aus dieser phantastischen Machtposition wird der andere gleichsam kolonialisiert und ausgebeutet:
„Ich habe das Recht, deinen Körper zu genießen, kann mir jeder beliebige sagen, und dieses Recht werde ich ausüben, ohne dass mich im Launenhaften der Übertretungen, denen dabei zu frönen mir beliebt, irgendeine Grenze aufhält.“ (Lacan, 2015, S. 293)
Wer sich also mit dem „pandemischen Objekt a“ identifiziert, auf die Strasse geht und für die Freiheit (zu töten) demonstriert, verhält sich im Prinzip gemäß dem Sade’schen Phantasma. Dieses Sich-Identifizieren verläuft unbewusst: Die Person weiß nichts davon, spürt nur die Lust. Das Sade’sche Subjekt gleicht einer Marionette, das im Auftrag eines quälerischen und genuss-süchtigen inneren Objekts handelt (2015, S. 301). Noch ein Punkt: Natürlich kann das Subjekt nicht nur die Sade’sche Position beziehen. Es bietet sich auch die komplementäre an: die Position des Masochisten. Dann wird das Subjekt, das sich nicht schützt, infiziert, und ist nun krank, ohnmächtig, wertlos, sein Objekt a ist wie Müll (vgl. Lacan, 2015, S. 301 ff.), und schlimmstenfalls landet der Verstorbene tatsächlich in einem Müllsack, irgendwo in einer Klinik, die überfordert ist. Möglicherweise finden sich eine Menge „masochistischer“ Mitspieler, die eine Ansteckung riskieren, weil sie unbewusst die Lust der Aggressoren befriedigen möchten und deren versteckte Angst, zu töten genießen (Lacan, 2010, S. 221, vgl. Nemitz, 2014). Auch wird das Objekt a eine gewisse Doppelgesichtigkeit annehmen können: infektiös und infiziert, Opfer und Täter, Müll (masochistische Position) und Monster (Sade‚sche Position). Es würde dann den chiasmatischen Ort bezeichnen, wo sich „aktiv und passiv“, „Monster und Müll“ usw. verknüpfen. Wer sich aussetzt, riskiert, infektiös zu sein und infiziert zu werden. Dieses Doppelgesichtige des Objekt a tritt dann ein ins Spiel von Projektion und (identifizierender) Introjektion – und all der anderen Transformations- und Abwehrmechanismen, und erst dann werden die Phantasmen des Subjekts, wie eine Kathedrale über dem Realen errichtet.
Albert Camus: Schwarzer Tod und braune Pest
Albert Camus stellte seinen Roman „La Peste“ im Jahr 1946 fertig, nach ungefähr fünfjähriger Arbeit Im September 1939 hatte sich Camus zum Militärdienst gemeldet. Er wurde jedoch auf Grund seiner Tuberkulose abgewiesen. Camus pendelt zwischen Frankreich und Algerien; wegen der Tuberkulose, der sog. „weißen Pest“, wie man früher sagte, hält er 1942 zur Kur im Massif Central auf, in der Nähe von Le Chambon-sur-Lignon, wo damals die „größte Aktion der Judenrettung in der französischen Resistance“ stattfand (Marin, 2020). Hier schrieb er die Rohfassung des Romans, bevor er für das Résistance-Netzwerk „Combat“ nach Paris ging und die gleichnamige Untergrundzeitung redigierte. Im letzten Kriegsjahr, bereits nach der Befreiung von Paris, wird Camus Vater von Zwillingen. In „La Peste“ schildet er den Verlauf einer Pestseuche, die in der nordalgerischen Stadt Oran ausbricht, aus Sicht des Arztes Bernard Rieux. So schreibt Lou Marin im Mai 2020 über den Roman in „Corona-Zeiten:“
„Es ist ‚der‘ Roman zur Corona-Krise (…) Sicher, Camus beschreibt hier vordergründig eine tödliche Epidemie, die Situation der Quarantäne einer gesamten Stadt und wie sich die ihr unterworfene Bevölkerung nach anfänglicher Lähmung in ‚Freiwilligengruppen‘ organisiert und sich der ‚Pest‘ in innerem und äußerem Widerstand erfolgreich entgegenstemmt. Vieles im Roman liest sich vor dem Hintergrund unseres eigenen Erlebens der Kontaktsperre, örtlicher Ausgangssperren sowie der Quarantäne in Zeiten der Corona-Krise wie eine realitätsnahe Vorwegnahme der heutigen Pandemie.“ (Marin, 2020).
