Erik Porge
Die Regel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit, das Gegenstück zur Grundregel
René Magritte: Le château des Pyrénées, 1959
Öl auf Leinwand, 145 x 200 cm,
Israel Museum, Jerusalem
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Übersetzung von: La règle de l’attention également en suspens, contrepartie de la règle fondamentale. Kapitel 5 von: Erik Porge: Des fondements de la clinique psychanalytique (Grundlagen der psychoanalytischen Klinik). Éditions érès, Ramonville Saint-Agne 2008, S. 55–65. Übersetzt von Rolf Nemitz.
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Weitere Übersetzungen aus diesem Buch auf dieser Website:
– Einleitung: Schnitt und Wiederkehr als Grundlagen der psychoanalytischen Klinik, hier
– Kapitel 6: Das Zurückbringen des Anspruchs zum Trieb, hier
– Kapitel 11: Der topologische Raum, hier
– Kapitel 12: Das Qualitative (de)chiffrieren, hier.
– Kapitel 13: Schnitte, hier
Die Regel der gleichmäßig schwebenden Aufmerksamkeit, das Gegenstück zur Grundregel
Erkunden wir also weiter, wie der Analytiker in die Analyse eines Subjekts eingeschlossen ist, wie sie eine Schneidung (tranchement) in das Gerede ermöglicht.
In der analytischen Praxis besteht die Schneidung nicht nur in der Skandierung der Sitzung und in der Zerlegung der Wörter. Der Schnitt (coupure) kann vor, während und nach der Sitzung erfolgen und diese selbst vollzieht einen Schnitt in das alltägliche Gerede. Die Sitzung zerschneidet durch ihre Existenz, der Analytiker ist der Agent dieses Vorgangs.
Wie wir in einem früheren Kapitel gezeigt haben, muss die von Freud formulierte Grundregel, die der gleichschwebenden Aufmerksamkeit (l’attention également en suspens), ebenfalls als eine Form des Schnitts aufgefasst werden.1
Sie ist insofern etwas Besonderes, als durch sie eine Art Aussetzen des Analytikers installiert wird, und dies seit Beginn seiner Treffen mit dem Analysanten. Diese Position ist gewissermaßen umgekehrt zu der des Arztes. Während letzterer das Maximum seiner Kenntnisse mobilisiert, um eine gute Diagnose zu stellen und eine geeignete Behandlung zu verschreiben, lässt der Analytiker sich ein Wissen zukommen, von dem zu wünschen ist, dass es ausgedehnt ist, aber er suspendiert es zugleich, er bringt es in die Schwebe.
Mit Freud
Freud besteht immer wieder darauf, sowohl in der Folge seiner klinischen technischen Texte als auch in seiner Korrespondenz (etwa in der mit Ludwig Binswanger).
In den Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose (1909) schreibt er: „[D]ie richtige psychoanalytische Technik heißt den Arzt seine Neugierde unterdrücken und läßt dem Patienten die freie Verfügung über die Reihenfolge der Themata in der Arbeit.“2
Ebenso kann man am Rande der Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben (1909) lesen: „Es ist gar nicht unsere Aufgabe, einen Krankheitsfall gleich zu ‚verstehen‘, dies kann erst später gelingen, wenn wir uns genug Eindrücke von ihm geholt haben. Vorläufig lassen wir unser Urteil in Schwebe und nehmen alles zu Beobachtende mit gleicher Aufmerksamkeit hin.“3
In den Ratschlägen für den Arzt von 1912 werden die Ausdrücke „in Schwebe“ und „mit gleicher Aufmerksamkeit“ in den Rang der Formulierung der Regel der sogenannten „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ erhoben. Renate Sachse hat darauf hingewiesen, dass „gleichschwebend“ eine Zusammenballung von zwei Adjektiven ist: „gleichbleibend“ und „schwebend“.4 Es geht um eine Aufmerksamkeit, die gleichbleibend in der Schwebe ist, ein wenig leicht, ohne oberflächlich zu sein.
