Lacans Schemata
Bild des anderen und Ideal-Ich
Abbildung aus: Lacan: Écrits. Le Seuil, Paris 1966, S. 817.
Welchem Punkt im Grafen ist das Ideal-Ich zuzuordnen: dem Ich, m, oder dem Bild des anderen, i(a)?
Im Aufsatz Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten findet man im unteren Stockwerk des Grafen die Punkte m und i(a)1; sie sind mit zwei sich überschneidenden Pfeillinien verbunden, die ich hier blau eingefärbt habe. Soviel ist klar: Der Buchstabe m steht für das Ich (moi), die Abkürzung i(a) für das Bild des anderen (image de l’autre) bzw. den kleinen anderen, zu dem das Ich in einer Beziehung der imaginären Identifizierung steht: für das Vorbild, das zugleich Rivale ist. Zwar werden in Subversion des Subjekts die Termini „Bild des anderen“, „kleiner anderer“ und „imaginärer anderer“ nicht verwendet; bei der Erläuterung des Grafen in den Seminaren wird die Zuordnung zwischen der Zeichenfolge i(a) und diesen drei Termini von Lacan jedoch ausdrücklich vorgenommen.2
Im Aufsatz Subversion des Subjekts fällt bei der Beschreibung der Punkte i(a) und m der Begriff des Ideal-Ichs (moi idéal) und es ist klar, dass man das Ideal-Ich einem der beiden Punkte zuordnen soll. Welchem, dem Punkt m, also dem Ich, oder dem Punkt i(a), also dem Bild des anderen?
Was man von Lacan in Subversion des Subjekts hierzu erfährt, ist nicht sehr deutlich:
„Wie dem auch sei, das Subjekt findet in diesem verfälschten Bild seines Körpers das Paradigma für all die Formen von Ähnlichkeit, die nun auf alle Objekte einen Hauch von Feindseligkeit übertragen, weil sie auf sie die Verwandlung des narzißtischen Bilds projizieren, das ausgehend von dem Jubel, der seine Begegnung im Spiegel begleitet, im Zusammenstoß mit seinesgleichen zum Sammelbecken für die allerintimste Aggressivität wird.“3
Das Körperbild wird demnach auf ähnliche Objekte projiziert. Lacan fährt fort:
„Dieses Bild, das Ideal-Ich, fixiert sich von dem Punkt aus, wo das Subjekt als Ichideal stehenbleibt. Nun ist das Ich (Moi) Herrschaftsfunktion, Prunkgebärde, festverankerte Rivalität.“4
Das Bild wird mit dem Ideal-Ich gleichgesetzt. Aber welches Bild? Das Körperbild? Das auf den anderen projizierte Körperbild? Die Formulierung ermöglicht keine Entscheidung.
In der Sekundärliteratur sind die Meinungen geteilt.
Gerda Pagel schreibt in einer Passage zur Erläuterung des Grafen, die imaginäre Identifizierung glaube „im Bild des anderen (i(a]] ihr Ideal-Ich (moi (m]] zu erkennen“5, die runden und die eckigen Klammern sind von der Autorin. Sie ordnet dem Kürzel i(a) das Bild des anderen zu, dem Kürzel m das Ideal-Ich.
Dieselbe Deutung findet man bei Bruce Fink. Er bezieht sich auf die untere hufeisenförmige Pfeillinie des Grafen, diejenige, die von $ über i(a) und m nach I(A) führt, und erläutert dabei den Punkt m durch „Ich (Ideal-Ich)“, den Punkt i(a) durch „Bild des anderen (oder Alter Ego)“.6 Auch hier wird das Ich mit dem Ideal-Ich identifiziert.
Die entgegengesetzte Deutung trägt Alfredo Eidelsztein vor. In seinem Buch über den Grafen des Begehrens schreibt er, „das Ich wird durch etwas bestimmt, das außerhalb seiner Grenzen liegt, das seine Grenzen transzendiert. Diese Transzendenz ist das Ideal-Ich, das antizipierte Bild des anderen.“7 Das Ideal-Ich ist das Bild des anderen, also ist das Ideal-Ich auf den Punkt i(a) zu beziehen.
Wer hat recht? Eidelsztein.
In Seminar 7 von 1959/60 erklärt Lacan, er habe
„die Unterscheidung von Ideal-Ich und Ichideal in den Grafen aufgenommen“(7: 281)8.
Damit ist zunächst einmal nur klar, dass der Begriff des Ideal-Ichs irgendeinem Bestandteil des Grafen zugeordnet werden muss.
„Auf der anderen Seite ist es (das Ideal-Ich) als Bild des anderen das Urbild* des Ichs, die ursprüngliche Form, nach welcher das Ich modelliert, eingerichtet, eingesetzt wird in einer Funktion der Pseudobeherrschung.“ (7: 282)
Es, das Ideal-Ich, fungiert als Bild des anderen, und in dieser Funktion ist es das Urbild des Ichs. Aber wenn das Ideal-Ich das Urbild des Ichs ist, muss man es dann nicht dem Punkt m zuordnen, also dem Ich? Keineswegs:
„Was das Ideal-Ich angeht, das der imaginäre andere ist, den wir auf derselben Ebene vor uns haben, so repräsentiert dieses durch sich selbst das, was uns beraubt.“ (Ebenda)
Das Ideal-Ich ist der imaginäre andere, und der imaginäre andere, so darf man aufgrund der zuvor zitierten Bemerkung ergänzen, ist das Bild des anderen.