Am Anfang sind es nur einige tote Ratten, zunächst negierte Vorzeichen der Epidemie, später wird die Stadt abgeriegelt, es tritt ein Massensterben auf. Hier die Szene, als Rieux, der Arzt, die erste Ratte als Signifikant des Todes entdeckt:
„Am Morgen des 16. April trat der Arzt Bernard Rieux aus seiner Wohnung und stolperte mitten auf dem Flur über eine tote Ratte. Im Augenblick schob er das Tier beiseite, ohne es zu beachten, und stieg die Treppe hinunter. Aber auf der Straße fiel ihm ein, die Ratte sei dort oben nicht recht am Platz, und er kehrte zurück, um den Hauswart zu benachrichtigen. An der Reaktion des alten Herrn Michel merkte er erst, wie ungewöhnlich seine Entdeckung war. Ihm war die Gegenwart dieser toten Ratte nur seltsam vorgekommen, während sie für den Hauswart einen Skandal bedeutete. Seine Haltung war übrigens eindeutig: es gab keine Ratten im Haus. Der Arzt konnte ihm lange versichern, es liege eine auf dem Flur des ersten Stocks, und wahrscheinlich eine tote, Herrn Michels Überzeugung blieb unerschüttert. Es gab keine Ratten im Haus, sie mussten hereingebracht worden sein. Es konnte sich nur um einen Bubenstreich handeln.“ (Camus, 2012, S. 7).
Man sieht, wie die Verleugnung aufgebaut wird, gestützt durch Projektion und Rationalisierung, um eine symbolische Mauer gegen die Pest-Epidemie zu errichten. Bedenkt man, dass Camus zwar keine Pestbakterien in sich trug, wohl aber Tuberkel mit einschlägigen Mykobakterien, so besteht eine erste Gleichung: Yersinia pestis – Mycobacterium tuberculosis – SARS-CoV 2. Zunächst reagiert Oran (bis auf ein paar Experten) von der Epidemie weitgehend unberührt, man versuche, weiterzuleben, wie zuvor, kann sich einen Wechsel des Lebensstil gar nicht recht vorstellen:
„Unsere Mitbürger waren nicht schuldiger als andere, sie vergaßen nur die Bescheidenheit und dachten, daß ihnen noch alle Möglichkeiten offenblieben, was aber voraussetzt, daß Heimsuchungen unmöglich sind. Sie schlossen auch weiterhin Geschäfte ab, bereiteten Reisen vor und hatten eine Meinung. Wie hätten sie da an die Pest denken sollen, die der Zukunft, dem Reisen und dem Gedankenaustausch ein Ende macht? Sie glaubten sich frei.“ (Camus, 2012, online, S. 33)
Man glaubt sich durchaus in angesagte Viertel deutscher Städte versetzt:
„Wie jeden Abend brachte die leichte Brise aus allen umliegenden Stadtvierteln Gemurmel, Bratenduft, das ganze fröhliche und würzige Summen der Freiheit, das allmählich die Straßen erfüllte, in die nun eine lärmende Jugend strömte.“ (Camus, 2012, S. 51)
Hier noch ein weiterer Eindruck aus Oran:
„Die Zahl der Fußgänger stieg beträchtlich, und selbst während der ruhigsten Tageszeit belebten viele Leute die Straßen und Cafés, weil sie durch die Schließung der Läden oder einzelner Betriebe zur Untätigkeit gezwungen wurden. Für den Augenblick waren sie noch nicht arbeitslos, sondern im Urlaub. Damals erweckte Oran zum Beispiel nachmittags gegen drei Uhr und bei schönem Wetter den trügerischen Eindruck einer Stadt, die ein Fest begeht, die den Verkehr angehalten und die Läden geschlossen hat, um eine öffentliche Kundgebung zu ermöglichen, während die Einwohner sich auf die Straße begeben, um an den Festlichkeiten teilzunehmen. (…) Die Cafés schließlich konnten die Gäste weiterhin bedienen, weil die Vorräte in einer hauptsächlich auf Wein- und Spirituosenhandel eingestellten Stadt beträchtlich waren. Um die Wahrheit zu sagen: man trank viel. Nachdem eine Weinstube angeschlagen hatte: «Der edlen Reben Saft bricht der Mikroben Kraft», verstärkte sich die allgemeine, den Leuten schon längst vertraute Auffassung, daß der Alkohol vor ansteckenden Krankheiten schütze. Jede Nacht, gegen zwei Uhr morgens, wurde ein beträchtlicher Schwarm Betrunkener aus den Weinstuben geworfen und ergoss sich unter optimistischen Bemerkungen in die Straßen. (Camus, 2012, S. 67 ff).