Die Praxis der zusammengesetzten Wörter ist im Deutschen üblich; dieses Wort jedoch hat die Besonderheit, zwei widersprüchliche Begriffe zu vereinen. Deshalb stellen Jean Laplanche und Jean-Betrand Pontalis in ihrem Vokabular der Psychoanalyse fest: „Die gleichschwebende Aufmerksamkeit gibt theoretische und praktische Probleme auf, auf die schon der Ausdruck selbst in seinem scheinbaren Widerspruch hinweist.“5 Tatsächlich hat die Deutung dieser Regel zu zahlreichen Irrtümern geführt, die übrigens nicht ohne Beziehung zu denen bei der Gegenübertragung sind.
Das gleich impliziert eine Kontinuität (nämlich die der Aufmerksamkeit) und das schwebend (en suspens) impliziert eine Diskontinuität, eine Unterbrechung (suspens). Diese Besonderheit findet in der Topologie des Schnitts einen operationalen Bezug. Vom logischen Standpunkt aus geht es darum, das Aufmerken auf die empirische Realität auszusetzen, auf die Realität der unmittelbaren Bedeutung, um die Signifikanten und ihre materielle Äquivalenz gleiten zu lassen, in den Ersetzungen und Verschiebungen, in denen sie sich anordnen, verlieren und wiederfinden.
Im Grunde ist die Regel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit eine Regel der Un-Aufmerksamkeit. Das hat Theodor Reik in Der überraschte Psychologe gut verstanden. Der Analytiker lockert seine Aufmerksamkeit, wendet sie von einem festen, erwarteten, willentlichen Punkt ab und versetzt sich in einen Zustand der Unaufmerksamkeit; dadurch macht er sich für den Einfall empfänglich, für die plötzliche Idee, die das Charakteristikum des Unbewussten ist, des une-bévue.6 „Jener Vorgang der momentanen Aufmerksamkeitslockerung und der Wendung des Interesses nach anderer Richtung mit der folgenden Rückkehr zum Objekt bereitet aber die Überraschung vor.“7
Außerdem möchte ich die gleichschwebende Aufmerksamkeit an das annähern, was Freud in seinem Buch über die Aphasien von 1891 als „geteilte Aufmerksamkeit“ bezeichnet.8 Er weist dort darauf hin, dass beim Korrekturlesen die Aufmerksamkeit geteilt ist: zwischen der Aufmerksamkeit auf die Zeichen, wobei einem der Sinn entgeht, und der Aufmerksamkeit auf den Sinn, wobei man Zeichen überspringt, was zu Satzfehlern führt. Unter den Formeln der Entfremdung könnte man aufführen: der Buchstabe oder der Sinn. Die gleichschwebende Aufmerksamkeit ist eine geteilte Aufmerksamkeit, eine Unaufmerksamkeit in der Aufmerksamkeit.
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Kehren wir zurück zu den Ratschlägen für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung. „Indes ist diese Technik“, schreibt Freud, „eine sehr einfache. Sie lehnt alle Hilfsmittel, wie wir hören werden, selbst das Niederschreiben ab und besteht einfach darin, sich nichts besonders merken zu wollen und allem, was man zu hören bekommt, die nämliche ‚gleichschwebende Aufmerksamkeit‘, wie ich es schon einmal genannt habe, entgegenzubringen.“9
Wir sehen, dass wir, verglichen mit dem ersten Text, einen Übergang vollzogen haben. Jetzt geht es nicht mehr darum, „mit gleicher Aufmerksamkeit“ „unser Urteil in Schwebe“ zu lassen, sondern um die „nämliche gleichschwebende Aufmerksamkeit“. Im ersten Fall ist es das Urteil, das in der Schwebe bleibt, im zweiten ist es die Aufmerksamkeit. Es geht nicht mehr um die Suspendierung eines Urteils – was noch hieße, sich in einem moralischen Feld zu verorten –, sondern um eine Suspendierung der Aufmerksamkeit selbst, was ans Physiologische grenzt, ans Körperliche. Außerdem geht es nicht mehr um die gleiche Aufmerksamkeit, sondern um den gleichen Suspens der Aufmerksamkeit.
