Freuds Polsterstich oder Die Gouvernante
Rebecca Solomon, The Governess, 1854, Öl auf Leinwand, 66 x 86,4 cm, Privatbesitz
Im Psychose-Seminar (Seminar 3 von 1955/56) führt Lacan den Begriff point de capiton ein, „Polsterstich“ oder „Stepppunkt“. Darunter versteht er die Funktion von Signifikanten, in ein Feld von verworrenen und in Bewegung befindlichen Bedeutungen so einzugreifen, dass nachträglich ein stabiler Sinn entsteht; später wird hieraus der Begriff des Herrensignifikanten. Da Lacan die meisten seiner Begriffe in Auseinandersetzung mit Freud entwickelt, kann man sich fragen, was im Falle des Polsterstichs der Anknüpfungspunkt bei Freud sein könnte.
Miss Lucy R., dreißig Jahre
Jacques-Alain Miller hat hierzu eine interessante Idee. Die erste Skizze eines Polsterstichs findet Lacan – so vermutet Miller1 – in den Studien über Hysterie (1895), in der Darstellung des Falles Lucy R.
Die Patientin, eine Engländerin, arbeitet als Gouvernante bei einem Fabrikdirektor im Wiener Umland. Dessen Ehefrau, eine entfernte Verwandte von Lucys Mutter, ist gestorben; auf dem Totenbett hatte Lucy ihr versprochen, den Kindern, zwei Mädchen, die Mutter zu ersetzen. Freud beendet diese Falldarstellung so:
„Die Therapie bestand hier in dem Zwange, der die Vereinigung der abgespaltenen psychischen Gruppe mit dem Ichbewusstsein fortsetzte. Der Erfolg ging merkwürdigerweise nicht dem Maße der geleisteten Arbeit parallel; erst als das letzte Stück erledigt war, trat plötzliche Heilung ein.“2
Um Millers Hinweis auszuspinnen:
Die „geleistete Arbeit“ ist die Abfolge dessen, was Lucy R. während der Analyse sagt – die Äußerung einer Signifikantenkette.
Das „letzte Stück“ ist die letzte Erinnerung, der abschließende Signifikant. Bei Lucy R. ist dies die Erinnerung an eine peinliche Szene. Der Oberbuchhalter wollte die Kinder auf den Mund küssen, und der Vater der Kinder hatte Lucy deshalb mit Entlassung gedroht.
Sie hatte gehofft, dass der Direktor sie lieben würde; durch die Erinnerung an die traumatische Szene wird ihr klar, dass sie sich geirrt hat. Das Signifikat, das nachträglich stabilisiert wird, ist: „Ich liebe ihn, aber er hat mich nie geliebt.“
Diese Bedeutungsgebung sorgt dafür, dass bestimmte Symptome (eine Schmerz- und Reflexunempfindlichkeit) nahezu verschwinden und dass ein anderes Symptom (Einbüßen der Geruchswahrnehmung) schwächer wird.
Der Polsterstich besteht darin, dass die Erinnerung an den Signifikanten Entlassungsdrohung in den Widerstreit ihrer Affekte eingreift und im Nachhinein eine bestimmte Bedeutung erzeugt: das Signifikat Er hat mich nie geliebt.
Im folgenden Diagramm habe ich diese Größen in Lacans „Graphen des Begehrens“ eingetragen (zweite Konstruktionsstufe).3
– Die beiden grünen Linien, die sich zweimal überkreuzen, bilden den point de capiton, den Polsterstich.
– Die nach oben-links-unten zeigende, von $ nach I(A) führende Linie steht für die „widerstreitenden Affekte“4 von Lucy R. (gegenüber dem Direktor und seiner Familie, gegenüber dem übrigen Hauspersonal, gegenüber ihrer eigenen Mutter).
– Die nach rechts zeigende, von „Signifikant“ nach „Stimme“ führende Linie ist die während der Kur geleistete Arbeit, die Signifikantenkette.
– Der von A oben herum zu s(A) führende Pfeil entspricht der Funktion von Signifikanten des Anderen (A), in eine konfuse Affektlage einzugreifen; die Erinnerung an die Entlassungsdrohung ist ein vom Anderen kommender Signifikant.
– Das vom Anderen kommende Signifikat (s(A)) ist „Ich liebe ihn, er liebt mich nicht“.
Das Schema zeigt, dass der Polsterstich zur Bildung des Ichideals führt, I(A) am Ende der Pfeillinie unten links. Was könnte im Falle von Lucy R. das Ichideal sein?