In Oran bricht diese Abwehr angesichts der Wucht der Pestepidemie, die nicht gestoppt werden konnte, kläglich zusammen: Irgendwann können sich die Leute aus Oran nichts mehr vormachen, und viele reagieren erst mit Panik, später mit Niedergeschlagenheit, Rückzug, dumpfe Nervosität, eine „Verhärtung der Herzen“, Depression:
„Da diese erste Hitzewelle von einem jähen Ansteigen der Todesfälle begleitet war, die sich auf ungefähr siebenhundert in der Woche beliefen, bemächtigte sich eine gewisse Niedergeschlagenheit der Stadt. Aus den Vorstädten, aus den ebenen Straßen und den Flachdachhäusern schwand der Betrieb, und in dem Viertel, wo die Leute immer unter der Haustür lebten, waren alle Türen geschlossen und die Jalousien heruntergelassen, ohne daß man wusste, ob man sich auf diese Weise vor der Pest oder vor der Sonne zu schützen suchte. Aus einigen Häusern jedoch drang Stöhnen. Früher waren bei solchen Gelegenheiten oft Gaffer zu sehen, die auf der Straße standen und horchten. Aber nach dieser langen Spannung schien sich jedes Herz verhärtet zu haben, und alle schritten oder lebten an den Klagen vorbei, als wären sie die natürliche Sprache der Menschen. (…) Die Sonne der Pest löschte alle Farben aus und vertrieb jede Freude.“ (Camus, 2012, S. 93 ff).“
Nun stellt Camus (2012, S. 3) seinem Werk ein Zitat Defoes voran: „Es ist ebenso vernünftig, eine Art Gefangenschaft durch eine andere darzustellen, wie irgend etwas wirklich Vorhandenes durch etwas, das es nicht gibt“. Er weist damit auf den allegorischen Charakter hin: die Schwarze Pest, die fiktiv ist, ersetzt die Weiße Pest. Aber es gab, damals, das ist klar, noch eine weitere Pest: Den Faschismus, und vor allem die Nazi-Herrschaft mit der Okkupation Frankreichs, gegen welche Camus focht. Die wahre Pestilenz war der Nationalsozialismus. Pest ist Faschismus, und Faschismus ist Pest, so die allegorische Gleichung. Lou Marin (2020) sieht den Roman überhaupt als Warnung vor neofaschistischen Tendenzen:
„Doch Camus verwendete die Beschreibung des Verlaufs der Pest nur als beispielhafte Symbolik. Ihm ging es um einen politischen Vergleich: Die Pest – das war für ihn die Besatzung Frankreichs durch die Nazis von 1940 bis 1944 im historisch-konkreten Sinne. Die Pest – das war für ihn aber auch die Warnung vor erneuten, anderen Formen der Diktatur nach der Befreiung.“ (Marin, 2000)
Wenn Rechtsradikale gegen Anti-Corona-Maßnahmen demonstrieren, könnte dies ein Licht auf die unbewusste Struktur des Protestes werfen. Sie sind das (faschistische) Virus, indem sie sich mit Objekt a identifizieren, frei nach de Sade’s kategorischem Imperativ.