Weit mehr als um eine technische Regel oder eine „Idealregel“ (wie Jean Laplanche und Jean-Bertrand Pontalis sagen10 ) handelt es sich tatsächlich um eine ethische Position – in dem Sinn, den Lacan diesem Wort gegeben hat, für ein Verhältnis nicht zum Ideal, sondern zum Ding –, gültig für den Beginn und für den Verlauf der Analyse, um eine Position, die in den Bereich der Askese gehört sowie der scheinbaren Paradoxie.
Und tatsächlich lesen wir einige Zeilen später in den Ratschlägen für den Arzt: „Es ist nicht gut, einen Fall wissenschaftlich zu bearbeiten, solange seine Behandlung noch nicht abgeschlossen ist, seinen Aufbau zusammenzusetzen, seinen Fortgang erraten zu wollen, von Zeit zu Zeit Aufnahmen des gegenwärtigen Status zu machen, wie das wissenschaftliche Interesse es fordern würde. Der Erfolg leidet in solchen Fällen, die man von vornherein der wissenschaftlichen Verwertung bestimmt und nach deren Bedürfnissen behandelt; dagegen gelingen jene Fälle am besten, bei denen man wie absichtslos verfährt, sich von jeder Wendung überraschen läßt, und denen man immer wieder unbefangen und voraussetzungslos entgegentritt.“11
Die scheinbare Paradoxie besteht darin, dass Freud die Psychoanalyse einerseits als therapeutische Methode sowie als Forschungs- und Lehrmethode definiert und davor warnt, die Wissenschaft durch das Therapeutische zu töten (in dem Aufsatz Die Frage der Laienanalyse von 1926), und dass uns andererseits dazu anstachelt, unsere Aufmerksamkeit und unser vorhandenes Wissen in der Schwebe zu halten. Man sieht aber, dass Freud im einen Fall der Wissenschaft das Therapeutische entgegensetzt und dass er im anderen Fall das Vorwissen mit dem in der Schwebe gehaltenen Wissen konfrontiert. Das suspendierte Wissen tötet die Wissenschaft nicht, anders als das Therapeutische. Es steht zur Wissenschaft im Gegensatz, ist jedoch Teil von ihr, in jedem ihrer Momente, in denen es zu einer Entdeckung kommt.
So wie die gleichschwebende Aufmerksamkeit es ermöglicht, dass sich die Überraschung des Unbewussten einstellt, ermöglicht das in der Schwebe gehaltene Wissen die Wissenschaft.
Das lehrt im Übrigen das Beispiel von Descartes, mit seiner Methode, das gesamte überkommene Wissen, selbst das evidenteste, in der Schwebe zu halten. Die Freud’sche Regel ist eine kartesische Regel.
Mit Lacan
Man kann die Frage des suspens – des Schwebens, des Unterbrechens – aufgreifen, indem man sich auf Lacans Aufsatz über die logische Zeit bezieht, wo in der Bewegung der Gewissheitsbehauptung das suspens einen entscheidenden Signifikanten darstellt. Die Gewissheitsbehauptung wird in der Hast vorweggenommen, nach zwei scansions suspensives, zwei „unterbrechenden Skandierungen“12. Diese Skandierungen stellen die Zeitlichkeit der deduktiven Argumentierens in Frage und müssen also in das logische Verfahren integriert werden, in die Beziehungen zwischen Signifikanten.