Zwei Tage nach der letzten Analyse macht sie einen weiteren Besuch bei Freud. Sie ist wie verwandelt, lächelt und trägt den Kopf hoch. Freud fragt sie, ob sie den Direktor noch liebe. Sie erwidert:
„Gewiß, ich liebe ihn, aber das macht mir weiter nichts. Man kann ja bei sich denken und empfinden, was man will.“5
Man kann lieben, wen man will, als Antwort auf die drohende Entlassung durch das Liebesobjekt – das erinnert an eine Szene aus Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Wilhelm fordert Philine auf, ihn zu verlassen.
„Sie lachte ihm ins Gesicht, als er geendigt hatte. »Du bist ein Tor«, sagte sie, »du wirst nicht klug werden. Ich weiß besser, was dir gut ist; ich werde bleiben; ich werde mich nicht von der Stelle rühren. Auf den Dank der Männer habe ich niemals gerechnet, also auch auf deinen nicht; und wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an?«“6
Identifiziert sich Lucy R. mit Philine? Dann wäre „Wenn ich dich lieb habe, was geht’s dich an“ der einzelne Zug, den sie von ihr übernimmt, die Grundlage ihres Ichideals.
Zum Bild „Die Gouvernante“
Rebecca Solomons Gemälde The governess konfrontiert zwei Paar-Szenen. Sie sind im selben Zimmer angesiedelt und gehen darin ineinander über, durch eine senkrechte Kompositionslinie sind sie jedoch, etwa in der Mitte des Bildes, schroff voneinander getrennt. Rechts sieht man eine Gouvernante, die in strenger Kleidung und mit mütterlicher Geste (zärtlich und kontrollierend) ihrer Berufstätigkeit nachgeht: Einem Kind aus reichem Hause bringt sie das Lesen bei.7 Die linke Bildhälfte zeigt, wie ein Mann und eine Frau sich einander zuwenden, vermittelt durch das Klavierspiel der Frau. Der Titel des Bildes macht die Gouvernante zur Hauptfigur, aber auch der Seitenblick, den sie auf das musizierende Paar wirft und der die beiden Szenen verbindet. Wie kann man diesen Blick beschreiben – ist er missbilligend oder traurig oder neidisch oder alles auf einmal?
Zwischen den beiden Szenen gibt es ein sorgfältig konstruiertes System von Ähnlichkeiten und Gegensätzen: Sitzende dunkel gekleidete Frau, angespannt, versus stehende hell gekleidete Frau, locker. Die Hand der Gouvernante, die auf das Buch zeigt, entspricht der Hand der Klavierspielerin, die die Tasten berührt. Die Beinstellung des Kindes (die Unterschenkel bilden ein umgedrehtes V) findet ein Echo in der Beinstellung des Mannes – usw.
Eine erste Bedeutungsebene ist soziologisch und plakativ, wie es dem Bildtypus – der Genremalerei – entspricht. Das Gemälde konfrontiert die Lebensweise zweier Frauen aus entgegengesetzten sozialen Klassen. Die arme Frau geht einer Berufstätigkeit nach und leidet, die reiche Frau pflegt den Müßiggang und genießt. Die Nebeneinanderstellung im selben Zimmer deutet an, dass das musizierende Paar mit dem Dienstherrn (oder der Dienstherrin) der Gouvernante verbunden ist – die Abhängigkeit und Armut der einen beruht auf der Dominanz und dem Reichtum der anderen.
Eine zweite Bedeutungsschicht stützt sich auf den Gegensatz von Innen und Außen, der mit der Opposition zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen parallelisiert wird. Beide Szenen sind im selben Innenraum angesiedelt, ganz rechts jedoch öffnet sich eine Glastür in einen Garten (sie hat ihr Gegenstück in einer Tür links, die in das Innere des Hauses führt). Das gewebte Blumenmuster des Teppichs, das Künstliche, findet sein Widerspiel im Natürlichen, in den Blüten, die vor der Tür wachsen. Beide Paarszenen beruhen auf dem Ausschluss der Außenwelt bzw. des Natürlichen. Dieser zweite Gegensatz überlagert den ersten – den der Paare – und versetzt die Komposition in Schwingung: Durch Abstand und Beleuchtung wird die unterrichtende Gouvernante als diejenige dargestellt, die dem ausgeschlossenen Bereich näher ist als das flirtende Paar; noch näher beim Außen ist das Kind, es überschneidet sich mit der Türöffnung. Vielleicht gibt die Malerin hier einen Wink in Richtung auf Rousseaus Konzept der natürlichen Erziehung.