Passage à l’acte vs. die Masken des Realen
Keine Maske tragen, Corona-Partys, Proklamationen, die Pandemie sei vorbei, das hat viel mit einem Verhalten zu tun, das Lacan als „passage a l’acte“ bezeichnete. Die Maske des Realen fällt, und plötzlich taucht das Reale auf: Das Objekt a. Die Person identifiziert sich mit Objekt a, und – jedenfalls im Moment des Handelns, im Moment der „größten Bedrängnis“, ist sie auf dieses Objekt a reduziert (Lacan, 2010, S. 142, S. 146). „Wir sind die zweite Welle“, so die Wochenendgäste, die am 1. August 2020 durch Berlin zogen. Sie betraten, als eine heterogene Gruppe mit unterschiedlichen Ansichten: Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Corona-Verleugner, die Szene des Symbolischen. Die Strasse des 17. Juni wurde zur Bühne, auf welcher verschiedene imaginär-symbolische Stücke gespielt wurden, Die Demonstration wurde zum Acting out. Aber die faktische Ansteckungsgefahr bewirkte, dass die Leute von der Bühne, aus der Szene „stürzten“, wie Schauspieler, die die Bühne verlassen (Lacan, 2010, S. 147). Ein Acting out ist es, wenn sich das Publikum am Spiel beteiligt, das Subjekt also seine Phantasmen im symbolisch-imaginären Schauspiel entfaltet. Die passage à l’acte jedoch findet statt, wenn der Schauspieler sich sozusagen ins Publikum stürzt (Lacan, 2010, S. 176; vgl. Hewitson, 2010). Die Partys, Barbesuche, das Cornern und die Demos, die mit dem Tod spielen, finden ziemlich exakt auf dem Rand der Bühne statt, an der Nahtstelle zwischen Realem und Symbolischem. Ist das nicht ein genussvolles Faszinosum, etwas, was auf dem Bühnenrand stattfindet, und einmal ins Symbolspiel, dann wieder in die Wirklichkeit kippt, oszillierend zwischen Objekt a und der phantasmatischen Welt des Subjektiven, wie jemand, der sich eine Maske vorhält – und plötzlich, zwischendurch, sein „wahres Gesicht“ zeigt?
Auf der symbolischen Ebene entwickeln wir aus Informationen, die die sozialen Netzwerke oder die Medien, die Andern zu Hause oder in einer Bar, am Arbeitsplatz vermitteln, narrative Konstrukte, die sich über der nicht-repräsentierten Todesangst entfalten. Interessant sind Ergebnisse der Bamberger Forschergruppe um Raab und Carbon (Raab et al., 2013; Carbon & Raab, 2020). Diese untersuchte, wie Versuchspersonen aus einer Reihe vordefinierter Informationen eine subjektiv plausible Geschichte konstruieren. Im Grunde untersuchen die Wissenschaftler, wie die symbolische Komposition bestimmter Signifikanten-Komplexe funktioniert. Sie fanden bei insgesamt dreißig Probanden „dreißig Schattierungen der Wahrheit“: Von „kanonischen Geschichten“ über „hybride Theorien“ bis hin zur (faktisch unwahrscheinlichen) „Verschwörungstheorie“. Etwa 60 % der Probanden tendierten – auf diesem Kontinuum – zu Verschwörungstheorien. Deswegen betrachten Raab et al. (2013) Verschwörungstheorien als ein „lebendiges Phänomen der Populärkultur“, das sich nicht auf irgendeine Pathologie reduzieren lässt. Sie sei der Versuch, so die Forscher, „die eigene Lebenserfahrung auf eine sinnvolle Weise zu organisieren“, und zwar in einer pluralistischen Welt, in der „Große Erzählungen“ (Lyotard) ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. So ließe sich sagen, dass das gesamte Spektrum an Theorien, die wir über die Pandemie entwickeln, von den kanonischen Ansätzen über die besonders beliebten Hybride bis hin zu „alternativen Fakten“ – der Versuch ist, ein sinnstiftendes Phantasma zu organisieren, dessen unsichtbarer Mittelpunkt das Objekt a ist, z.B. der verseuchte Atem, die aus dem Mund des Anderen dringt. Und wenn es keinen anerkannten (symbolischen) Rahmen mehr gibt, braut sich das Subjekt seine eigenen Phantasmen. So erstellen, kompilieren, diskutieren und reproduzieren heute Millionen von Menschen auf der ganzen Welt „Verschwörungstheorien“ auf Internetplattformen, privaten Websites oder Blogs. Dieser Prozess der Erstellung, Modifikation und seriellen Reproduktion bietet zahllose Modelle, um die Maske des Realen „sinnvoll“ zu gestalten. Raab et al. (2013) betrachten Verschwörungstheorien als Narrative, die uns helfen, sich selbst zu erkennen. Hier bin ich skeptischer: Ich glaube nicht, dass die faschistische Lesart der Pandemie tatsächlich ein Potential zu Selbsterkenntnis hat. Erst, wenn das Reale „entlarvt“ wird, entsteht eine Selbsterkenntnis, welche die lustvolle, aber gefährliche Naivität der Covidiocy relativiert.