Wie bei Freud kann man bei Lacan die bereits angedeuteten beiden Seiten assoziieren, diejenige, nicht zu schnell zu verstehen, und die der gleichschwebenden Aufmerksamkeit. In Die Situation der Psychoanalyse im Jahre 1956 hebt er den Wert des Signifikanten „gleichschwebend“13 hervor und stellt – ohne darauf zu antworten – die Frage nach dem „Ziel“ der gleichschwebenden Aufmerksamkeit.14
1974 macht Lacan die gleichschwebende Aufmerksamkeit sogar zur Ursache der Deutung, aufgrund der materiellen Gleichwertigkeit des Signifikanten:
„Das signans ist deshalb von Interesse, weil es uns ermöglicht, in der Analyse zu operieren und zu lösen, obgleich wir wie alle anderen nur einen Gedanken auf einmal haben können, aber wenn wir uns in den Zustand versetzen, der schamhaft als ‚gleichschwebende Aufmerksamkeit‘ bezeichnet wird und der bewirkt, dass wir dann, wenn der Partner, der Analysant, einen äußert – einen Gedanken –, dass wir dazu dann einen ganz anderen haben können und dass dies ein glücklicher Zufall ist, aus dem ein Blitz hervorschießt. Genau von daher kann sich die Deutung ergeben, das heißt: Aufgrund der Tatsache, dass wir eine gleichschwebende Aufmerksamkeit haben, verstehen wir, was er gesagt hat, manchmal einfach aufgrund einer Art von Mehrdeutigkeit, das heißt einer materiellen Gleichwertigkeit. Von dem, was er gesagt hat, bekommen wir mit – wir bekommen es mit, weil wir es erleiden –, dass das, was er gesagt hat, völlig falsch verstanden werden konnte. Und indem wir ihn völlig falsch verstehen, ermöglichen wir es ihm, wahrzunehmen, von woher seine Gedanken auftauchen, seine ihm eigene Semiotik. Sie taucht von nichts anderem her auf als von der Ek-sistenz von Lalangue. Lalangue ek-sistiert anderswo als in dem, was er für seine Welt hält.“15
Von daher hat die gleichschwebende Aufmerksamkeit teil an der Aktion des Schnitts, als Agieren des Schweigens (also des Objekts a). Sie ist Schneidung, sie spezifiziert die Position des Analytikers im Verhältnis zum „Gerede“.
Die gleichschwebende Aufmerksamkeit ist nicht (wie viele Analytiker es ausdrücken16) die „symmetrische Entsprechung“, das „Pendant“, der „Spiegel“ derjenigen Grundregel, die sich auf den Analysanten bezieht, der Regel, alles zu sagen, was kommt. Sie ist ihr „Gegenstück“17. Auch hier kann man von einem Schnitt sprechen, der sich selbst schneidet. Die Grundregel der sogenannten freien Assoziation ist von Lacan in zwei Gesetze zerlegt worden, in ein „Gesetz des Nicht-Auslassens“ und ein „Gesetz des Nicht-Systematisierens, welches die Zusammenhangslosigkeit als Bedingung der Erfahrung setzt und so einem ganzen Abhub des geistigen Lebens eine Bedeutungsvermutung zubilligt“18.
Eine Verbindung mit der Passe
In den Texten über die Passe19 greift Lacan Freuds Prinzipien auf und gibt ihnen eine neue Beleuchtung und ein logisches Fundament. Hierdurch werden diese Prinzipien verbunden mit dem Sturz des sujet supposé savor, des Grundes der Übertragung, mit dem Sturz des Subjekts, dem zu wissen unterstellt wird, mit seinem Sturz im Augenblick des Endes der Analyse. Damit bestätigt sich, wie sehr es sich nicht um eine rein technische, voluntaristische Regel handelt, sondern um eine logische Konsequenz eines schließenden Moments, das für jede zu Ende geführte Analyse entscheidend ist. Die Regel der gleichschwebenden Aufmerksamkeit repräsentiert das Agieren dieser Phase, sie ist die Manifestation des Moments, durch den der Analysant in seiner Analyse den Schritt tut, der ihn an die Schwelle des Begehrens des Analytikers führt. Sie ist Wiederholung dieses Schritts als Akt.
Tatsächlich schreibt Lacan die Freud’sche Regel in seinen Vorschlag vom 9. Oktober 1967 ein, ins Innere der strukturalen Problematik des Subjekts, dem zu wissen unterstellt wird, das heißt er verbindet die Regel mit der Zeit der De-Supposition, in der das „Unwesentliche“ des Subjekts, dem Wissen supponiert wird, in einem „Ent-Sein“ enthüllt wird.
„Worauf es uns hier ankommt ist der Psychoanalytiker, in seiner Beziehung zum Wissen des unterstellten Subjekts, nicht sekundär, sondern direkt.
Es ist klar, dass er vom unterstellten Wissen nichts weiß. Das Sq in der ersten Zeile [der Übertragungsformel] hat mit der Kette der S in der zweiten Zeile nichts zu tun und kann sich nur durch Begegnung dort befinden.