Eine dritte Bedeutungsebene hat sexuellen Charakter; sie ist leicht verschlüsselt. Die Rivalin der Gouvernante – ihr Ideal-Ich – agiert nicht, wie diese, als Mutterersatz, sondern als Frau. Das Kind beugt sich beim Lesenlernen über den Schoß der Gouvernante, auf dem ein geöffnetes Buch liegt, ein Laptop gewissermaßen. Das Rechteck des Buches wird durch eine Diagonale geteilt, gebildet durch einen Schatten und eine Hand; das erinnert, in dieser Schoßposition, an die gespaltene Raute als Symbol für das weibliche Geschlechtsorgan. Durch das Buch wird das Geschlecht der Gouvernante zugleich angezeigt und versperrt. Das Geschlecht der Oppositionsfigur wird, so denke ich, durch eine auffällige senkrechte Falte in ihrem Rock symbolisiert, sie beginnt mit der Taille, ist leicht geöffnet und endet mit einem Wulst auf der Höhe der Hand des Mannes (im Bild rechts habe ich den Ausschnitt um 180° gedreht). Die Beine des Mannes überschneiden sich für den Bildbetrachter mit denen der Frau, ein Arm der Frau streckt sich dem Mann entgegen und berührt ihn fast, das Paar schaut sich in die Augen – ob man so in der viktorianischen Malerei die sexuelle Umarmung kodierte?
Beide Paarbeziehungen sind durch das Symbolische vermittelt: durch die im Bild dargestellte Schrift. Die Gouvernante zeigt dem Kind mit dem Finger, was es zu lesen hat (Herbart galt Zeigen als pädagogischer Grundgestus); dieser Unterricht wird als ein Vorgang dargestellt, der sich in der körperlichen Interaktion von Kind und Mutterersatz vollzieht. Das Buch verkörpert den Signifikantenschatz, den Anderen (A). Die Gouvernante lehrt das Kind, Buchstaben mit Lautkombinationen zu verbinden, die Bedeutungen haben. Im Graphen des Begehrens entspricht ihrem Unterricht die oben herum führende Pfeillinie zwischen dem Anderen (A) und dem vom Anderen kommenden Signifikat, s(A).
Das Verhältnis zwischen der Klavierspielerin und ihrem Zuhörer ist durch Noten vermittelt. Wie die Schrift, mit der das Kind befasst ist, beziehen sich die Noten auf ein differentielles System von Tönen, anders als bei der Schrift des Lesebuchs sind diese Töne jedoch nicht mit den Signifikaten der gesprochenen Sprache verbunden. Ohne Bezug auf den mit dem Sprechen verbundenen Sinn fahren die Klänge, die die Klavierspielerin für ihren Zuhörer erzeugt, direkt in den Körper – in den des Mannes und in ihren eigenen. Das ist zwar nicht exakt das, was Lacan unter Lalangue versteht (es fehlt der Aspekt der Mehrdeutigkeit), aber doch damit verwandt.
Der Gegensatz zwischen den beiden Formen der Schrift erinnert an den zwischen der männlichen Syntax und dem weiblichen Singen in Hélène Cixous’ Text über das Schreiben, Das Lachen der Medusa8, wobei das Singen sich hier ins Klavierspielen verwandelt hätte. Der Syntax und dem Faden des Sinns wäre dann die Gouvernante zuzuordnen, damit erhielte sie ihren Platz auf der Männerseite. Für diese Deutung gibt das Bild einige Anhaltspunkte, die Figuren des Mannes und der Gouvernante sind ähnlich konstruiert: die Gouvernante ist mit dem Mann in etwa auf Augen- und Fußhöhe, wie er sitzt sie auf einem Stuhl, sogar auf einem von gleicher Art, wie er ist sie dunkel und nahezu farblos gekleidet, wie er bezieht sie sich in ihrer Haltung auf eine andere Person, die in Rottönen gekleidet ist.
Während jedoch der Mann von seiner Partnerin ganz und gar gefangen ist, geht die Gouvernante in der Beziehung zum Kind nicht auf: Mit dem Arm umfasst sie den Schüler, ihr Blick aber richtet sich auf das Paar. Der Kontrast zwischen diesen beiden Beziehungsformen – die eine komplementär, die andere gespalten – gehört zur Raffinesse der Komposition. Sie zeigt zwei Aspekte der Subjektivität: den Mann als begehrendes Subjekt – Mangel-zu-sein, manque-à-être – angesichts eines idealisierten Objekts, die Gouvernante als gespaltenes Subjekt in ihrer Zerrissenheit. Sie ist insofern gespalten, als ihre Beziehung zum Kind sich durch ihre Beziehung zum Paar auf der anderen Seite des Bildes deuten lässt. Weiß sie, dass sie in ihrer Beziehung zum Kind gewissermaßen über das Paar an ihrer Seite spricht? Nur wenn ihr das entginge, wäre sie ein gespaltenes Subjekt im Sinne von Lacan.