Literatur
Camus, A. (2012). Die Pest, dt. Online-Version: www.you-books.com/book/A-Camus/Die-Pest
Carbon C.C., Raab M. (2020). Verschwörungstheorien und Fake News. Eine wahrnehmungspsychologische Betrachtung mit Marius Raab und Clau-Christian Carbon. https://www.uni-bamberg.de/news/artikel/verschwoerungstheorien-raab-carbon/, abgerufen am 5.8.2020.
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Freud, S. (1938). Ergebnisse, Ideen, Probleme. GW XVII, 151-152.
Hegel, G.W.F. (2016). Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Werke, Band 3. 10. Auflage. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
Hewitson, O. (2010). What does Lacan say about… acting out? LacanOnline.com; https://www.lacanonline.com/2010/12/what-does-lacan-say-about-acting-out/
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Lacan, J. (1978 / 1979). La topologie et le temps; http://www.valas.fr/IMG/pdf/la_topologie_et_le_temps_1978_1979.pdf; engl. Topology and Time. http://www.lacanianworks.net/?p=12293;
Lacan, J. (2010). Die Angst. Das Seminar, Buch X. Turia + Kant, Wien - Berlin.
Lacan J. (2012). R.S.I. 1974-75, Seminar XXII. Übersetzt von Max Kleiner. Lacan-Archiv Bregenz.
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Leclaire, S. (1976). Das Reale entlarven. Das Objekt in der Psychoanalyse. Walter Verlag, Olten.
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Mbembe, A. mit Bercito, D. (2020). The pandemic democratizes the power to kill”. An interview. European Journal of Psychoanalysis; https://www.journal-psychoanalysis.eu/the-pandemic-democratizes-the-power-to-kill-an-intyerview/, abgerufen am 4.8.2020
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Raab, M., Ortlieb, S., Guthmann, K., Auer, N., & Carbon, C. C. (2013). Thirty shades of truth: Conspiracy theories as stories of individuation, not of pathological delusion. Frontiers in Personality Science and Individual Differences, 4, 1-9.
Wolff, M. (1992). Das Körper-Seele-Problem. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main.
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Über den Autor
Lutz Goetzmann, Prof. Dr. med., Psychoanalytiker (SGPsa / IPV) in eigener Praxis, Mitbegründer des Instituts für Philosophie, Psychoanalyse und Kulturwissenschaften, Berlin (www.ippk.de); letzte Publikationen: Goetzmann, L., Siegel, A., Ruettner, B. (2020) On the axis of psychosomatic totality. European Journal of Psychoanalysis. Goetzmann, L. (2020) Shock and objectivity in modern times. Some thoughts about Bauhaus architecture. British Journal of Psychotherapy.
E-mail: goetzmann@ippk.de
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Anmerkungen
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https://www.this-is-italy.com/in-1962-an-italian-magazine/, abgerufen am 13.8.2020
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https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Covidiot, Abruf am 12.8.2020
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https://www.urbandictionary.com/define.php?term=Covidiocy, Abruf am 12.8.2020
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Interessant ist, dass es verhältnismäßig wenig (abschreckende) Bilder von Covid-19- Toten gibt, Anti-Corona-Maßnahmen jedoch meistens erst getroffen wurden, wenn imaginäre Repräsentanzen der Pandemie verbreitet wurde, z.B. von italienischen LKWs, welche Tote abtransportieren (vgl. Lewis, 2020).
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https://de.wikipedia.org/wiki/SARS-CoV-2#/media/Datei:SARS-CoV-2_without_background.png, Abruf 17.8.2020
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https://www.nytimes.com/2020/06/11/health/coronavirus-lung-transplant.html
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https://www.rtl.de/cms/erschreckende-bilder-coronavirus-durchloechert-lunge-einer-jungen-gesunden-frau-4558975.html, Abruf 17.8.2020)
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https://www.rnd.de/politik/protest-der-rucksichtslosen-wie-20000-corona-leugner-die-zweite-welle-herbeirufen-6XJTUG5IM5DQTL34KUK7RTUT3A.html, abgerufen am 11.8.2020