Weisen wir darauf hin, um hier die Fremdartigkeit des Insistierens zu mindern, das Freud bekundet, wenn er uns empfiehlt, jeden neuen Fall so anzugehen, als hätten wir aus seinen ersten Entzifferungen nichts erworben. […] Was er [der Psychoanalytiker] wissen muss, kann durch Bezug auf ein ‚unter Vorbehalt‘ / ‚in Reserve‘ (en réserve) angebahnt werden, demselben, mit dem jede Logik, die dieses Namens würdig ist, operiert. […] das Nicht-Gewusste ordnet sich als der Rahmen des Wissens.“20
Lacan verwendet nicht dieselben Worte wie Freud. Die Formulierung „als hätten wir aus seinen ersten Entzifferungen nichts erworben“ ist mehrdeutig: Handelt es sich um die Entzifferungen von Freud oder die des Falls? Andererseits ersetzt Lacan Freuds „gleichschwebend“ (en suspens) durch ein „unter Vorbehalt“ (en réserve). Das ermöglicht es ihm, aus einem Register herauszukommen, das noch allzu phänomenologisch ist, und das logische Register des Wissens zu betreten, vor allem mit den Fragen der Totalisierung des Wissens, der Unterstellung des Wissens, der Verbindung von Wissen und Wahrheit sowie der Unterscheidung zwischen referentiellem Wissen und textuellem Wissen. Es gibt ein Wissen in Reserve, in Gestalt von Buchstaben/Briefen (lettres), die je nach Zeiten, Kombinationen und Signifikanten-Netzen dazu aufgerufen werden, sich zu manifestieren oder die ausgeschlossen sind, so wie es die Formalisierung von Edgar Poes Erzählung Der entwendete Brief lehrt, die Lacan vorgenommen hat.
Die „Fremdartigkeit des Insistierens“ von Freud erhellt sich aus der Position des Analytikers in der Übertragung, die gekennzeichnet ist durch die Disjunktion zwischen dem referentiellen Wissen und dem buchstäblichen Wissen, das der Analytiker in seiner Tätigkeit verkörpert.
Im Vortrag in Genf über das Symptom kommt Lacan 1975 auf die ethische und heuristische Position von Freud zurück. „Im Geiste meines Vorschlags [vom 7. Oktober 1967] dient diese Operation [die Passe] dazu, um zu erhellen, was sich in diesem Augenblick ereignet. Das ist genau [unsere Hervorhebung, EP] das, was Freud uns sagt: Wenn wir einen Fall – das, was man einen Fall nennt – in Analyse haben, empfiehlt er uns, ihn nicht von vornherein in ein Kästchen einzuordnen. Er möchte, dass wir, wenn ich so sagen kann, in völliger Unabhängigkeit von den Kenntnissen zuhören, die wir erworben haben, sodass wir spüren, womit wir es tun haben, nämlich mit der Besonderheit des Falls. Das ist sehr schwierig, denn die Erfahrung zeichnet sich eben dadurch aus, dass sie Kästchen präpariert. Es ist für uns Analytiker, erfahrene Männer oder Frauen, sehr schwierig, über den Fall, der gerade läuft, nicht zu urteilen und seine Analyse voranzutreiben, ohne uns dabei an andere Fälle zu erinnern. Welches auch immer unsere angebliche Freiheit sein mag – es ist ja unmöglich, an diese Freiheit zu glauben –, es ist klar, dass wir uns nicht von dem, was unsere Erfahrung ist, reinigen können. Freud beharrt oft darauf, und wenn das verstanden wäre, würde das vielleicht den Weg zu einer ganz anderen Art der Intervention öffnen – aber das kann nicht sein.“21
Lacan ist dabei, über das Verfahren der Passe zu sprechen, acht Jahre nachdem er es eingesetzt hat, und was sagt er? Dass sein Vorschlag „genau“ dem entspricht, was uns Freud sagt, nämlich den Fall nicht in ein Kästchen zu stecken, und dass dies „zu einer ganz anderen Art der Invention“ führt.