Die Klavierspielerin präsentiert sich als einzige hochaufgerichtet. Sie wird in voller Länge dargestellt, mit glänzendem rosa Kleid und rotem Schopf; die von der Krinoline geschwellten Hüften signalisieren Fruchtbarkeit. Mädchen = Phallus, würde Lacan mit Fenichel sagen. Für ihren Zuhörer und für uns als Betrachter erscheint sie als leuchtendes Bild der Lust und der Fruchtbarkeit, das die Unversehrtheit des Körpers garantiert, als imaginärer Phallus. Für die Gouvernante ist sie der symbolische Phallus: Signifikant des Genießens, das sie durch die Unterordnung unter die symbolische Ordnung unwiederbringlich verloren hat.
Betrachtet man das Bild von rechts nach links, wie der Titel es nahelegt, zeigt es die Struktur des Phantasmas: ausgestrichenes Subjekt, Schnitt, Objekt a, also $ ◊ a.
$: Die rechte Szene zeigt die Gouvernante unter dem Joch des Signifikanten – sie opfert sich auf für die Übermittlung der Schrift. Die Szene demonstriert, dass die Gouvernante, steif wie sie dasitzt, mit düstrem Blick, in dieser Ordnung als Subjekt keinen Platz hat. Sie ist das vom Symbolischen ausgestrichene Subjekt, das verschwindende Subjekt.
◊: Die senkrechte Kompositionslinie in der Mitte des Bildes ist ein Schnitt.
a: Als Betrachter rechnen wir uns aus, dass der Klang des Instruments auch die Gouvernante erreicht, die Komposition hingegen zeigt uns, dass sie davon getrennt ist. Damit ist die linke Szene für die Gouvernante eine akustisch induzierte Erregung, die zugleich innen und außen ist, ein Fremdkörper, in dem sich für sie das verkörpert, was sie durch die Integration in die symbolische Ordnung unwiederbringlich verloren hat – die Stimme als Objekt a.
*
Auf der Website des Simeon Solomon Research Archive wird das Bild zusammen mit der folgenden Sentenz wiedergegeben:
„The governess. ‚Ye, too, the friendless, yet dependent, that find nor home, nor lover. Sad imprisoned hearts, captive to the net of cirumstance.‘ (Martin Farquhar Tupper, Proverbial Philosophy, 1838–67)“
[Nachtrag vom 3. Oktober 2018: Bild und Sentenz sind auf der genannten Website entfernt worden.]
Meine Übersetzung:
„Die Gouvernante. ‚Auch ihr, Freundlose, doch Abhängige, die ihr kein Heim findet und keinen Geliebten. Traurige gefangene Herzen, ausgeliefert ans Netz der Umstände.‘ (Martin Farquhar Tupper, Philosophie in Sprüchen, 1838–67)“
Ich habe nicht herausfinden können, wie die Verbindung von Bild und Text aufzufassen ist. Ist das Bild als Illustration dieser Sentenz gemalt worden? Gehört der Satz auf irgendeine Weise zum Bild, etwa als Inschrift auf dem Rahmen?
Verwandte Beiträge
- Polsterstich, auch Stepppunkt genannt
- Herrensignifikant, S1: das Ichideal
- Einziger/einzelner Zug (I): der Grund der Identifizierung
- Der Phallus
- Die Stimme der toten Sängerin
- Lacans Formel des Phantasmas oder Ein Tomatenwurf
Anmerkungen
- Jacques-Alain Miller: L’expérience du réel dans la cure analytique. Cours 1998/1999, Sitzung vom 9. Dezember 1998. Im Internet hier, S. 43.
- S. Freud: Miß Lucy R., dreißig J. In: S. Freud, Josef Breuer: Studien über Hysterie (1895). In: S. Freud: Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Bd. 1. Imago, London 1952, S. 164–183, hier: 183 (letzter Satz).
- Abbildung aus: J. Lacan: Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewußten. In: Schriften II, S. 183.
- Studien über Hysterie, a.a.O., S. 173.
- A.a.O.
- Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96). Viertes Buch, neuntes Kapitel. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7. Beck, München 1989, S. 233.
- Ob es sich um einen Jungen oder um ein Mädchen handeln soll oder ob dies in der Schwebe bleiben soll, kann ich nicht erkennen. Einige Informationen über Kinderkleidung im England des 19. Jahrhunderts findet man hier.
- Hélène Cixous: Das Lachen der Medusa (1975). Übersetzt von Claudia Simma. In: Esther Hutfless, Gertrude Postl, Elisabeth Schäfer (Hg.): Hélène Cixous: Das Lachen der Medusa, zusammen mit aktuellen Beiträgen. Passagen, Wien 2013, S. S. 39–61.