Diese Äußerungen haben dadurch besonders Gewicht, dass sie in der Vorlesung vom 18. Mai 1960 vorgebracht werden; der Vortrag Subversion des Subjekts, der den Grafen enthält, wird von Lacan im September desselben Jahres gehalten, also nur wenige Monate später. Lacans Deutung des Grafen wird sich in der Zwischenzeit nicht allzu sehr verschoben haben.
Um es festzuhalten: Im Grafen des Begehrens steht der Punkt i(a), Bild des anderen, zugleich für das Ideal-Ich.9
Das Ideal-Ich ist außerhalb des Ichs lokalisiert, es wird durch einen anderen verkörpert. In Seminar 6 von 1958/59 charakterisiert Lacan das Verhältnis von Hamlet zu Laertes in der berühmten Fechtszene folgendermaßen:
„Daß Laertes hier für Hamlet sein Nebenmensch (semblable) ist, wird im Text ausdrücklich artikuliert, gewiß indirekt, ich will damit sagen innerhalb einer Parodie. (…) Sie sehen, das Bild des anderen (das von Laertes) ist hier so dargestellt, daß es das Bild desjenigen, der es betrachtet, vollkommen aufsaugt. Dieser Bezug, sehr gongorisch, mit Witzeleien aufgebauscht, erhält seinen ganzen Wert dadurch, daß Hamlet Laertes vor dem Duell in diesem Stil anspricht. An diesem Paroxysmus der imaginären Absorption, die formell als spekulative Beziehung, als Spiegelreaktion artikuliert ist, wird eindeutig vom Dramaturgen der Punkt der Aggressivität angelegt. Derjenige, den man am meisten bewundert, ist der, den man bekämpft. Derjenige, der das Ideal-Ich ist, ist nach der hegelianischen Formel der Unmöglichkeit der Koexistenz auch derjenige, den man töten muß.“ (22. April 1959)10
Laertes ist für Hamlet der Nebenmensch – das Bild des anderen – das Ideal-Ich.
Nachtrag vom 24. Januar 2013:
In Seminar 9 von 1961/62, Die Identifizierung, stoße ich auf diese Formulierung:
„das Phantasma hat eine Funktion, die homolog ist zu derjenigen von i(a), dem Ideal-Ich, dem imaginären Ich“.11
Verwandte Beiträge
- Lacan: Das optische Modell (Lagache-Aufsatz) (über Ichideal und Ideal-Ich)
Anmerkungen
- Schriften II, hg. v. Norbert Haas, S. 183, 191, 193.
- Für die Gleichsetzung von i(a) mit „Bild des anderen“ vgl. etwa Seminar 5 von 1957-58, Die Bildungen des Unbewussten: „Die Beziehung zum Bild des anderen, i(a), hat ihren Platz auf der Ebene einer in den ursprünglichen Kreislauf des Anspruchs integrierten Erfahrung, in der das Subjekt sich zunächst um der Befriedigung seiner Bedürfnisse willen an den Anderen wendet.“ (Seminar 5, Version Miller/Gondek, S. 481)
Im selben Seminar wird i(a) mit „Identifizierung mit dem kleinen anderen“ gleichgesetzt, wenn es heißt, dass von der Hysterikerin „das klein a als Kunstgriff verwendet wird. Wir können es durch zwei parallele Spannungen darstellen, die eine auf der Ebene der idealisierenden Bildung, ($◊a), die andere auf der Ebene der Identifizierung mit einem kleinen anderen, i(a).“ (5: 551)
Die Gleichsetzung von i(a) mit „Identifizierung mit dem imaginären anderen“ findet man etwa in Seminar 9 von 1961-62, Die Identifizierung: „Der imaginäre andere, insofern wir uns mit ihm in der ichhaften Verkennung identifizieren, das ist i(a).“ (9. Mai 1962) - Schriften II, S. 184.
- Ebenda.
- Gerda Pagel: Lacan zur Einführung. Junius, Hamburg 1989, S. 74.
- Bruce Fink: Lacan to the letter. Reading Écrits closely. University of Minnesota Press, Minneapolis, London 2004, S. 116, meine Übersetzung.
- Alfredo Eidelsztein: The graph of desire. Using the work of Jacques Lacan. London, Karnac 2009, S. 118, meine Übersetzung.
- Seminar 7, Version Miller/Haas.
- Vgl. Semiar 7, Version Miller/Haas, S. 281 f.
- Seminar 6, Version Miller/Hommel, Wo Es war 3-4, S. 24 f., Übersetzung geändert. Vgl. Version Miller, S. 390 f.
- Sitzung vom 9. Mai 1962.