Da Lacan nicht mehr darüber sagt, stellen wir an dieser Stelle die Hypothese auf, dass es sich um die Praxis des Schnitts handelt, für welche die gleichschwebende Aufmerksamkeit ein Beispiel ist. Eine Praxis, die sich auf Vernunft gründet, genauer: auf eine topologische Vernunft.
Es zeigt sich jedenfalls klar, dass die Position des „unter Vorbehalt“ / „in Reserve“ und der Offenheit für die Überraschung im Herangehen an einen Fall, dass diese Position sehr viel weiter geht als ein technischer Rat, der beispielsweise durch die Klugheit, die Weisheit, die Bescheidenheit oder irgendeine moralische Tugend des Analytikers angeleitet wäre. Diese Position rührt an das, was den Kern der Funktion des Analytikers und seines Begehrens ausmacht, an das, worin das Objekt der Passe besteht. Das ermöglicht es außerdem, zwei Enden miteinander zu verbinden: den Eintritt in eine Analyse und das Ende der Partie. An diesem Punkt kommt es dazu, dass sich etwas von einer Strecke, von einer Schleife schließt, und ein Ziel ist erreicht.
Wenn es etwas gibt, das von der Passe auf die Probe gestellt wird, dann ist es also diese Beharrlichkeit des Analytikers – desjenigen, der es aufgrund eines Analysanten werden kann –, die Beharrlichkeit darin, sich vom erworbenen Wissen zu lösen, dieses Wissen zu suspendieren, es in Reserve zu nehmen, und dies entsprechend seinen Bemühungen, dieses Wissen zu erwerben, und oftmals gegen die Sinn-Forderung des Analysanten. Das gehört vielleicht zur selben Ordnung wie seine Beharrlichkeit darin, es dem Analysanten zu ermöglichen, sich von ihm zu lösen und seine Analyse zu beenden, darin, den subjektiven Positionen des Analysanten unterworfen zu bleiben, zu Beginn und am Ende, wenn sie sich verändert haben.
Die Art, wie der Analytiker sich zu Beginn der Partie verortet und worauf er sein Hören einstellt, kehrt am Ende der Analyse wieder; die Passe versucht, eine Form dieser Überschneidung einzukreisen. Eine Analyse zu beginnen, heißt für den Analytiker, auf das Ende der eigenen Analyse zurückzukommen, den Moment der Passe noch einmal zu durchlaufen, den Moment, durch den er Psychoanalytiker geworden ist und sich in die Position der gleichmäßig schwebenden Aufmerksamkeit gebracht hat. In der psychoanalytischen Klinik geht es um dasselbe wie in der Passe.
Also, um auf die Frage zu antworten, wie stichhaltig die Theorie ist, die das Aufkommen einer analytischen Klinik stützt, so lässt sich mutmaßen, dass es sich um eine Theorie handelt, die in der Lage ist, das Wissen, dass sie fördert und produziert, im logischen und topologischen Sinn in der Schwebe zu halten, in Reserve zu halten. Eine Theorie, die vom Subjekt nicht als Ideal hingestellt werden kann, sondern die von ihm einverleibt werden kann, die es körperlich auf sich nehmen kann, als reines operatives Element, von sich her außerhalb des Sinns, jedoch Sinneffekte hervorbringend, derart, dass die Theorie als referentielles Wissen verschwinden kann, in dem Moment und in dem Akt, in dem sie wirksam ist.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des érès-Verlags und des Autors. Alle Rechte beim érès-Verlag.
Über Erik Porge
Erik Porge ist Psychoanalytiker in Paris. Als Krankenhausarzt in Teilzeit war er für ein medizinisch-psychologisches Zentrum für Kinder und Erwachsene verantwortlich. Er war Mitglied der École freudienne de Paris bis zu deren Auflösung, gegenwärtig ist er Mitglied der Association de psychanalyse Encore. Er war Mitgründer der Zeitschrift Littoral und gibt die Zeitschrift Essaim heraus.
Zu seinen Veröffentlichungen gehören: Se compter trois. Le temps logique de Lacan (1989) ; Schöne Paranoia. Wilhelm Fließ, sein Plagiat und Freud (frz. 1994, dt. 2005); Freud, Fließ. Mythe et chimère de l’auto-analyse (1996); Le moment cartésien de la psychanalyse. Lacan, Descartes, le sujet (Hg. zusammen mit Antonia Soulez) (1996); Les noms du père chez Jacques Lacan (1997); Jacques Lacan, un psychanalyste. Parcours d’un enseignement (2000, überarbeitete und aktualisierte Auflage 2014); Transmettre la clinique psychanalytique (2005); Des fondements de la clinique psychanalytique (2008); Lettres du symptôme. Versions de l’identification (2010); Voix de l’écho (2012); Le ravissement de Lacan. Marguerite Duras à la lettre (2015); Truth and knowledge in the clinic. Working with Freud and Lacan (2016); La sublimation, une érotique pour la psychanalyse (2018).
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Anmerkungen
- Anmerkung des Übersetzers: Freuds Terminus „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ wird von Porge mit attention également en suspens übersetzt. Suspens verweist auf suspension, was auch mit „Unterbrechung“, „Aussetzung“, „Auslassung“ oder „Suspendierung“ übersetzt werden kann. Freuds „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ wird oft auch mit attention flottante übersetzt.
- Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. 7. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 31–103, hier: S. 49.
- Sigmund Freud: Studienausgabe, Bd. 8. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 9–123, hier: S. 26.
- Im Jahr 2007, bei einem Seminar von La lettre lacanienne, une école de la psychanalyse.
- Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975, S. 169.
- A.d.Ü.: Anspielung auf den Titel von Lacans Seminar 24 von 1976/77, L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à mourre. Der Ausdruck une-bévue (wörtlich „ein-Schnitzer) klingt ähnlich wie „Unbewu“.
- Theodor Reik: Der überraschte Psychologe. Über Erraten und Verstehen unbewusster Vorgänge. A.W. Sijthoff’s Uitgeversmaatschappij, Leiden 1935, S. 50.
- Sigmund Freud: Zur Auffassung der Aphasien. Deuticke, Leipzig und Wien 1891, S. 78.
- Sigmund Freud: Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung (1912). In: Ders.: Studienausgabe. Schriften zur Behandlungstechnik. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2000, S. 169–180, hier: S. 171 f.
- Vokabular der Psychoanalyse, a.a.O., S. 170.
- Ratschläge, a.a.O., S. 174.
- Vgl. Jacques Lacan: Die logische Zeit und die vorweggenommene Gewissheitsbehauptung. In: Ders.: Schriften. Band I. Vollständiger Text. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek. Turia und Kant, Wien 2016, S. 231–251, hier: S. 236.
- A.d.Ü.: Im Original deutsch.
- Vgl. Jacques Lacan: Die Situation der Psychoanalyse und die Ausbildung des Psychoanalytikers im Jahre 1956. In: Ders.: Schriften, Band I, a.a.O., S. 541–581, hier: S. 555 f.
- Jacques Lacan, Seminar 21 von 1973/74, Les non dupes errent, unveröffentlicht, Sitzung vom 11. Juni 1974.
- Vgl. Lacan, Die Situation, a.a.O., S. 555 f.
- Freud, Ratschläge, a.a.O., S. 172.
- Jacques Lacan: Jenseits des „Realitätsprinzips“. In: Ders.: Schriften, Band I, a.a.O., S. 86–108, hier: S. 96.
- A.d.Ü.: Die Passe ist ein von Lacan erfundenes Verfahren, durch das ein Mitglied seiner Schule, der École lacanienne de Paris, den Titel Analyste de l’Ècole (AE) erwerben konnte. Viele an Lacan orientierte Analytikergruppen haben die Passe übernommen.
- Jacques Lacan: Proposition du 9 octobre 1967 sur le psychanalyste de l‘Ècole (Vorschlag vom 9. Oktober 1967 über den Psychoanalytiker der Schule). In: Ders.: Autres écrits. Le Seuil, Paris 2001, S. 243–259, hier: S. 249.
- Jacques Lacan: Conférence à Genève sur le symptôme. In: Le Bloc-notes de la psychanalyse, Nr. 5, Genf 1985.